Jean Paul
Der Komet
Zwanzig Enklaven zu den vorstehenden zwanzig Kapiteln
eingestellt: 14.7.2007
Da ich in allen zwanzig Kapiteln des dritten Bandes keine einzige Abschweifung geliefert: so fürchtete ich, wenn er herauskäme, dem Homer ähnlich zu werden, dem mehre Kunstrichter den Frosch- und Mauskrieg darum absprechen, weil er nicht darin , wie in seinen andern Heldengesängen, abgeschweift; - und ich nahm mir daher vor - damit dieser Band keinem fremden Verfasser zugeschrieben würde -, die mir gewöhnlichen Abschweifungen unter dem Namen Enklaven im folgenden
Kometenschweifanhängsel nachzutragen, wenigstens für jedes Kapitel eine. Aber Verschieben und Verdicken des Buches zugleich - und manches Traurige sonst - verhindern, mehr als drei zu geben; sonst hätte man noch des Kandidat Richters Tagebuch - seine Bemerkungen über Weiber und Hofleute an Hacencoppens Hofe - und tausend bessere Sachen geschenkt bekommen. Indes, was schadet es, wenn einem Buche auch einige Bogen fehlen - oder manchem andern sogar alle -, da noch immer Zeit
und Raum genug in der Welt übrig bleiben, sie nachzutragen.
Baireuth, im September 1822
I. Enklave
Einige Reiseleiden des Hof- und Zuchthauspredigers Frohauf Süptitz; aus dessen Tagebuch entnommen von einem aufrichtigen Verehrer und Stubenkameraden desselben
Der rechtschaffene Süptitz äußerte einmal gegen mich und einen andern sich so. »Trieb ich, Freunde, das
Spitzbubenhandwerk: so könnt ich bei jedem Gaunerstreich, den ich leise zu verüben hätte, mich darauf verlassen, daß mich ein heftiges Husten oder langes Niesen ergreifen und überliefern würde. Und was könnte mir anderes zustoßen, wenn ich als Jagdbedienter mich auf dem Anstand so still und tot wie ein angerührter Speckkäfer anzustellen hätte, als daß gerade, wenn der Auerhahn nicht balzte, mich alles mögliche Insektenvolk überall stäche, damit ich rauschte, und er entflöge! Denn so ist einmal
der Teufel gegen mich gestimmt.«
- Es ist bekannt genug, daß der Hof- und Zuchthausprediger ein ordentliches Lehrgebäude hatte, worin er den Satz festgestellt, daß der Arihman oder der Teufel, d. h. nämlich Teufelchen oder boshafte Geschöpfe den Menschen mit mikroskopischen Wunden, mit elenden Kleinigkeiten hetzen, deren ein guter Engel von Verstand sich in die Seele hinein schämen würde. »Traue man mir aber nie zu,« - fuhr er fort - »als lieh ich dem Beelzebub körperliche Kräfte,
etwa zum Bewegen von Körpern, Maschinen, Büchern und dergleichen - wahrlich, wo bliebe dann noch Verlaß auf einen Uhrzeiger, auf eine Windfahne, auf ein eingesperrtes Stück Geld? - Sondern ich lasse nur zu, daß dieser Fliegengott, ob er gleich nicht einmal so viel Körperkraft wie eine Fliege hat um gleich dieser nur einen Spinnenfaden oder gar eine Fliege selber damit fortzutragen, doch durch seine organische Hülle (jeder Geist muß eine umhaben) sich mit jeder Menschenseele in einen magnetischen
Bezug setzen und diese dann, wie ein Magnetiseur die Hellseherin, seine Gedanken kann denken lassen und dadurch alles durchsetzen; denn durch eine Reihe von Menschen, die ihm und einander nachwirken, kann er mit feinster Berechnung (Verstand hat der Teufel genug) tausend Ringe von körperlichen Vorgängen zu einer so künstlichen Kette schmieden und einhäkeln, daß er gerade, zum Beispiel wenn ich mich rasiere und noch den halben Seifenbart zu scheren habe, an der Kette einen alten heißgeliebten,
seit Jahren unerblickten Freund in meine Stube zieht, der an meine Brust und an das eingeseifte Gesicht mit Küssen stürzt, und ich halte das zurückgebogene Schermesser hoch in der Hand empor aus Angst. - Aber wahrscheinlich ergötzt sich eben daran, an solchen komischen Ansichten, der Fliegengott, an dem weißen Kurzbarte und dem Verlegensein darüber. Ein solcher gefallner Engel will doch lieber spaßen als rasten und greift, da man ihm von oben große Einschreitungen versperrt, wenigstens nach
kleinen und führt lustige Streiche aus. Luther nennt ihn Gottes-Affe. In den ältern christlichen Possenspielen erscheinen gewöhnlich vier Teufel und machen bloß die Hanswürste. Übrigens führ ich dieses auf tausend Erfahrungen erbaute und auf sie zurückleuchtende Lehrgebäude ganz frei vor allen Augen auf; denn der Ruf, worin ich seit Jahren bei allen Klassen in Rom als ein Philosoph von nur gar zu häufigem Reflektieren stehe, wehrt, denk ich wohl, den Verdacht eines Schwärmers von mir ab.«
Wir haben nun das Tagebuch des trefflichen Philosophen und Hiobs oder Werthers voll Leiden vor uns hergelegt, um daraus treu mehre Blätter wörtlich mitzuteilen - sogar einen ganzen Brief an seine Frau, den er der Malereien-Gleichartigkeit wegen mit hineinkopierte -, da wir auf drei Tage lang das Glück genießen, dessen Stubenkamerad im Gasthof zum römischen Hofe zu sein und in diesem schönen Verhältnisse ihn bequemer kennen zu lernen aus seinen Worten und Schriften. Die Blätter des
Tagebuchs sind ganz ungebunden und bloß numeriert; auf jedem steht gewöhnlich nur eine Not. Wir geben die Nummern unter dem Namen Nesselblätter, da leider sein Tagebuch mehr ein Nessel- als Nelkenblätterkatalogus ist. Wir sagten ihm früher selber, er blase sein Leben gern auf einer Harm- und Trauerflöte ab, und ein Harmzusatz sei ihm ein lieber neuer Flötenansatz. Allein dessen ungeachtet liefern wir hier das erste (Nessel-)Blatt ganz wörtlich, so wie es geschrieben lautet, um
womöglich zu zeigen, daß wir, wie überall, so hier, redlich ohne Selbstsucht zu Werke gehen.
Nesselblatt 1
Es gehört gerade nicht zu meinen Reisefreuden, daß ich den luftigen sogenannten Reisemarschall Worble wenigstens auf einige Tage zu meinem Zimmergenossen haben muß, zumal da der satirische Mensch sich der spanischen Wand bemächtigt hat, die zwar ihn gegen mich in seinem Bette deckt, hinter welcher er aber jede Minute, wenn ich gerade aus
meinem mühsam aussteige, vorbrechen und mich sehen und stören kann. Ob er nicht vollends diese Nachbarschaft benutzt, um mich zu behorchen, wenn ich nachts im Schlaf die unsittlichsten Reden ausstoße - weil der Teufel ordentlich meinem frömmsten Wachen und Wandel zum Trotze mich im Schlaf Niederliegenden in die sündlichsten Träume hineinschleppt -, daran ist bei einem so lockern Gesellen wie W. gar nicht zu zweifeln, der mit Freuden einen reinen Mann in seinen epikurischen Stall-Gespann und
Kollegen wird verwandelt hören. O, ich werde zuweilen ordentlich rot, wenn ich dem Schadenfroh meinen Morgengruß biete.
Nesselblatt 2
Daß sie in Gasthöfen die Kopfkissen etwa hoch genug für den Kopf aufschlichten, bringt man durch vieles Vordeuten und Fingerzeigen - obwohl immer ein halb lächerliches Kolloquium für einen gesetzten Geistlichen bei einer Gasthofdirne - vielleicht dahin; aber das ist nie zu machen, daß die Bettdecke gerade um
keine Handbreite schmäler oder kürzer oder um kein Pfund leichter ausfällt, als man seit vielen Jahren gewohnt ist, sondern man muß sich eben bequemen, daß man die ganze Nacht bald vornen, bald hinten etwas Anwehendes, abgekühlte Stellen und Glieder verspürt und das Erkälten wechselnd unter sie durch Umwälzen im Bett verteilt; wobei man sich bloß durch die Aussicht tröstet, daß dieses Nachtleiden etwas abmagere, wenn man zu dick ist. - Ist endlich das Wälzen vorbei und frisches Morgenrot da, so
fehlt für einen beleibten Mann der Bettzopf - denn gewisser als diesen will ich einen Weichselzopf, einen Weihwedel in Gasthöfen antreffen -, und ich muß mich nun mit meiner Last ohne Bettaufhelfer aufrichten und erbärmlich hebellos über das Bettbrett herausdrehen, mit jeder Windung gewärtig, daß der komische Schadenfroh hinter seiner Wand plötzlich hervorkömmt und scheinbar zurückfährt.
Bl. 3
Sonst wird man im März nicht von Stubenfliegen
heimgesucht, aber auf Reisen weiß der Fliegengott wenigstens eine oder ein paar Fliegen aufzutreiben, die er einem Gelehrten, der den so geiststärkenden Morgenschlummer durchaus nicht entraten kann, ins Gesicht treibt. Gegen eine solche Verbündete des Teufels grub ich gestern mich in Schlafmütze und Deckbette ein bis auf Mund und Nase, lieber das Schwitzbad vorziehend; - tausendmaliges Wegjagen mit Händen hilft ohnehin nichts; und schon Homer singt daher von der Unverschämtheit der Fliege - aber
wer mit Fliegen umgegangen, oder mit welchem sie, der weiß längst, daß man ihrem Saugrüssel keine Blöße geben darf, z. B. durch das kleinste Loch im Strumpfe, wenn der Rüssel sie nicht benutzen soll. Meine Fliege setzte sich gern und immer auf Nase und Umgegend. Dadurch wurd ich gegen meine ganze Natur, da ich sonst alle Tiere schone, weil ich mit Bonnet sogar an die Beseelung und Unsterblichkeit der Blätter glaube, geschweige der Blattläuse, grimmig und blutdurstig; ich stellte den Mund als
Mäusefalle auf und wollte den Feind etwa zufällig mit den Lippen erschnappen. Viel Morgenschlummer war nicht dabei zu erwarten. Zuletzt, als der Feind nach einer halben Viertelstunde mich noch nicht auf dem rechten Ort angriff, setzte ich mich lieber aufrecht und hielt mich unverrückt und zugleich ganz fertig, um diesen Störenfried, sobald er sich auf meine Backe begeben, mit einem Schlage zu erlegen. Ich verfehlte ihn aber vielleicht fünfmal. Da hörte ich etwas neben mir lachen - denn der
Bettschirm-Lauscher hatte in einem fort observiert -, und ich antwortete: »Zuletzt fall ich selber in Ihr Gelächter ein, daß mir der Teufel die Backenstreiche durch meine eigene Hand zuteilt.« - Wirklich trat Herr Worble hervor und an mein Bett und sagte ganz freundlich »Guten Morgen! Die Bestie will ich schon fangen.« Aber mir war die gewiß andern nicht ungewöhnliche Täuschung begegnet, daß ich für eine wiederkommende Fliege gehalten, was zehn einander ablösende waren. Natürlich hätt
ich mich lächerlich gemacht, wenn ich so lange, bis dieser Spaßvogel meine Stoßvögel und Harpunierer - (welche letzte Metapher von ihm wirklich passend ist, in bezug auf Stechen sowohl wie auf relatives Größen-Verhältnis zwischen Fischer und Walfisch) - insgesamt hätte eingefangen und erquetscht gehabt, wenn ich, sag ich, so lange im Bett geblieben wäre, um dann noch auf Morgenschlummer zu lauern, was wohl der Schadenfroh am diesmaligen Nicht-Frohauf gern gesehen hätte; aber ich stieg ohne
weiteres aus dem Bett.
Bl. 4
Der Morgenschlaf bringt leicht auf den Nachmittagschlaf. Aber wie wäre solcher auf Reisen denkbar? Kann ich ihn schon daheim nur wie eine Zeitung brocken- oder blätterweise zu mir nehmen, ob ich gleich jedes Klängchen von Geräusch, das vor meiner Stube vorbeilaufen will, abwehre und sogar meine Singdrossel einsperre, weil sie mich aus dem ersten Schlummer treibt: so ist wohl nichts natürlicher und unausweichlicher, als daß in Gasthöfen
unter dem Wagenrennen der Kutscher und unter dem Treppenrennen der Kellner niemand als ein Stocktauber ein Auge zutun kann, oder etwa ein Berauschter unter dem Tische. Senk ich mich endlich gewaltsam in ein halbes Entschlummern: so seh ich darin schon von weitem Stallknechte Pferde herausziehen zum Anspannen und die Kellner als meine Wecker die Treppe hinauflaufen. - Inzwischen hab ich doch ein kleines psychologisches Kunststück (wohl wenige machen mirs nach) zweimal glücklich durchgeführt, daß
ich mich nämlich entschied, die vier oder fünf Minuten, die mir vor dem Aufwecken frei blieben, keck zu einem freien Schlummer zu verwenden und den Kopf ordentlich in ihn wie in einen Lethe-Pfuhl tief hinunterfallen zu lassen und erst aufzutauchen, sobald die Türe aufginge. Es waren zwei eigene Genüsse, diese Kurz- und Zwangschläfe, aber die Gründe, die ich schon von weitem sehe, entfalt ich leicht näher bei Muße.
Bl. 5
Des Waisenhauspredigers Süptitz Brief an seine Frau in Rom
Reiseleiden wird man eigentlich in keinem Tagebuch so gut beschreiben als in einem Brief an die eigne Frau, da man ihr, die ohnehin an Hausleiden gewöhnt ist, desto lieber und breiter die außerordentlichen vortragen wird, zumal wenn der Gatte bedenkt, daß eine gute Frau durch sein elendes Ergehen draußen sich fast über das daheim geschmeichelt fühlen kann. Inzwischen ist die meinige noch besser, und ihr wär es
wohl am allerliebsten, wenn ich in der Ferne gar ein ganzer Seliger wäre. Daher hab ich vor ihr manche Disteln meiner Reise umgebogen, und dagegen manche Rosen höher aufgerichtet. Ich kann daher eine treue Abschrift des Briefes recht gut als ein paar Blätter des Tagebuchs gebrauchen.
Meine sehr geschätzte Ehefrau!
Fett bleib ich freilich noch immer, aber Einflüsse - die ich dir in meinen letzten Briefen breit genug vorgemessen - werden mich
schon verdünnen. Dem guten Marggraf kann man nur leider nie entzückt genug sein. Manches Herrliche aber habe ich dir wirklich von vorgestern zu deinem Mitgenusse aufzutischen; um so leichter wirst du den Nachgeschmack der Henkermahlzeit von gestern verwinden, die ich dir nahher bringen werde.
Verzeihe nur - muß ich dich noch vorher bitten, eh ich mich an das heilige Liebe- und Abendmahl von vorgestern mache - meine teuflische Handschrift in dem vorgestrigen Briefe. Aber der Teufel
wußte eben seine Sache recht gut zu machen, wie gewöhnlich mit mir. Nämlich mitten im freudigsten Ergusse meiner Liebe für dich sprang mir durch Aufdrücken der Federschnabel um einen halben Zoll auf und trug keinen Tropfen und Buchstaben mehr. Nun wird in Wirtshäusern nichts mehr vernachlässigt als (außer etwa Dinte) Federn; und mit einer müssen oft zehn Landkutscher ihre Briefe schreiben - Federmesser fehlen ohnehin. Ich nahm daher meine Etui-Schere (ordentlich ahnend hast du mich mit
einem Flick- und Nähzeug versorgt) und schnitt von der Feder den langen Storchschnabel ab - verkürzte wieder diesen, aber leider zu einem zu breiten Löffelgansschnabel - der mußte wieder mit der Schere geschmälert werden - dann war wieder die Spalte zu sehr verkürzt - und doch war neues Aufspalten wieder äußerst bedenklich - da schrieb und ackerte ich denn mit dem breiten Federspaten meine Freuden an dich ohne weiteres zu Ende und erwies dem Satan, gegen welchen ich mit einem fast lutherischen
Trotze gerade, was er stören wollte, durchsetzte, gar nicht den Gefallen, nur nach Feder und Messer zu klingeln. - Lieber hätt ich mit der Schere dir geschrieben und die beiden Spitzen als eine Federspalte eingetunkt. - -
Nun steh ich bei dem seligen Vorgestern, das ich gar nicht freudig genug darstellen kann, damit du das nachherige Gestern mit noch weniger Schmerzen aushältst als ich, du edle Teilnehmerin! Ich sah und hörte nämlich dem vorgestrigen Amtjubiläum des
Generalsuperintendenten Herzog in der Lukaskirche zu! Denke dir nun alles! Der junge Hofkaplan Hasert, das Faktotum oder Kann-Alles bei Hof, voll Wohlwollen und voll Vorbitten für Notleidende, aber ein feiner glatter Weltmann (der mich sehr zu suchen scheint), erhob den Jubelgreis mit Feuer und segnete ihn feierlichst ein. Vorher aber hatte der Greis dasselbe gleichsam an sich selber getan und in einer majestätischen Rede voll Würde und Gefühl für seine Amts-Leiden, Lasten
und Taten und Saaten erzählweise Gott und seinen Kirchenkindern gedankt. Über alle Maßen und bis zu Tränen rührt ich mich, indem ich mich ganz in seine Stelle versetzte und mich selber als den Jubilarius dachte, welcher mit seinen größeren Verdiensten und Würden dir gegenüber weinend auf dem Altar stände. Aber schon in dieser fremden Kirche sah ich voraus, daß mich der Teufel nie eine Rührung würde so rein durchsetzen lassen wie etwan den Generalsuperintendenten, dem es sogar gegönnt wurde, daß
hinter ihm tags darauf seine alte Köchin jubilierte, wegen ihres langen Dienstes bei ihm. Denn herrliche Herzergießungen - schöne Empfindungen bei schönem Wetter - unbezahlbare Gefühle nach Wohltun leidet der Satan nicht, sondern setzt mich von ihnen unmittelbar auf Hiobs bekannten Misthaufen und läßt mich klagen wie diesen früher auch überglücklichen Mann.
Lasse mich nebenbei, nämlich bei Gelegenheit der Rührung, die Reflexion machen,
daß es im ganzen erbärmlich ist, auf wie vielen Subsubsubdivisionen von gemeinen Mitteln man endlich zum Edeln gelangt, z. B. ich in der Kirche zum Gefühl der Rührung: wie ich mich anziehen mußte, Stiefel, Weste und alles, Treppen hinab- und hinaufzusteigen, in den Kirchenempor zu treten, hinauszusehen und vieles Körperliche anzuhören hatte, bis ich endlich das Geistige in die Seele bekam, was man eine Rührung nennt. Ja wieder dieser rein geistige Gedanke selber, auf wie vielen körperlichen
Umwegen erst kann er bei dir, meine Gute, ankommen! Muß ich nicht leider eintunken, Sand streuen, siegeln, auf die Post schicken (Zwischen-Kleinigkeiten lass ich zu Hunderten weg) und du deinerseits wieder Porto zahlen, Siegel aufbrechen, am Papier hinablesen bis zum gedachten Punkte? -
Ich komme auf den schönen rührenden Jubeltag zurück, wo nachmittags sich der böse Feind schon in einige Bewegung zu setzen schien. Anfangs gelang vieles, und von dem Schneidermeister wurde mir - weil
ich am nächsten Morgen dem ehrwürdigen Jubelgreis einen Besuch und Handdruck und Glückwunsch zudachte - ein neues schwarzes Kleid, ohne das ich unmöglich auf Reisen länger mit Anstand erscheinen kann, zum Anversuchen gebracht. Da du weißt, wie selten meiner Dicke etwas sitzen will: so mußte der Meister mir den Rock bloß mit kursorisch-gehefteten Lappen-Hälften anprobieren, und so auch einen bloß mit weiten schlechten Stichen zusammengenähten Ärmel. In der Tat sah ich mich in einem ganz richtigen
und, nach künftigem Zunähen, wie angegossenen Gewande dastehen - als eben höchst unerwartet der Hofkaplan Hasert mit Seidenmantel und Seidenstrumpf eintrat, um mich noch spät einzuladen für morgen auf sein Landhäuschen, nahe an der Stadt, zu einer freundschaftlichen Eß-Nachfeier des Jubelgreises, wo er mich am schönsten und längsten vorzustellen hoffte. - -
O Gott! liebe Gattin, ich stand denn in meinem lächerlichen einarmigen Anprobierrock und mit dem Ärmel, den ein vorklaffendes
Hemd noch von der Achsel absonderte, dem großstädtischen, zierlichen, zartlächelnden Hofmann vor Augen. - Aus- und Ankleiden in seiner Gegenwart wäre schrecklich gewesen, wurde von ihm auch sehr verbindlich verbeten - vielmehr mußt ich Skandals und Symmetrie halber sogar den linken Schau-Ärmel auf dem Tisch anziehen, zum Verstecke des Hemdärmels. - Und so spaziert ich denn in meinem grobnähtigen Marterkittel und mit den beiden Ärmeln, die wie zwei abgehauene Arme von den Achseln abstanden
(innerlich lacht ich selber über mich), an Haserts Seite auf und ab, wozu später noch vollends Herr Worble stieß. Dieser nannte später mich den eignen Gliedermann meiner Bekleidung, die malerische Selber-Akademie, den aufrechten Probierwaagbalken meines Rocks: vielleicht ungesalzene Einfälle!
Sonst zieh ich - getreu meinem Namen Frohauf - eben nicht das Kleinsauer des Lebens sonderlich ans Licht; aber das Tragen des lächerlichen Probier-Ornats machte mich aufmerksam auf die lästige
Mühe, im Auf- und Ablaufen mit dem beweglichen Hasert mich mit meiner Dicke, der Schicklichkeit gemäß, bei dem Umkehren so zu schwenken, daß ich wieder links zu stehen kam, was mir das Sprechen und Gehen, zumal da der Kaplan auch anfing, höflich zu wetteifern und links zu springen, unbeschreiblich erschwerte; - bis endlich Herr Worble als der dritte Mann ins Spiel eintrat, welcher samt mir den Kaplan so in die Mitte nahm, daß wechselnd einer von uns, da Hasert doch nicht zwei linke Seiten hat,
ihm mit aller Höflichkeit ohne Grobheit zur rechten gehen konnte und mußte.
Ich durchschauete ganz gut, daß der Hofkaplan als Hofspion der marggrafischen Verhältnisse und Verschwendungen, worüber jeder staunte und fragte, mich besuchte und einlud; indes er spielte den feinsten Mann.
Endlich komm ich auf den künftigen Tag, auf gestern, wovor ich, schon weil ein herzvoller Vorgesternvormittag vorausging, und weil zweitens ein wahres Fest versprochen wurde, mich wohl etwas
hätte ängstigen sollen; denn bei dem Genusse der Freuden ist der Mensch, wie bei dem Kirschkuchen, mitten im frohesten Einbeißen ins Mürbe hinein keine Minute lang vor einem übersehenen Kirschsteine gesichert, den er zwischen die vordern Schneidezähne bekommt.
Ich führ es nicht eigentlich als Unglück des Festes - ob die Sache gleich mich verspäten half -, sondern als bloße Folge meines ungewohnten Reflektierens an, daß ich später aus dem Bette herauskam, weil ich darin bei meinem
Hemde, das ich tausendmal ganz mechanisch ohne Nachdenken angezogen, auf einmal achtgeben wollte, wie ichs bisher dabei gemacht; - aber ich bracht es zu nichts, nicht einmal das alte herab unter dem Achtgeben und wußte nicht einmal, welchen Arm ich sonst zuerst in den Ärmel gesteckt, bis ich endlich nach vielem Abarbeiten mich blindlings dem alten Mechanismus überlieferte und ohne alles Reflektieren das frische Hemd anzog - da gings, und die Kunst des Instinkts wies sich mir wieder.
Glücklicherweise hatte Herr Worble diesmal, wenn nicht außer Hause, doch außer seinem Bett geschlafen; inzwischen kam ich dabei auf einer andern Seite zu Schaden. Da ich mich nämlich abends mit einem heisern Halse niedergelegt hatte: so macht ich, um zu erfahren, ob er noch da sei, einige Versuche mit recht lautem Anreden ohne allen Sinn und Bezug: »Komme Sie doch her! He! wer ist Sie denn?« Da brach Herr Worble, der alles gehört, zur Türe herein und suchte seine Lust darin, mich über die
Person listig auszufragen und sich schadenfroh-ungläubig über das bloße Probieren des heiseren Halses zu gebärden, indes stellte mich freilich auch schon das Hals-Probieren in das lächerliche Licht, das ich so unendlich scheue.
Es müssen viele Hemmräder ineinandergreifen, wie du, Liebe, weißt, bis ich irgendwo zu spät als Gast ankomme, zumal da ich schon, aller Hemmungen gewärtig, eine halbe Stunde vorher fertig dastehe; - aber ich langte doch später als die Suppe bei Hasert an.
Frischgewaschene knappe Strümpfe, leinene - dann seidene - vollends beide zugleich über- und untereinander anzulegen, war schon zu Hause von jeher meine wahre Sabbat-Arbeit; aber gar außer Hause, ohne allen Beistand, mit zehn elenden dicken Fingern, das Ziehen - Zerren - Zupfen - Glätten - Dehnen - Bücken, nein, meine Gute, dazu bot ich diesesmal meine Hand nicht. Auch hatte der zuvorkommende Hofkaplan mir, da sein Landhäuschen etwas weit außer der Stadt lag, Stiefel fast aufgedrungen. Aber der
Satan weiß mich auch ohne Strümpfe, an die er sich fest, wie eine Stechfliege am liebsten an Beine, setzt, zu finden in Stiefeln. Nachdem ich den rechten glücklich-mühsam angebracht: so sucht ich, indem ich die leider fußlange Ferse in den linken eingetrieben, etwas auszuruhen, und die beiden Ziehleder des Stiefels (Strupfen nennens die Hiesigen) in den Fingern haltend, dacht ich bloß darüber nach, wie lang ich etwan in dieser ruhigen Lage fortdenken könnte, und auf welche Weise endlich damit
nur aufzuhören wäre. Himmel! da saß ich und dacht ich und sah kein Enden ab, bis ich allem ein plötzliches Ende machte durch einen raschen Entschluß und derben Zug am Stiefel und - diesem eine Strupfe abriß. Aber - teuere Gattin! wie ich jetzo an
einem einzigen Ziehleder zog, das auch abfahren konnte - wie die andere Hand den glatten Stiefelschaft selber festpackte und zerrte - wie ich als lebendiger Stiefelknecht, obwohl bloß zum Anziehen, mich wegen voriger Zeit-Einbuße abnutzte, wie
an einem Pumpenstiefel - Wasser zog er mir wohl genug heraus auf die Stirn -, diese Martern sind wenigstens einige Dornen aus der Krone, welche ich einmal ganz in einer der vertraulichen ehefrohen Stunden vor dir sozusagen aufsetzen will, damit du nur siehst, was ich ertragen.
Desto mehr hatt ich nachher zu eilen. Von fünfzehn weißen Pfefferkörnern, welche ich gewöhnlich als Mitarbeiter am Verdauen eines Gastmahls zu mir nehme, spuckte ich lieber sieben wieder heraus, weil ich sie mit
Wasser, ungeachtet alles Schluckens - letztes war aber eben zu eilig und wie das Hemdanziehen zu absichtlich -, immer nach verschlungenem Flüssigen, wie Muscheln nach einer Ebbe, im Munde sitzen behielt und ich mich auf zeitspielige Versuche, mit Einwickelung in Gekäutes, nicht einlassen konnte. Endlich trat ich, spät genug, auf die Gasse hinaus. Aber schon wieder Spuk, wenn auch leichter. In meiner so zeitgemäßen Eilfertigkeit hatt ich meine Halsbinde hinten im Nacken nicht straff genug
geknüpft, und sie fing unterwegs an, sich allmählich immer weiter aufzumachen. Da ich nur noch fünf Gassen ins Freie hinaus hatte: wollt ich draußen im Gehen knüpfen und knöpfen; aber mit jedem Schritte wickelte sich der elende Halsstrang mehr auf zum Langrund, und das Fruchtgehänge um den nackten Hals - das erbärmliche Gefühl eines sachten Losgehens und Abgleitens schlag ich gar nicht an - drohte bei stärkerem Laufen gar abzufallen, so daß ich noch vor dem Tore hinter eine Haustüre mit dem
vergrößerten Narrenkragen treten mußte, um ihn fest zu schließen.
Außerhalb der Stadt wurd ich durch nichts aufgehalten, ausgenommen kurze Zeit weit draußen an der Kirchhofkirche (ein fehlerhafter Name) von einer Sonnenuhr, auf der ich meinen Zeitverlust ersehen wollte; ich mußte einige Minuten warten, bis eine auf der Scheibe ruhende Wolke dem Schatten wieder Platz gemacht. Nur hatt ich unter dem Hinaufschauen das Unglück, daß ich einem vorbeigehenden Bürger, der guten Tag zu mir
sagte, aus Vertiefung ins Zifferblatt mit dem Gegengruß: gute Nacht, mein Freund! antwortete, worauf dieser mit Recht etwas zurückzumurmeln schien. Ich überlegte ein wenig hin und her, aber mein Abscheu, irgendeinem unschuldigen Wesen auch nur im Kleinsten, sogar zufällig, Kränkung zuzufügen, zwang mich, dem Mann nachzulaufen und nachzurufen: »Wahrlich, ich wollte sagen: guten Morgen, guter Freund; nimm Ers nicht übel.« - »Suchen Sie sich künftig einen andern Narren«, brummte er mit viertel
umgedrehtem Kopfe zurück und schritt hastig vorwärts.
Im Freien lachte mir Haserts gleißendes Landhaus von weitem entgegen, und man konnte mich später in jedem Falle schon unterwegs erblicken. Wahrscheinlich kam dies dem Teufel nicht gelegen, und er suchte etwas dagegen hervor. Der unterste Knopf an meiner zu engen Weste hatte sich (davon erleichtert, spürt ichs nicht sogleich) von allen seinen Faden losgemacht, bis auf einen, so daß er daran wie ein Vorhängschloß vor dem fernen
Knopfloch lag. Annähen - da alle Gäste mich sehen konnten - durft ich auf offener Straße nicht, gesetzt auch, ich hätte (Nadel und Zwirn fehlen mir nie) mich zum Anheften umgedreht, oder es auch hinter einem Baum gemacht; denn ich wäre vom Landhause aus sehr falsch ausgelegt worden. Sitzen bleiben durfte der Knopf auch nicht wie ein hängendes Siegel, da unten die Weste - wie bei den Landleuten aufgeknöpft zur Zier - mit einem lächerlichen Triangelausschnitt klaffte. - Folglich trug ich meinen
schon wie eine Spinne am Faden gaukelnden Knopf in das Landhaus hinein und machte ihn unten an der Treppe wieder fest; aber freilich nicht nur mühsam genug mit der dünnen Nadel zwischen den fetten Fingern, sondern auch in der größten Besorgnis, daß der Hausherr die Treppe herabfliege, um mich noch unter meiner Schneiderarbeit höflich zu empfangen. Zum Glück aber wurd ich von niemand bemerkt als von einem der oben rennenden Bedienten, der über das Geländer schauete und einem andern leise sagte:
»Blitz! drunten steht ja der Dicke und flickt.«
Ich begab mich hinauf und traf noch zeitig genug hinter der rauchenden Suppenschüssel, gleichsam meiner vorausziehenden Wolkensäule, ein. - Mit größter Artigkeit von so vielen Seelsorgern bewillkommt, war ich um so eifriger darauf bedacht, den majestätischen Jubelgreis Herzog auffallend und würdig zu bewillkommnen in seiner seltnen Würde, zumal da die so freundlichen Mienen seines alten, von Arbeiten und Sorgen durchschnittenen Gesichts
mein Gemüt ungewöhnlich bewegten und von mir ordentlich bittend erwarteten, daß ich, als ein Fremder und als ein Mann von einigem philosophischen Ruf, des gestrigen Jubelgreises Fest durch eine überraschende Anrede, da er keine mehr zu erleben hatte, verlängern und verdoppeln möchte.
- Ach meine geliebteste, werteste Gattin! wäre dir doch ein Gatte beschert, der zehnmal weniger dächte! - Aber es sieht nicht in meiner Macht, sondern ich denke viel. - So durchdacht ich denn auch, bevor
ich den Jubilarius anredete, schleunigst, was es heißt: reden (anreden vollends), und ich erstaunte über die dabei zusammenarbeitenden Tätigkeiten des Menschen: erstlich, daß man die bloße
reine Gedankenreihe des Menschen Gott weiß wie weit in die Länge vorausspinnen und dann das Gespinst mit Bewußtsein anschauen muß - zweitens, daß man jedes Glied der Kette in sein Wort umsetzen - drittens wieder diese Worte durch eine grammatische Syntaxis in eine Sprachkette zusammenhaken muß (unter
allen diesen Funktionen setzt das Selbstbewußtsein unaufhörlich sein vielfaches Anschauen fort) - und viertens, daß der Redner, nachdem alles dies bloß innerlich gemacht worden, nun die gedachte innere Kette in eine hörbare umzuarbeiten und aus dem Munde Silbe nach Silbe zu holen hat - und fünftens, daß er unter dem Aussprechen eines Komma oder Semikolon oder Kolon gar nicht auf dieses horchen oder sehen darf, weil er jetzo schon das nächste Komma innen zu bearbeiten und fertig zu machen hat, um
es sofort außen an das herausgerollte anzusetzen, so daß man freilich eigentlich nicht weiß, was man sagt, sondern bloß, was man sagen wollte. - - Wahrlich, ich begreife bei solchen Umständen kaum, wie ein Mensch nur halb vernünftig spricht.
- - Genau entsinn ich mich nicht mehr, in welcher Gestalt, wenn nicht Mißgestalt, nach einem so langen Philosophieren und Gebären meine Anrede an den Jubelgreis abging; - aber mich erfrischt es, daß ich nachher manchen innigsten geglückten
Glückwunsch dem Jubilarius im Vorbeigehen darbrachte. - Über die reiche Eß- und Jubeltafel geh ich hier nur kurz weg, weil zu viele bedeutende Personen daran saßen, als daß ich meine Urteile über sie einem Briefe anvertrauen möchte, den ich ja wieder der Post und tausend Zufällen anvertrauen muß. Wenn ich aber bloß über einige Gäste und etwa über den kleinen Unfall noch weghüpfe, daß ich mit einem Munde voll Wein ganz unbegreiflich in ein plötzliches Niesen ausbrach - ich traf glücklicherweise
nur mich -, so versaß ich, darf ich sagen, den ganzen Nachmittag an einem herrlichen Göttertisch ..... Doch das selige Abschildern behalt ich mir für übermorgen vor. Denn jetzo schau ich eben meiner dicken Hand im Schreiben zu und höre die Feder; dies aber stört mich zu sehr in der Freude der Malerei. - So lebe denn froh, ja froher als dein
ewiger
Frohauf S.
II. Enklave
Des Kandidaten Richter Leichenrede auf die Jubelmagd Regina Tanzberger in Lukas-Stadt
(Vorbericht vom Herausgeber des 3ten Bandes des Kometen)
Die Predigt des Kandidaten muß zum gewöhnlichen Eingange noch einen zweiten haben, den man denn hier anstößt
als Heidenvorhof. Die verstorbne Tanzberger war die einzige Schwester des Rezeptuarius, des sogenannten Dreckapothekers. Er, der Bruder, hatte sie mit größter Gelassenheit sowohl als Magd bei dem Superintendenten behandelt, dann als Dienst-Jubilierende (wovon das Nähere nachher) und endlich als Kranke unter seinen Kurhänden, und darauf sie ebenso kühl aufgegeben, eingesenkt und beerbt. Nun war der Kandidat Richter von jeher - und fast noch jetzo - keinem Menschen so aufsätzig als den sogenannten
phlegmatischen, welche kalt und langsam die Pfeife rauchten, noch kälter und langsamer die Zunge regen, und welche das Leben nicht lasen, sondern buchstabierten, und zwar ganz jüdisch, indem sie z. B. das Wort Rokiah so buchstabieren: Komoz Resch oder Ro; dann Chirik Kuph oder Ki; dann Patach Ain oderAh. »Der Donner fahre in die kühlen Schnecken,« (sagte der Kandidat) »kann nicht der Narr kurz und schnell sein wie sein Leben und, was schon der große Friedrich foderte, jeden Bericht auf
einer Blatt-Seite vollenden und jeden Prozeß schon in einem Jahre?«
Da der Bruder an der Schwester so wenigen Anteil nahm, ob sie ihm gleich wie aus den Augen geschnitten war: so ärgerte sich der Kandidat nebenher darüber noch aus dem Grunde stark, weil ihr Gesicht dem brüderlichen so ähnlich war, daß er seines darin gleichsam im altmachenden Spiegel sehen konnte. Aber für ihn wollte alles nicht viel vorstellen, nicht einmal ihr Jubel und Tod. Beide waren aber so:
Sie war bei dem Lukas-Städter grauen Generalsuperintendenten Herzog als Magd alt und fast mehr Lebens als Dienens satt geworden. Nun hatte die Dreiundsechzigjährige gerade an dem Tage, wo ihre Herrschaft - nämlich die männliche - ihr Amt-Jubiläum feierte, bei einer Viehausstellung, wo mehre Preise für die fettesten Tiere und die magersten, d. h. ältesten Dienstboten ausgeteilet wurden, von der Regierung das Belobschreiben empfangen, daß sie vierzig Jahre bei einer und derselben
Herrschaft ausgeharret. Sie hatte ihrem sehr strengen frommen Jubelherrn, dem Generalsuperintendenten, schon gekocht und gewaschen, als er erst Subdiakonus war - dann war sie ihm auf der gewöhnlichen Schneckentreppe des geistlichen Münsters, wo die Stufen Jahre sind, nachgestiegen zum Syndiakonat - dann zum Archidiakonat - dann zum Stadtpfarrer - bis sie endlich mit ihm in der Generalsuperintendentur ankam. So hatte sie von unten mit ihm hinaufgedient. Als sie nun vor vielen hundert Paar Ohren
öffentlich auf der großen Wiese ein Lob überkam - sie, die ihr ganzes Leben hindurch nur unter vier Ohren in der Küche mit der Gans zugleich erhoben wurde, die sie richtig gestopft -; als sie von dem Präsidenten persönlich angeredet, mit dem Ehrenkaftan angetan, nämlich verbriefet wurde mit dem Belobungpapier und statt einer gewöhnlichen Ehrenminute einen ganzen Ehrentag erlebte: so war es, wenn man bedenkt, daß Tasso vor seiner Lorbeerkrönung starb, fast ein Wunder, daß sie erst
an ihr umkam, ja nach ihr sogar. Denn sie hatte an einem doppelten Ehrenkreuz zu tragen, nämlich auch an dem Gefühle der Ehre, daß ihre Brotherrschaft, der Superintendent, ein paar Tage vorher das eigne Amtjubiläum gefeiert, wovon breite Glanz-Silberflittern an sie anflogen und ihr Haar versilbern halfen.
Endlich schlug gar noch etwas anderes ihre letzte Stunde aus, nämlich eine Uhr selber, und zwar eine Repetieruhr; denn als Marggraf die Feierlichkeiten sah - jede
ergriff ihn sehr - und das zugleich verjährte und ausgedörrte Gesicht dazu: so überwältigte ihn seine immer liebende bewegte Natur so sehr, daß er mit mehr Eile, als wohl schicklich war, zur Jubelmagd durch die Masse schritt und ihr, was er eben Bestes bei sich hatte, seine Repetieruhr mit einem breiten roten Seidenband - das er für jemand anders in der Tasche geführt hatte - gleichsam wie eine Guitarre um den Hals befestigte.
Das Band gehörte unter ihre Sargseile - es war zu viel,
eine alte Magd nach der Uhr wie eine Dame zu behandeln, die mehr eine Männin wider die Uhr ist, nicht eine für sie. Regina wollte niemals wagen, sie aufzuziehen, um nichts abzusprengen; aber repetieren ließ sie, von Kunstverständigen beruhigt, das stillstehende Werk des Tages öfter die letzte Stunde des Stillstandes, welche elf Uhr war. Daß sie später gerade um elf Uhr abends einschlief oder selber stillstand, ist ordentlich die Fortsetzung jenes schon an sich wunderbaren Falls, wo in
Beek (im Crefeldischen Kreise, s. Nürnberger Korrespondenten No. 68. 1815) am 11. Jenner der Blitz gerade um elf Uhr die Ziffer 11 vom Turmzifferblatt wegschlug.
Nur in ihrer letzten Mattigkeit ließ sie, um endlich einmal den Genuß der Uhr zu haben, solche sich aufgezogen anhängen; aber die Uhr ging noch fort, als ihr Herz schon stand.
Der Kandidat hatte sie und ihr ehrliches, bedächtiges, runzelvolles Gesicht bei der Krönung gesehen und hier wieder sein altes Mitleiden mit
bejahrten Dienstboten empfunden, welche unentfesselt mit dem schweren Dienstblocke an den alten Füßen in die Grube einsteigen. Ihr würde er damals bloß die alte Pfaff im Landgericht Müdesheim vorgezogen haben, welche bloß 78 Jahre im Dienste und davon 48 in demselben verlebt, aber nachher 100 Jahre und 10 Monate alt geworden.
Dieses und manches andere benutzte der Reisemarschall Worble, den Kandidaten der Theologie zu einer Antrittpredigt - etwa diesesmal zu einem kurzen
Leichensermon - aufzumuntern. »Eine Kanzel ist ja schon da im Gasthof«, sagte er, »- Honoratioren als Leichenkondukt auch, ich und der Hofprediger - der Leidtragende desfalls, der Rezeptuar Tanzberger, und nichts fehlt als die Leiche.« - »Nicht einmal diese«, versetzte Richter. Da ihm nämlich hier die seltene Gesichtähnlichkeit des Rezeptuars mit der Schwester einfiel, so daß dessen Gesicht als ein Schieferabdruck und Steindruck des ihrigen im Feuer der Leichenrede für ihr eignes angesehen und
angesprochen werden konnte: so war dies dem Kandidaten, teils Scherzes, teils Rache halber am ungerührten Bruder, so erwünscht als irgendein Spaß auf der ganzen Fahrt. So fing er denn vor Süptitz, vor Worble und vor Tanzberger, dessen kaltes Gipsabdruckgesicht zugleich ihn selber und die Erblaßte vorstellte, die Rede auf der Mobiliar-Kanzel an, wie folgt:
Gebeugter Tanzberger!
So ist denn Ihre Schwester Regina Tanzberger nicht mehr; denn was noch
vor uns steht (hier deutete der Kandidat leicht mit der Hand gegen einen Spiegel rechts auf Tanzbergers Bild darin, und dieser suchte wieder im Spiegel nach und sah hinein) - dies sind bloß die kalten seelenlosen Hülsenreste des entflogenen Geistes, der seinen kallösen Körper, sein corpus callosum oder caput mortuum nicht länger beseelen wollte; es ist bloß das schildkrotene Uhrgehäuse der herausgehobenen Repetieruhr; das bloße Hippokrates-Gesicht, ja die Hippokrates-Mütze oder Mitra
capitalis Hippocratis der kranken, nun geheilten Seele. Aber das gebeugte Rezeptuariat vor mir richte sich an dem Troste empor, daß die Arbeitsame mit ihren Runzel-Kreuzen und mit ihrem Grauhaar nicht anders als nach der Zurücklassung des Kopfes, also bloß in der andern Welt ein Bandeau de Ninon gegen Falten und einen Metallkamm gegen graue Haare finden konnte; und daher wird sie jetzo schöner aussehen als selber ihr jüngeres Ebenbild vor uns.
Nur wenige Herrschaften setzen es sich
auseinander, was eine Dienstmagd aussteht, wenigstens hundertmal mehr als ein Bedienter, der doch zuweilen seine Pfeife rauchen und recht oft und weit aus seiner Bedientenstube weg sein kann - aber ich tat es längst, ohne doch eine zu sein, nämlich eine Herrschaft; und daher kann ich sogar aus dem Stegreif - nämlich aus dieser Kanzel, die mich einweiht, nicht ich sie - Leiden und Freuden eines verstorbenen Dienstboten flüchtig und obenhin in zwei Teilen darlegen. Es war schon unter der
Jubelkrönung der verewigten Jungfer Regina Tanzberger, daß ich mir ihr vierzigjähriges Dienstwühlen auf dem Gerüste auseinandermalte, wo ich stand und herabsah; aber nach ihrem Auszug aus dem Dienste und aus dem Leben holte ich mir alle übrigen Personalien von ihr als nötige Funeralien ein und kann daher etwas sagen.
Wunderbar und doch nicht ohne Ruhm fing die selige Tanzberger ihre vierzigjährige Laufbahn bei dem Superintendenten dadurch an, daß sie von Herzog auszog, als er bloß
Subdiakonus war und noch unbeweibt. Er hatt es nämlich nicht aushalten können, daß sie unaufhörlich fegte, kehrte, kratzte, wusch - überall, wohin niemand kam, z. B. die Dachtreppe oder gar laut bis an drei Schritte vor seiner Studierstube, in der selber freilich nie ein weiblicher Besen an Armen gearbeitet hatte. Sie konnte aber sich nicht ändern, sondern nur den Dienst, da die weiblichen Wesen niedern Standes durchaus nichts sind und bleiben als ihre angeborne Natur, indem sogar die der höhern
Bildung der Sonne gleichen, welche ihre Flecken immer wieder zeigt durch die monatliche Drehung um sich. Wollen wir nur einen Augenblick ihrem trüben Auszuge zusehen, um dabei an andere ihresgleichen zu denken, die nicht wieder den Rückzug machen. Stumm und langsam packte sie in eine große Schachtel - denn erst später dehnte ihr bewegliches Vermögen sich zu einem Köfferchen aus, und endlich gar bis zum Kleiderkasten - ihren Festtagglanz von weißen Hauben und bunten Schürzen ein, welche sie sonst
an schönen Sommertagen mit ganz anderen Gefühlen ausgepackt; indes die heitere Nachfolgerin ihre weibliche, mit Blumen bemalte Kleider- oder Gewehrkiste auf die Stelle der Schachtel lagern ließ. - Aus dem kurzen Dienste schied Regina mit aller Teilnahme am herrschaftlichen Glück, die einen langen begleitet; und sie konnt es am Abzugmorgen kaum aushalten, daß sie die Kochtöpfe mußte am Feuer sehen, ohne zu wissen, ob das Fleisch saftig genug herausgezogen werde. Überall standen frohe Gesichter,
die sie entbehren konnten, von dem Subdiakonus an bis zu den angenommenen Kindern von Verwandten seiner Braut, die sich gewöhnlich über alles Neue, besonders über einen neuen Haus-Menschen, als über einen neuen Weltteil ihrer Weltchen erfreuen. So schied die Trübe von Frohen, und alles sah wohl der Nachfolgerin zu, aber niemand der Abgehenden nach.
Da er aber als Syndiakonus die Braut heiratete: so kam Regina wieder, und auch das Scheuern, aber doppelt; denn jene wußte das Wasser als
das Urelement der weiblichen Schöpfung und Welt so gut zu schätzen als Pindar und Thales. Seitdem ging bei dem Jubilarius die selige Jubilaria vierzig Jahre aus und ein, ein langer Wüstenweg ins gelobte Land. Allerdings flog ihr manche ungebratene Wachtel in den Mund, und gerade am Sonntage fiel (anders als bei den Kindern Israels) Manna der Lust vom Himmel. Sie konnte da meistens schon nach der Nachmittagkirche die Stuckaturarbeit des Sonntags an sich anfangen und brauchte den weißen Anwurf
erst spät vor dem Abendküchendienst wieder abzulösen, nachdem sie doch auch wie andere abends empfunden, daß es ein heiliger Tag sei. So stellte sie an Sommerabenden unter der Haustürtreppe ihren Hausschmuck wie eine Fürstenbraut stundenlang zur Schau aus, indem sie noch dazu selber im Schmucke steckte und alles Vorbeigehen ansah. Ich wünschte nur, in diesen und einigen andern Punkten hätte der strenge Jubilarius weniger geeifert und es mehr bedacht, daß für das arme Volk der rotgedruckte
Sonntag die Schminke des unscheinbaren Wochenlebens ist, und daß ein sechstägig-dunkler Leib von Wandelerde sich auch in eine sonntägige Sonne durch bloße Kleider verklären kann, wie ja ein Prediger sich selber ganz anders und geistiger im Priesterrock empfindet als im Schlafrock. Ja die Selige trug oft aus Mangel an Fingerarbeit - da der strenge Herzog, wie England und Schweiz, alles sonntägliche Nähen und Stricken untersagte - schon am zweiten Feiertage Verlangen nach Faustarbeit und
Wochensumpf.
Wenn freilich die Selige zuweilen viel länger, nämlich einen ganzen Tag lang, mit ihren architektonischen Verzierungen, sechzehn Schnörkeln, acht Stengeln und drei Blätterreihen am Kapitell, und mit dem korinthischen Säulenfuß als eine lange Säule (unser gebeugter Tanzberger ist kürzer) dastehen konnte: so war es, wenn der Jubelsuperintendent etwas von seinem Kindersegen an Töchtern oder Söhnen taufen ließ, welche sie alle so lange lieb hatte und am
Herzen trug, als sie nicht gehen konnten; und sie sagte oft mit erlaubtem Stolze: »Da steht keiner von des Herrn Herzogs jungen Pfarrherren auf der Kanzel, dem ich nicht zu seiner Zeit hätte die Nase geschneuzt.«
Bei einem solchen mäßigen Nachlaß von Freuden darf im Inventarium am wenigsten eine große, ob sie gleich jeder haben kann, ausgelassen werden, daß Regina ihren Gottestischrock anzog und durch das genommene heilige Abendmahl einen ganzen und dabei verdreifachten, ja verklärten
Sonntag durchlebte. O so hat doch der Hungrigste einmal denselben - Tisch mit dem Reichsten gemein und kann sich an einem Brot und Wein begeistern, worauf noch keine Konsumtionssteuer gelegt worden. Setzte man vollends einen Generalsuperintendenten und seine Magd gegeneinander in die Waagschale: so gewann letzte ein großes Gewicht durch seines, da der Brotherr sich vor ihr etwas bücken und als ihr Abendmahlbrotherr sie bedienen mußte.
Freilich nach solchen Dienstfreuden einer
Jubel-Regina folgen die Dienstleiden, welche ich heute, da sie vorüber sind, am wenigsten verschweigen darf; nur aber denkt an diese so wenig ein Herr oder vollends eine Frau, ja sogar eine Magd wie die verklärte, denn sie würde heute, von Toten auferweckt, Herrn und Frau beifallen und erklären: mein Dienst war gut genug, und ich wüßte noch heute, den Gottesdienst ausgenommen, keinen besseren.
Da auf der Erde gerade von Jahrhundert zu Jahrhundert die Freiheit immer mehr gesucht wird -
so wie die Keuschheit immer niedriger im Preise sinkt -, so spürt jeder seine durch Abstich, wenn er in Reginas Gesindekerker blickt, wo vierzig Jahre hindurch Millionen Gänge nur an dem Zuck des fremden Fadens erfolgen, und ebenso jede Sitzung sich an einen bindet. Es ist hart, den ganzen Tag im Kleinsten wie im Größten keinen andern Willen zu vollstrecken als den fremden; und etwa höchstens in der Nacht durch Träume eine dunkle Freilassung zu gewinnen, falls sie nicht ganz wieder die
Knechtschaft nachspiegeln. - Diese Regina oder Königin kannte nach der schlechten lukas-städtischen Verkürzung ihres Namens nur Regel.
War in allen Zimmern der Superintendentur die geputzteste lachendste Gesellschaft, so trieb sie im Wochenrocke ihr ernstes Fegwesen in der Küche, und die Gäste gingen vorbei, ohne nach ihr zu sehen. - Wie viele tausend andere Butten als bei der Weinlese trug sie in ihrem Leben vom Springbrunnen die Treppe hinauf, beide Hände wie
betend gefaltet und nicht so leicht zurückschreitend, als sie hinlief, die leere Butte schief wie einen Hut hängend und die Arme müßig ineinandergeschlagen.
Ihre einzige Braut-Menuett und noch dazu nur eine halbe wars, daß sie, wenn sie an der rechten Hand schwer trug, mit der linken die Schürze, wie zum Tanze, etwas faßte. - Doch mag auch ein kleiner Großmutter-Tanz auf der Gasse das Seinige gelten, wenn sie in früheren Jahren mit einem Herzog-Söhnchen nach der abendlichen Turmmusik
zerrend herumhopsete. Ja sie kam oft dem Weiberhimmel voll Sphärenklang und Sphärengang, nämlich dem Tanzplatze, zuweilen nahe bis auf die Schwelle, wo sie mit der Laterne zum Glücke recht lange warten mußte, bevor vom Hochzeitballe ihre Pfarrmamsellen aufbrachen. Ein ansehnlicher Leichenzug, dessen Anblick ihr zuweilen beschert wurde, war auch noch etwas von Tanz.
Immer wechselten Freud und Leid wunderlich bei ihr. Ein neuer Besen war ihr ein Palmzweig - ein Pascharoßschweif -
Putzfächer - umgekehrter Christbaum und Maienbaum; aber es begegnete ihr zuweilen - und sie durfte nichts sagen -, daß, wenn sie ihr Wasser nicht wie Säeleute den Samen geradeaus, sondern in weiten Zirkeln auf die Diele ausgesprengt, auf einmal der Jubilarius ihre Archimedes-Zirkel störte mit seinen breiten Fußstapfen. Reiner blieb ihr der Genuß eines ganz neuen Tragkorbs, zumal wenn er und also sie recht viel tragen konnte.
Sogar eine Gevatterschaft bleibt für eine arme Magd immer
ein Sauerhonig und Helldunkel. Regina mußte anfangs bei einer ersten und letzten doch mehr vor Schrecken als vor Freude zittern; denn sie mußte dabei zwei Taler dem Patchen ins Kissen stecken - ebenso viele Kopfstücke der Hebamme in die Hand - und noch über einen halben Gulden Nebenausgaben in andere Hände. Diesen Aufwand eines vierteljährigen Dienstlohns kann wohl eine Magd bedenken, wenn auch nicht abweisen; aber dafür werden auch alle weiblichen Gesindstuben, alle Küchen- und andere Mägde,
Köchinnen und Kammerjungfern meiner Meinung sein, daß die Religion, als ein höheres Leben, gleich dem Tode alle Stände gleich macht, und daß eine Magd am Taufstein so viel Menschenwert besitzt als der Pfarr- und Taufherr selber - daß allein in der Kirche ihre Person gilt, in der Küche aber nur ihre Arbeit - und daß ihr eiserner Name, der Taufname, den ihr kein Bräutigam rauben kann, sich ohne einen Mann von selber fortpflanzt, und zwar, falls künftig der Tauf-Knirps wieder zu Gevatter gebeten
wird, auf eine unabsehliche Reihe weit. So war Regina denn für ihr Geld und ihre Konfession einen ganzen Nachmittag lang eine Honoratiorin gewesen, bis sie abends wieder Küchenfeuer anschürte in der Pfarrei des Taufherrn.
Wir kommen nun auf ihre vorletzte Ehre, welche die Veranlassung zu ihrer letzten wurde, zum Tode, nämlich auf ihr Jubelfest. Es ist überhaupt schon an sich gefährlich, über irgendeine lange Lebens-Dauer öffentlich zu jubilieren; der Tod, der überall herumschleicht,
hört den Jubel und denkt dann in seinem gehirnleeren Schädelknochen, er habe das Spätobst übersehen, und bricht es sogleich. Die selige Regina konnte also wohl eine kostspielige Gevatterschaft aushalten; hingegen im gebückten Alter den schweren Krönmantel und Herzoghut und alle Kroninsignien zu tragen, drückt ein gebücktes Alter schwer. Ich erinnere mich noch recht gut, wie sie dort stand, den Kopf etwas vorgesenkt, aber sonst lang und aufrecht - mit vielen Runzeln, die sich durchschnitten, aber
voll lauter freundlicher Mienen, und mit blauen hellen Augen im grauen Kopf - und mehr demütig als beschämt - und sie schien sich am meisten darüber zu freuen, daß ihre Herrschaft eine solche Jubelmagd sich gehalten.
Der Husten, den ihr der Zugwind aus Famas Trompete anblies, ist bekannt; und was Sie dagegen heilend versuchten, geschickter Rezeptuar Tanzberger, weiß alle Welt in diesem Trauerkondukt, Herr Marschalch sowohl als ich und andere. Es muß aber doch besonders berührt werden,
obgleich in Ihrer bescheidenen Gegenwart, wie viel Sie getan und aufgewandt, und wie Sie zugleich rezeptierten und präparierten und nichts gespart, was die »Neu vermehrte heilsame Dreckapotheke von Christian Franz im Paulini etc. 1714, in Verlegung Friedrich Knochen und Sohns« im vierten Kapitel gegen den Husten ins Feld stellt von Unrat - Sie wandten Hirschkot auf nach eines Plinius und Dr. Wolffs Rat - Sie nahmen von Albert Heymbürger Ganskot an, in etwas Huflattichwasser - Sie opferten ein
gutes, schon im Maimonat gesammeltes album graecum auf und ließen sich von Paulini selber leiten - ja gepulverte Geißbohnen in einigen Tropfen Wein waren Ihnen nicht zu kostbar, denn Gufer war Ihr Gewährmann und Vorgänger.
Kurz, als Bruder und als Sterkoranist strengten Sie Ihren anus cerebri, wie man den Anfang der vierten und wichtigsten Gehirnkammer anatomisch nennt, nach Kräften an, und immer kam etwas dabei heraus; denn in dem Tempel, welchen die Römer dem Husten (tussis)
geweiht, waren Sie ein fleißiger Opferpriester und apostolischer Stuhl und brachten, wie andere Ärzte, der Gottheit Gaben oder Dosen. Das Genesen selber, da es, als eine Nebensache, nicht zum Kurieren gehört - denn mederi oder heilen kann bloß die Natur, hingegen wohl curare oder die Natur besorgen der Arzt, was eben seine Kuren und Sinekuren sind -, das Genesen blieb natürlich aus.
Aber darüber tröste sich doch endlich ein Rezeptuariat, das so viel für die Hustende getan! Es bedenke
hier nicht bloß einiges, sondern das meiste. Was wir da von irdischen Resten vor uns sehen, ist bloß das niedergeschlagene Tanzbergersche Phlegma; aber der feinere aufgestiegene Geist ist längst in eine durchsichtige Phiole aufgetrieben und wird vollkommen aufbewahrt. Wir wissen, die Seele ist am besseren Orte und fragt nichts darnach, was wir hier als bloßen polnischen Rock und Kaputrock derselben, als Futteral des Kopfes, ja als Hutfutteral noch vor uns stehen sehen. Indes sogar der
zurückgebliebene entseelte Kopf (hier wies der Leichenredner wieder auf des Provisors Gesicht im Spiegel, und dieser kehrte wieder seines dahin) kann uns noch dadurch erfreuen, daß er so ruhig und gleichsam unbekümmert um den Verlust seines Geistes uns ansieht, wie schon Lavater eine leidenschaftlose Verklärung auf kalten erblichenen Gesichtern wahrgenommen.
Das niedergebeugte Provisorat kann sich an dem Troste erheben, daß seine Regina weder zu spät noch zu früh für ihre Verdienste
um die Welt aus solcher gegangen. Wenn die Küche - die Kinderstube - die Gesindestube - die prächtigen Herrschaft-Zimmer - der große Hausplatz - die Treppe - der Keller, wenn alle diese Statthaltereien oder Intendanturen unter ihrer von Herzog verliehenen Belehnung gediehen und alle Zweige ihrer Verwaltung, als der Ministerin des Innern, grünten und blühten unter ihrem Borstwisch und Kochlöffel: so hatte sie mehr getan und erreicht als manche Fürstin, welche höchstens stickt, aber nicht spinnt
als Grundlage, und die nichts Größeres wäscht als ihre eigenen Hände, mit ihnen aber nichts. Und doch blieb Ihre hohe Verwandte, Herr Tanzberger, von jeher so bescheiden, daß sie sich eher unter eine Fürstin hinab- als über eine hinaufsetzte. Ihrer Bescheidenheit sei dies zugelassen und sogar hoch angerechnet; aber wir alle, Sie Leidtragender und das ganze Trauergefolge, das hier steht, bis auf mich herab, wir sehen recht gut ein, daß das Körperlich-Kleine nicht das Kubikmaß des Geistig-Großen
ist, und die Meilenquadratur des Territoriums nicht der Tasterzirkel des Territorialherrens; denn sonst müßte sogar ein Universalmonarch der Erde tausendmal einschrumpfen gegen einen Pater Provinzial auf manchem Flecken der Sonne, der bekanntlich zuweilen tausendmal größer ist als unsere Erde selber; und wo hörte denn die körperliche Vergrößerung auf, da der Raum unendlich groß ist, aber nicht irgendein Regent desselben, z. B. ein Mensch? - Das Storchpflugrad, worin ein unscheinbarer Mensch sein
Nest bauet, gehört auch zu den Weltpflügen und Weltuhrrädern; und das Backrädlein, womit die selige Regina ihre Kuchen auszackte und zuformte, geht nach meiner Meinung sogar den Kanonenrädern vor, durch welche die Fürsten Länder zu Enklaven ausschneiden.
Am meisten erfreut mich, daß ihre alten Tage nicht länger währten als bis zum Ehrentage. Schon dem begüterten Alter gehört Ruhe und Müßiggehen auf der früher mit Schweiß gepflügten Erde; aber wo will das dürftige Alter
eines Dienstboten seine Ruhe finden als im Müßigliegen, unter sie untergeackert? - Bei dem Leben wird, wie bei dem Montblanc, nicht das Hinauf-, sondern das Heruntersteigen am schwersten, zumal weil man statt des Gipfels Abgründe sieht. - Unsere Jubilaria Regina kannte schon in ihrer Jugend nichts Schöneres als Sterben - ein Wunsch, den man gerade bei jungen Wesen ihres Standes am aufrichtigsten antrifft, indes die unnützen Mönche, je mehr sie bei ihren sinnlosen Memento-moris
veralten, desto weniger aufhören wollen, älter zu werden, ordentlich als ob sie zum Sterben sich so wenig schickten als zum Leben. - Zum Glück ist Sterben der einzige Wunsch, der stets in Erfüllung geht, sei man noch so verlassen von Menschen und Göttern. So ist auch ein Dienstjubiläum das einzige Fest, das man nur einmal feiert im Leben. Nach solchen Festen ist es denn gut, wenn der Mensch hustet - wie viele tun, eh sie zu singen anfangen; - denn in der Tat hatte unsre Jubilaria
ihren Husten bloß vorher, ehe sie in ganz schöneren Gefilden des All ihren frohen Gesang anfing, den wir wohl ja auch einmal vernehmen werden und begleiten. Amen!
III. Enklave
Ankündigung der Herausgabe meiner sämtlichen Werke
Eine Herausgabe sämtlicher Werke kann eigentlich nur der Tod veranstalten, aber nicht ein Verfasser, der lebt und den sämtlichen Operibus jährlich opera supererogationis nachschickt. Auch das redlich-nachdruckende Östreich, das von so vielen deutschen Schriftstellern Gesamtausgaben in einerlei Format besorgt - z. B. von mir -, muß immer wieder überzählige Werke nachschießen (Im Vorbeigehen! Redlich nannt ich den Wiener Nachdruck ohne Ironie, und zwar darum, weil dessen Unrechtmäßigkeit erst vor gar nicht langer Zeit durch mehre Fürsten und selber durch den Bundstaat anerkannt worden und er folglich noch einige Jahrzehende fortdauern darf, wie die Kriegsteuer in den Frieden hinein, welche mit Recht nach dem Kriege, wie ein Regenschirm nach dem Regen, noch eine Zeitlang aufgespannt bleibt zum Abfließen.)
Der Verfasser dieses will überhaupt - obwohl aufgefodert von Käufern und Verkäufern seiner Werke und von Innen- und Außenfehlern der letzten selber - lieber seinen kurzen Kalenderanhang von Stunden, die etwa vom Himmel noch beigeschaltet werden, dem Vollenden der ungedruckten Hälfte seiner Werkchen ernstlich weihen und opfern, zumal da schon die gedruckte sich über 57 beläuft.
Folglich will er hier statt der zukünftigen Herausgabe seiner Werke bloß die vergangne angekündigt haben, indem er alle Titel derselben vollständig, und zwar, was sehr wichtig, nach der Zeitfolge ihres Erscheinens - welche auch die ihres Lesens sein sollte - sämtlichen deutschen und nichtdeutschen Lesern in kleiner Schrift herdrucken läßt:
1. 2. | Grönländische Prozesse. Zweite Auflage. |
3. | Auswahl aus des Teufels Papieren. (Nicht mehr zu haben, ausgenommen stückweise in den Palingenesien.) |
4. 5. | Die unsichtbare Loge. Zweite Auflage. |
6-9. | Hesperus. Dritte Auflage. |
10. | Leben des Quintus Fixlein. Zweite Auflage. |
11. | Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein. |
12. | Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin. |
13-16. | Siebenkäs. Zweite Auflage. |
17. | Der Jubelsenior. |
18. | Das Kampanertal - nebst der Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des Katechismus. |
19-22. | Titan. |
23. 24. | Komische Anhänge zum Titan. |
25. | Clavis Fichtiana. (Anhang zum 1sten komischen Anhang des Titan.) |
26. 27. | Palingenesien, oder Fata und Werke vor und in Nürnberg. |
28. | Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf. |
29. | Das heimliche Klaglied der jetzigen Männer; und die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrnacht. (In diese Gesellschaft blickte ein ernstes Auge.) |
30-33. | Flegeljahre. |
34-36. | Vorschule der Ästhetik. Zweite Auflage. |
37. | Freiheits-Büchlein, oder dessen verbotene Zueignung an den regierenden Herzog von Sachsen-Gotha; dessen Briefwechsel mit ihm; und die Abhandlung über die Preßfreiheit. (Diese Abhandlung sollt ich fast unsern Zeiten so sehr empfehlen, als sie selber es tut.) |
38-40. | Levana. Zweite Auflage. |
41. | Ergänzblatt zur Levana. Zweite verbesserte und mit neuen Druckfehlern vermehrte Auflage. (Ein unentbehrliches Hülfbuch für alle Leser Jean Paulscher Schriften, weil es auf wenigen Bogen alle die verschiedenen Druckfehler enthält, welche in jenen zerstreut umherliegen und sonst nirgend so gesammelt zu finden sind. Außerdem liefert das Werkchen noch zwei Vorreden, die zur ersten Auflage und die zur zweiten.) |
42-44. | Herbstblumine, oder gesammelte Werkchen aus Zeitschriften. |
45. | Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz mit fortgehenden Noten, nebst der Beichte des Teufels bei einem Staatsmanne. |
46. 47. | Katzenbergers Badereise. Nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen. (Ist nicht mehr zu haben, ausgenommen nächstens in einer zweiten, vermehrten Auflage.) |
48. | Friedenspredigt, an Deutschland gehalten. |
49. | Dämmerungen für Deutschland. |
50. | Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel. |
51. | Museum. |
52. | Mars und Phöbus Thronwechsel im J. 1814. |
53. | Politische Fastenpredigten, während Deutschlands Marterwoche gehalten. |
54. | Über die deutschen Doppelwörter; eine grammatische Untersuchung in zwölf alten Briefen und zwölf neuen Postskripten. (Die zweite oder Postskripthälfte ist ganz neu und widerlegt alle Gegner der ersten, ja der zweiten.) |
55-57. | Gegenwärtiger Komet. |
58 und 59. | Diese beiden Werkchen setz ich geradezu als herausgegeben her, obwohl noch ohne Titel und noch in keine Bände eingescheuert; es bestehen aber solche aus der künftigen Sammlung der drei Vorreden zu Kanne, zu Dobeneck und zu Hoffmann, der Rezensionen Fichtes, Krummachers, Fouqués und der Stael in den Heidelberger Jahrbüchern und der vielen zerstreuten Aufsätze im Morgenblatt, im Damenkalender und anderswo. - Die Hauptsache ist nur, durch Augenschein zu zeigen, daß ich gerade jedes Jahr meines Lebens durch ein Buch, wenn nicht verewigt, doch bejährt habe, indem ich, mit 59 Werken umhangen, den 21. März 1822 aus der Eierschale des 59ten Jahres gekrochen und noch mit ihr auf dem Rücken als junger angehender Sechziger herumlaufe. Für die übrigen Jahre und Bücher sorgt Gott. |