Jean Paul
Der Komet
Zwanzigstes Kapitel in zwei Gängen
eingestellt: 14.7.2007
Der Ledermann - die Bildergalerie
Erster Gang
Der Nachtwandler - der Wohlfahrtausschuß - Schloßwachen
Wenn ein Mann in einem fort von Morgen bis Abend mit Lob erhoben wird, sowohl von den andern als von sich - wenn er die besten Aussichten auf Thronen und Prinzessinnen genießt - wenn er mit seinem Gesichte 32mal in die Gemäldeausstellung hineinkommt, ja selber mit
seinem eignen dreiunddreißigsten darin nachzukommen vorhat, so sollte wohl jeder denken: was kann ihm fehlen, dem Manne? Aber doch sumste und sauste und schnurrte dem Grafen mitten in den Lustgängen seines Paradieses eine fatale Hornisse ins Gesicht, die sich jeden Augenblick darauf setzen konnte; - und dies war der sogenannte ewige Jude in Lukas-Stadt. Wir wollen hier nicht lange fromme und einfältige Betrachtungen darüber anstellen, daß auch die Hohen der Welt ihre Plagen haben und Menschen
bleiben, und daß sogar für Thronen trotz ihrer Höhe noch Schlaglawinen auf den Gebirgen der Zukunft bereitliegen; sondern wir wollen uns lieber gleich erinnern, daß Nikolaus von der mit Affenleder überzogenen Gestalt, die ihn im Nebel gleichsam angeredet, besonders aufgeregt worden. In den Wellen seiner einmal bewegten Phantasie brach und verzog sich dann die Gestalt immer unförmlicher, und daß sie vollends Nasenspitze und Ohren bewegen konnte, war ihm schrecklicher, als säh er einen Löwen mit
dem Schwanze oder eine Schlange mit der Zunge wedeln. Am fünften Morgen nach dem Einzuge brachte der tiefdenkende Stoß die Schreckenpost, der ewige Jude habe in der Nacht Nikolopel in Brand stecken wollen und sei auf den italienischen Dächern mit einer breiten Mordbrennerfackel umherspähend gesehen, aber durch das Hinaufblasen des Nachtwächters gestört und hinabgezogen worden.
Der Fürst, als Landesvater seiner Residenzstadt und seiner Residenzstädter, wollte eiligst Eilboten dahin
beordern, als sich der dicke Schlotfeger melden ließ, der, sofort vorgelassen, mit einem verfaulten Brett eintrat. Er sei - berichtete er - nachts draußen in der Stadt gewesen und habe zu seiner Lust waldhornieret; da sei der Ledermensch mit dem faulen Holze, das er oben auf den Häusern wie eine Fackel herumgeschwungen, auf einmal vor ihm gestanden und habe ihm dasselbe als einen Brief an den Herrn Grafen zum Überreichen übergeben; und es sei wahrscheinlich ein altes Sargbrett aus dem
benachbarten Kirchhofe, wie aus der angestrichenen Farbe und aus den noch leserlichen Wörtern: »denn ich bin Herr und sonst keiner« zu ersehen.
Wiewohl jetzo Stoßens ganze Mordbrennerei zu einem phosphoreszierenden Faul- und Sargbrett erlosch, und das ganze Gerücht auf einen Dachwandler einlief, welchen ein Lippen-Waldhorn statt eines Nachtwächterhornes herabgetrieben: so wurde dem Grafen das Wesen gerade durch die abenteuerliche Knotenlösung noch schauerlicher. Er ließ den in der
Stadtgeschichte unfehlbaren Pabst vorrufen, um Licht zu bekommen. Dieser schenkte ihm so viel reinen Wein, als er hatte, ein: der Ledermann - dies war stadtkundig, dem Wirt zufolge - blieb jedem ein Wundertier, besonders da er (Tausend sind Zeugen) von nichts lebte, ausgenommen von der Luft, und niemal einen Bissen oder Tropfen zu sich nähme oder sonst natürliche Bedürfnisse verriete; und doch ergriff er die stärksten Männer mit Riesenmuskeln, wäre aber durch ein einziges Wort von einer Frau zu
bändigen, weil er für das weibliche Geschlecht ebensoviel Zuneigung äußerte als für das männliche Haß. »In dieser Woche aber« - bemerkte Pabst - »sei er ganz besonders des Teufels lebendig; er marschiere mehr als sonst auf den Dächern herum, und sogar schon aus dem Schornstein des römischen Hofes hab er dreimal herausgeguckt. In dergleichen Paroxysmen gerate er aber jedesmal, vorzüglich wenn große Herren in der Stadt eintreffen, die er sämtlich nicht ausstehen will, weil er allein der regierende
Fürst der Welt in seiner ganz erbärmlichen Narrheit zu sein denkt; aber nach der Stärke seines jetzigen Unwesens müsse er fast urteilen, daß ihn mehr als ein einziger, bloß durch die Geburt angekommener Fürst in Hitze setze.« - -
Hacencoppen verstand recht gut die feine Anspielung auf seinen Rang. Der Stößer aber fing Feuer bei dem Schornstein des Gasthofs, aus dem das Ledergespenst dreimal geschaut; und er fluchte mehre Mon-dieus und Au-diables ins Zimmer hinein, um augenscheinlich
zu machen: der Drache rutsche gewiß wohl in der nächsten Nacht den Rauchfang herunter aufs Kamin und erdrossele am Ende den Herrn, der Seibeiuns! »Sacre,« sagt er, »es ist ein höllischer Hexenmeister, so wahrhaft, als ich mit meinen zwei Füßen dastehe. Da muß aber der Herr Wirt alle Abende einen Besen ins Kamin legen, so kann er nicht darüber weg.« - Stoß steift sich nämlich auf einen bekannten Paragraphen der Rockenphilosophie, daß eine Hexe über keinen in den Weg gelegten Besen schreiten kann,
ohne ohnmächtig zu werden; ein freidenkender Paragraph, der denselben Besen, welcher das Zauber-Reitpferd ist, zum spanischen Reiter und Schlagbaum der Hexen macht.
Der ehrerbietige Pabst schlug in allem Scherze vor, statt des Besens den Kaminfeger selber in den Kamin zu legen, da er doch draußen in der Residenz Nikolopolis aus Mangel an Feuermauern nichts zu fegen habe, hier unten aber im Kamin mit seinem Fett ganz bequem im Hinterhalt liegen könne, um den Nachtwandler zu empfangen,
wenn er oben vom Rauchfange herunterkomme.
Der Fürst resolvierte auf alles vor der Hand nichts als die wichtige Frage: warum man den Wahnsinnigen frei umlaufen lasse, da er sogar in das Schloß zum Fürsten dringen könne? Aber der Wirt erklärte: »dem sei schon durch Befehle an die Wache vorgebaut; - auch brauche Herr Graf von Hacencoppen« - setzte der Wirt nach einigem Nachsinnen hinzu --»bloß unten am Tor ein paar Mann Wache hinzustellen, die diesen Fürsten der Welt, wie der ewige Jude
sich nenne, nicht einlasse, da er ohnehin im Hotel nichts zu suchen habe.« - »Natürlich,« - fügte Stoß, aber nicht als Satiriker, bei - »da das Gespenst nichts braucht und bloß die Gäste vertreibt.«
Diplomatiker haben gewiß ohne mein Erinnern oben wahrgenommen, daß der Fürst, gleichsam als hab er einen heiligen Bund mit andern Fürsten geschlossen, nicht ohne ein Beispiel des lukasstädtischen zur Wehre oder zum Kriege greifen wollte, nämlich zur Türsteller-Wache am römischen Hofe und
zur Wegelagerung des Schlotfegers im Kamin. Er genehmigte aber vor der Hand weder einen Türsteher noch die Kamin-Wegelagerung des Waldhornisten. Doch konnt er kaum die Mittagtafel erwarten, um den seltsamen Nebelstern durch seine Fernröhre, d. h. durch seine Gelehrten, zu beschauen und näher an sich heranzuziehen, und sollte das Gestirn sich ihm zuletzt in einen bedenklichen Schwanzstern verlängern. Manche Menschen können den Gedanken nicht ertragen, einen ordentlichen Feind zu haben, nicht aus
Furcht, sondern aus Unbehaglichkeit des Herzens; - und vollends jetzo ein Graf von Hacencoppen, der von einem warmen Meere der Liebe ins andere schwamm! Ein Feind war ihm, als stieß er sich darin an eine Eisinsel.
Aber er merkte bald, daß die Frist bis zur Mittagtafel, da er erst spät, nämlich mit dem Hofe speiste, zu einer halben Ewigkeit werde. Wenigstens der Hofbankier und Schächter Hoseas mußte eilig erscheinen, der als zeitlicher Jude wahrscheinlich auf den ewigen gestoßen. Er
kam in der Hoffnung angerannt, etwas Besseres, nämlich einen Diamanten statt eines Juden zu taxieren. Allein er wog dem Grafen auf seiner Goldwaage, die zu einer Hexen- und Fleischwaage wurde, den Ledermenschen nicht einmal als vollötigen Israeliten vor, sondern als einen Juden-Antichristen; denn er erzählte, der Mensch könne gar keine Juden leiden, sondern nenne sie alle Habel oder Abel, die er sämtlich zu erschlagen wünsche, so wie er, nach seinem Glauben, als Kain den ersten Habel totgemacht;
auch die Christen nenn er seine Habels.
Der Vorsänger Hoseas machte nun mit Flehen dem Grafen Fürsorge für sein teures Leben zur Pflicht und fügte zur Verstärkung hinzu: seitdem er dies und anderes wisse, weich er selber dem Tollhäusler, den leider die Polizei nicht einfange, ob er gleich Fremden nachsetze, straßenlang aus; denn als Jude überbot Hoseas den Löwen an Mut, welcher so sehr gepriesene Tierkönig (nach Sparrmann und Naturgeschichtschreibern) nur im Hunger angreift und
kämpft, aber feige davonläuft, wenn er sich satt gefressen; indes Hoseas gerade dann am tapfersten sich wehrt, wann er sich völlig gefüllt mit Geld und Geldes-Wert. -
Jetzo wurde dem Grafen die Zeit zum Mittagessen noch länger, ob sie gleich etwas kürzer geworden. Der Reisemarschall wurde einberufen. Dieser stattete folgenden Bericht ab: »Mein Gönner ist der Lederne eben nicht; wenigstens wünscht er mich zu vergiften. Er versicherte mich erst gestern, bei einer gewissen Diskrepanz
unter uns, wahrhaft offen: er sehe sich schon lange, aber vergeblich nach einer langen frischen Viper um, damit er mir solche, indem er sie ohne Schaden am Schwanze fasse und herabhängen lasse, so geschickt ins Gesicht schleudere, daß sie mit einem tödlichen Imbisse mich ausreute und abtue; denn er trage nicht umsonst eine Schlange auf der Stirn als Kain-Zeichen! Seinen langen Knittel-Zepter - so tauft er ihn - hebt er schon von weitem, wenn er mich sieht, als einen Türklopfer oder
Stundenhammer in die Höhe, um das Schlagwerk an meinem Glockenkopfe anzubringen. Aber ich ziehe jedesmal, wann er seine Aufziehbrücke als Fallbrücke herablassen will, um mit mir zu kommunizieren, da zieh ich von fernen in die Luft mit allen meinen Fingerspitzen bloß mehre Linien langsam herab und gehe damit wieder seitwärts hinauf - Sofort kann er seinen Zepter-Prügel nicht mehr aufrecht halten, sondern läßt ihn sinken; seine Augenlider senken sich wie zum Schlafe, und sein Gesicht fängt
ordentlich zu welken an, und er läuft fort. Wahrscheinlich magnetisier ich ihn von weitem; denn sonst, glaub ich, hätte mich dieser etwas verspätete Kain wohl durch seinen Schäferstab oder Zauberknittel in seinen Abel verwandelt.« -
Der Graf fragte verwundert, womit er denn das seltsame Wesen so sehr gegen sich aufgebracht. »Gnädigster Herr!« versetzte Worble, »bloß durch Liebe, nicht gegen den Kerl, sondern gegen die guten Weiber. Er nennt alle Weiber Hevas oder Heven, Even, und sich
die redliche Schlange, die ihnen den Apfel und die Erkenntnis des Bösen und Guten zu geben hat. Die Mannspersonen aber erklärt das Geschöpf sämtlich für Schelme, darunter aber mich für einen großen. O! Gnädigster, mich! - als hätt ich nicht dasselbe auf dem Baume vor wie er und säße droben, um sie auf ihre Selberbeschauung und Blättertoilette zu bringen. Der Lederne affektiert nämlich eine besondere Hochachtung für Weiber - ein Blick, ein Laut bezähmt ihn - und will darum Leute nicht dulden, die
sich nur kleine Weinproben von ihnen nehmen, aber deshalb nicht das ganze Faß heiraten wollen. Bloß den Höfer Kandidaten Richter läßt er laufen; aber auf mich und meinen Kopf soll die Inklination seiner langen Magnetnadel fallen, wie die Russen den Stock auf die Weiber fallen lassen, für welche sie besondere eheliche Liebe tragen.« -
Jetzo wär es gar nicht möglich gewesen, daß dem von Hacencoppen die von neuem abgekürzte Eßfrist nicht wieder zu lang geworden wäre. - Es wurde
schnell zu Süptitz geschickt.
Aber der Hofprediger war in Nikolopolis und wurde erst zur Tafelzeit erwartet.
Gegen seine Gewohnheit erschien er viel später als sonst und brachte ein ganzes Gesicht voll Wogen mit, die sogleich noch jäher gegeneinander zu laufen anfingen, als Nikolaus seine Frage nach dem Ledermenschen tat; denn von diesem kam er eben her. Er erzählte: er sei in Nikolopolis in sein niedliches Zimmerchen, das er bei Liebenau genossen, zum Vergnügen der
Wiedererinnerung gegangen, als sich auf einmal der ewige Jude mit seinem langen Stocke vor die Türe gestellt und ihn nicht wieder hinausgelassen. »Zum Fenster hinaus«, sagte er, »ließ mich meine Dicke nicht springen, und zu erschreien war im ganzen Städtchen kein Christ. Die Haupt-Fluchtröhre, die man in solchen Gefahren sich vor Tollen, als Jäger zu reden, graben muß, ist nun die, daß man nach ihrer eignen Idee spricht und handelt, als habe man selber ihre Tollheit, was bei einiger Philosophie,
nach Cicero, nicht schwer wird. ›Bester Mensch!‹ fing ich an.
›Du Habel,‹ unterbrach er mich, ›ich bin keiner. Mein Vater, der Fürst der Welt, ließ sich herab und erzeugte mich als Schlange mit Heva, und sie nannte mich, als einen Göttersohn, Kain und sagte: ich habe den Mann, den Herren. (1. B. Mos. K. 4. V. 1.) Siehst du nicht die Schlange auf meiner Stirn als Geschlechtwappen? Darauf fiel meine Mutter und vermischte sich mit dem bloßen
Menschen Adam und gebar den ersten Habel, den ich auf dem Felde totgeschlagen, weil er ein paar von meinen Untertanen und Tieren umgebracht und verbrannt zu Opfern. Denn ich habe als Fürst der Welt die Herrschaft über die Tiere, so wie über euch Habels. Hab ich unrecht, Habel, du eingebildeter Hofprediger eines eingebildeten Fürsten?‹
Ich versetzte diesem eingebildeten Fürsten der Welt: ›Bester Kain, ganz unbekannt ist mir deine Behauptung nicht; schon im Dictionnaire von
Bayle und in den biblischen Diskursen von Saurin wurde der Glaube mehrer Rabbinen angeführt, daß Eva zuerst mit der sogenannten Schlange in ein ganz vertrauliches Verhältnis geraten; und in Michaelis orientalischer Bibliothek steht schon längst die Meinung des Engländers Pye angeführt, aber nicht widersprochen, daß eine Schlange auf der Stirn das Zeichen Kains gewesen. Aber wie kann es denn bei solchen Umständen kommen, daß man, bester Kain, vom dummen Volke der ewige Jude genannt
wird?‹
›Was,‹ - rief er - ›bin ichs denn nicht, eingebildeter Hofprediger eines eingebildeten Fürsten? - Bin ich etwa seit Habels Tod gestorben? In euerem alten Buche steht schon, daß ich siebenmal gerochen werden soll, und daß ich meine Zeichen der Unverletzbarkeit trage; aber, eingebildeter Hofprediger, wo steht denn in euerem alten Buche, daß ich je gestorben bin? War ich nicht in tausend Schlachten und habe hunderttausend Habels totgeschlagen, und mein
Wappen war meine Unsterblichkeit?! - Antworte auf der Stelle, eingebildeter Hofprediger!‹
So sprach in der Tat dieser eingebildete Kain, aber zum Glück konnte ich ihm mit Wahrheit antworten, daß ich mich selber oft gewundert, warum im fünften Kapitel Mosis, wo die Sterbejahre adamitischer Nachkömmlinge bestimmt werden, nirgends des Alters, geschweige des Todes eines Kain gedacht werde.
›Ich wandle‹ - fuhr er mit starker Stimme fort - ›unvergänglich, unermüdet, unbezwinglich, eueres tierischen Kauens und
Schluckens unbedürftig auf der Erde; denn ich erwarte die Ankunft meines Vaters, des Antichristus, um mit ihm euch Habels, am meisten gekrönte Usurpatoren, für euere Abtrünnigkeit zu strafen, so wie er in Jerusalem euern Gottmenschen, der vor ihm auf dem hohen Berge nicht niederfallen wollte, mit dem Kreuztod heimgesucht.‹
Da fuhr ordentlich ein unbändiger Geist in den Tollen, und er arbeitete mit einer richtigen, aber fürchterlichen Beredsamkeit, welche der Psycholog öfter bei
den von einer fixen Idee entzündeten und getriebenen Menschen wahrnimmt, auf der Stelle eine so bittere, von vielseitiger Belesenheit und von so vielseitigen Erfahrungen und historischen Kenntnissen strotzende Strafpredigt, wenn nicht Schmährede auf die Menschen aus, besonders aber über ihre Fürstendienerei und ihr ewiges Dummbleiben, über ihre ewige Feigheit vor Gott und Menschen und Teufel, über ihre Tierfellsucht, über ihre Putzsucht nämlich, daß ich ordentlich wie erstarrte, zumal
da er dabei mit der Nase zuckte und die Ohren hin- und herschlug und zwei Büschel Scheitelhaare zurückgekrümmt fast wie weißliche Hörner aufrichtete. Und immer mehr wurde mir im stillen zumut, als säh ich den Teufel lebendig vor mir, und ich kehrte in meinem Innersten alle die Hülfmittel vor, welche (ich meine nicht das Kreuzigen) einem Christen in solchen Umständen zu Gebote stehen. Wie sich manche Philosophen sogar ihr eignes Sterben zu beobachten vorsetzten, obgleich die Beobachtungen keiner
Seele nutzen konnten als nur ihnen allein, so stand ich mitten in meinen Gefahren wie auf einer Sternwarte, zum genauesten Observieren des Tollen. Da nahm ich augenblicklich wahr, wie das mündliche Waldhornieren unseres Schlotfegers ihm ins Ohr fiel und er auf der Stelle davonrannte, aber noch in der Ferne mit dem Prügel mir zurückdrohte, als ich noch unter der Türe stand und auf sein Verschwinden wartete.« - -
Der Hofprediger erklärte nun, er wolle seine aufrichtige Meinung
unbewunden über den Menschen sagen - was wohl das Schwerste für einen Hofprediger ist, da jeder so voll Rücksichten wie ein Hofmann spricht, nur aber freilich ein katholischer noch dreißigmal mehr als ein protestantischer -, und zwar woll er seine Erklärungen ohne alle Beziehung geben - ausgenommen auf den Apotheker, wie bald zu merken war - »da biet er denn«, fuhr er fort, »zur Auflösung des Rätsels zwei Wissenschaften auf, Seelenlehre und Theologie, genauer zu sprechen, Natürliches und
Übernatürliches. Eine fixe Idee - um psychologisch anzufangen - sei wirklich vorhanden, welche der Närrische, der so viele Gelehrsamkeit verrate, wahrscheinlich durch das Lesen von den jüdischen und kirchenväterlichen Meinungen über Kain aufgefangen, auf welche er vollends die Mittelaltersagen vom ewigen Juden künstlich gepfropfet und wirklich, wie Tolle leicht vermögen, in erträglichen Zusammenhang gebracht. Das Nacht- und Dächer-Wandeln sei ziemlich Ausbruch und Nahrung des Wahnsinns, und was
das Nicht-Essen (auch Wahnsinns-Nahrung) anlange, worüber alle einig sind, so finde man nicht erst heute in den Werken der Physiologen und Psychologen viele Beispiele, daß Rasende stärkste Laxanzen, größte Kälte und Hitze und längste Schlaflosigkeit ohne Nachgefühle ausgehalten, und folglich Hunger auch.«
Es wurde ihm zwar an der Tafel eingewandt, wie der Lederne nach allen Stadtzeugen schon jahrelang nichts in Lukas-Stadt zu sich genommen oder von sich gegeben; aber Süptitz
versetzte: »darauf komm er eben, indem er die zweite Wissenschaft, die Theologie, versprochnermaßen zu Hülfe rufe; er hege nämlich, dringe aber seine Privatmeinung nicht auf, die kühne, daß in unsern Zeiten so gut wie in den apostolischen der Teufel Besessener erscheinen könne, und die Scheu, welche die sonderbare Gestalt vor des Herrn Reisemarschalls Kreuzzeichen in die Luft an den Tag lege, bestätige viel; so auch ihre Vorliebe für Weiber, welche der Teufel aus Erinnerung an die zuerst
willfährige Menschenmutter von jeher, wie die Hexen-Überzahl dartue, vorzugweise aufgesucht und gemietet.« - »Auf diese Weise könnte der Lederne«, unterbrach ihn Worble, »eine Stütze oder eine Folge Ihrer Hypothese werden, daß der Böse oder Arihman noch lebendig unter uns hantiere, weil er in Kleinigkeiten jedem von uns nachsetze und immer unser Butterbrot auf die bestrichene Seite fallen, oder die aufeinanderliegenden Papiere, gerade als die gesuchten, immer ganz unten finden, oder die Spalte
der Feder nach langem Drücken zuletzt fingerlang aufreißen lasse.« -
»Wenigstens ist es seltsam, was ich noch gar nicht vorzubringen Zeit gehabt,« antwortete Süptitz, »daß die Gestalt sich sehnt, in die Hölle zu kommen, weil sie glaubt, dort ihre verwandten Seelen, nämlich die verstorbenen Tierseelen, wiederzufinden. Die Tierwelt, glaubt sie nämlich, sei eigentlich die höhere und werde durch junge, noch unreife Teufelchen beseelt; in ihr geb es daher die größern Kenntnisse und Künste
- die Instinkte genannt -, den größern Zorn, die größere Unbezähmbarkeit, und das Reich schließe endlich mit dem Affen, dem vollendetsten Tiere und dem Ebenbilde des sogenannten Teufels, ganz unbezähmbar, listig, kunstreich und keck und sonst; auch nennten die Menschen wirklich einen an sich trefflichen Affen den Simia Beelzebub, obwohl mehr wegen seiner Schwärze, seines Brüllens und seiner Furchtgestalt; der Mensch aber sei nichts als ein schwächlicher, ausgearteter, unvollendeter Affe, so wie
(nach Buffon) das Pferd ein ausgearteter Esel, und daher hätten die Menschen in bessern ägyptischen Zeiten die Affen und alle Tiere als ihre wahren Götter angebetet. - So spricht die Gestalt; aber, meine Herren, ich habe viel bei ihr erwogen, und manches frappiert wirklich. Jedoch alles Psychologische und Theologische beiseite, in jedem Falle kann sie wenigstens Unglück anstiften, schon mit menschlichen Muskelkräften, geschweige mit andern; besonders bin ich sehr verwundert, daß kein Mensch dem
Fürsten von Lukas-Stadt die Gefahr ernstlich vorhält, in die er sich durch ein solches ganz ungehindert auf Gassen und Dächern umherlaufendes Wesen setzt, welches der einzige Fürst der Welt, sogar des höhern Tierreichs, geschweige der geringern Menschen zu sein vermeint, und das folglich dem Lukas-Städter Fürsten, wie jedem andern, als einem Usurpator das Lebenslicht in der ersten besten Minute ausbläst, in welcher die Wut des bisher zahmen Untiers oder Unmenschen unvermutet ausbricht. - - Und
sollte meine Rüge« (sagte er, sich zum Wirte wendend) »noch heute an den Hof gelangen, Monsieur Maître dhôtel, ich hielt sie für Pflicht.«
Auf diese Weise klopfte Süptitz mit seiner Psychologie im Ledermenschen eigentlich den Grafen aus, wie man sonst in Persien den Rock anstatt des Sünders geißelte. - Er holte noch in der Eile aus ärztlichen und psychologischen Hörsälen die besten Wahrscheinlichkeiten zusammen, wie die Gestalt sich in die Einbildung, ein Fürst zu sein, möge
hineingelesen haben. »Sehr sollte es mich wundern,« dachte der Hofprediger, »wenn Nikolaus nichts heimlich merkte und auf sich bezöge; am Ende verläßt er früher die Stadt oder wohl gar seine - Narrheit.«
Aber Menschen mit Phantasie, wie Nikolaus, finden in der Phantasie selber schon eine stille Abwehr gegen jedes Niederdrücken derselben durch vergebliche Heilmittel; sie gleichen Verwundeten an dem Scheitel oder - den Kinnbacken, wo das nachwachsende Haar das aufgedrückte Pflaster
immer wieder hebt und abstößt, zum Ärger des Wundarztes.
Der Graf von Hacencoppen ließ den Wirt abtreten. »So viel ist endlich gewiß,« fing er auf- und abgehend an, »nun wird die ,Sache ernsthaft. Das unselige Wesen schaut hell durch mein ganzes Inkognito hindurch, es verfolgt mich unausgesetzt, es hoffte draußen wahrscheinlich mich in meiner eignen Hauptstadt zu treffen und anzugreifen. - Was kann es mir oder irgendeinem Manne nützen,« rief er heftiger, »daß er sich für den Kain, für
den Ahasverus, ja für den Teufel selber ansieht? Gott, desto gefährlicher ist ja eben ein Mensch, mit einem eingebildeten Brudermord und Christus-Haß im Gewissen! - Hinmorden wird der alles, was ihm nicht gefällt; aber am allerersten muß er, bei seinem Teufels-Ingrimm gegen die guten Menschen, gerade jeden anpacken, der ihnen recht zugetan ist und recht wohltun will, und der wegen seines höhern und weitern Wirkkreises es am besten vermag.«
Er lief immer schneller auf und ab und fuhr
fort. »das nachsetzende Wesen zeige sich ihm immer gefährlicher, je länger er sichs vorstelle, und er erstaune, wie er solchem bisher bei seiner Sorglosigkeit entgangen. - Über ein nahes hohes Fürstenbild« (er meinte Amandas Büste) »könn es ja herfallen und überhaupt wichtige Majestätverbrechen verüben.« -
»Um Gottes willen, wenn man sich einen zweiten Ravaillac gegen einen zweiten Heinrich den Vierten denken müßte!« fiel der Kandidat Richter bloß scheinbar albern ein, weil er für
andere gerade da fürchtete, wo er für sich gar nichts scheute.
»Wenn man nun vernünftig erwägt,« fuhr gefaßter Nikolaus fort, »wie die größten Fürsten aller Art, sogar mitten unter ihren liebenden Völkern und Heeren, sich mit unzähligen Schildwachen ordentlich umgittern: so ist es noch natürlicher, daß Fürsten sich noch mehr, vollends gegen Fürsten oder gegen Thronräuber oder Thronprätendenten, oder mit andern Worten, gegen den Krieg rüsten.«
- Plötzlich stand er still:
»Ja, ich will Leibwache,« sagt er; »wozu hab ich einen ganzen Wagen voll mitgenommen?«
Somit hatt er sich auf den Kriegfuß gesetzt, seine Landmacht mobil gemacht, nämlich stehend, d. h. zu Schildwachen. Da er sehr viele Invaliden - sie waren ihre eignen Ehrensäulen und Ehrenkreuze der Tapferkeit - bei sich hatte: so wurden nur solche noch denselben Tag als Vorlegschlösser an die Zimmertüten kommandiert, welche stehen konnten, sowohl an und für sich als vor dem tollen Feinde; die
andern aber, die zu sitzen vermochten, wurden als Kavallerie zu Pferd verbraucht. Er ließ daher den Wirt einberufen und sagte ihm unverhohlen, daß er, Hacencoppen, von heute an vor das Tor des römischen Hofs eine Wache zu Pferd beordere, welche dem sogenannten Ledermann den Eintritt durchaus verwehre.
»O heiliger Gott, schön!« - versetzte Pabst - »Der eingebildete phantastische Fürst der Welt hat in meinem Hôtel ohnehin nichts zu suchen.« - »Ich wüßte selber nicht,« - fiel Worble bei
-»zumal da der Kerl, wie man hört, ja gar nicht ißt und trinkt, geschweige säuft, Herr Wirt!«
Durch denselben Reisemarschall wurde nun - da er der einzige im Reisefürstentum war, der hier Generalissimus sein konnte - die Wachparade so richtig organisiert, daß das Ritterpferd vorm Gasthoftore von Zeit zu Zeit mit einem andern Reiter besetzt wurde, der gleichsam als ein lebendiger spanischer Reiter dastehen und den etwa mit Gewalt andringenden starken Ledermann leicht niedertreten
konnte. Sogar der Inhaber und Dispensator der Dreckapotheke löste, weil er mußte, einmal ab und saß verdrießlich auf. Nicht ohne Vergnügen nahm Hacencoppen in seinem Fensterbogen den Parallelismus wahr, daß im Springbrunnen (wie ich schon erzählt) ein in Galopp gesetztes Pferd mit Reiter und wieder aus dem römischen Hofe heraus ein berittenes hinschaue, das noch dazu Scharren und Wiehern voraushatte, der bronzene Schloßgaul aber ganz und gar nicht.
Der Kaminfeger und Waldhornist bekam
die Höhen zu bewachen und im Notfall zu besetzen, die Rauchfänge nämlich, falls in der Nacht der Ledermann eine feindliche Landung auf diese Küsten etwa versuche.
Ging der Fürst aus, so war er hinlänglich vom Gefolge gedeckt, vom Kandidaten Richter, Hofprediger Süptitz und Reisemarschall Worble. »Ich kann Ihnen wahrlich nicht genug danken, Herr Hofprediger,« sagte er im vollen Genußgefühl seiner Umgebung, »daß Sie zuerst durch Ihre lebendige Darstellung mich auf meine Lage aufmerksam
gemacht«; für den Prediger freilich gerade ein umgekehrter Erfolg, da der Ledermensch den Grafen eben aus dem fürstlichen Goldrahmenwesen herausdrücken sollte. »Der geistliche Arm« - sagte Worble und meinte den Kandidaten und den Hofprediger - »würde bei einer noch größern Tapferkeit, als man nur voraussetzen wollte, den Herrn Graf von Hacencoppen niemal so breit und muskulös und mannhaft decken als der weltliche, der in seiner eignen Achsel wurzle, und an dem eine Hand mit einem sechsten und
Sextenfinger sitze, einem Six-et-leva-Finger, der gegen einen Teufel Kain mehr ausrichte als eine volle päpstliche Faust mit Segens- und mit Exorzisierfingern.«
Worauf Worble hier zielt und worin Süptitz hier fehlschießt - und letzter zwar so außerordentlich, daß er dessen Luftstriche magnetischer Einschläferung für teufelaustreibende Hand- und Kreuzzüge ansehen wollte -, das im eignen Kopfe auszukundschaften, dazu braucht ein Leser von allen Bänden dieses Kometen nichts gelesen zu
haben als im ersten Worbles magnetisches Gastmahl: so sagt er: das dacht ich mir längst. Der Hofprediger aber, argwöhnisch und fein wie alle seine Kanzelvettern, brachte leicht heraus, daß der Reisemarschall kein besseres Versprech- und Drohmittel, um den Fürsten in seiner Nähe und Wache und Gewalt zu haben, ergreifen konnte als dieses, immer neben demselben als ein magnetischer Waffenträger gegen den Ledermann, als eine magnetische Rettleiter, als Meßgeleit herzugehen, oder als was man will,
das herrlich schirmt. -
Was aber nicht gemutmaßet zu werden braucht, ist, was man sah, daß der Kandidat Richter jetzo dem Grafen noch inniger anhing, weil er vor Gefahren vorbeizugehen hatte, und daß er recht gern immer um ihn geblieben wäre.
Des Hofstallmalers wurde von mir bisher gar nicht gedacht; er murmelte aber bloß für sich: hole der Teufel alle die Narrenpossen und Narren!, erklärte aber übrigens laut: »man brauche ja nichts, als dem Narren zur nötigen Stunde Arme
und Beine entzweizuschlagen und ihn dann laufen zu lassen.« - -
Der Himmel beschütze denn unsern guten Fürsten, bei seinen wenigen Beschützern! - Denn er gibt sich uns allerdings mehr tapfer als vorsichtig, wenn wir ihn gegen andere Fürsten stellen, welche mitten in ihrer Hauptstadt sich gerüstet halten gegen die Hauptstadt, und die ihre Residenz zu einer Grenzfestung gegen die Stadt bewaffnen und bemannen. Die Wachen sind ihre lebendigen Panzer-Hemden, und die Helme sind ihre
Bienenkappen, als Staats-Weisel; der Thron stellt mit seiner Palmenkrone voll Palmenwein eine Palme dar, welche bis oben hinauf zur Wehre gegen Ersteigen mit langen Stacheln - womit man erträglich Bajonette vergleichen kann - umgürtet ist. Noch dazu tun es Fürsten mit kriegerischer Gesinnung und in kriegerischer Uniform und umpanzern und fortifizieren sich so mannigfach; kurz, Helden und Eroberer, welche gegen die größten auswärtigen Feinde Wunder des Siegs getan, oft bloß durch ein paar oder
mehre Handschreiben an die Generale, weil ein gut und recht gebauter Kriegstaat einem Strumpfwirkerstuhl gleichen muß, der als ein Meisterwerk der Mechanik bei seinen zahllosen kunstvollen Bewegungen nichts nötig hat als ein paar mechanische Griffe und Tritte des Meisters; und der Strumpf oder (im obigen Falle) der Sieg hängt da.
Zweiter Gang
Der Bildersaal - Renovanzens Bruder - Paolo Veronese - Irrtum in allen Ecken - der Tiroler Hofnarr - der Marschbefehl
Endlich erschien der Tag mit seinem Morgenrot, an welchem Nikolaus die Ausstellung der Gemälde und seiner Porträte und die Ausstellung der Prinzessin und seine eigne erleben sollte. Der Reisemarschall hatte ihm, wie noch jeder von uns weiß, das Versprechen
gegeben, dafür bestens zu sorgen, daß der Graf eilig den Eintritt der Prinzessin erfahre, um sogleich darauf, wie von ungefähr, hinter ihr nachzukommen und aufzutreten. Da nun der Marschall nichts eifriger zu hintertreiben trachtete als eben die Konjunktion dieser beiden fürstlichen Sterne in einem Planeten-Hause: so hatt er mit dem Hof- und Stallmaler Renovanz, der den ganzen Tag in der Galerie sich aufhielt, die zweckdienlichsten Mittel getroffen, daß dem Grafen nicht eher etwas von
dem Eintritte des Hofs gemeldet würde, als bis alles wieder fort wäre und er zu spät nachtappe.
Der Stallmaler nahm die Sache gern auf sich; denn so ungern er auch dem Marschall den kleinsten Gefallen tat, dem porträtierten Hacencoppen tat er noch lieber das Gegenteil, weil er sich 32mal hatte abkonterfeien lassen ohne seinen Pinsel, den er für die Kirchenvereinigung der welschen und niederländischen Schule oder für eine welsche Perlenbank und belgische Austerbank zugleich ansah. »Ich
hätt ihn« - sagt er - »so gut verzieren und veredeln wollen als irgendein Narr. Ich hätte freilich damals unter der Vollendung meiner drei Preisstücke für die Ausstellung keine Sekunde Zeit für sein Gesicht gehabt; aber dies entschuldigt ihn bei mir keineswegs.«
Der Fürst stand nun in seinem Grafen-Inkognito - kein Stern der Weisen auf seinem Rocke bezeichnete andern Königen und Fürsten, was sie unter diesem schlichten Kleide zu suchen und zu honorieren hätten - eine Stunde lang
fertig angekleidet da, und seine Hofleute, der Kandidat, der Hofprediger, der Marschall, um ihn her; und alles wartete auf Nachricht von der Ankunft des fürstlichen Hofs, um ihn zu verstärken durch den gräflichen; aber keine Seele kam.
Worble ging auf einen Augenblick aus dem Zimmer und holte von seiner Freundin Johanna Papissa, die er als einen Vorläufer Johannes zur Beobachtung des Lukas-Städter Fürstenhauses sich angestellt, die gewisse Nachricht ein, daß sie alles bei der Galerie
habe vorfahren und absteigen sehen. Da flog er wieder zurück und konnte - um dem Grafen die Wartezeit so lange zu vertreiben, bis der Stallmaler von dem Abzuge des fürstlichen Personals die verabredeten Zeichen geben lassen - nicht Einfälle genug auf das zu späte Kommen der Fürsten vorbringen: »Und wie sämtliche Zeitungen« (sagte er unter andern sehr gut) »fürstliche Abreisen und Ankünfte der Prinzessinnen in Ländern monatelang auf Tag und Stunde vorauszusagen wüßten, wie aber kein Nürnberger
und Hamburger Korrespondent und kein Altonaer Postreiter weissagen könnte, in welchem Zimmer eine in der nächsten Stunde aus ihrem eintreffe, gleich wie man wohl die Partial- und Total-Finsternisse der Sonne auf Jahrhunderte vorausberechnen könne, aber auf keinen Monat die kleinen unsichtbaren Flecken auf ihr; und wenn schon eine Edeldame ihren Kutscher, Haarkräusler, jeden fremden Bedienten warten lasse und alle Welt dazu: wieviel mehr aber eine fürstliche!«
Noch immer fehlte der
Bote des Stallmalers, und in Worbles Seele wurde eine ganze Schreckbilder-Galerie nach und nach fertig und voll. Denn wenn er sich es recht ausmalte, wie ein kleiner Hof, besonders ein Luxstädter, tausendmal leichter und gefahrvoller zu beleidigen ist als ein großer, weil er eben sich selber und folglich damit die Verbrechen gegen ihn vergrößert sieht - je kleiner der Glastropfe, ein desto stärkeres Vergrößerglas ist er -, so wußte der Reisemarschall gar nicht wohinaus vor Jammer, sobald er sich
den Grafen in den Bildersaal hindachte, mit dessen kecken Schritten an die fremde Prinzessin hinan, sich ihr traulich heiß-ergießend über seine romantische Vorzeit bei der Prinzessin Amanda. - Und in der Tat, mir selber, der ich doch in größter Ruhe hier in meinem Zimmer längst hinter dieser ganzen Vergangenheit sitze und sie betrachte, steigen die Haare zu Berge, wenn ich mir den höchst beleidigten Hof vorstelle, den Grafen als einen Narren hinausjagend, den Marschall als dessen Oberaufseher
und Kurator in die Festung werfend und wohl einige vom Hofpersonale, vielleicht gar noch den unschuldigen Kandidaten Richter dazu, der damals noch wenig ahnete und noch sehend (erst später blind) in alle Netze lief. - Denn wahrlich ein Kefter, ein Hundeloch, eine Fronfeste in einem Fürstentümlein, in einer Schweizerstadt, in einem Klostergebäude ist schlimmer als eine Spandauer Festung, eine Engelsburg, ein Tower in einem Königreiche; denn hier auf der so hohen Weltspitze werden, als auf einem
Telegraphen, alle Bewegungen überall gesehen und von täglichen Schreibern leicht weitergemeldet; aber ein kleines Höfchen liegt unsichtbar im Tale und Schacht und arbeitet gewaltig, ohne daß ein Zeitungschreiber dessen Hofstaat oder dessen Aufgedeckte, geschweige dessen Gefangene oder Zugedeckte kennt und meldet. Daher schreiben die Völker mit Recht das Fürchterliche und Grausenhafte (nach Schellings Bemerkung) dem Zwerggeschlechte zu.
- Mitten in den entgegengesetzten Erwartungen
Worbles und Nikolaus - daß nämlich fürstlicher Abzug und fürstlicher Einzug angesagt werde - und auf dem hohen Meere allseitiger Bewegungen über das Rätsel, daß schon Mittagzeit anrücke und doch die Prinzessin noch nicht fort wäre zum Ankleiden oder angekommen zum Bilderbesehen, trat glücklicherweise der Wirt ein, und der gute Pabst sagte dem Grafen die Wahrheit, ohne besonderes Wollen und Wissen: nämlich die Fürstlichen ständen schon längst vor den Bildern.
Da erhob sich sogleich
Graf samt Gefolge.
Der Reisemarschall ging seinen Armensünderweg zur Richtstätte mit und fühlte sich hingezogen auf einer Kuh- oder Pabsts-Ochsenhaut samt eigner Ganshaut. »Alle Kreuz-Donnerwetter!« war sein stiller Seufzer.
Und wirklich fanden Graf und Gefolge etwas Ähnliches von Gewitter im Bildersaal: - ein brausender Bienenschwarm schien um einen Blütenzweig gelagert, nämlich eine Menge Kenner um den schönen Bruder des Stallmalers Renovanz, den blassen,
zarten, blauäugigen Raphael.
Man wird sich vielleicht erinnern, oder hat es wenigstens vergessen, daß der Stallmaler den träumerischen Bruder, namens Raphael, nach einer väterlichen Testaments-Bedingung der Erbschaft immer bei sich haben und über ihn wachen mußte. Die Wache war leicht. Fast den ganzen Tag schloß dieser die Augen, und seine Gehirnkammern waren Raffaelische Logen, welche rundum mit himmlischen Glanzgemälden wie mit Sternbildern überzogen waren; seine Seele wiegte sich
wie ein Engel in diesem gestirnten Pantheon. Sah er aus sich heraus in die Welt, und traf er dann irgend einmal auf ein vollendetes Zauberkunstwerk, das sein Bruder - geborgt hatte, nicht gemacht: so fuhr dasselbe mit solchen heißen Strahlen in seine zart-wunden Augen, daß er abends im Mondschein das Bild als sein eignes an der Wand, nur aber weit verklärter, glänzen sah; daher er das spätere Wahnbild für das Urbild ansah, das fremde Gemälde aber für eine matte Kopie desselben. Auf ähnliche
Weise sah Justus Möser Blumen in der Luft schweben, und auf eine noch ähnlichere sah (nach Bonnet ) ein Mann täglich vor seinen offnen Augen schöne Gebäude sich erheben und leere Tapeten sich mit Bildern füllen. Du froh-wahnsinniger Raphael! der keine andern Geschöpfe vor sich erblickt und belebt als die schönsten, vor denen alle die fremden erblassen, und für welchen jeder seltene Malerblumenstaub nur zur auferstehenden Phönixasche eines neuen Phönix wird! Jedes Allerheiligste der fremden
Kunst wird eine Brautkammer von Schöpfungen für dich, und jeder Engel aus Farben bringt dir einen Gruß zur Empfängnis eines schöneren Engels. Und hättest du einmal das Glück, durch die Logen deines Namenverwandten zu gehen: so fändest du zu Hause ein Göttergemach und Pantheon für dich. - -
Sein Bruder, der Stallmaler, der sich selber im stillen für den Brocken des welschen Kunstlandes ansah - nämlich nicht für einen Brocken, sondern für den Berg Brocken -, konnte sich nicht genug
darüber ärgern, daß der müßige Träumer sich ohne alle Pinselmühe an jedem Mondscheinabend für einen der größten welschen Meister halten konnte, indes er, Raphael, ihm nicht einmal den Gefallen tat, seine Werke wenigstens für schlechte Kopien von Urbildern zu nehmen, die er abends vor sich sah.
So stand alles, ehe beide in Lukas-Stadt einzogen. Hier nun, in diesem Tummelplatz von Malern und Bildern, sah Renovanz schon vorher aus den kühnen Absprechungen Raphaels lauter erboste
Gesichter aufkeimen,; denn ganz einzuschließen und abzuzäunen war der Bruder nicht. Da nun gerade damals der Buchhändler Nicolai sich in Berlin Blutigel an den After als Gens-darmes oder Alien-Bills gegen die fatalen Vexiermenschen, die ihn in seiner eignen Stube umzingelten und umtanzten, setzen lassen, und zwar mit einem Erfolge, daß er nichts mehr sah, sondern es der Akademie der Wissenschaften mitteilte: so hoffte Renovanz mit einigem Grunde, noch zehnmal glücklicher mit den Blutigeln,
welche bei Nicolai so ruhmbedeckte Stoßvögel und Raupentöter ganzer dicker Kubikmenschen geworden, gegen die bloßen Flächenmenschen auf Wand und Leinwand zu operieren, wenn er die Blutigel als maîtres des hautes-oeuvres an dem After des eingebildeten raphaelischen Namenvetters einbeißen ließe, gegen dessen Abend-Ideale. - »Durch die Abschwächung«, redete er physiologisch sich zu, »werden dem Narren bald, ich schwöre darauf, seine dummen stolzen Einbildungen und Vorbildungen von selber vergehen,
und er wird meine wahrhaften Ideale mit ganz andern Augen anschauen.«
In dieser Hoffnung legte nun der Stallmaler mehre Abende in Lukas-Stadt einige Igel an das Rückgrat-Ende des schlafenden Bruders, hob sie aber vor dem Erwachen wieder ab und machte darnach dem Arglosen das Nötige weis; allein nichts wollte zum Vorschein kommen als gerade das Widerspiel, und anstatt daß dem geschröpften Raphael die Blutigel - wie einst dem Welschlande die französischen Generale - die Meisterstücke
entführt hätten und abgezapft, zogen diese Nicolaitischen Ableiterspitzen des himmlischen Feuers vielmehr das Gewitter erst recht heran; - der Blutverlust entzündete durch ein Fieber der Schwäche seine Träume noch heftiger, er sah nun ohne Mondschein, fast schon bei Taglicht Gemälde - er häutete sich wund gegen die niederländische Schule ab und konnte nicht einmal den Viehstand Renovanzens mehr ausstehen, geschweige dessen Engel- und Heiligenstand. -
Zum Unglücke hatte er den Tag der
Gemälde-Ausstellung abgelauscht - nun war an kein Halten durch Renovanz mehr zu denken; der bildertrunkene und bilderdurstige Träumer brach ein in den Saal zum Erschrecken des Stallmalers, der darüber alle Nachrichten und Lügen zu schicken vergaß, die er dem Reisemarschall so redlich versprochen.
Ich versichere die Welt, Raphael ging anfangs träumerisch auf und ab und trug vor allen Bildern eine Entzückung auf seinem Gesichte vorüber, die kein Abglanz und Widerschein von außen war,
sondern von innen; denn er wandte sich von einem Gemälde der Luxstädter Welschen nach dem andern eilig ab, und vor der niederländischen Wandfibel ging er gar vorbei, ohne nur den Kopf hinzudrehen. Sogar über seines Bruders drei Preisgesuche glitt eiligst der Blick, was der Galerie-Inspektor bloß aus der Bekanntschaft mit ihnen unter dem Fertigmachen ableitete. Es bestanden aber die Versuche erstlich in vier trefflichen Roßschweifen, denen Renovanz als Attribute die zwei nötigen Bassas
angeheftet, sein einziges Viehstück für die belgische Schule; zweitens in einem Prügelstück, welches die bekannte Schlacht bei Rom zwischen Nikolaus und Schleifenheimer darstellte; und drittens aus einem Werke im italienischen Stil, nämlich aus einem Stall mit den anbetenden drei Königen, worin keine Figur so vielen Beifall davontrug und so sehr den Meister verriet als der Esel und der Ochs.
Auf einmal aber hielt Raphael vor einem Gemälde aus der venezianischen Schule, von Paolo
Veronese, still, Katharinas Vermählung darstellend. Maria sitzt auf einem Throne, die heilige Agnes kniet mit einem Palmenzweig in der Hand, ein Engel mit einer Lilie reicht der Braut Katharina den Arm, und das Christus-Kind steckt ihr einen Ring an den Finger. Es gab wohl keinen Menschen in ganz Lukas-Stadt und am Hofe und in der Kammer - welche noch über den Einkaufpreis trauerte -, und im Bildersaale - darin etwa den Galerie-Inspektor ausgenommen - gab es keinen, der das Werk nicht für einen
echten Paolo Veronese anerkannte. Die Krone und Peters-Kuppel der Galerie nannte man es, und ein Poet, der zu Bildern, ganz wie Goethe zu Tischbeins Zeichnungen, dichtete, reimte vom Kopfe der Hauptfigur Katharina, daß er wie ein Jupiterkopf, nur aber schöner und milder als mit Augenbraunenhaaren, nämlich mit Augen selber die Welt und die Herzen bewege und erschüttere. - Der Verfasser dieses, der schon mehr als eine Bilder-Galerie (nämlich zwei) im Durchgange gesehen (eigentlich drei), traf
wirklich diesen herrlichen Paolo in keiner an und will ihn insofern für echt halten; bloß in der kaiserlichen Galerie in Wien hängt dieselbe Katharina im ersten Stock des zweiten, venezianische Meister fassenden Zimmers an der zweiten Wand, wie er bloß gelesen.
Der bisher ruhige Raphael schüttelte vor dem Bilde, - dem in einiger Ferne noch das Gerüste eines nachzeichnenden Kunstschülers gegenüberstand - den Kopf ungewöhnlich heftig und deutete mit dem Finger auf Katharinas Augen;
vergeblich suchte Renovanz, der diese Vorspiele kannte, ihn wegzubringen. »O meine Amanda amata, wie bist du kopiert, entfärbt und entstellt, deine Augen ausgelöscht und deine Lippen verblutet!« (rief er). »Warum sind lauter Nachbilder in diesem Saale und kein Original! Kommt doch abends zu mir, ihr Zuschauer, und du auch, du Nachzeichnender -« (er wandte sich zu dem Herren- und Kenner-Halb-Zirkel) - »heute ist gute Mondscheinbeleuchtung in meinem Zimmer, und ihr könnt da die besten Originale
sehen, von denen hier so matte Kopien hängen. Ach, meine Amanda amata, wie anders siehst du hier aus als bei mir. O! das ist ja so traurig für mich!« - Der dürre Galerie-Inspektor versetzte ihm: »Ich komme abends gewiß, mein Freund!«
Hier trat Graf Hacencoppen, der Fürst Nikolaus, mit seinem Gefolge ein. Aber die Kenner-Masse neben Raphael und der Luxstädter Hof standen am fernsten Pole der Galerie. Der Hof, mit den Augen in die Kunst und mit den Ohren in die raphaelische
Nachbarschaft vertieft, wollte, wie es schien, den Eintritt eines Inkognito-Fürsten nicht zu bemerken scheinen, welchem, gleichsam als 32 blasende Postillone, 32 stumme stille Ahnen vorausgegangen waren, wie ich seine 32 aufgehangene Gesichter nennen kann; da er mit seinem eignen Gesicht ihr Ahnherr ist, ob er gleich darunter (wie jeder Stammvater) auch manche ihm unähnliche Ahnen und nur 16 ganz veredelte aus der welschen Schule zählt. - In der Tat, der romische Fürst glaubte sich dem
Luxstädter gewachsen, aber ich behaupte, ganz mit Recht.
Der Reisemarschall hatt ihn unterwegs recht dringend gebeten, sich vor dem Luxstädter Hofe nie das Kleinste zu vergeben, ja nicht entgegenzugehen, geschweige anzureden, da der Hof bisher so offenbar ihn gänzlich ignoriert habe, und da überhaupt der Graf selber (was vielleicht den Hof etwas entschuldige) gar noch nicht vorgestellt und anerkannt worden. Worbles Wink war nicht unzeitig angebracht; denn Hacencoppen kam mit einem
Mute vor fremder Fürstlichkeit an, daß ihn nur zarte Schonung seiner eignen zurückhaltend machen konnte.
Ohnehin lag ihm nun als Kunstkenner und -gönner das langweilige Geschäft auf dem Halse, die Gemälde sehr aufmerksam anzusehen und entzückt zu genießen; - zuweilen hatte er ein Wort von Mitteltinten, von Draperien und Tönen fallen zu lassen, desgleichen von großen Partien und kecken Pinselstrichen, oder vor manchen Bildern ein bedeutendes Schweigen zu beobachten, das andern
auszulegen überblieb.
Den Bildersaal strichen über hundert der feinsten Kenner auf und ab und hatten Brillen auf, ausgenommen die Kennerinnen; und der Mut des Urteils ersparte oft tiefere Einsicht. Kunstrichter in Galerien sind überhaupt in der krönenden Wahl und Ernennung der besten Stücke am schicklichsten römischen Kardinälen gleichzustellen, welche bei der Wahl eines heiligen Vaters sich wahrhaft von dem heiligen Geist getrieben und angeblasen glauben; nur daß die
Kardinäle, da sie den heiligen Vater oft aus ihrem eignen Konklave, ja sich selber als einen wählen, nur mehr aus sich machen als die feurigsten Bilderkenner, welche nur einen oder den andern Fremden zum Meister und Polyklet-Kanon kanonisieren. Den auf- und abgehenden Kunstrichterbänken war es - sie vozierten sich bloß durch ein kurzes Stehen vor einem Bilde zum Gerichtstand desselben - ungemein leicht, ja sogar ein Spiel, über Kopien und Originale ordentlich und richterlich zu sprechen und jene
zu diesen zu erheben, aus Liebe und Achtung für jede Malerhand, so wie etwa in London das Volk die ausgestopfte Hand, welche der Fürst Blücher, den Zeitungen nach, zur Schonung seiner lebendigen aus dem Wagen hängen ließ, so warm wie seine faßte und preßte. Im ganzen war das Publikum, besonders das, welches in der Nähe des fürstlichen Kreises sich entzückte und aussprach, ungemein mit allem, vornehmlich mit den neuen Ausstellungen beider lukas-städtischen Schulen zufriedengestellt, sogar mit dem
Elendesten, was ich an und für sich für den schönen Zug eines Publikums ansehe. Denn dasselbe hat mit den Cureten gemein, daß diesen nicht, wie andern Göttern, besondere Tiere darzubringen waren, sondern daß ihnen alle Opfer wohlschmeckten, und man gewöhnlich mit Ochsen anfing und mit Vögeln beschloß.
Nur Raphael flocht den Lobwerbern Körbe statt der Lorbeerkränze und ließ höchstens Lorbeerblättchen durch kurzes Stehenbleiben vor einigen Bildern fallen; aber auf dieses Stehen gab
der magere, listig-gerunzelte Galerie-Inspektor wie auf eine Ehrengarde eines Kunstwerks acht, und es schien dieses seltene Stehen mit seinem eignen heimlichen Herabsetzen der Masse übereinzustimmen; denn öffentlich belobte er alles stark, was gekauft dastand.
Dem Grafen von Hacencoppen aber wurden nicht über drei Minuten Zeit gelassen, um sich flüchtig als Kunstkenner zu zeigen; denn kaum hatte ihn Raphael erblickt, so flog er ihm zu, von einigen Damen in der Ferne begleitet, welche
sich an des Träumers milder Stimme und verklärtem Gesicht gar nicht genugsam laben konnten, und tief: »O Marggraf, Marggraf! Blicket dort die beraubte Amanda an! Steht sie nicht lieblicher in dem Bilde von Wachs vor Euch? - Aber kommt heute im Mondlicht zu mir, da sollt Ihr sie schauen, die himmlische Amanda und Maria und Agnes und den Engel und das Kind.« Der Galerie-Inspektor sagte: »Ich hab es schon gesagt, daß ich gewiß komme.«
Aber welches andere Gesicht konnte hier der Graf zu
solchen durchaus neuen Offenbarungen machen als in jedem Falle das betroffenste oder vierunddreißigste Gesicht, da er sein ursprüngliches 33stes zu den 32 Gesichtern mitgebracht, welche von den beiden Malerschulen an die Wände gehangen worden! Raphael konnte zwar - diese Gedanken durchschossen sein Gehirn und seine Gesichthaut fliegend hintereinander - die Wachsbüste seiner Amanda gesehen und in seinem allen Reizen so nachgiebigen Gehirn abgeformt haben; aber wo und wann mag er dann die fünf
Prinzessinnen, besonders Amanda, in ein Gemälde gebracht haben? Etwa in Rom, als sie im Parke als himmlische Wachsköpfchen standen?
Die Verwirrung war im Saale nicht kleiner als in seinem Kopf. Ein Dutzend Anschauer wandten sich von ein paar Dutzend seiner kopierten Gesichter auf sein eignes. - Raphael setzte nichts Geringeres als den Hof in Erstaunen, denn die Keckheit war übermenschlich. - Die fremde Prinzessin oder die romische Venus Urania stand mit dem ersten Kammerherrn und
einer Hofdame vor dem Paolo Veronese. - Der Graf von Hacencoppen ging auf das Gemälde los, und der Träumer flog ihm voran.
»Ist dies Euerer himmlischen Amanda ähnlich, Marggraf?« fragte Raphael vor dem Gemälde, ohne Rücksicht auf die fremde Prinzessin ......
- Hier nun ist wirklich der historische Ort, wo ich - obwohl Historiograph des von Hacencoppen und früherer Begleiter und Prophet desselben - doch außer mir geraten möchte und zornig fragen: was in aller Welt fruchten
denn einem Helden von bedeutender Geschichte seine Aussichten und Einsichten und seine seltene Überfülle von Phantasie, wenn er fähig ist, sich einzubilden, daß die Figuren in Paolos Vermählung der Katharina die fünf Prinzessinnen im Park vorstellen, indes er doch auf der Leinwand ein Kind und einen Engel vor der Nase hat? - Freilich in etwas spricht für ihn der Sturm der Eile, daß er sich vor der Prinzessin tief verbeugte und sie - statt Raphaels - anredete in feurigem Anblicken: »Wer anders
als eine Maria auf dem Throne kann entscheiden, ob die Freundin erreicht worden!« - Ja, man hat bei der Sache sogar noch von Glück zu sagen, daß Nikolaus nicht gar des Ringes, den das Jesus-Kind der Braut Katharina oder Amanda ansteckte, gedachte, noch von dem Kinde auf sich anspielte. - »O dürfte nur die Frage gewagt werden,« - fuhr er, begeistert von dem milden Schweigen der so nahe vor ihm glänzenden Prinzessin, fort - »wo das Original jetzo weilt, das in Rom in der schönsten Beleuchtung vor
Ihrer Durchlaucht stand!« Sie senkte sinnend den Blick, weil sie, in der Meinung, er spreche von ihrem vorjährigen Aufenthalte in Rom in Welschland, sich eines Gemäldes von Paolo entsinnen wollte. - Raphael machte sie vollends noch irrer durch die Zwischenrede: das Original weile bei ihm selber im Gasthofe. »O, wie beglückten mich damals die Orangeblüten neben so großen Blüten der Schönheit«, fuhr Nikolaus fort. Die Prinzessin konnte natürlich nicht aus dem Mißverstehen herausgelangen
- denn sie mußte da, wo er an seinen alten aufgelesenen Orangenstrauß in Rom dachte, bloß auf die welschen Gärten verfallen und auf die römischen Kunstschönheiten und auf seinen Kunsteifer, der statt der Gemälde die Maler selber in Gold eingefaßt -; sie konnte daher bloß eine an den Kammerherrn gerichtete Antwort geben: »Rom vergißt man wohl nie.« - »Es müßte denn über ein anderes Rom sein,« (versetzte der Kammerherr ironisch, in seiner Erbosung über die anredende Zudringlichkeit eines Grafen
mit dem Wahnsinns-Passe) »von woher uns auch manches Außerordentliche kommt«, und er verstand darunter wieder das Hohengeiser Rom, so wie Nikolaus das welsche.
Erbärmlich aber ists freilich, und zwar sehr, wie oft die Menschen einander nur halb vernehmen und ganz mißverstehen, was ich nicht erst hier auf dem biographischen Papier, sondern häufig am Teetische erlebte, wenn ich Gedanken, die ich nach dem Aussprechen und Gebären mißgestaltet fand, vor den Zuhörern zurücknahm und ihnen
verbessert wiedergab: da hatte gar kein Mensch den mißgeschaffnen Gedanken wahrgenommen als ich. -
Der Graf bekam Mut nach Mut durch solchen Einklang von allen vornehmen Seiten, und hinter dem Frührot der Freude, das lange auf seinem Gesichte gestanden, ging am Ende seine ganze Sonne der Liebe hell auf, vor einer so schönen und nahen Freundin der verklärten fernen Freundin, und er sagte laut zu ihr. »O daß ich sie seit dem Abende in Rom nie vergessen, Ihre Durchlaucht - daß
ich sie suche - und meine Reise nichts hat als nur diesen Zweck und einen ähnlichen des Herzens - soll dies noch ein ewiges Geheimnis bleiben? - Gewiß nein, göttliche Amanda!«
Hätte doch Hacencoppen diese Anrede, statt sie mündlich zu halten, lieber auf Papier überreicht und folglich sie mit einem kleinen S hingesetzt: so würde die Prinzessin sich kein großes weisgemacht und sein ganzes Hohelied nicht auf sich bezogen haben. - Aber wir armen Deutschen müssen nun,
solange die deutsche Zunge dauert, den Jammer einer vierfachen Vielzüngigkeit in uns schlucken, wenn wir sagen: erstlich »sie hat«, zweitens »Sie hat«, drittens »sie haben«, viertens »Sie haben«.
Da Prinzessinnen überhaupt bei ihrem Mangel an übenden Überraschungen ebensoleicht (wenn nicht leichter) verlegen werden als verlegen machen: so wußte die gute fremde Lukas-Städter, die sich schon lange aus Hacencoppens Entzücken nichts Vernünftiges nehmen konnte als eine tolle
Liebeserklärung, nicht anders darauf zu antworten als wie auf eine vernünftige, nämlich durch Übersehen und Über sehen, und Überhören und Über hören; zumal da man schon bei einer bürgerlichen Jungfrau fodert, daß sie ihren Liebhaber nicht namentlich ausspreche, so wie in Japan der Name des regierenden Kaisers bei Strafe als ein Geheimnis verschwiegen bleiben muß.
Das Erröten der Prinzessin Maria über den gut stilisierten Wahnsinn sah der Graf
für ein so erwünschtes Rot der Freude und der Wärme an, daß er eben seine Anstalten machte - noch erschrickt der Schreiber dies in seiner Ruhe darüber -, die Fürstin auf seine dahängende Gesichterausstellung zu lenken und ihr Wünsche irgendeines Gebrauchs davon für seine Geliebte von weitem anzudeuten: als zum Glück der Reisemarschall ihn antraf und benachrichtigte: er habe ihm im Hôtel etwas Wichtiges vom Fürsten zu überbringen. Zu gleicher Zeit langte ein adeliger Gesandtschaftrat mit Eilpost
an, um dem Kammerherrn zu melden, daß seine Durchlaucht wünschten, die Hofdame würde ersucht, Ihre Durchlaucht die Prinzessin zu befragen, ob es Ihr jetzo gefällig, daß der durchlauchtige Fürst Sie zur Mittagtafel begleite. -
- Und darauf begab sich denn die reizende Gestalt hinweg, aber mit einem ganz freundlichen Scheidegesicht, das vielleicht es desto mehr wurde, weil sie eilig und geheißen davonmußte. Kunstverständige erklären sich das Gesicht im ganzen leicht und sagen: einer
Prinzessin gefällt, nach dem ohnehin auf Thronen seltnen Wahnsinn in der Liebe, doch immer ein wenig bloße Liebe im Wahnsinn.
Aber wir haben uns vor allem zu den richtigern, mehr kriegerischen Bewegungen auf dem Throne zu wenden. Der regierende, etwas ältliche Herr war über Hacencoppens von weitem herleuchtendes Liebefeuer gewissermaßen wie außer sich. Offnes Feuer des Hasses, geschweige der Liebe, leiden Höfe nicht; dergleichen ist ein brennendes Licht in einer öffentlichen
Bibliothek oder ein eisenbeschlagner Stiefel in einer Pulvermühle. Was konnten dem ältlichen Herrn bei einem solchen Rechenverstoß Hacencoppens gegen Hofanstand die Goldstücke, womit er die einfältigen Preisstücke der luxstädtischen Maler wie elende Votiv- und Heiligenbilder behangen, Besseres sein als Rechenpfennige und Pappenstiele! Er gab daher sofort dem zweiten oder letzten Kammerherrn (denn in eigner Person dem Verbrecher der beleidigten Cour-Majestät näherzutreten, war zu tief unter ihm)
den mündlichen Kabinettbefehl, dem Reisemarschall das fürstliche äußerste Befremden nicht unverhohlen zu lassen, daß er, der von Worble, mit dem sogenannten Hacencoppen, dessen Führer er doch bei seinen Gehirnumständen zufolge des Passes zu sein vorgebe, einen hohen anwesenden Hof habe behelligen können. -
»Es ist wahr,« versetzte Worble, »es sind der Narren fast zu viele im Saal. - Himmel, dort tritt ja gar ein neuer mit einem Tiroler Hut an Seine Durchlaucht, fast den Hofnarren
spielend. Aber was man sonst noch für närrisch im Saal hält, will ich sogleich daraus wegführen und mich selber nicht einmal mitzählen.«
So sprach Worble, ohne über den Blitzkeil der Kabinettordre im geringsten zusammen- oder auseinanderzufahren.
Aber der zweite oder letzte Kammerherr sah vor Schrecken über diesen Menschen nicht einmal auf den Tiroler hin, der vor dem Fürsten spaßen sollte, sondern versteinerte sich vor dem Hofsodoms-Loth ordentlich wie Loths Frau, wenn
auch nicht zu Salz; denn ein mit Stärke gesteiftes glänzendes Hofweißzeug war er schon vorher. - Aber desto leichter können wir von dem versteinerten Mann einen Schluß auf seinen Beherrscher ziehen und auf dessen ältliches, ganz ausgeglättetes Gesicht; denn Kammerherren sind Ziffer- und Temperamentblätter ihrer Herrn: je behaglicher und freisinniger jene aussehen, desto mehr sind es diese, und umgekehrt kündigen wieder steife - steife an.
Indes mag, als flüchtige
Rechtfertigung kleiner Höfe, die Beobachtung hier stehen, daß sie keine großen sind, und man an kleinen Hofleute und Hofgäste um so pünktlicher durch strengste Etikette zu regieren hat, weil sich außerdem wenig zu beherrschen vorfindet. Wenn indes die Luft stärker an kleinen als an großen Höfen - so wie auf kleinen Wassern die Seekrankheit heftiger ist als auf großen - zur Hoftrommelsucht aufbläht, welche Höhenkrankheit, gleichfalls wie die Seekrankheit, in Ekel und in Ausstoßen alles Fremden
besteht: so wird wieder auf der andern Seite durch Steigerung der Würde gewonnen; ein Kammerherr, der nur neben wenigen seinesgleichen am kleinen Hofe aufwartet und glänzt, darf sich gern verschieden von jedem Titels-Vetter ansehen, der an einem großen Hofe in einem dicken Kammerherrnstab-Bündel halb ungesehen mitdienen muß; und so sind Höfe Haarröhrchen, worin Wasser desto höher steigt, je dünner und enger sie sind. - -
Jetzo erst, nach dem Abschiede der Prinzessin, bemerkte der
Graf, was hinter ihm oben bei dem Fürsten vorging, mit welchem ein schön gebildeter, aber nicht hochstämmiger Tiroler sich in ein kühnes Gespräch eingelassen. »Fürst, du hast dir viel hübsche Bilder angeschafft,« - redete dieser mit dem Quäker-Du den Fürsten an - »weißt nicht recht, wohin mit deinen Gulden. - Aber deine Felder und deine Untertanen draußen sehen gar nicht so hübsch aus als die gefärbten Bauern da an der Wand. Ich täte an deiner Stelle ein Paar Schock davon zu Geld machen und
ließe Saatkorn und ganze Kittel dafür einkaufen und schenkte die Sachen den Untertanen draußen - die würden hoch springen.« Obgleich der Fürst, an dessen Hof jedes Jahr ein ähnlicher Tiroler seine kurzen Waren und seine kurzen Reden auspackte, nicht dazu lachte. so hörte er ihn doch ohne Zürnen an. - »Gefall ich dir?« - fuhr der Tiroler fort - »Stelle mich als deinen Hofnarren an: so will ich dir und deinen vornehmen Leuten um dich herum alle Tage schlecht schmeckende Wahrheiten vorsetzen ohne
Tischtuch - Ihr bekommt die Wahrheiten sonst nur in der Kirche als Seelenzopfl am Allerseelentage und als Fastenbrezel in der Passion; aber ich will euch überall einen kräftigen Lehrbraten auftischen. - Vor der Hand verlang ich kein anderes Handgeld als das schlechte halb Schock Bilder dort, wovon jedes aussieht wie das andere; heilige Mutter Gottes, es ist wohl gar am Ende nur ein einziges Gesicht an zweiunddreißigmal da, wie ein Zahn im Maul.« -
Ein Hofherr sagte, die
Stücke gehörten nicht zur Galerie, und der Fürst gab dem Tiroler einen Handwink zum Abgehen, mit den Worten: »Nach der Tafel wird Er gerufen«, als eben die Prinzessin kam und Hacencoppen sich mit dem Gesichte gegen die Fürstlichkeiten hinkehrte. »Was Sepperle, dort steht ja der gemalte Narr eigenhändig«, rief der Tiroler und ging geradezu auf den Grafen los.
»Grüß dich Gott, Gräfli! Da bist du ja selber noch einmal! Weswegen hast du denn dein Gesicht so oft malen lassen und bist als
eine ganze Compagnie an der Wand? - Hast du nicht an deiner eignen Nase genug und läßt dir eine Garnitur von über dreißig Nasen drehn? Sie werden dich grausam kosten - und ziehst mit lauter langen Nasen ab. - Von den Malerkerlen hat jeder dir deinen Kopf anders frisiert als der andere; es sollte etwas Apartes vorstellen, und du solltest jedem dafür die zwei Taschen der Frisierschürze vollstecken. Und ist mir lieb, wenn dus getan: so kannst du einen Hofnarren gebrauchen, der dich zum Narren hat,
gutes Gräfli. Der alte große Herr wollte mich ohnehin nicht ansetzen; so nehm ich mit einem Gräfli vorlieb.«
»Der Worte einige Hunderte weniger, lustiger Mann; ich nehme dich hiemit gern auf in mein Gefolge«, antwortete der Graf laut zu einigem Erstaunen von Umstehenden.
- Ich müßte sehr fehlschießen, wenn hier nicht einige hunderttausend Mann (meine Lesewelt mit Millionen Bevölkerung gedacht) darauf schwören wollten, daß ihnen der Name des Tirolers so gut bekannt sei wie
mir, weil es doch niemand sein könnte als Libette, des Fürstapothekers Schwester, die ihm im zweiten Bande unter der männlichen Charaktermaske eines Hofnarren nachzufolgen zugesagt. Und wirklich sie war es. -
Der Fürstapotheker verließ den Bildersaal sehr befriedigt, als seinen halben Krönungsaal; denn hatt ihn nicht die Prinzessin unerwartet aufgenommen? - Hatte nicht der grämliche Fürst ihm durch Worble sagen lassen, er werd ihm nachher etwas sagen lassen? - Hatte nicht seine
Schwester Libette ihn bei der Prinzessin stehen sehen, und er wieder die Schwester bei dem Fürsten? Und hatte er in seinem Inkognito-Fürstentum nicht der letzten eine Hofstelle öffentlich bewilligen können, welche ihr der Lukas-Städter Herr aus wahrscheinlichem Geldmangel abschlagen müssen? - Und hatte bei dieser kitzlichen Sache nicht Libette - freilich in einem ihm unbewußten Handelverein mit Worble, der allein um ihre Verkleidung wußte - den blumichten Umweg zu seinem brüderlich-fürstlichen
Herzen genommen? - - Natürlicherweise aber ging Nikolaus nach solchen Begebnissen mit desto größerer Selbererhebung die Palasttreppe hinab - und doch auf der Straße schon wieder noch neuern Merkwürdigkeiten entgegen, welche das ganze nächste Kapitel einnehmen und schließen. .... Himmel! so hören hienieden die Merkwürdigkeiten nicht auf, im Leben wie im Lesen! -