Frei Lesen: Der Komet

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Jean Paul

Der Komet

Fünfzehntes Kapitel in drei Gängen

eingestellt: 14.7.2007

Neuer Untertan - Ankunft in Nikolopolis - Sitzungen über Inkognito - Wappenwahl - Paßwesen

Erster Gang

Rechte Erzählweise von Reisen - der Schlotfeger

Ich fahre hier in diesem funfzehnten Kapitel recht ordentlich wohlgemut fort, weil ich mich über alles freue, was zu erleben gewesen und zu erzählen blieb. Tausend Reisen, z. B. nach dem Nordpol, oder nach dessen Gegenpol, dem Äquator, sind viel verdrießlicher; und sogar in den gemäßigten Erdgürteln fehlt Mäßigung oft zuerst, und Reisende werden von den Erd-Stachelgürteln, wie von Franziskanerstricken und Schmachtriemen, sichtbar zusammengezogen und gleichsam in der Mitte stranguliert. Desto mehr lebe ein Fürst, der zuerst nach Lukas-Stadt abreiset.

In kurzer Zeit brach man Nikolopolis ab und brach sämtlich auf. Das ganze reisende Lustlager jubelte, und sogar alle Pferde wieherten darein. Die fremde fürstliche Residenz Lukas-Stadt, der man entgegenzog, stand vor allen mit ihren Türmen, wie mit Cocagnebäumen, in der Ferne, nur für jeden mit besondern, z. B. mit geistigen Viktualien behangen.

Da die Stadt in ganz Deutschland als ein Künstler- und Dichterplatz berühmt war und jede Gasse darin von Gemälden und Gedichten wimmelte: so sah der Hofstallmaler Renovanz sein Kanaan ausgebreitet vor sich liegen. Der Hofprediger konnte bei dortigen Hofpredigern und Gelehrten die gelehrtesten Besuche machen; und der Reisemarschall hatte in jeder Stadt außer den Leckerbissen noch nach hundert andern Bissen zu schnappen; denn Städte, nicht Dörfer waren seine Sache. Ich weiß nicht, was der Kandidat da erwartete; wie gewöhnlich, wenigstens alles. Gewiß ist, daß die sämtlichen Untertanen und Staats-Bürger Marggrafs ein wenig hinter ordentlichen Stadtmauern zu ankern, um zu kantonieren, von Herzen wünschten.

Dasselbe aber wünschte niemand so eifrig als der Held selber. »Ich erwarte« - sagte er bei dem Ankleiden zum Reisemarschall - »zwar nicht alles, aber viel von der Residenz. Es ist die erste, in die ich fahre. - Weitläuftige hohe Verwandte von mir könnten, sollt ich denken, da ein Fürst Hof hält, mir wohl daselbst wider meine Erwartung begegnen, und die Aufnahme meiner wird sich darnach richten. Auch wollen wir nur nicht gar zu entschieden behaupten, daß der Prinzessinnen-Wagen, der uns vorausgefahren nach demselben Ziele und Stadttore, in gar keiner Verbindung mit jenem hohen Wesen stehe, welches ich ewig verehren werde. -

In welchen Himmel ich indes auch dort einziehe, ich werde doch aus ihm heraussehen nach den vielen Malern und Dichtern in dieser lebhaften Kunststadt, wovon viele gewiß meiner recht stark bedürfen, und die sollen auch bekommen. - - Aber es ist doch gewiß nicht weiter als beinahe anderthalb Tagreisen dahin, Herr Marschall?«

»Über zwei leichte«, versetzte Worble.

Nun ging das allgemeine Rennen und Reiten an, von Dorf zu Dorf - von Marktflecken zu Marktflecken - von Dorf zu Marktflecken - von diesen zu Städtchen - von diesen zu Dörfchen. Man mußte und wollte durchaus in anderthalb Tagen ankommen in der Residenz; Marggraf war wie besessen - er gab Kost und Trank, und Geld über Geld, und Kost und Trank. - Die eigne Residenzstadt Nikolopel wurde gar nicht abgeladen und aufgebaut, und wärs vor elenden Dörfern gewesen, worin kaum die Einwohner hätten wohnen können.

- Und hier liegen nun auf dem Papiere alle die Ortschaften deutlich hintereinander, wodurch Nikolaus flog nach Lukas-Stadt. Soll ich denn aber auf den so weiten Reisen meines Marggrafen jedesmal berichten und ausrufen. von Geschwend gings nach Wölfis - von da nach Trebsen - von Hohenfehra nach Niederfehra (denn Mittelfehra blieb seitwärts) - von Sabitz nach Zabitz - von da nach Fürberg- dann nach vielen Lumpennestern, durch die man hindurchschießt, ohne nach ihren Namen zu fragen - endlich von Scheitweiler nach Strahlau und nach Nikolopolis? ....

Diesesmal jedoch geschah es; denn es ist ja eben geschehen; und Nikolaus und Gefolge kamen wirklich durch die genannten Ortschaften in Strahlau, eine kleine Viertelstunde von der Residenz, in Nikolopolis an, welches letzte natürlich vorher abgeladen wurde und aufgebaut, aber, wie man denken kann, ungemein prächtig, nämlich ganz. - -

Inzwischen für die Zukunft kann es doch, hoff ich, der Wille der Welt unmöglich sein, daß ich meinen noch rückständigen Stummel von Leben - - worin ein Tag ein Jahr ist, indes bei dem alttestamentlichen Nichtsschreiber Henoch ein Jahr bloß ein Tag ist, weil er erst im 365ten Jahre gen Himmel fuhr - dadurch aufzehre, daß ich den Lesern jeden Fahrweg, jede Kneipe, jeden Torschreiber, jeden Schenkwirt der Reise auftische und solche Infinitesimalteilchen von Gradenbreite und -länge wie die genannten Dörfer Sabitz und Zabitz u. s. w. namentlich vorrechne; als ob der Fürst, wenn er nicht mit seinen Leuten und Pferden durch die Wolken den nächsten Luftweg nach Lukas-Stadt nehmen wollte, anders dahin hätte kommen können als durch die unterdrückten Dörfer.

Daß ich übrigens solche recht genau kenne und nicht erst zu erdichten brauche, wird mir hoffentlich jeder zutrauen, der sich erinnert, daß ich die weitläuftigen Tagebücher des Kandidaten vor mir liegen habe, aus welchen ich jede Zeile und Stunde schöpfen kann, noch abgerechnet ohnehin, daß ich, insofern ich er selber war, hier als meine eigne Quelle springe. Ausfuhr, Ausritt - Einkehr, Einfuhr - Abritt, Abfuhr - Flüsse - Wirte und Hütten schneid ich demnach ab; gewinne aber desto mehr herrlichen Platz für manches historische Kolosseum. Gleichwohl nehme ich gern ohne Keifen Geographisches in die Erzählung hinein, sofern sich in ihm Geschichtliches begibt. Denn dieses allein gebietet und ist mein Herr; daher ist jedes Halbbedeutende und Halboffizielle, was vorfällt, jedes wichtige Gurgelwasser oder Fußbad, das der Held nimmt, redlich dem Leser zu geben, so wie jeder neue Passagier und Untertan, der zum Zuge stößt, mit seinen Streichen, Verdiensten und Späßen; denn wozu überhaupt, frag ich als vernünftiger Mensch, den ganzen Bettel von Buch und dessen Kapitel und Gänge, wenn ein solches Werk über das Geschichtliche wegspringen wollte, als ob es außer diesem noch etwas anderes zu berichten gäbe?

Wie wenig mir dergleichen einfällt, sieht man am stärksten, wenn ich von dieser Ausschweifung wieder in die Reisegeschichte einlenke und mit Vergnügen berichte, was auf der Flugreise nach Lukas-Stadt vorgefallen. Es war abends bei Zabitz, daß Nikolaus gegen elf Uhr in der mondhellen Lenznacht spazieren ging und aus einem nahen Wäldchen ein Waldhorn vernahm, das bloß in zwei Dreiklängen auf- und niederklagte. Näher traf er auf einem Baumstock den Kandidaten sitzend an, der es wenigstens in der Stimme nicht recht verbergen konnte, daß er der Musik immer zu weit offen war, zumal den einfachen Tongängen, die ihn wie Erdstöße bewegten. Auch Nikolaus ließ sich gern von den geblasenen Tönen ergreifen, weil sie ihm gleichsam Amandas ferne Stimme zu begleiten schienen.

Beide gingen in den Wald; der Hornist mußte durchaus hinter dem nächsten Baume blasen; aber nichts war zu sehen und das Blasen verschwunden. Nach einigen Schritten weiter in den Wald hinein fing es auf der alten Stelle mit den alten Klagen an. Beide schlichen sich ihr mit so leisen Schritten zu, daß der Künstler sie in der Nähe seines Horns unmöglich hören konnte; aber nichts war da, ausgenommen die Musik, welche oben in einem Baume zu nisten schien, auf welchem man nichts sah. »Wer ist da?« fragte recht laut Nikolaus. »Ich selber bins,« - antwortete es auf dem Baume - »ich habe da oben mein Nachtquartier, komme aber vor Hunger nicht zum Schlafen.« - »Lieber Freund,« sagte Nikolaus, »ich sehe nichts von Ihm, tu Er mir doch den Gefallen und komme Er herab; Er soll hinlänglich zu essen haben.« - Auf einmal rollte - ein runder dicker schwarzer Körper herunter und sagte: »Guten Abend, da steh ich.« Es war ein fetter Schornsteinfeger. »Wo hat Er denn Sein Waldhorn?« sagte Nikolaus. - »Da hab ichs«, versetzte der Schwarze und wies auf seinen Mund, der selber das Mundstück vorgestellt und die Klag- und Fragtöne durch die kalte Luft in die warmen Tiefen des Herzens geschickt hatte.

Nach Marggrafs Ausfragen nach den Ursachen seines Einlagers auf Bäumen trat der Schornsteinfeger in den Mondschein hinaus und zeigte auf sich und sagte. »Aus Armut und Hunger.« Nikolaus und der Kandidat sahen fragend seine gesunde Dickleibigkeit an; er antwortete und wies auf den unglaublich dünnen Kandidaten, der damals nicht viel dicker war als sein Rückgrat oder seine Armröhre und so härtlich und schalicht wie ein Speckkäfer: »Ach! mit einem solchen Leibe wollt ich lebenlang fegen.« - Es kam endlich die Entwicklung heraus, wie er schon seit Monaten sich zu einer solchen Speckkammer angebauet, daß er sich damit in keinen gewöhnlichen Schornstein mehr hinauftreiben und -drücken könne; daher er nun sehen müsse, wie er durch langes Laufen wieder etwas zum Steigen abmagere, und er wolle sich gern in der Luft ausdörren, wie Geräuchertes, und sich an der Sonne recht einbraten; - sein nächster Weg aber sei nach Luxstadt (so verkürzt das Volk Lukas-Stadt), ob er nicht vielleicht weitere Rauchfänge oder Rauchmäntel antreffe, in die er etwa hineinpasse.

Aber Nikolaus machte durch seine ganze Rechnung, sein eignes Verkleinerglas zu werden, einen dicken Strich, indem er ihn zu seinem ersten Leibwaldhornisten erhob und besoldete. Zu fegen könnt er freilich dem Schornsteinfeger vor der Hand nichts anweisen, nicht einmal im ganzen faulen Heinz; denn der Ofen ging leichter in den Essenkehrer hinein als dieser in den Ofen; und nur als etwaiger Kammermohr war er künftig von Seite der Farbe noch zu verbrauchen.

Am Morgen wurde der neue Marggrafische Staatsbürger dem Gefolge gezeigt und sein Naturalisieren allgemein bekannt. Bloß um einen schönen Zug von Kandidat Richter zu erzählen, flick ich hier die matten Vergleichungen ein, welche der Reisemarschall in Gegenwart des Hofpredigers zwischen Kanzelrednern und Essenkehrern anstellte und ausspann, indem er dazu, gleichsam zum Flachsrocken seines Gespinstes, das Fett von beiden nahm, das sie in der Esse und in der Kanzel einschnürte, und welches beide auszuschwitzen reiseten - worauf er noch weiter bis zum mühsamen Gegeneinanderhalten zwischen Kanzeltreppe und Schlotfegerleiter und zwischen Gesetzeshammer und Essenkehrerbesen und endlich bis zum beiderseitigen Singen oben auf der Feuermauer und vor dem Kanzelpulte sich verstieg und dann mit der Lust aufhörte, womit schon ein Kandidat sich im voraus hie und da schlotfegerisch schwarz ausschlüge; z. B. Halsbinde, Rockknöpfe, Hosen. »Da sonach das Schwarze«, versetzte unerwartet kühn der Kandidat, »das beste Ziel in der weißen Scheibe ist: so setzen Sie nur gar Stiefel und Hut dazu, welche beide ich schwarz trage als Kandidat! - Aber Himmel! ich bitte Sie, was ist denn alles protestantische Streben des Kandidaten nach der schlechtesten Farbe, die kaum eine ist, und die jede verderbt, gegen das katholische der Mönche nach der roten, dieser Kardinalfarbe in manchem Sinne! Wie viele tausend Mönche haben nicht den roten Strumpf und Hut im Kopfe und vor Augen, um es nur auszuhalten in ihren Kutten und Klöstern! Daher ich solche Violettsüchtige gern mit dem redenden Raben Jacquot vergleiche, dem man in jeden Käfig immer einen roten Lumpen halten muß, weil er sonst in Zuckungen verscheidet.«

Dies war das erstemal, wo Richter sich zeigte am Hofe, nämlich vor den beiden Hofherren. -

Schon nachmittags rückte Nikolaus - mit seinem neuen Staat- und Stadtbürger - in Nikolopel ein, nachdem er dasselbe unweit Lukas-Stadt völlig aufgebaut hatte, und viel schöner als vor Liebenau.

Mich dünkt, die ganze Baute samt den ersten Früchten dieses Treibhauses, oder eigentlich dieser Treibhäuserstadt, ist wichtig genug, daß man sie, da nicht sogleich wieder ein frisches Kapitel angefangen werden kann, wenigstens in einem frischen Gange aufführt, und zum Glücke ist er schon in der Nähe, nämlich der

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