Jean Paul
Der Komet
Zweites Vorkapitel
eingestellt: 14.7.2007
welches zeigt, wie unendlich viel der kleine Nikolaus war sowohl in der Wirklichkeit als in seiner Einbildung, und wie er sein eigner Papst ist und sich kanonisiert, nebst einer Schlägerei dabei
Nikolaus rückte nun in die Jahre, wo es sich von Seiten seiner Talente immer mehr entwickelte, welche seltene er hatte, indem er ein großer Seeheld, ein großer Gastprediger, ein großer Heiliger (der größte Apotheker ohnehin), kurz alles
Große war, was ihm eben unter die Hände kam oder unter die Füße; denn seine köstliche Phantasiekraft setzte sich nicht, wie die des Dichters, an die Stelle der fremden Seele, sondern er setzte, wie ein Schauspieler, die fremde an die Stelle der seinigen und entsann sich dann von der eignen kein Wort mehr.
Als z. B. Lavater in Rom kurz nach der Mutter Tode gepredigt und gerührt hatte: so hielt sich Nikolaus zwei Sonntage hintereinander für Kaspar Lavater den zweiten - bis er am dritten
darauf Iffland II. wurde, weil Iffland der erste durchgereiset und von dessen Spielen in der Hauptstadt viel Redens gewesen - und bei einer solchen eignen Metallveredlung unterstützte ihn nichts so sehr, als daß er sich allemal hinsetzte und sich es stundenlang ausmalte, wie alles erst wäre, wenn er den großen Mann tausendmal überflügelte und z. B. eine so kostbare himmlische göttliche Predigt Lavaters hielte, daß die Zuhörer vor Schluchzen und Bußfertigkeit ganz des Teufels würden und
ordentlich heulten und stampften und die Kirchgänger sich vor dem Manne niederwürfen und ihn halb anbeteten, wenn er die Kanzeltreppe herabkäme voll seiner unbegreiflichen unendlichen Demut. Auf diese Weise strich nun selber der große Mann die Segel vor Nikolaus, und dieser fuhr lustig mit dem Winde dahin.
Man halte mich hier um des Himmels willen mit keinem Vorwurf auf, daß mein Held nach solchen Beweisen ein Narr sei - ich gedenke wohl noch stärkere zu liefern - und also ganz frisch
aus Brands Narrenschiffe aussteige; denn dies ist ja eben bei einer so langen komischen Geschichte mein Gewinn, daß ich für ein Jahrzehend wie unseres, wo Überchristentum und Überpoesie statt der alten paar Monatrosen und Monatnarren des ersten Aprils und der Fastnacht dauerhaftere Jahrnarren liefern, weil beide ihr tollmachendes Bilsenkraut zum Fliegen eingeben, mein Gewinn ists, sag ich, daß ich einen Helden aufgetrieben, der den Flug mit ihnen aufnimmt und so toll ist wie nicht
jeder. Narrheiten hat, so wie Eingeweidewürmer, jeder vernünftige Mensch, und niemand ist dadurch vom andern verschieden; nur ein langer unaufhörlicher Bandwurm des Kopfes, so wie einer des Unterleibs, unterscheidet die Personen. Insofern dürfte nun den mystischen Musensitzen, Kanzeln und Lehrstühlen wenigstens für dieses Jahrzehend das Privilegium gebühren, welches die Stadt Troyes besaß, für die französischen Könige die Narren zu liefern.
Ich fahre nun in Nikolausens Knabenzeit
fort und stoße darin mit wahrem Vergnügen auf eine Begebenheit, die am schönsten beweisen wird, daß er die Gabe besaß, ohne welche kein Held, am wenigsten ein komischer, gedenklich ist, nämlich die mäßige Gabe zeitverwandter Tollheit samt großen Anlagen zur Wahrheit und zur Unwahrheit. Im Christmonate, dem eigentlichen Erzählmonate, pflegte Nikolaus gern seine Schulkameraden mit Erzählungen, und zwar am liebsten von Heiligengeschichten, zu beschenken, weil er in diesen die schönsten
unglaublichsten Wunder - die mannigfältigsten Teufels-Charaktermasken - die gräßlichsten Martern - und die feinsten Erhaltungen, nur die der Köpfe nicht , liefern konnte, da er sie aus der besten und nächsten historischen Quelle geschöpft, aus seiner Mutter. Dabei verstand er besser als die größten Bollandisten, Heiligengeschichten mit solchen neuen guten Zügen zu bereichern und das geschichtliche Kunstwerk oder Stückwerk eines Heiligen, wie römische Restauratoren ein marmornes, durch solche
frische Glieder zu ergänzen, daß man geschworen hätte, man habe eine ganz neue frische Geschichte vor sich.
Nun gab er am sechsten Dezember, gerade am Festtage des heiligen Nikolaus, seines Taufpaten, den die katholische Mutter gern in seinen Schutzpatron verwandelt hätte, da gab er abends der Welt, nämlich einem gebildeten Knabenzirkel um den Ofen herum, nebst einigen Magenmorsellen die Heiligengeschichten seines heiligen Herrn Paten. Er trug aber in der Dämmerung das Leben und die
Verdienste des Bischofs Nikolaus so feurig vor, daß die Zuhörer leicht einsahen, warum er der Schutzpatron nicht nur der Schiffer, sondern auch aller Russen geworden. Er berichtete, daß dessen Bild im russischen Riesenreiche an so viel tausend Wänden hange und noch mehre tausend Verbeugungen erhalte, weil zuerst ihm jeder eine mache, der eintrete. Aber wie warm floß erst seine Rede, als er den Schirmherrn des Weltwassers und des Foliokaisertums vor den Zuhörern - sämtlich Schüler der
lateinischen oder deutschen Schule - gar als den Schutzheiligen ausstellen konnte, der sich niederbückte zu den Schulen als der Schutzpatron derselben, indem er der kleinern Schüler sich annehme, sie ansporne und fördere und ihnen am Niklastage die herrlichsten Eßwaren zu Tür und Fenster einwerfe. Und als er vollends in der Erzählung auf die Ölquelle aus dessen Grabe stieß, aus welcher so viele Kranke sich gesund geschöpft: da konnt er es sich gar nicht anders vorstellen, als daß der Erzbischof,
wie tausend schlechtere heilige Märterer, enthauptet worden - ob er gleich selber so wenig davon gehört als die allgemeine Weltgeschichte -, und er setzte also die Märtererkrone, die er erst auf dem Sessel fertig geschmiedet, unter lauter Tränen dem armen geköpften Bischof vor allen Hörern auf.
Seine Herz-Bewegung bei dem unerwarteten Schicksal eines solchen Menschenfreundes war unbeschreiblich. Jetzo sah er im Spiegel den bekannten elektrischen Heiligenschein, den sein eigner Kopf,
wenn er sich sehr erhitzte, ausdampfte. Nun war kein Halten der Rührung mehr denklich. »Vielleicht« - fuhr er unter heißem Weinen fort - »hat mich der heilige Märterer zu seinem Nachfolger auf der Erde ausersehen und hat meinen Kopf von Kindes Beinen an mit einem Schein angetan, zum Zeichen, daß ich so gut geköpft werde wie er. Und in Rußland, wenn sie diesen Schein sehen und dabei hören, daß ich mich Nikolaus schreibe, werden sie mich für einen Betrüger und Nachmacher ihres Schutzpatrons halten
und mir deshalb den Kopf wegputzen. Ach! mit Freuden werd ich zu einem Märterer und einem Heiligen, wenns auch ein kleiner ist, und zu einem Schutzpatron der Schüler, um nur allen recht zu helfen. Ja ich will schon jetzo für euch fürbitten, und zwar immer länger, je länger ich werde. Ich vermahne euch alle aber insgesamt zum Fleiße, und lernt brav, vorzüglich das Schreiben und Lesen, und die Exzeptionen in der Langischen Grammatik, die merke jeder besonders. Jedoch euer Freund und Fürbitter werd
ich verbleiben auf der ganzen kurzen Laufbahn, die ich hienieden zu wallen habe bis zu meinem frühen Grabeshügel.«
Hier konnt er vor Bewegung nichts mehr vorbringen als statt der Worte einige Gerstenzuckerstengel, welche dem bewegten Zuhörerzirkel ordentlich lieber und süßer vorkamen als die längsten Dornen seiner Märtererkrone und alle Strahlen seines Haarabglanzes.
Ich mache gar kein Geheimnis daraus, daß er in der einsamen Nacht nach diesem Erzählabende, die ihm erst den
Kopf recht heiß anstatt kalt machte, ohne Bedenken sich an seine selige Mutter mit dem Gesuche wandte, den Herrn Bischof, da sie gewiß bei ihm sei, durch Fürbitten dahin zu vermögen, daß er als ein Wundertäter mit Heilöl und als ein Retter der Schiffbrüchigen für seinen Namenverwandten auch etwas tun und ihn schon bei Lebzeiten mit einigen Kräften zum Beglücken der romischen Schüler versehen möchte. Wie gesagt, ich mache kein Geheimnis aus der Sache. Wenn Zinzendorf als Kind Briefe an den
Heiland schrieb und zum Fenster hinauswarf, weil er sie, bemerkte der Graf, finden würde; oder wenn er gar mehre Stühle um sich setzte und sie zu erbauen suchte durch eine kurze Predigt, als wären sie ordentlich besetzte Kirchstühle ; ja wenn sogar Lichtenberg Zettelchen mit Fragen an Gott unter den Dachstuhl legte und sagte: »Lieber Gott, etwas aufs Zettelchen!« - so wird mich niemand überreden, daß mein Held anders gehandelt als der Professor und der Graf.
Dies bewies er so schön
am Tag darauf. Er schritt durch die romischen Gassen mit Würde, ohne einen einzigen Sprung, er hob den Kopf mehrmal gen Himmel, als woll er etwas daran sehen, und senkte ihn schwer nieder, weil er darin viel hatte, und blickte einige Schuljugend, als sie aus der Schule mit Sprüngen rannte, in welche sie nur mit Schleichen wallfahrte, ganz bedeutend an, aber doch milde, weil ihm war, er habe als Schutzpatron sie mehr zu lieben und zu bedenken.
Einen wildesten
Springinsfeld, namens Peter (sein Vater hieß Worble), der, die Bücher im Riemen über den Kopf schleudernd, ihm auf dem Schulheimwege entgegentanzte, hielt er an und sagte zu ihm mit ungewöhnlichem Ernste: da er gestern bei seiner Geschichte nicht gewesen, so mög er heute kommen und die andern mitbringen, er wolle sie wieder geben und etwas Süßes zu essen dazu. Peter versetzte: »Wer wird nicht kommen? - Mache nur kein so hochtrabendes Leichenbitters-Gesicht dazu!«
- Jetzo
aber wünschte ich, bevor ich die Sache hinauserzählt, wohl zu wissen, ob irgendein Mann, der eben gelesen, wie Nikolaus zugleich sich und andere in die Gaukeltasche steckte, noch den Mut behält, sein Scheidewasser aufzugießen und in den Reden eines Muhammeds, Rienzis, Thomas Münsters, Loyolas, Cromwells und Napoleons das, was solche zeittrunkne Männer andern vorspiegeln, rein von dem, was sie sich selber vorspiegeln, abzusondern und so durch eine Hahnemannsche Weinprobe ihren Schein
niederzuschlagen aus ihrem Sein. Es wird aber schwerlich ein Leser diese Scheidung zwischen den Wassern versuchen, wenn er merket, daß er nicht einmal meinem noch unerwachsenen Nikolaus gewachsen ist, der noch viele Jahre hin hat zu dem seines erwachsenen Namenvetters auf Helena -
Und herrlich bestätige ich meinen Satz, wenn ich fortfahre. Die gestrige Hörergesellschaft samt Peter Worble erschien, und Nikolaus teilte sein Süßes aus - dieses Mal aus Mangel an Geld süße
Mannakörner, die bekannte biblische Speise in der Wüste, obwohl eine Kinderlaxanz in der Apotheke; - denn Geben war ihm so zur zweiten Natur geworden wie seinem großen Namenvetter auf Helena das Nehmen, welcher letzte dem heiligen Nikolaus, der nach der Legende sogar an der Amme bei heiligen Zeiten fastete und erst abends sog , nur so weit nachahmte, daß er statt seiner die Amme selber, die Jungfer Europa, fasten ließ, und für seine Person fortsog. - Nun wollte der Kleine die Erzählung noch
tausendmal frischer und farbiger als tags vorher auftragen - obgleich ich meines Orts bedacht hätte, nur das Körperliche kann man wiederholen, selten das Geistige -, und er strengte sich tapfer an; ein paar Babeltürme höher suchte er heute seinen Bischof zu stellen, zumal da er selber ihm seit gestern um manches nachgewachsen war bis zu einem halben Weihbischof; wahrlich er wollte mit Gewalt sich und alle außer sich und in Schwung bringen.
- Es ist hier weder Zeit noch Ort, dem Keimen
und Treiben der Mannakörner tiefer nachzugehen und daher zwischen Gehirn und Gedärm alles gehörig zu vermitteln: genug Nikolaus hätte ebensogut die Erfurter Glocke samt dem Turme in Schwung gebracht als sich oder sonst einen Jungen. Nun weiß ich nicht, war es unglücklicher oder gewählter Zufall, daß er seine Heiligengeschichte bei brennendem Lichte versteigerte, wie in manchen Städten mit Waren geschieht, die mit auslöschendem zugeschlagen werden; kurz die Zuhörer von gestern baueten darauf, er
werde wieder mit dem Haarschein dasitzen, wenn das Licht weg sei. Als daher der kleine Peter dieses ausschneuzte, damit endlich die Haarglorie zu sehen wäre: so stand der Kopf ganz lichtkahl und ohne die geringste Fassung oder Einfassung im Finstern; an abbrennende Zündkraute oder Feuerwerke heiliger Triumphe war nicht zu denken. Da sang Peter die sehr einfältigen Kinderverse (sie stehen entweder im Wunderhorn oder in den grimmischen Wäldern) spottend ab: »Nikolaus, fang die Maus, mach mir ein
Paar Handschuh draus.«
- - Ich glaube nicht, daß ich es schildern kann; aber so viel berichten will ich doch, daß auf der Stelle Nikolaus aufsprang und an sich und jeden andern Nikolaus oder an einen Verehrer desselben mit keiner Silbe mehr dachte, sondern den kurzen Peter Worble an den Haaren mit einer Geschwindigkeit an die Erde legte, die ich am besten Niederreißen nenne - und zwar alles dies bloß zu dem Endzweck, auf der Kehrseite Peters auf- und abzuspringen, gleichsam wie auf
der Harzscheibe eine elektrische Korkspinne oder sonst eine elektrische Figur, welche tanzt.
Er trat ihn natürlich bloß darum mit seinen Füßen, um das geistige Unkraut, so weit es körperlich zu tun war, umzutreten. Schade wars, daß der Junge nicht zweimal so lang gewesen: das kleine Weihbischöfchen hätte nicht so oft dieselbe Stelle bei ihm zu treten gebraucht. Inzwischen mit jedem Eilschritte - Peters Glieder stellten die Springhölzer in einem Vogelbauer vor - prägte er ihn
mit einem andern Namen aus: »Du Satanas! - du Höllenbesen! - du Höllenbrand!« -
In die Länge hielt Peter, wie jeder, eine solche Verknüpfung von Verbal- mit Realinjurien, von Wort- mit Tatbeleidigungen nicht aus, sondern drehte und schnalzte sich unverletzt empor und faßte den künftigen Schutzheiligen bei der besten oder heiligsten Seite, nämlich bei den Haaren der Heiligenphosphoreszenz und leitete sonach an diesen einen neuen, steilrechten Wettstreit ein ...... Rede oder schreibe
nur aber niemand etwas wider die Wildheit, worein jetzo Nikolaus vollends verfiel, als einige riefen, da er unter dem Balgen zu phosphoreszieren anfing: »Niklas, du hast den Heiligenschein wieder auf!« - »Den lebendigen Höllenschein hab ich« - rief er - »der Teufelsbraten hier hat mich um Himmel und Hölle und alles gebracht, und da steh ich« - und sah in den Spiegel, als ihn Peter losließ.
»Ja« - fuhr er fort und fing an zu weinen - »ich seh es, ich sitze schon leibhaftig in der Hölle
und brenne voraus - kein Heiliger darf sich raufen und die Menschen mit Füßen treten.« - Je länger er sich im Spiegel besah, desto mehr rührte er sich selber: »Ich fahre nun zum Teufel und hätt ein solcher Schutzheiliger werden können.«
Vergeblich wollten einige, aus Mitleid über das Abjammern, ihn trösten und sagten, Peter habe ja angefangen, und er werde das Treten schon vergessen; ja dieser selber versetzte weinerlich komisch: »Meinetwegen!« Jetzo wurd er von andern so sehr gerührt
wie vorher von sich: »Trete mich nur«, rief er, »jeder, wer will - Peter, du zuerst. - Hier lieg ich« (er blieb sitzen) »Ich werde ohnehin kein Märterer mehr und bin nichts.«
- Ich habe nirgends weniger Zeit als hier, es scharfsinnig genug auseinanderzusetzen und genau vorzuwägen, wie viele Tropfen wahrer Schmerz in dieser Herzens-Mixtur, wie viele eingebildeter und sogar wie viele vorgespiegelter enthalten ist. Genug dem Herzen ists, zumal bei poetischen Naturen, wie der Hand, welche bei harten Körpern, die man in sie gedrückt, nach einigen Sekunden nicht mehr fühlt, ob sie noch darin sind,
oder schon heraus.
Den Knoten des Helden zerschnitt ein Leuchter mit Licht, der ihm von selber den heiligen oder höllischen Schein abnahm. Aber da er nichts mehr vom Heiligen erzählen konnte, ging die kleine Kirche oder Gemeine desselben fort, und nur Peter blieb gleichsam als Tröster da. »Ich für meinen Teil frage nichts darnach,« fing Peter mit der Hand in der Weste an, »aber ich spüre, du hast mir in der Eile die untern Rippen abgeknickt, sie sind viel kürzer als die obern.«
Erschrocken befühlte ihn Niklas und fand die kurzen Rippen; ein bittrer Schmerz stand in seinem Gesichte. »Verschlägt nicht, viel,« sagte Peter, »die Rippenendchen werden sich wohl nur umgebogen haben am Bauche.« Zum Glück riß Niklas seine Weste auf und hielt seinen Leib mit dem fremden zusammen, um beider organische Lesarten zu vergleichen. Da er nun auch bei sich die kurzen Rippen antraf, so tat er aus dem Abgrunde einen Sprung in die Entzückung und rief: »So wollen wir auch nun, Peter, die
besten Kameraden bleiben, die es nur gibt; und wenn du deine Geckereien mit mir machst, so will ich dich nicht mehr niederschmeißen, ob ich gleich länger bin, sondern ich verharre dein ewiger, höchst beständiger Blutfreund.« - »Ein Wort, ein Mann!« versetzte Peter, »ich schlag ein, du läßt dich manchmal von mir zum Narren haben, und ich unterschreibe mich dein ewiger Freund.«
So schlossen beide eine ewige Freundschaft, welche lange in diesem Buche dauern kann; die in Handdrücke
verwandelten Fußtritte dienten statt des Blutes, das sonst bei mehren Völkern Freunde sich ausritzten und ineinander gemischt auf ihre Freundschaft tranken.
Nun war Nikolaus durch die Selber-Unheiligsprechung aus allen Legenden-Träumen geweckt; und er trug seinen Heiligenschein nur wie eine dünnere feinere Krone, als ein feuriger lichtvoller Kopf. -
Ich weiß nicht, soll ich zum Beweise seines ewigen Wohlmeinens und Irrmeinens noch die kleine Geschichte geben, die bald nach
der großen vorfiel. Es lag nämlich in einem zu Vorstadthäusern führenden Durchgange zwischen langen Staketenmauern von Gärten gewöhnlich so viel gute Gartenerde von Kot, und die umhergeworfnen Spitzsteine, die sonst ein gutes Stadtpflaster vorstellen konnten, lagen so weit auseinandergesäet, daß Nikolaus am Sonntage mit Erbarmen zusah, wie bei Regenwetter ganz alte Mütterchen und kleine Töchterchen mit den weißesten Strümpfen von der Welt nach den wie Sonnen auseinandergerückten Steinen
umhersetzten und meistens fehlsprangen. Andere Menschen in Rom konnten es täglich sehen und aushalten - so wie oft ein ganzes Dorf jahrzehendelang den Querstein in einem Hohlwege umfährt und befährt und vermaledeiet, ohne daß einer aus dem Dorfe sich die Mühe gäbe, den Querstein aufzuladen und den eisgrauen Jammer wegzufahren -; aber Nikolaus konnte dergleichen nicht, sondern dachte als Mensch und Weginspektor. Er brachte deshalb bei schönem Wetter jedesmal einige Steine in den Durchgang mit und
warf sie in so wohltätigen Entfernungen auseinander, daß er das erbärmliche Wetter kaum erwarten konnte, wo die weißesten Strümpfe so gut und besser über alles schritten als bei staubendem. Weg- und Pflastergeld dafür entrichtete dem kleinen Wegaufseher niemand als seine eigne Freude darüber, dieser schönste Wechsel auf Sicht. -
Aber da trat jemand auf, der ihn mit einem andern bezahlen wollte. Es hatte nämlich der Unteraufschläger oder Rendant Schleifenheimer, der an den langen
Staketenmauern sein schönes Gartenhäuschen besaß, von wo aus er jeden Passanten dicht an den Augen, ja an den Händen hatte, längst die stets zunehmende Versteinerung des Durchgangs verdrießlich wahrgenommen, welcher bei trocknem Wetter eine wahre Kunststraße geworden war, mit losen Steinen aufgefrischt, denen man, wie ein Fuhrmann, immer auszuweichen hatte. Zum Glücke sah der Unteraufschläger aus dem Gartenhause herab, als der kleine Weginspektor wieder einen ansehnlichen Straßenbaustein
getragen brachte und ihn in schickliche Weite von andern Springsteinen gerade unter des Rendanten Fenster zu ordnen suchte. »Ei, du bists«, sagte sanft der Aufschläger; und griff, als Nikolaus aufstehend die Mütze abnahm, herunter und sammelte in der Eile so viel von dessen blonden Haaren als nötig in die Faust, um an ihnen den Inspektor wie eine Aufziehbrücke aufzuziehen, oder wie einen Anker. Als er ihn nun wie eine Hängspinne fest im Hängen und Schweben hatte, schüttelte er ihn in der Luft
mit Macht, wie etwa der Jäger einen an den Ohren aufgehobenen Hund, und ließ ihn dann als eine Zug- und Fallbrücke schnell wieder fallen. ....
- Viele und verschiedne Wesen werden hienieden in die Höhe gezogen und da im Schweben erhalten - Diebe und Gefolterte an Seilen - Loyola durch seine Andacht - Hellseherinnen am bloßen Daumen ihres Magnetiseurs - Hähne und ihre Luftfahrer durch Luftbälle - Fische an Angelschnüren - der eingesargte Muhammed durch Magneten - inzwischen fuhr unter
allen diesen Wesen keines in der Geschichte so unbändig über das Erheben auf als der Weginspektor, da er wieder stand; die brennendsten Schimpfflüche flogen, jeder mit einem Pflastersteine geladen, in das offne Fenster des Aufschlägers; nach wenigen Minuten war in das Häuschen für das aufreißende Zugpflaster der Schleifenheimerischen Hand das halbe aufgerißne Steinpflaster eines Wegs geschleudert, welcher vielleicht, nach Namen-Ähnlichkeit vom appischen, trajanischen, flaminischen Weg, der
nikolausische oder nikolaitische hätte können genannt werden, wenn er ganz geblieben wäre, oder auch, nach Laut von König- oder Kaiserstraße, die Marggraf-Straße.
Da ihn endlich Würfe und Worte etwas angegriffen hatten - zehnmal mehr als den Gegner - und er alles im Häuschen totenstill hörte: so überfuhr ihn plötzlich der Schlaggedanke, der Aufschläger liege oben halb erworfen unter dem Gestein und schweige daher. Der Boreaswind des Zorns sprang in den lauen Zephyr der Wehmut um - und
der Saulus der Steinigung ging als Paulus nach Hause; - ich will es aber nicht drucken lassen, was er oben unter dem Dachboden empfand; es sei jedem genug, daß er verzweifelte und unter einem zufällig einfallenden Leichengeläute schon das künftige des erworfenen Aufschlägers vernahm, in welches noch sein eignes Armensünderglöckchen hineinschlug, - bis er endlich so glücklich war, seinen Vater unter der Apothekentüre herauspoltern zu hören: »Wohl! Ich höre. Ich will ihn ja auswichsen, daß er Öl
gibt - und damit holla, Herr Schleifenheimer!« Dies war doch einiger Trost. - -
So glücklich war schon des Helden Knabenzeit. Denn diese kleinen Dornen der Phantasie - wie die eben gezeichneten - werden ganz von dem vollen Rosengebüsch derselben bedeckt. Da die Vergangenheit und die Zukunft, die beiden reichen Indien der Phantasie, um ganze Quadratmeilen größer sind als der Punkt der Gegenwart, diese Erdzunge zwischen beiden: so kann man mit den Silberflotten der Phantasie schon die
Ausgaben der Gegenwart bestreiten. Daher macht sie immer in der Jugend glücklich und nur im Alter unglücklich, wo ihr die neue Welt der Zukunft schon genommen ist, und nur die alte der Vergangenheit noch mit ihrer Nebel-Küste nachschimmert.
Hat sich nun einmal die Phantasie zum größten Glück eines Menschen der ersten Form der Anschauung a priori - welche, wie jede Leserin aus ihrem Kant wissen kann, die Zeit in ihrem Dreiklang von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft ist - bemächtigt und sie zu ihrem Brennspiegel und Vergrößerspiegel ausgearbeitet und zugeschliffen: so hat sie natürlicherweise die zweite kantische Form der Anschauung a priori als ihren zweiten Pfeilerspiegel in ihrer Gewalt, nämlich den Raum, der in nichts anderes einzuteilen ist als in das Nächste und in das Fernste, oder in Mittelpunkt und Umkreis. Aber was ist das bißchen Mittelpunkt des Besitzes gegen die unzähligen Quadratmeilen der Ferne, die stets viel größer als die
Nähe ist und allein durch die Phantasie erobert und genossen wird! -
Man kann sich nun denken, wie weit und breit Nikolaus Himmel war, da ihm alles gehörte, was er nicht hatte. Dem Sprichwort entgegen, war ihm eine Taube auf dem Dache viel lieber als ein Pfennig in der Tasche; dort hatte er also einen ganzen Taubenflug, gegen eine dünne Pfennigbüchse hier. So zog ihn die Kirchturmfahne - zumal von der Abendsonne rotgeglüht - unbeschreiblich an, bloß weil er sie nie anzufühlen hoffen
konnte; denn wäre sie ihm vor die Füße gefallen, so hätt er sie liegen lassen und mehr sehnsüchtig nach der Turmstange geblickt. Wenn er als Kind in ein Wachtelhaus guckte und innen den langen Rittersaal und die Dreh-Erker ansah und das weiche Tuch, das nicht, wie bei uns, die Stubendiele ist, sondern die Stubendecke belegte; und wenn er sich vorstellte, wie er, falls er drinnen herumliefe, so schön in die Erker springen und ganz ins Freie und in die Apotheke sehen könnte und die vergoldeten
Türmchen dazu über seinem Kopfe hätte: so hätt er sich gern in einen Wachtelkönig verwandelt, um in einem solchen Bauer, der gerade recht zweckmäßig aufgehangen war, das häusliche Glück der Einschränkung mit der freiesten Aussicht in die Apotheke und in die Welt zu verknüpfen.
Wenn nun Nikolaus auf einer so seltnen Musenberghöhe seiner Phantasie, wie wir sehen, stand - die beiden Gehirnhügel, welche diese, nach Gall, wie zwei Parnaßspitzen innen besitzt, müssen sich folglich außen
sehr erhoben haben -, daß er, sobald er sich oben umsah, bei einigem Nebel, wie ein Mann auf dem Ätna, ganze neue Länder und Städte in den Lüften hangend antraf, die niemanden gehörten als seinem Auge, wenn er, sag ich, auf solcher Höhe das Fremde so vergrößert erblickte: so konnt ihm auch das andere Glück nicht abgehen, daß er, wie der Reisende auf dem Brocken seine Gestalt im Nebel als Riesenbild erschauet, sich selber ungemein vergrößert wahrnahm. Ja er übertraf hierin manche neuern Dichter.
Obgleich diese das Wundervermögen der Einbildkraft, welche wie Midas alles, was sie berührt, in Gold verwandelt, natürlich am allernächsten Gegenstande zuerst versuchen und sich selber vergolden, vom Kopf bis zum Fuß - so findet ein solcher am Ende sich doch nur als den größten Dichter, als einen Musengoldsohn aus dem goldnen Zeitalter, aber als nichts Weiteres, nicht als den größten Meß-, Heil-, Ton- oder sonstigen Künstler. Nikolaus hingegen sah sein Bild im oben-gedachten Brockendunste, als
wie durch ein Polyedron oder Vieleckglas, zu einer Galerie großer Männer vervielfältigt. Denn es kam nur auf die Bücher, die er las, und die Sachen, die er eben treiben mußte, an: so war er einen Tag lang zweiter Friedrich der Zweite - darauf ein starker Kotzeluch auf dem Klavier - dann ein wahrer Franzose wegen der französischen Grammaire - häufig, wenn er wollte, ein halber Linné, da er täglich in die Apotheke lieferte und den botanischen Provisor und die einsammelnde Kräuterfrau hörte, und
ein zweiter Marggraf der Chemiker, weil er teils ein entfernter Verwandter desselben war, teils der Adoptivsohn seines chemischen Vaters. - Freilich war er dies alles nicht auf einmal an einem Tage, sondern er nahm sich die nötige Zeit und war so erst nach Gelegenheit immer einer der berühmtesten Männer nach dem andern.
Und ich weiß nicht, was mehr zu seiner wahren Glückseligkeit hätte beitragen können als eben dieses seltne Vermögen, so viel zu sein. Es beschränkt einen
Mann unglaublich, wenn er sich bloß für einen großen Dichter halten muß - oder bloß für einen großen Philosophen, oder Weltmann, oder sonst für etwas einzelnes Großes, indes hundert andere Große um ihn stehen, die er alle nicht ist; und doch möcht er so gern nicht eine Glanzfarbe allein haben, sondern den ganzen Regenbogen mit allen sieben Farben auf einmal vorstellen. Dagegen gibt es wohl keine andere Hülfe, als daß einer, der z. B. nur ein ausgezeichneter Dichter in irgend
einem Fache ist, auch in den übrigen Dichtfächern groß zu sein sich vorstellt oder vornimmt und so statt des Regenbogens doch ein Tautropfe ist, der einen Regenbogen spiegelt. - Mir selber als epischen Geschichtdichter - denn was ist die Geschichte anders als ein Epos in Prosa - kommt Nikolausens Viel- und Großmännerei am meisten zupasse, da, wenn in einem Heldengedicht, wie im homerischen, jede Wissenschaft und alles zu finden sein muß, es dann immer viel dazu hilft, wenn sie alle schon
im Helden selber sitzen.
Zuweilen mußte wohl unser Nikolaus durch dieselbe Phantasie, die ihn zu allem machte, etwas ausstehen, wenn sie ihm alles nahm; aber es war nicht von Dauer. Es sind mir mehre solche Fälle erinnerlich; - ich will aber nur des einen gedenken, wo er öffentlich die Kirchenbuße ausstand, in der Kirche vor allen Zuhörern gescholten zu werden, weil er von einer fischdummen Katechismusschülerin das in einem fort zagende und zuckende Gesicht der antwortlosen
Unwissenheit aus Mitleid durch zu lautes Vorauseinhelfen wegzubringen getrachtet: »Wer berechtigte Euch zum Einblasen?« hatte der Katechet gesagt. In diesem und ähnlichem Falle pflegte Nikolaus sich vor seinem Freunde Peter Worble einen langen alten Esel zu nennen, aus dem nichts werden könnte als höchstens ein Stiefelputzer oder ein Subjekt , und er ersuchte Petern, ihn vor den Kopf zu schlagen oder sonst mit guter Manier von der Welt zu schaffen.
Jedoch wie kurz war ein solcher
dunkler Zustand gegen die langen hellen Zwischenräume, wo er vor den Stadtschülern ganz frei sich lobte und nicht das kleinste Treffliche verschwieg, das er in sich antraf, Er eröffnete geradezu, er wisse hundert Dinge aus seinen Büchern, die sie alle erst lernen müßten, er habe einen ganz besondern Kopf, und daher leuchte derselbe auch oft; und sie würden schon sehen, was er einmal werde; - denn wenn man es nur recht mache, so werde man, denk er, einer der berühmtesten Männer mit der Zeit;
freilich anfangs sei keiner gleich berühmt. - Und dies brachte er alles mit so wenigem Stolze und so unbefangen und mit so froher Überzeugung vor, jeder werde darüber im höchsten Grade erfreuet und keiner zweifelhaft sein, daß ichs ihm wohl vergönnt hätte, wenn es so gekommen wäre. Aber für prahlendes Lügen wurde wärmste Offenherzigkeit genommen, selber von Stadtschülern, denen er bei öffentlichen Prüfungen mehre Gedächtniskügelchen aus der Apotheke geschenkt. Die wärmste Liebe heilt keine
verwundete Eigenliebe, und die größte Freigebigkeit vergütet nicht die kleinste Lob-Entziehung. Leichter gönnen sogar gute Menschen dem andern jedes Glück, sogar das unverdiente, aber nie das unverdiente Lob.
Nur fehlte Nikolaus darin, daß er sich nicht auf die Weise lobte, wie sich jeder von uns. Der bescheidne Mann geht nicht weiter, als daß er rot wird und einige Vorzüge zwar wirklich eingesteht, es aber dem andern überträgt, das lange Und-so-weiter oder Etcetera
anzuhängen, in welches die Unzahl der übrigen hineingeht. Leider sprach Niklas selber sein ganzes Etcetera aus und war außen nicht um ein Wort stolzer als innen: dergleichen erbost. Haben freilich auf der andern Seite bescheidne Männer das Ihrige getan und von sich, wie wohl jeder von uns, viele Mängel und nur wenige matte Verdienste zugestanden, in dem festen Dafürhalten, der Zuhörer werde das Und-so-weiter derselben schon statt unserer aussprechen: so ist der Krieg erklärt, sobald ers nicht
tut. Kündigte nicht schon in ähnlichem Falle der König Karl Gustav von Schweden einen Krieg der Krone von Polen an, weil sie im schwedischen Titel ein P. p. oder pp. (oder Und-so-weiter oder Etcetera) weggelassen und dadurch den Sumsdorfer Frieden gebrochen? Und wurde deswegen für die Schweden nicht der Name Etceterati erfunden? - Es, kann ihn aber jeder von uns gebrauchen und sich einen Etceteratus nennen, weggelassene »pp.« am Ende sind wie weggelassene P. P. oben am Briefe, welche
bedeuten Praepositis praeponendis, so wie jene postpositis postponendis. -
Es ist nun Zeit, daß wir endlich zum dritten Vorkapitel und zum Apotheker Marggraf gelangen, welcher dem kleinen Fürstsohn eine Art von fürstlicher Erziehung geben will, um die Kosten dafür wiederzugewinnen. Ist aber nicht schon ein guter Schritt zu einem Fürsten zurückgelegt, wenn Nikolaus selber alle die verschiedenen großen Leute ist, die er kennt, anstatt daß sonst Hofleute bei einem erwachsenen Fürsten oft
jahrelang zu arbeiten haben, bis sie ihm das nämliche beibringen und er es glaubt?
Nachschrift
Da in diesem Kapitel eines gewissen Knaben Worble gedacht wird und da es gerade derselbe ist, der viele Jahre später das berühmte magnetische Gastmahl gegeben: so will ich die Beschreibung davon sogleich hier einschichten; es wird aber auffallen.
Das große magnetische Gastmahl des Reisemarschalls Worble
Magnetische Gastmähler können nur wenige Menschen geben,
Fürsten und Kapitalisten am allerwenigsten. Desto lieber ist es mir, ob ich gleich nicht mit an der Tafel saß, daß der Reisemarschall Peter Worble die Sache machen konnte, der unter allen Tischen, den Spiel- und den Schreib- und Sessiontisch nicht ausgenommen, keinen so gern hatte als den Eßtisch; nur mußt es kein einsitziger, sondern ebensowohl etwas an als auf ihm sein. Ein Mitesser war ihm ein halbes Essen; er genoß zu seinen Speisen immer gern einige Gäste, ja er hätte auf eine Nachtigall,
welche die gesangreichen Italiener so gern - verspeisen, ein paar Gäste eingeladen und den Vogel in der Luft geschickt zerlegt, wär er einem solchen Braten mit seinem Beutel gewachsen gewesen.
Es fiel zum Glück gerade in die Zeit eines Mittelalters, wo er halb bezahlen und halb entlehnen konnte, daß er seine Menschenliebe und Eßliebe durch das große magnetische Gastmahl befriedigte, das ich eben zu beschreiben habe. Künftig wird man noch genug davon lesen, daß dieser Peter Worble der
stärkste Magnetiseur war, welchen nur die Geschichte aufführen kann nach einem Puysegur, der sogar einen widerspenstigen lachenden Postillion von weitem zur Ruhe brachte, oder nach einem Pölitz in Dresden, der an einer Tafel bloß durch Handauflegen auf die Achsel auf der Eßstelle einschläferte. Worble freilich war gar noch darüber hinaus; er übersprang und überflog alle Grade der Einschläferung so mächtig, daß er sogleich bei dem Erwachen anfing, nämlich bei dem Hellsehen. Es sei nun seine durch
Marksuppenanstalten verdoppelte Körperkraft - oder, seine zwei sechsten Finger an den Händen, die er, wie Katzen und Löwen unter dem Gehen ihre feinen Schneidekrallen, gewöhnlich einschlug, und die er folglich ohne Abnutzung geladen erhielt - oder sei es sein verstecktes Magnetisieren mit den Fußzehen - oder weil es überhaupt magnetische Goliathe geben kann, auf die man erst künftig mehr achten wird - oder es sei, was am wahrscheinlichsten, dies alles zusammengenommen die Ursache davon, kurz
Worble brachte durch Anschauen und allmächtiges Wollen und unsichtbares Fernhauchen und Finger- und Zehenhandhaben die magnetischen Wunder des Hellsehens, der Sinnen-Versetzung, der Anschmiedung an den Magnetiseur, zu welchen andere Monate brauchen, in Minuten zustande.
Unter allen Wundern war nun dem guten, ebenso spaß- und menschenliebenden als essenliebenden Reisemarschall Worble das bekannte das liebste, daß ein Hellseher jeden Bissen und Tropfen schmecken mußte, den sein
Magnetiseur zu sich nahm. Nie aber zeigte sich sein gutes Herz und seine Freigebigkeit, so wie seine herrliche Magnetkraft, in schönerem Lichte als bei dem berühmten Gastmahl, das er in der Stadt Wien - so heißt der Gasthof - einer ansehnlichen Gesellschaft von kranken und hungrigen Männern aus verschiedenen Ständen gab.
Er ließ nämlich in der gedachten Stadt Wien eine große Tafel mit 32, wenn nicht mehren Gedecken bereiten und bestellte zwei Gänge der ausgesuchtesten
Speisen, jedoch von jeder Speise nur eine Portion, und zwar für sich allein. Unter den höchst-bedeutenden Gästen (um doch einige näher anzugeben) erschienen ein philosophischer Ordinarius, der an seiner neuen Philosophie, weil sie hinter den drei andern frühern Philosophien nicht abgehen wollte, halb umkam vor Hunger und vor Ärger - ein außerordentlicher Professor der Jurisprudenz, der sich an Napoleons rheinischer Bundes-Akte zu einem erlangischen Glück über das römische Recht,
nämlich zu einem Glück über das neudeutsche hatte hinaufkommentieren wollen, aber damit samt dem Bunde sitzen geblieben war, gleichfalls siech und arm - mehre Schulmänner voll Eßlust und Nahrungssorgen - ein Prälat und ein Propst und noch einige Klosterleute, sämtlich krankhaft genug, weil sie immer sowohl vor dem Essen gegessen als nach dem Essen - desgleichen einige Hofleute, aus demselben Grunde preßhaft - und ein paar Landleute von Stand, aber durch Krieg herunter und erdfarbig -
und ich könnte noch fünf oder sechs Gäste anführen.
Nachdem nun der Reise- und Futtermarschall seine Gäste mit Handdrücken und Fußscharren - nicht sowohl aus Achtung als aus magnetischer List - empfangen hatte und vor die so kunstreich wie Schwüre gebrochnen Tellertücher setzen lassen: bracht er sie alle, noch eh sie ein Tuch entfaltet hatten, auf ihren Eßstühlen in Schlaf, und sie faßten sich alle (so wollt ers still als Magnetiseur) wie Brüder an den Händen an, woran sie sich auch
unter dem ganzen Essen forthielten, und sahen sämtlich hell.
Jetzo ließ er eine köstliche Sardellensuppe auftragen und leerte zwei Teller davon mit solchem Wohlbehagen ab, daß die Professoren und die Schulmänner einstimmig versicherten, sie hätten zum ersten Male eine so feine Suppe geschmeckt, als er sie darüber fragte und ihnen die trocknen Suppenteller weggenommen wurden und andere vorgesetzt.
Es wurde ferner aufgetischt moskowitisches Rindfleisch und ein Krebspastetel,
nebst gebacknen Froschschenkeln. Der Reisemarschall schickte, noch eh er nur das Messer genommen, die Bemerkung voran: er habe mit Vorbedacht, damit die Parität und Duldung der Römisch-katholischen und der Protestanten am Tische so gut wie in Deutschland erhalten werde, auf heute, wo kein Fleischtag sei, für die Bekenner der römischkatholischen Kirche die Krebse und die Frösche bestellt; wenn er aber das moskowitische Rindfleisch esse, so werd er natürlich dafür sorgen durch ein recht starkes
Wollen , daß niemand von den Katholiken etwas davon schmecke, außer die Protestanten. Allein hier fielen ihm zwei katholische Hellseher in die Rede, der Prälat und der Propst, echte Maulchristen, aber im schönern Sinne, nämlich im Schmecksinne, Männer, welche das Sprichwort: Blut (der Märterer) ist der Samen der Kirche (sanguis semen ecclesiae) auf ihr eignes anwandten und dessen nicht genug durch Verdauen zu machen wußten, diese gaben ihm die Nachricht, daß sie für ihre kränkern
Jahre, so strenge sie auch in ihren gesündern das Fasten gehalten und sich bloß auf die von der Kirche erlaubten Fastenaustern, Fastenforellen, Aale, Salme, Seekrebse eingeschränkt, sich Fastendispense erwirkt hätten, und daß er also das moskowitische Rindfleisch und alles andere Fleisch ihnen so gut wie sich selber könne schmecken lassen. - Auf diese Weise konnte denn der Marschall als schottischer Eß- oder Logenmeister seine Loge zum hohen Lichte ausgesucht traktieren sogleich bei dem ersten
Gerichte. Es wäre überhaupt nicht zu sagen, wie herrlich es allen geschmeckt, da er zu essen anfing, hätten nicht die paar Landleute von Stand einen zu großen Ekel an den Froschschenkeln verspürt, die ihnen sein Käuen mit zu kosten gegeben; die einfältigen Landleute konnten sich gar nicht in Franzosen und Frösche, nämlich in den Geschmack daran, hineinversetzen, und Worble hatte zum Unglück in der Eile ganz vergessen, es zu wollen, daß sie nichts davon schmeckten.
Darauf bewirtete
unser Bienenwirt - um so mehr einer zu nennen, da die Bienen sich bei jedem Bienenwirte ihren Honig selber machen müssen - den geistlichen Bienenstand, besonders den Prälaten und Probst, mit einem Austerragout, welches ihm so gut schmeckte, daß er den weltlichen und tonsurierten Leckermäulern sich aufopferte und anderthalbe Teller mehr verzehrte, weil man ihn von zu vielen Seiten darum ersuchte; aber freilich konnt er damit eine ebenso seltene als unschuldige Freude machen, da die guten Leute,
welche bisher zu ihrem Magenschaden vergessen hatten, daß man, wie an Purgiermittel, Eide und Messen, ebenso an Essen bloß nüchtern zu gehen habe, nun auf einmal so viele Austern durch ihren Verdaugeschäftträger genießen konnten, als sie nur wollten, ohne das geringste Magenfieber. Was die mitessenden Hofleute betrifft, sie waren vollends außer sich über den Wirt, und sympathetisches Mitgefühl ihrer Geschmacknerven mit seinen zeigte ein Herz, das fühlte, was der andere fühlt, und an fremder
Freude teilnahm, was weit schwerer ist als Mitleid.
Dieses üppige Genießen der ganzen eingeladenen Kostschule - nämlich einer Schule zum Kosten - dauerte von Schüssel zu Schüssel fort; beschränkte Landleute, darbende Schulleute und Klosterleute, magere philosophische Ordinarien und juristische außerordentliche Professoren der rheinischen Bundakten erfuhren nun an sich selber, wie gespickte Hechte schmeckten und gebratene Duck-Enten und große Prügelkrapfen und Rehziemer und gestiefelte
Mandelköche. Unaufhörlich erkundigte sich der Reisemarschall bald bei dem einen, bald bei dem andern, ob er mehr von einem Gerichte begehrte, und nahm gern sogleich noch eine Gabel oder einen Löffel voll, indem er jedem die Furcht einer Überladung auszureden suchte und sich auf den Senf berief, den er als die beste Magen- und Gedächtnisstärkung zu allem reichlich nehme. Dabei wurde echter Kometen- oder Elferwein nicht gespart, ein Gewächs, das über manches mitspeisenden Zechbruders Zunge gar
noch nie gekommen war, ja, eigentlich zu sprechen, auch jetzo nicht darüberkam. - Und was mußten vollends die Land- und die Schulleute denken und empfinden, als die Superweine großer Tafeln durch den feststehenden Elfer, gleichsam als Bravourarien durch ein Singspiel, sich schlängelten, nämlich Vorgebirgs der guten Hoffnung-Wein, ungarischer Ausbruch, vesuvischer lacrymae-Christi Ausbruch? - Sogar dem Reisemarschall stieg so viel davon in den Kopf, daß die hellsehende Schlafkameradschaft zuletzt
etwas in den ihrigen bekam.
Als endlich die Gesellschaft satt und froh genug geworden und Worble zum Abschlusse der Verdauung noch ein Gläschen Anisette dAmsterdam, dessen Stärke jedem einheizte, genommen: so hob er die Tafel auf und beurlaubte sämtliche Mitesser, gleichsam die Milchbrüder seiner Kost-Amme, mit der geistreichen und lebendigen Tischrede: »Mög Ihnen doch allen mein wohlgemeintes Traktament, so gut es in der Stadt Wien zu haben war, einigermaßen geschmeckt haben! - Es
hätte wohl besser ausfallen können, ja zehntausendmal besser, und gern hätt ich (ich darf es sagen) Bayonner Schinken aufgetischt und Straßburger Pasteten samt polnischem Salat, desgleichen gefüllte Zungen von Troyes und Kälber von Rouen und Hähne von Caux und Kapaunen von la Fleche und Rotkehlchen von Metz; mit Freuden, wie gesagt, hätt ich damit bewirtet; aber die Sachen waren nicht zu haben: konnt ich doch kaum in der Stadt Wien gebacknen Katzendreck auftreiben und sächsische Christscheit
und abgetriebene Wespennester und boeuf à la mode und pommersche Gans. Indes war doch das Essen (dies beruhigt mich) gesund und leicht. Wenn nach dem Koran in jenem Leben die Speisen durch die Schweißlöcher abgehen: so kann ich schon jetzo von den meinigen dasselbe versprechen, da ich Ihnen, so wie nach Strabo die Perser den Göttern von den Opfertieren nur die Seele darbrachten, etwas ebenso Geistiges am Gastmahle aufgetischt, nämlich den Geschmack, das einzige, aber beste, was der
Kenner eben an Kunstwerken hat und womit er sie genießt.
Ich selber danke freilich der vortrefflichen Tischgenossenschaft den größten Genuß, um so mehr, da ich ungern allein genieße und hierin den Manichäern ähnlich bin, welche in der Taufe schwuren, niemals ohne Gesellschaft zu essen , auch dem Romanschreiber Hermes beifalle, welcher Gelehrten das einsame Essen so eifrig abrät. Wahrlich, wer den andern keinen Anteil an seinen Genüssen zuläßt, ist mir eine wahre Drohne, die wohl
Honig einsammelt und saugt, aber nur für sich allein, indes ein Besserer der Bienenwirt ist, der zwar auch den Honig genießt und zeidelt, aber ihn stets in harten Wintern mit den Arbeitbienen teilt. So handelt oft z. B. der gute Fürst, wenn er offne Tafel hält und dadurch vielen hundert offnen Mäulern von Hungrigen den Himmel offen zeigt, so daß, wie zuweilen bei den Römern dem einen Erben die Kunstmünzen (numismata) vermacht wurden, dem andern aber der Genuß, sie anzuschauen , hier das
gaffende Volk der zweite Erbe ist und recht ansieht. - - Und so wünsch ich Ihnen sämtlich zwei gesegnete Mahlzeiten zugleich, nämlich nach der jetzigen auch die nächste, da Sie, wie ich wünsche, wenn ich Sie durch Gegenstriche aufgeweckt und nach Hause gegangen, sich etwas bei dem Wirte bestellen und den Appetit befriedigen sollen, den ich nach Vermögen mit meinen schlechten Speisen zu schärfen getrachtet, so wie man von Platos spärlichen Gastmählern gerühmt, daß die Gäste darauf immer besondern
Hunger verspürt.«
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- So wurde denn der große magnetische Eßkongreß in der Stadt Wien geendigt, von dessen Pracht und Fülle ich schon so viel Rühmens vernommen. Und in der Tat war es wohl bloße Bescheidenheit, wenn der Reisemarschall sich mit einem Fürsten verglich und sein schmackhaftes Gastmahl mit einer offnen Fürstentafel, von welcher kein Zuschauer das Geringste schmeckt. Wahrhaftig, was hat selber bei dem an sich trefflichen Gabelfrühstücke des Kaisers Napoleon in Erfurt der ganze an der Tafel nahestehende Kongreß von Königen, Herzogen, Generalen, Ministern und Hofräten, worunter selber ein Wieland stand, von welchem man es eben aus seinen Briefen weiß, was hat der ganze Kongreß mehr davon gehabt als das Zusehen? Und war das offne Gabelfrühstück wohl etwas Besseres als ein Bild der Rheinbundakte, an welcher der außerordentliche Professor sich zum Pandekten- Glück emporarbeiten wollte? - Hingegen der Kongreß in der Stadt Wien, wo vom Hofmann an bis zum Schul- und Landmann alles in zwei Gängen schwelgte und sogar sich berauschte, kann anders sprechen vom Reisemarschall. Ja kaum war die Tafel aufgehoben und jeder aufgeweckt und der Reisemarschall zur Türe hinaus: so ließen sich (er zahlte unten noch in der Wirtstube an der Zeche seiner Portion) Schulleute und Landleute (sie hatten etwas im Kopfe) ganze Stücke gemeines Privatfleisch herauftragen und stillten den schönen Hunger (so wenig hatte die feine französische Küche ihren Magen verderbt) mit wenigem Reellen, indes zum großen Gastmahl viel magnetischer Aufwand für die Zungenresonanzböden nötig war, so wie die Engländer kleine Ausgaben mit Metallgeld abtun, aber große mit Papiergeld. - Kurz man darf es wohl noch einmal wiederholen: wo war ein ähnlicher froher Kongreß wie in der Stadt Wien, und wo kam so viel auf die Zunge, wenn auch nicht in den Leib?
Ernste Ausschweife zum zweiten Vorkapitelsind: Der Mensch ohne Poesie - Einsamkeit der Menschenseele - Der Atheist - Der Dichter - Geistige Erhabenheit der Berge.