Jean Paul
Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf
Fünfter Brief. An den Korrespondent Fisch
eingestellt: 1.7.2007
Über das Zeitungslesen
Postskripte: 1. Die wandelnde Aurora. 2. Über das Träumen
K., d. 25. Jun.
Ew. Wohlgeborn sende hier sämtliche Zeitungen von 97 unberührt zurück, weil wir uns mißverstanden und ich nur die von 97 vorigen Säkuls haben wollen.
Es kann Sie, lieber Herr Fisch, als bloßen Kollekteur der Zeitungen und Zeitungsleser ein Ausfall auf diese unmöglich
verdrießen. Letztern tu ich so oft und so stark, daß ich sogar an öffentlichen Orten die Zeitungen nur höhere Stadtneuigkeiten und Rittergeschichten für Männer heiße. Die meisten Leser interessiert, als Stadt-Weltklatschen, nicht die Begebenheit - noch ihr Einfluß - noch ihre Notwendigkeit - kaum ihre Wahrheit - sondern die Inschrift: daß sie in diesem Jahre gedruckt ist: alte Zeitungen und Obligationen verlieren gegen neue; und wie bei Erbschaften stehen die Aszendenten den Deszendenten nach.
Ists die Mühe wert, so viel tausend kahle Ideen, für welche man ein Jahr später kein altes Zeitungsblatt gäbe - man lese zur Probe nur ein altes - und die man nach dem Lesen wieder aus dem Gedächtnis entlässet, in den Pfandstall desselben einzuziehen? - Vaterlandsliebe können Sie, Herr Fisch, nicht viel daraus extrahieren (weil wir, ungleich den Briten, in unsern Zeitungen das Departement der auswärtigen Angelegenheiten zuerst besetzen), aber wohl Neutralität gegen das Vaterland, weil unsere
Zeitungen keine britische Rechts- und Unrechtsgeschichte, sondern nur faktische Geschichte zu geben haben. Schrieben denn nicht die inquisitorischen Venezianer die erste Zeitung; und kommt im sklavischen Pekin nicht täglich eine von 70 Seiten heraus? Herr Fisch, solche Zeitungsbände statt der Blätter sollten uns zugedacht sein.
Viel erzählen, sagt La Bruyere, ist das Zeichen eines schwachen Kopfes; ich wollte noch den zweiten schwachen dazusetzen, der gern viel erzählen hört; aber am
Ende sind beide einer, weil jeder lange Erzähler vorher ein langer Zuhörer sein mußte. Für die Lähmung der rechten und linken Seite des innern Menschen sind Neuigkeiten, zumal recht schlechte, eine herrliche Urtikation (Nesselngeißelung) - wie Sie an allen müßigen, schlaffen, leeren Menschen sehen - wie Hinrichtungen für das Volk und Mordgeschichten für die jüngsten Leserinnen; aber noch sanfter als das Kriegsschauspiel tut wie bei andern Schauspielen die Kritik über die Schauspieler.
Herr Fisch, die Menschen sollten, wie der flamen dialis, keine schußfertige Armee zu sehen bekommen; bloß damit sie nie eine rezensierten. Allerdings hat Zimmermann gesagt, das Genie eines Generals habe die größte Verwandtschaft mit dem Genie eines Arztes - wenigstens macht jenes dieses nötig -; und ich und Sie geben auch den Schluß daraus gern zu, daß, da jeder, nach Taubmann und nach dem Sprichwort, den Arzt nachspiele, jeder eben darum zum General geboren sei. Beim Himmel, wenn jeder Pudel
das Gewehr präsentieren kann, so muß jeder geistige Bettler so gut unter die Generalität zu stecken sein, als sonst ein körperlicher von Joseph II. unter die Regimenter. Aber eins möchte Erwägung verdienen, nämlich Turennens Wort, daß der beste Held nicht mehrere Mann gut kommandieren könne als 35 000 - welches nichts ist gegen die Anzahl von Regimentern nicht sowohl als von Armeen und von Generalen, die jeder Zeitungsleser täglich als Universal-Generalissimus mit dem Kommandostab der Queues und
Tabakspfeifen anführt!
Meinetwegen lese jeder alles; nur werf er nicht mitten in der Teestunde der gedruckten Zeitungen den Weibern die schwarze Stunde der gehörten vor!
Freilich halten Ihr Journalistikum, Herr Fisch, Seelen mit, welche, wie Lessing in jeder Stadtneuigkeit den Stoff eines Dramas, so in jeder Weltneuigkeit den Stoff eines höhern finden und welche die Welthistorie nicht ewig in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart suchen. Der Gedanke ist schön und
- schwierig. Aus zwanzigtausend Weißfischen wird ein ganzes Pfund Perlenessenz (zu falschen Perlen) gewonnen; aber wahrhaftig aus ebenso vielen Zeitungsschreibern ist schwer der pragmatische Auszug eines welthistorischen Tomus über die Blase zu ziehen. Eigentlich sollte man die neueste Geschichte so kurz studieren, als man die alte wider Willen muß, um nicht das Ganze in unförmlichen Verhältnissen und aus ungleichen Entfernungen zu beurteilen. Ohne die Luft- und Linienperspektive der Zeit türmt
sich alles ungeheuer auf oder schrumpft ebenso ein. Der Uranus der Gegenwart spielet anfangs, wie der himmlische, eine Sonnen-Rolle - sinkt dann zu einem Schwanzstern herab - und endlich bleibt er als eine Schwester- Erde bei uns. Der gallische hat schon jetzt das Kometenschwert, statt der Phöbusleier, ergriffen.
So schreitet der Genius des Universums gewaltig wie ein Orkan über uns hin; wir hören ihn nur rauschen und sehen ihn nur niederreißen, aber wir
sehen es nicht, wie er reinigt und schafft, und merken es bloß nach seiner Entfernung - wie Leibniz gibt das Schicksal die Rechnung des Unendlichen heraus, aber es verbirgt wie er die Beweise davon. - Und wahrhaftig wir Lebende werden hinter Sehröhren auf Stativen, die immer zittern müssen (es sei durch Furcht oder Freude), wenig im entlegensten Himmel entdecken. -
Aber mit der Zeitung von 1697 mein ich es ernstlich, mein Freund! Das Modejournal von Portici studierte, so wie
es heftweise erschien, gewiß nur der Narr und nicht der Weise; aber später, z. B. jetzt, studiert es umgekehrt nur dieser - und dieselben Kleinigkeiten des Gazetten-Details, die ohne die Perspektive der Zeit unförmlich und unkenntlich bleiben, werden durch diese zu einer Dekoration des Welttheaters und malen etwas. -
Sonst bekam man die Zeitung von Halbjahr zu Halbjahr; wahrlich das war doch immer etwas für den Weisen!
In dieser säkularischen Hoffnung und Bitte verharr
ich,
Deroselben
J. P.
N. S. Nachkommende Annexa, die Aurora und den Traktat, ersuche Ew. Wohlgeborn in beliebte Monatschriften zu inserieren, letztern in eine philosophische Zeitschrift, zumal da man jetzt die empirische Psychologie über die ontologische ganz vergisset. Die Welt liebt jetzt Zeitschriften - aus Zeitmangel, weil wir alle, Menschen und Bücher, wie eine fliehende Armee im Laufen sind und wie eine römische nur marschierend essen -, und
ich arbeite selber an mehrerem mit, wie ich höre; denn zum Selbstlesen bringt mans selten in diesem eiligen Säkul. -
Ew. Wohlgeborn sind schon vom Herrn Hospitalprediger Stiefel zum dejeuner dansant mit Feuerwerk, das wir am Siebenschläfer geben, eingeladen; und ich füge meine Bitte dazu, um so mehr da wir Hoffnung haben, daß das meiste, was von Stand in Kuhschnappel ist, unser Frühstück schmücken werde.
Die wandelnde Aurora.
Als der Mensch die leuchtende Morgenröte zum erstenmal am Himmel sah: nahm er sie für die Sonne und rief ihr zu: »Sei gegrüßet, mit Rosen überschütteter Phöbus, auf deinem weit lodernden Wagen!« - Aber bald trat der Sonnengott aus dem Rosengebüsch, und vor dem langen Blitze des Tages blätterten sich die Frührosen Aurorens ab.
Siehe abends, da Apollos Wagen in den Ozean und unter die Wellen fuhr und nichts am Himmel stand als wieder Aurorens Wagen voll Rosen: da kehrte der Mensch den
Irrtum des Morgens um und sagte: »Ich kenne dich, schöner Frühling am Himmel, du führest nur die Sonne herauf, aber du bist sie nicht!« - Und er hoffte auf die Sonne und hielt den Abendstern für den Morgenstern und den Abendwind für Morgenluft.
Aber er hoffte umsonst - der Stern der Liebe stieg nicht höher, sondern sank von Wolke zu Wolke - der Rosen-Wagen ragte nur mit einigen falben Knospen aus dem Ozean und fuhr hinter der Erde tief watend und einsinkend zur kalten Mitternacht -
Todesfrost wehte von ihr herauf - »Jetzt kenn ich dich, Leichenräuberin ,« sagte der Mensch, »du treibst den Phöbus, den schönen Jüngling, vor dir her durchs Meer und in den Orkus!« Und müde und zagend schloß er das dunkle Auge zu.
Erwache, doppelter Träumer, und schaue am blühenden Morgenhimmel Aurora wieder durch ihre weiten Rosenfelder ziehen, und der ewige Jüngling, Apollo, schreitet mit der Hand voll Morgenblitze hinter ihr herauf. -
Und erwache du auch, tieferer
Träumer, der du die Aurora der Menschengeschichte in Westen erblickst und das Abendrot anfangs für Morgenrot ansiehst und den Aufgang der Sonne erwartest - und dann verzagst, weil sie verhüllt um Norden zieht! - Erwache, denn sie kommt wieder an ihrem Morgen, und jedesmal zu einem längern Tag.
Über das Träumen,
bei Gelegenheit eines Aufsatzes darüber von Doktor Viktor
Herr
Doktor Viktor hat recht: die vingt-quatre der Philosophie geben uns Töne statt der Bilder. Hätte man dieser Fakultät, bevor sie selber geträumt hätte, ein kleines Gutachten abgefodert, ob sie wohl vernünftige Wesen auf irgendeinem Planeten, z. B. dem Monde, für denklich hielte, die Vernunft, Sinne, Gedächtnis und Freiheit täglich, fast wenn sie wollten, verlören und die man doch mit einem Laut und Ruck sogleich vernünftig, moralisch-frei, sehend und eingedenk aufstellen könnte: so
würden sich alle philosophische Adjunkten erkläret haben, auf solche Fragen gehöre keine vernünftige Antwort; oder sie hätten spöttisch versetzt, im Mond im palus somni und in der peninsula deliriorum geb es dergleichen - - Beim Himmel! dieses spaßhafte Responsum wäre ja ein ernsthaftes! - Aber was gehen uns Archimedesse an, welche sich in ihren logischen Zirkeln im Sande nicht stören lassen und die, gleich den Babyloniern nach Strabo, nur aus Armut an Bauquadern
die Kunst, systematisch zu wölben, treiben. Sonderbar ists, daß Herr Doktor Viktor sich mehr über das Wunder betrübt, wodurch die Vernunft fortgeht, als über das andere erfreuet, wodurch sie wiederkommt (ein wahres miraculum restitutionis). Übrigens weiß mein gelehrter Freund zu wohl, daß, wenn einmal der Körper der Satellit unsrer innern Welt sein sollte, beide einander jede Minute anziehen, erleuchten und verdunkeln müssen; und über ein neues Zeichen dieser Konjunktion können wir
nicht mehr erstaunen als über das alte erste, daß z. B. das Niederziehen zweier Häute uns das ganze gefärbte Universum verhängt. Aber zur Sache!
Addison nennt die Träume selber träumerisch-schön den Mondschein des Gehirns; diesen wirft nun, wie ich beweisen werde, eben unser Satellit und Mond aus Fleisch. Die psychologischen Erklärungen sind kaum halbe. Warum kann denn die mit der Sperre der Sinne eintretende Vergessenheit der örtlichen und zeitlichen Verhältnisse uns im
Traume die Vernunft und das Bewußtsein rauben, welche beide uns dieselbe Vergessenheit im tiefen Denken und Dichten lässet? Der Traum bringt uns noch dazu andere Zeiten und Örter, obwohl irrige, und also immer die Bedingungen des persönlichen Bewußtseins mit.
Auch die Suspension der Empfindungen ist keine psychologische Ursache des raubenden Traums. Man binde mir Augen, Ohren, Mund und Nase zu und lasse mir nicht viel mehr Empfindung, als die Fußsohlen heraufschicken, worauf ich
stehe: büß ich darum Gedächtnis und Bewußtsein ein? Wird nicht vielmehr der Lichtmagnet des Bewußtseins in diesem Dunkel desto heller funkeln? - Auch das Babel und die lebendige Polterkammer des Traums lösen wenig auf, da ich, gesetzt ich würde von der ganzen Erde wie von einem durcheinanderfliegenden Schutthaufen eingebauet, zwar schaudern, aber doch nicht selbstvergessen träumen könnte. -
Wir wollen miteinander den Traum vom Ei anfangen oder ausbrüten und ihn beschlagen. Meine und
Viktors Behauptung im Hesperus (4. T. p. 21), daß der Schlaf das Kordial und die Frühlings-Wässerung der Seelenorgane, nicht der Körperorgane sei, bewährt sich durch die Willkür des Einschlafens. Nichts ist wunderbarer als zu sagen - und es noch dazu zu tun -: jetzt will ich einschlafen, d. h. jetzt will ich durch ein kleines Dekret einen Teil meiner Seelenkräfte wie ein Parlament dissolvieren. Also wodurch eigentlich? - Durch ein absichtliches Aussetzen und
Innehalten der geistigen und mithin der körperlich-korrespondierenden Anstrengung. Aber dann kommen die Bilder - d. h. die Kompositionen der fortoszillierenden Organe - ungerufen vor den Geist, der, als Widerspiel des Tags, jetzt nur anschauet, und nicht erschafft und hier mit seiner Tätigkeit der körperlichen nur nach-, wie am Tage vorzugehen scheint. Das vom schnellem Pulse der Nacht und von den Friktionen des treibenden Tages erhitzte Gehirn hält elektrische Bilder vor das
Ich, so wie in Fiebern, in der Hypochondrie, im Rausch.
Haller bemerkt schon, daß wir vor und unter dem Einschlafen statt der Zeichen Bilder (richtiger: hellere selbstbewegliche Bilder statt der bleichern gehorsamern) beschauen. Darum, wer ferne Geliebte heller sehen will, der schaue sie auf dem Kopfkissen an, diesem Bildersaal, dieser Gemälde-Ausstellung aller geliebten Gestalten; da hängen ihre Kniestücke frisch gemalt und noch naß vor ihm. Eben deshalb, besonders da schöne
Formen seltner durch unser Inneres ziehen und fliegen als verzogne, könnte der Maler die heiße ikonologische Stunde vor dem Einschlafen - oder noch besser, die Stunden auf einer preußischen Extrapost, die den Schlaf am besten vertreibt - zur fruchtbarsten Schäferstunde idealischer Erzeugungen machen und in diesen Abendwolken der Seele so viel Studien finden, als ihm Meyer in den Wolken des Himmels verspricht; wahrlich in meinem Schlafgemach wollt ich Raffaels seines machen.
Ich wende mich von dieser sonderbaren Mischung unwillkürlicher Lebhaftigkeit mit zufallenden Augenlidern auf einige Minuten zu den Nebenhülfen dieses täglichen Selbstmords. Dazu gehört die waagrechte Lage; und zwar die natürliche (obwohl für uns nicht mehr offizinelle) auf dem Rücken, wie der Seepapagei und die Bauern wählen; eine Lage, die auf eine mehr als mechanische Weise uns dem magnetischen Schlummer nähert, so wie sie (nach Zimmermann) Ohnmachten endigt. Ich und andere sollten unsere
Betten wie Magnetnadeln nach Norden mit 21° westlicher Deklination und 77° Inklination stellen, da vielleicht etwas dabei herauskäme. Im Sommer werd ich bei allem Feuer, das er in mir aufbläset, doch durch Niederlegen auf die blühende Erde schläfrig, wiewohl Doktor Viktor dieses dem reichern Lager der schweren Lebensluft beimaß. -
Die zweite Nebenhülfe ist die Fixsternbedeckung des Auges, dessen Reich in unserer innern Welt eigentlich den größten Weltteil bildet; daher in unsern
Träumen der Guckkasten größer ist als der Konzertsaal oder gar die noch kleinere Garküche. Blinde werden, wie ich vermute, zu dem Schlafe mehr durch verworrene Klänge als durch verworrene Bilder gehen. Der Hase, der mit offnen Augen schläft, hat vielleicht schwache, zumal da er gute Ohren hat. Aber schonend, zärtliche Allmutter, ziehest du das Augenlid über das vom Schlaf gebrochne Auge, damit dieses uns nicht mit dem toten Scheine der anblickenden Seele martere, der uns in Wachsgestalten und
die Türken in Statuen mit der Lüge des Lebens ängstigt, wie mich und den Thomas von Aquino sogar Sprachmaschinen und Affen.
Ich komme zu dem Ideen-Charivari zurück, womit der Tag in uns ausklingt. Der Weg vom Wachen in den Schlaf geht durch den Traum; aber man ist sich dieser Vorträume nur bei Störungen des Einschlafens bewußt.
So liegt also der Schlaf zwischen zwei Träumen, wie das bürgerliche Leben zwischen den dichterischen kindlichen Träumen der Jugend und des Alters. Der Inauguraltraum ist wild, kurz und wird immer dunkler; die vom rastenden Geiste nicht mehr
gestoßenen Pendüle der Denkorgane machen immer kleinere Schwingungen, bis er endlich selber die schweren Pendüle nicht mehr regen kann.
Aber gegen Morgen treibt das brachgelegene und vom Nerventau erfrischte Gehirn die Frühlingsblumen heraus, die Morgenträume, die sich mit dem äußern Morgen erhellen und die vielleicht darum den Griechen prophetisch waren. Daher macht das noch energische und elastische Gehirn den Mittagsschlummer mehr zu einem Mittagstraum oder Homers-Schlaf.
Ich komme nun zu den kleinen Kelchberaubungen des Traums, die mein gelehrter Freund, Doktor Viktor, uns banger und genauer vorzählt als die Gaben desselben. Erstlich die Träume sind voll Vergessenheit, ohne Gedächtnis für das Wachen wie dieses ohne eines für sie. Vielleicht wurde darum die Lethe zur Schwester des Schlafs gemacht. Gern stimm ich hier in Viktors schöne Klage ein: »Wenn wir im äffenden Widerschein des Lebens, im Traume, endlich wieder längst zerfallene Hände fassen und wenn uns
wieder ein warmes helles Auge aus der Aschenhöhle anblickt: warum verbirgt uns da die feindselige Vergeßlichkeit des Traums, daß es gestorbene Geliebte sind? - Warum wird der durstigen Brust, wenn sie endlich dem lang ersehnten Herzen begegnet, durch eine vorgelogene kalte Vergangenheit die Entzückung des Wiedersehens und die Stunde der höchsten Liebe genommen? - Ach wie würden wir an Herzen ruhen, die sich über den Sternen geheiligt haben und die uns schon früher gehörten! Hoher Emanuel, ich
zerflösse vor deiner Gestalt, wenn sie vom Himmel käme in meinen Traum herab!« -
Eben darum, da die Rührungen der Träume so tief ins Mark des Herzens greifen, ist es gut, daß sie uns nicht den einzigen Trost an Gräbern rauben, das stille Erblassen holder Bilder, und daß der Traum uns lieber oft mit der Vergangenheit der vorigen Sünden gegen die Liebe beschämt, um unsere Gegenwart wärmer zu machen.
Woher kommt aber sein schwaches Gedächtnis? - Daher: der Schlaf ist nur ein
schwächerer Nervenschlag, also eine periodische Lähmung und Asthenie des Gehirns; alle asthenische Zustände aber vertilgen das Gedächtnis, z. B. die athenische Pest, Alter, Hysterie, Schlagfluß, Ohnmacht, Blutverlust, Unenthaltsamkeit etc. - Indes ist die Vergeßlichkeit wie im Alter nur partial und betrifft mehr neue als alte Objekte; und die stärksten Proben des Erinnerns und Vergessens wechseln ab. Eben dasselbe ist in asthenischen Krankheiten. Doktor Viktor führet aus Nikolais Pathologie -
und dieser aus Hambergers Physiologie - einen apoplektischen Musikus an, der seine Muttersprache und das Abc vergaß, aber Vokalmusik und Noten behielt. Beattie erzählt, daß der Schlagfluß einem Priester nur die Erinnerung der vier nächsten Jahre, nicht der andern nahm usf. Woher aber wieder dieses komme, das zu erklären gehört erstlich nicht hierher, und zweitens weiß ich auch selber keine Erklärung, verspreche aber, im Traktat über das Gedächtnis auf eine zu fallen.
Der Traum setzt
uns, nach Herders schöner Bemerkung, immer in Jugendstunden zurück; - und ganz natürlich, weil die Engel der Jugend die tiefsten Fußtritte in dem Felsen der Erinnerung ließen; und weil überhaupt eine ferne Vergangenheit schon öfter und tiefer in den Geist eingegraben wird als eine ferne Zukunft. Und so schlingt der erste Zierbuchstabe unsers Daseins wie in Lehrbriefen seine langen Schönheitslinien schweigend um alle vier Ränder der Schrift.
Der Traum behält nichts leichter als Träume,
ein Sinnbild von uns Lebens-Träumern! Im Sonnenschein des Wachens müssen diese Nachtlichter aus demselben Grund ungesehen brennen, aus welchem in Wilden und in Knaben, die unter dem Gewilde erwuchsen, durch die Kultur alle Erinnerung der Vorzeit rein auslischt. Auch laufen im Spinngewebe der Träume die Fäden in- und übereinander, und einer macht leicht den andern rege. Ja in manchen Menschen ist ein gewisser Traum das bleibende Nestei, um welches die andern herumkommen; die fixe Idee eines
sanftern Wahnsinns; das muß sein, da hier mehr das schwere, von eingelegtem Bildwerk beladene Gehirn die Gestalten verschiebt als das ewig spiegelnde und zeugende Ich. - Mein Erschrecken über den intermittierenden Puls dieses Ichs nehm ich wieder zurück, das ich einmal bei der Geschichte hatte, daß ein Mann die Rede, die er in der Ohnmacht anfing, nach derselben mitten im Perioden forthielt; denn ebenso schließen sich die Träume mehrerer Nächte in fortlaufender Signatur aneinander an, obgleich
die wachende Tätigkeit dazwischenfiel. -
Ein wenig aus dem vorigen zu erklären ists, daß der Traum, wie das Alter, in seinen eleusinischen Mysterien oder Karfreitags-Moralitäten gewöhnlicher eine ferne Vergangenheit aus unserer Götter- und Passionsgeschichte nachspiele als die nächste; indes er in Rücksicht der Zukunft umgekehrt, als ein zweites Gesicht, keine ferne, sondern die nächste vorgaukelt; denn unsere schwierigen Begebenheiten werden - wie die biblischen
von den Exegeten - immer in Träume verkehrt. So träumte mir nie, daß ich Enkel auf dem Schoße hätte, aber ein gewisses tanzendes Frühstück, das Schreiber dieses gibt, hat er bisher drei Nächte hintereinander gegeben; und er und der Teufel und sechs große Rezensenten tanzen darin immer miteinander den Großvatertanz. Wer sollte sich solches tolles Zeug träumen lassen, wenn ers, wie gesagt, nicht träumte? -
Pascal - der Heilige eines höhern Ordens - sagt, nur das Abbrechen der Träume
mache uns gleichgültig gegen sie. Aber unser Wachen erleidet ja dasselbe Abbrechen geradeso oft; indes, wollten wir auch wie unsere Vorfahren, die Germanen, nach Nächten, und wie unsere Ebenbilder, die Nordamerikaner, nach Schlafen datieren: so würd es uns mit diesem Mondlicht ohne Brennpunkt wie mit dem himmlischen gehen, von welchem Lambert erwies, daß ein ganzes mit Vollmonden ausgelegtes Himmelsgewölbe uns kaum das matte graue Licht eines bewölkten Tages niedertauen
würde. Die gediegnen Sinne, der Geruch, der Geschmack und das Gefühl, verlieren darin ihren Metallreiz, und selber die Gestalten ziehen nur als Schatten durch diese persönliche Unterwelt. Daher ist darin unser Schrecken, z. B. über einen révenant oder über ein Hinabstürzen, nur ein leichtes dramatisches; und immer lindert eine dunkle Hoffnung oder Furcht, nur zu träumen, das Fieber der träumenden Brust. Und hier bei dieser Vexierwelt muß uns Jakobis tiefes Wort gegen die ähnliche des Idealismus
einfallen: daß jedes Träumen ein Wachen voraussetze. -
Das Bewußt- und Vernünftigsein, dieses Licht aus dem schärfern Zusammenstoß der innern Tätigkeit und der äußern Einwirkung, muß der Traum aufheben, da er das schwere paralytische Gehirn über das Ich wie über einen Titan wälzt und damit es zugleich entkräftet und bedeckt. Das Wunder der Schnelligkeit, womit man oft ohne die innere Morgendämmerung des Traums und ohne äußern Anstoß erwacht, setzt das Wegsprengen eines körperlichen
Hindernisses voraus, die siegende Krisis einer Stockung. Das anfänglich kraftlose Ringen, im Traum oder noch mehr unter dem Alpdrücken aufzuwachen, oder ein Glied zu regen, beweiset die Lähmung des Nervenschlags; aber die Heilung derselben durch den Willen (gleichsam wie durch Elektrisieren) wirft den Satz von Boerhaave um, daß jeder Schlaf ohne äußeres Aufrütteln (z. B. ohne den Reiz der Absonderungen) ein ewiger sein würde.
Der spekulative Traum, so wie der praktische der
Nachtwandler, der den Übergang zum Wachen (zum Wahnsinn) macht, lassen uns nach dem Raube der Vernunft und Erinnerung doch die Kompetenzstücke, die Viktor erwähnt, Phantasie, Witz, Scharfsinn, sogar Verstand; und geben uns dadurch die Rangliste dieser Kräfte und ihr Verhältnis zum Körper, zu den Tieren und Kindern an. Die Phantasie kann im Traume am schönsten ihren hängenden Garten aufspannen und überblümen, und sie nimmt darein besonders die aus dem liegenden so oft
vertriebnen Weiber auf. Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst; und zeigt, daß der Dichter mit dem körperlichen Gehirne mehr arbeite als ein anderer Mensch. Warum hat sich noch niemand darüber verwundert, daß er in den Scènes détachées des Traums den agierenden Personen wie ein Shakespeare die eigentümlichste Sprache, die schärfsten Merkworte ihrer Natur eingibt, oder vielmehr daß sie es ihm soufflieren, nicht er ihnen? Der echte Dichter ist ebenso im Schreiben nur der Zuhörer, nicht der
Sprachlehrer seiner Charaktere, d. h. er flickt nicht ihren Dialog nach einem mühsam gehörten Stilistikum der Menschenkenntnis zusammen, sondern er schauet sie wie im Traum lebendig an, und dann hört er sie. Viktors Bemerkung, daß ihm ein geträumter Opponent oft schwerere Einwürfe vorlege als ein leibhaftiger, wird auch vom Dramatiker gemacht, der vor der Begeisterung auf keine Art der Wortführer der Truppe sein könnte, deren Rollenschreiber er in derselben so leicht ist. Daß die
Traumstatisten uns mit Antworten überraschen, die wir ihnen doch selber inspiriert haben, ist natürlich: auch im Wachen springt jede Idee, wie ein geschlagner Funke, plötzlich hervor, die wir unserer Anstrengung zurechnen; im Traume aber fehlt uns das Bewußtsein der letztern, wir müssen also die Idee der Gestalt vor uns zuschreiben, der wir die Anstrengung leihen.
Wie viel man träumend Scharfsinn habe, davon bin ich ein Beispiel: so sagt ich z. B. einmal zu mir, als ich vor einer
Steinbank um die Straßenecke herumkam: »Wenn der Traum nur aus deinen Vorstellungen besteht, so brauchst du ja nur die Steinbank dir hier in dieser Gasse zu denken, um sie zu sehen.« Ich dachte sie, aber ich sah nichts; ich kehrte wieder um die Ecke zurück, aber auch vergeblich. O wir spielenden und gespielten Wesen!
Doktor Viktor pflichtet der Meinung Hemsterhuis und Dionysius bei, daß der Mensch im Traume seine moralische und unmoralische Natur enthülle; so wie Swift es vom Traum
der Tollheit behauptet, und Seneka vom Traum des Rausches. Ich falle ihnen allen bei, aber mit der wichtigsten Klausel. Es gibt im Menschen eine doppelte Moralität, eine angeborne - worüber die jetzige deräsonierende Zeit so viele öde Worte und ihre erworbene Moralität verliert - und eben diese erworbene. Diese letztere nun, die himmlische Tochter unserer sie mit jener zeugenden Vernunft, tritt leider zugleich mit ihrer göttlichen Mutter ab. Der zum Helden nicht geborne,
sondern erst durch Entschlüsse erzogne Mensch wird in Träumen die Flucht ergreifen und darin so gut, wie der Atheist in seinen, vor Gespenstern zittern; und der von seiner Vernunft zahmgemachte Zorn des edeln Antonins reißet sich im Fieber von den Schlußketten los. - Im Traume ist keine Vernunft und also keine Freiheit.
Hingegen die angeborne Moralität, der mitgebrachte Religions- und Tilgungsfond des Innern, mit andern Worten das weite Geisterreich der Triebe und
Neigungen steigt in der zwölften Stunde des Träumens herauf und spielet dichter-verkörpert vor uns. Aus Träumen der Weiber, die jenes Geisterreich noch seltener als wir mit Doktor Fausts philosophischem Mantel und mit dem Zauberkreis der Doktorringe zu beherrschen wissen, würd ich daher weit ernsthafter schließen als aus meinen oder Viktors Träumen, da uns alle Finger voll Doktorringe stecken. Hieher gehört eine Stelle aus den Palingenesien über die schönern Träume der
Weiber. - Fürchterlich tief leuchtet der Traum in den in uns gebaueten Epikurs- und Augias-Stall hinein; und wir sehen in der Nacht alle die wilden Grabtiere oder Abendwölfe ledig umherstreifen, die am Tage die Vernunft an Ketten hielt.
In Träumern, wie in Trunknen, in Dichtern, asthenischen Kranken (von Nervenschwäche, Blutverlust, Migräne), ist nichts wacher und stärker als die passive oder fühlende Natur. Daher werfen im Traum alle Gefühle höhere Wellen, und das ganze Herz ist
flüssig. Daher hat die Rührung darin, wie die Nachtschmetterlinge für die schlafenden Blumen, einen längern Saugerüssel und zieht die innerste tiefste Träne herauf. Daher ist darin wie in der Jugend das Gefühl für witzige Kontraste schärfer. Daher lachte Browne nur über geträumte Lustspiele; und hatte die innigste Andacht nur in Träumen, die sogar den Arnobius zum Christen bekehrten. Daher verherrlicht die Grazie Pasithea, die Gemahlin des Schlafs, jede Huldin so sehr, die uns darin findet und
anblickt; und die Nacht, die Mutter des Amors, erquickt das träumende Herz mit der Liebe ohnegleichen, nämlich ewig mit der ersten. - - Endymion, der du eine dreifache Ewigkeit begehrtest, die des Daseins, der Jugend, des Schlafes, du brauchtest ja nur die letztere zu erflehen, sie gab dir dann alles andere dazu! -
Viktor tut einen tiefen Blick in den Abgrund, woraus die Kunstwerke des Ohrs aufsteigen, wenn er über die von Tartini im Traum gemachte Teufelssonate nachsinnt. Die Töne
verlieren unter allen Geschöpfen des Tags am wenigsten durch den Resonanzboden des Traums, weil die Empfindungen des Ohrs schwerer als die irgendeines Sinnes von ihren Erinnerungen zu unterscheiden sind, wie man merken kann, wenn man bei dem Entweichen einer Musik endlich zweifelt, ob die letzten Töne Erinnerungen oder Empfindungen sind, die dem Sonnenlicht ähnlichen, das, aus dem rikoschetierenden Planspiegel aufgefangen, noch hinter dem Brennglas wärmt. Töne leben länger in uns als Bilder, der
Musiksaal kann länger nachklingen als der Bildersaal nachschimmern. Und wenn nun Töne den Wahnsinnigen, den Trunknen, den Nervenschwachen so tief ergreifen, und mithin ihren Repräsentanten, den Träumer, noch mehr; wenn dieser, aus gleichen Gründen wie die nervensiechen Mädchen und die Sterbenden, höhere, nur im Äther wallende Melodien trinkt, die nicht durch die Ohren eingehen, sondern durch das Herz: so kann ich ja wohl begreifen, wie du, Viktor - und ich selber, nur leider nicht oft genug -
von dieser »Nachtmusik«, wie du sie nennst, erhoben und aufgelöset und entzündet werden. Ach ja wohl hören wir die rechte Sphärenmusik nur in uns; und der Genius unsers Herzens lehrt uns, wie wir Vögeln, die Harmonien nur unter der Überhüllung unsers Bauers aus Erde. - -
Und nun genug, wiewohl nicht mir. Ich könnte noch vieles sagen; besonders könnt ich mich wundern, warum man den Traum nicht gebraucht, um daran den unwillkürlichen Vorstell-Prozeß der Kinder, der Tiere, der
Wahnsinnigen zu studieren, sogar der Dichter, der Tonkünstler und der Weiber. Ich könnte den Traum noch mechanischer behandeln; aber mein Genius ruft mir überhaupt zu: gleich der Schachmaschine tollet die Weltmaschine mit lauten Rädern um, aber eine lebendige Seele verbirgt sich hinter den mechanischen Schein.
Ich schließe am schönsten mit meines Viktors Worten: »Vernunft und Bewußtsein und Freiheit wachsen und fallen miteinander, sie bilden die Sonne der Menschheit, die aber
jeden Abend untergeht. Aber wie auf der einen Seite jenes innere Sonnenlicht dich erhebt über den Lebenszwang des Tiers, das auch von seinem Traum in ein Wachen übergeht, welches wieder ein Traum gegen deinen ist; und wie du in dieser Stufenfolge die Hoffnung antriffst, einmal so frei und besonnen zu werden, daß dein jetziges Wachen dir ein Träumen scheint; so schlage auf der andern Seite bei dir nicht wie bei Alexander der Schlaf, sondern das Träumen den Dünkel nieder, der einen spinozistischen
Schöpfer aus dir schafft! Wo hat denn der liegende Gott auf dem Bette, unter dem auf ihn geworfenen Gebirge des Schlafes, seine Freiheit, seine Moralität, seine Vorsätze, sogar seine letzte Liebe und Freude? Nein, unendlicher Vater, reiche du mir deine Hand, du gabst mir alles und wirst mir alles wiedergeben, denn ich habe ja nichts!«