Jean Paul
Der Jubelsenior
Erster Hirten- und Zirkelbrief
eingestellt: 30.7.2007Über Briefform - Verjährung des Verdienstes - ehelichen Haß - und über das Kinderspiel des Lebens
Teuerster Freund!
Die Briefform ist eine der gefälligsten Einkleidungen, wenn man an den andern etwas schreiben will: ihrer bediente sich sogar der heilige Dominikus in seinen Briefen an die heilige Dreieinigkeit, Galen in seinen aus der Hölle an Paracelsus und Omar im Schreiben an den
Nilfluß. Ich berühre nicht einmal die unzähligen Menschen, die etwas auf die Briefpost geben. Diese schöne Form der Anschauung, diese niedliche Fassung des Gesundbrunnen der Wahrheit tat der Literatur schon so viele Dienste wie dem Postwesen. Steifen dürren Sätzen und Pilastern, unscheinbaren Teichdocken und Bohlen des Wissens, z. B. der ganzen Astronomie, Physik, Botanik, teilten oft die Deutschen dadurch eine reizende korinthische Form und Laubwerk zu, daß sie über den Anfang der Abhandlung
setzten »Teuerster Freund« und unter ihr Ende »Ich bin etc.« Der teuerste Freund war das dreifache Blätterwerk, die 16 Schnörkel und 8 Stengel des Kapitells; und das »Ich bin etc.« gab dem Fußgesimse Hohlkehle, Karnies und Karnieslein.
Nur befürcht ich, teuerster Freund, ich ziehe mit dem Schmuck der brieflichen Einkleidung das Publikum zu sehr an und vom Gefüllsel selber ab, und über der Porzellankonchylie werde mein Schaltier übersehen. Nehm ich nicht dasselbe an den Paulinischen
Briefen und an Hirtenbriefen wahr, über deren äußern Reiz Exegeten und Diözesani gänzlich den Inhalt sowohl übersahen als übertraten? Brachte nicht jedes Jahrhundert dem Neuen Testament einen neuen Inhalt mit? Und wenn ich das erste und das achtzehnte ausnehme und wenn ich bloß die Ausleger aus den andern betrachte, die auf eine unglaubliche Weise den Kern in Wurmmehl und die Schale zu einem Kerne nagten: so ist es mir, als säh ich ganze Stände voll Krippenbeißer, bekannte Pferde, die statt des
Futters die Krippe anpacken, wiewohl ich gern die zwei Vorteile dabei geständig bin, daß sie das Gebiß abschleifen und daß sie sich mit Wind aufblasen. Vielleicht sind solche Exegeten den Zigeunern noch ähnlicher (als den Pferden), die das alte ausgeräucherte Tabaksröhrchen, wenn sie keinen Rauchtabak mehr haben, endlich selber aufkauen.
Jede Menschenseele hat ihr eignes Idiotikon, wie jedes Jahrhundert seine Germanismen und Gallizismen. Ein genialischer deutlicher Autor ist ewig
dunkler als ein schlechter verworrener, dessen geistige Patavinität immer mit den Provinzialismen des Jahrhunderts in eins zusammenfällt. Um den Autor zu fassen, muß man den Menschen begreifen - um aber einen Menschen, d. h. einen Charakter, rein zu fassen, muß man ihn mit der besonnenen Allmacht des Genies, die alle Zustände in Objekte verkehrt und die nicht nur die Farbe, sondern auch das Licht bemerkt, vom eignen Ich absondern und wegstellen und ihn beherrschend beschauen. Aber wenige
Menschen fassen einen Charakter - wie eben darum noch wenigere einen malen. - Ich werde überhaupt erst in meinen versprochenen kritischen Briefen die sonderbare Operation des menschlichen Geistes zerlegen - und dadurch selber begreifen -, wodurch sich in uns die Idee eines fremden Charakters zusammenstellet, den uns doch die äußere Welt in zerworfnen physiognomischen Fragmenten, in disjectis membris einhändige. So viel hab ich, ohne noch für die Presse darüber nachgedacht zu haben, heraus, daß
in unserer Idee von der Totalität eines jeden Menschen ein Hauptzug, ein Brennpunkt, ein punctum saliens vorglänze, um welches sich die Nebenpartien abstufend bilden. Aber wie der Brennpunkt entstehe etc. und alles übrige, das bleibt mir, bevor ich für die Presse etwas darüber ausarbeite, noch ein tiefes Rätsel und ein ferner Nebelfleck.
Um einen Menschen vollkommen zu verstehen, müßte man seine Doublette sein und noch dazu sein Leben gelebt haben. Die Sprache ist ein Gewölke, an dem
jede Phantasie ein anderes Gebilde erblickt. Sogar sich selber, nämlich sein eignes Buch, fasset man, wenn uns eine Reihe unähnlicher Zustände umgearbeitet hat, bloß durch das Erinnern an den, worin man es machte.
Ich kehre zum Appendix zurück. Es ist ein eigener Reiz für mich, daß ich die folgenden leeren Seiten aufblättern und durchschauen und zu mir sagen darf:»Du kannst doch dasmal auf ihnen handeln, wovon du willst.« Um aber gleichwohl an irgendein Gesetz und Leitseil gebunden zu
sein, will ichs voraussagen, was ich verhandeln will. Ich mache mich anheischig, hier in diesem Zirkelbriefe von der Verjährung der Verdienste zu sprechen und von dem ehelichen Hasse und im Postskript von dem Kinderspiele des Lebens: dann schließ ich das Schreiben.
In einem guten Staate verjähren Verbrechen und Verdienste aus gleichen Gründen, und der Täter hat nichts mehr zu gewarten. Man injuriiere, man hure, man stehle, man breche eine Ehe doppelt: so fährt man gut dabei und kann
nicht gezüchtigt werden für das erste Verbrechen nach 1 Jahre, für das zweite nach 5 Jahren, für das dritte nach 20, für das letzte ebenfalls nach 20 (in Sachsen), gesetzt sogar, man ginge selber in die Gerichtsstube und verwaltete sein eignes Fiskalat selber. Ebenso belohnet ein konsequenter Staat verjährte Verdienste nicht: hat ein Gemeiner im Janustempel seine Votiv-Beine aufgehangen, oder hat ein Schulmann einer Schule seine Kräfte, ein Minister dem ganzen Lande seine Uneigennützigkeit und
Zeit gewidmet: so kann der erste nach einem Jahre und die zwei andern nach fünf Jahren kein Prämium, nicht einmal eine Zeile auf der Meritentafel, der tabula rasa der Erinnerung, fodern. Der Zier-, Spieß-, Treff-, Inventions- und Jungferndank verjährt schon darum, weil er ihnen gebührt und weil ihn ein anderer besitzt: denn schon das Zivilrecht spricht dem rechtmäßigen Besitzer das Eigentum ab, das ein unrechtmäßiger 10 Jahre lang besessen, nur daß die Abwesenheit des wahren Eigentümers die
Verjährung der Belohnung nicht wie die eines Feldstücks um 10 Jahre verschiebt, sondern um 10 beschleunigt.
Die Gründe sind für Verbrechen und Verdienste dieselben. Jene verjähren, weil man annimmt, der Mensch sei schon durch die Gewissensbisse mit heißen zwickenden Zangen, mit effigie-Strang und mit Staupenschlag justifizieret worden ; - diese verjähren, weil das Gewissen den Menschen in so langer Zeit mit hundert Bürgerkronen und Meritorden belohnet hat. Die Schwierigkeit, die
Beweise aufzutreiben, haben alte Sünden und alte Verdienste gemein. Das lange Stillesitzen des Verbrechers und des Verdienstvollen lassen billig annehmen, daß die bewußten Handlungen mehr dem Zufalle und der Übereilung als der Absicht beizumessen seien. Daher wollen sogar klassische Autores die Präskription ihres Ruhms durch neue Auflagen alter Werke unterbrechen.
Freilich ist in jedem Lande einer, der - so wie der Bock in der Wüste oder der Adam in Halberstadt alle fremde Sünden
auf sich nahm - ebenso, als Bevollmächtigter und Repräsentant des Verdienstes, der Hebungsbediente und Kollekteur aller Prämien ist, die dem Verdienste gehören. Bekannter ist der Kollekteur unter dem Namen: der Günstling. Wie nun ein Geräte, das einen toten Juden berührte, seine Verunreinigung einem zweiten Geräte und dieses einem dritten leiht oder wie ein unreines Leichenhaus eine ganze Judengasse levitisch besudelt: so teilt sich auch die moralische Reinigkeit durch die Nähe eines solchen
Prinzipalkommissarius des Verdienstes mit, und auf seine ganze Familie geht sein indossierter stellvertretender Wert und die damit verbundene Löhnung über.
Da aber ein Verbrechen, nämlich das der beleidigten Majestät, nicht verjährt: so kann auch das Verdienst der geschmeichelten nie verjähren: ein Verdienst um den Hof (nicht um das Land) kann wie die delicta excepta leicht bewiesen werden, durch einen Zeugen, durch Kinder, durch Blödsinnige. Die Handlungen des
Inhabers tragen alle, wie sonst die Kinder der Puritaner, den Namen Tugenden. Er ist ein besserer Repräsentant eines Fürsten, besser als die auswärtige Ambassade, oder vielmehr er ist der ans Land abgeschickte innere Ambassadeur und hat ebenso viele Ähnlichkeiten mit dem Fürsten (die Stigmen ausgenommen) als der heilige Franziskus mit Christo, deren Zahl Pedro dAlva Astorgain bescheiden auf viertausend ansetzt. Haben zwei Herren dasselbe Verdienst um einen Hof: so gehört die Belohnung - so wie
bei dem Tugendfeste im elsässischen Blotzheim unter zwei gleich tugendhaften Jünglingen keinem der Preis zufällt als dem ärmsten - dem reichsten. - -
Auf den ehelichen Haß bringt mich das Schwerssche Paar durch seine eheliche Liebe. Es ist sonderbar und schlimm, daß in unsern Tagen gerade die Sorgen, die in der Ehe von vier Schultern getragen werden, und der gegenseitige Kaltsinn der Träger miteinander zunehmen. Auf den Leidenskelch müßte man vorzüglich das Wort eingraben, das auf den
Bierkrügen der Paulaner Mönche steht: charitas (Liebe); aber nur Ehen, worin man aus der Kürbisflasche der Freude trinkt, haben immer dieses Wort auf den Kürbissen.
Dieses alles hat mich oft auf den Gedanken gebracht - ich hab es aber unter dem Schreiben vergessen -, den Theaterregisseurs die Frage vorzuhalten, ob es sanft und schonend sei, daß sie, wie sie oft tun, in unsern Tagen, wo die Frau den Gatten, wie der Weise den Tod, weder flieht noch wünscht und wo der Mann an ihr seit
ihrer Erdnähe nichts vom alten Glanze verspüren kann, wie die Erde, die als ein leuchtender Stern im Himmel herumzieht, uns Leuten, die wir den Fuß darauf haben, bloß als eine schwarze kalte Lichtschnuppe erscheint, ich frage nämlich, ob solche Direktores schonend handeln, daß sie in diesen Zeiten des ehelichen Indifferentismus den Ehemann nötigen, auf dem Theater eine Liebhaberrolle gegen seine angetraute Frau zu übernehmen - gegen diese sich öffentlich etwas anders zu stellen als kalt und
fremd - z. B. in Goethes Tasso als Torquato der Fürstin (seiner Frau) dasselbe Herz als eine Zuckerdose und ein indisches Nest der Liebe zu präsentieren, das er ihr einige Minuten vorher in der Kulisse als einen Sauertopf und Giftbecher des Zorns vorgehalten. Ich ließe mirs noch gefallen, wenn das Paar geschieden wäre; aber der Regisseur bedenke, wie es ihm bekäme, wenn er in so nahen Verhältnissen, wie die ehelichen sind, die Gastrolle der Zärtlichkeit zu übernehmen hätte, indes er noch dazu
(wie leicht verlangt das nicht die Ökonomie des Stücks) gegen seine nicht weit davon stehende wahre Geliebte den Kalten spielen müßte! -
Ich bin, teuerster Freund,
- Seite:
- 1
- 2
Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.