Johann Wolfgang von Goethe
Egmont
Fünfter Aufzug.
eingestellt: 10.6.2007
Straße. Dämmerung.
Klärchen. Brackenburg. Bürger.
Brackenburg. Liebchen, um Gottes willen, was nimmst du vor?
Klärchen. Komm mit, Brackenburg! Du mußt die Menschen nicht kennen; wir befreien ihn gewiß. Denn was gleicht ihrer Liebe zu ihm? Jeder fühlt, ich schwör' es, in sich die brennende Begier, ihn zu retten, die Gefahr von einem kostbaren Leben abzuwenden, und dem Freiesten die Freiheit wiederzugeben. Komm! Es fehlt nur an der
Stimme, die sie zusammenruft. In ihrer Seele lebt noch ganz frisch, was sie ihm schuldig sind; und daß sein mächtiger Arm allein von ihnen das Verderben abhält, wissen sie. Um seinet--und ihretwillen müssen sie alles wagen. Und was wagen wir? Zum höchsten unser Leben, das zu erhalten nicht der Mühe wert ist, wenn er umkommt.
Brackenburg. Unglückliche! du siehst nicht die Gewalt, die uns mit ehernen Banden gefesselt hat.
Klärchen. Sie scheint mir nicht
unüberwindlich. Laß uns nicht lang vergebliche Worte wechseln. Hier kommen von den alten, redlichen, wackern Männern! Hört, Freunde! Nachbarn, hört!--Sagt, wie ist es mit Egmont?
Zimmermeister. Was will das Kind? Laß sie schweigen!
Klärchen. Tretet näher, daß wir sachte reden, bis wir einig sind und stärker. Wir dürfen nicht einen Augenblick versäumen! Die freche Tyrannei, die es wagt, ihn zu fesseln, zuckt schon den Dolch, ihn zu ermorden. O Freunde! mit jedem
Schritt der Dämmerung werd' ich ängstlicher. Ich fürchte diese Nacht. Kommt! wir wollen uns teilen; mit schnellem Lauf von Quartier zu Quartier rufen wir die Bürger heraus. Ein jeder greife zu seinen alten Waffen. Auf dem Markte treffen wir uns wieder, und unser Strom reißt einen jeden mit sich fort. Die Feinde sehen sich umringt und überschwemmt, und sind erdrückt. Was kann uns eine Handvoll Knechte widerstehen? Und er in unsrer Mitte kehrt zurück, sieht sich befreit, und kann uns einmal
danken, uns, die wir ihm so tief verschuldet worden. Er sieht vielleicht--gewiß, er sieht das Morgenrot am freien Himmel wieder.
Zimmermeister. Wie ist dir, Mädchen?
Klärchen. Könnt ihr mich mißverstehn? Vom Grafen sprech' ich! Ich spreche von Egmont.
Jetter. Nennt den Namen nicht! Er ist tödlich.
Klärchen. Den Namen nicht! Wie? Nicht diesen Namen? Wer nennt ihn nicht bei jeder Gelegenheit? Wo steht er nicht geschrieben? In diesen Sternen hab'
ich oft mit allen seinen Lettern ihn gelesen. Nicht nennen? Was soll das? Freunde! Gute, teure Nachbarn, ihr träumt; besinnt euch. Seht mich nicht so starr und ängstlich an! Blickt nicht schüchtern hie und da beiseite. Ich ruf' euch ja nur zu, was jeder wünscht. Ist meine Stimme nicht eures Herzens eigne Stimme? Wer würfe sich in dieser bangen Nacht, eh' er sein unruhvolles Bette besteigt, nicht auf die Kniee, ihn mit ernstlichem Gebet vom Himmel zu erringen? Fragt euch einander! frage
jeder sich selbst! und wer spricht mir nicht nach: "Egmonts Freiheit oder den Tod!"
Jetter. Gott bewahr' uns! Da giebt's ein Unglück.
Klärchen. Bleibt! Bleibt und drückt euch nicht vor seinem Namen weg, dem ihr euch sonst so froh entgegen drängtet!--Wenn der Ruf ihn ankündigte, wenn es hieß: "Egmont kommt! Er kommt von Gent!" da hielten die Bewohner der Straßen sich glücklich, durch die er reiten mußte. Und wenn ihr seine Pferde schallen hörtet, warf jeder seine
Arbeit hin, und über die bekümmerten Gesichter, die ihr durchs Fenster stecktet, fuhr wie ein Sonnenstrahl von seinem Angesichte ein Blick der Freude und Hoffnung. Da hobt ihr eure Kinder auf der Thürschwelle in die Höhe und deutetet ihnen: "Sieh, das ist Egmont, der größte da! Er ist's! Er ist's, von dem ihr bessere Zeiten, als eure armen Väter lebten, einst zu erwarten habt." Laßt eure Kinder nicht dereinst euch fragen: "Wo ist er hin? Wo sind die Zeiten hin, die ihr verspracht?"--Und
so wechseln wir Worte, sind müßig, verraten ihn!
Soest. Schämt Euch, Brackenburg! Laßt sie nicht gewähren! Steuert dem Unheil!
Brackenburg. Liebes Klärchen! wir wollen gehen! Was wird die Mutter sagen? Vielleicht--
Klärchen. Meinst du, ich sei ein Kind, oder wahnsinnig? Was kann vielleicht?--Von dieser schrecklichen Gewißheit bringst du mich mit keiner Hoffnung weg.--Ihr sollt mich hören, und ihr werdet; denn ich seh's, ihr seid bestürzt, und könnt euch
selbst in euerm Busen nicht wiederfinden. Laßt durch die gegenwärtige Gefahr nur einen Blick in das Vergangene dringen, das kurz Vergangene. Wendet eure Gedanken nach der Zukunft! Könnt ihr denn leben? Werdet ihr, wenn er zu Grunde geht? Mit seinem Atem flieht der letzte Hauch der Freiheit. Was war er euch? Für wen übergab er sich der dringendsten Gefahr? Seine Wunden flossen und heilten nur für euch. Die große Seele, die euch alle trug, beschränkt ein Kerker, und Schauer tückischen
Mordes schweben um sie her. Er denkt vielleicht an euch, er hofft auf euch, er, der nur zu geben, nur zu erfüllen gewohnt war.
Zimmermeister. Gevatter, kommt.
Klärchen. Und ich habe nicht Arme, nicht Mark, wie ihr; doch hab' ich, was euch allen eben fehlt, Mut und Verachtung der Gefahr. Könnt' euch mein Atem doch entzünden! könnt' ich an meinen Busen drückend euch erwärmen und beleben! Kommt! In eurer Mitte will ich gehen!--Wie eine Fahne wehrlos ein edles Heer von
Kriegern wehend anführt, so soll mein Geist um eure Häupter flammen, und Liebe und Mut das schwankende, zerstreute Volk zu einem fürchterlichen Heer vereinigen.
Jetter. Schaff' sie beiseite, sie dauert mich.
(Bürger ab.)
Brackenburg. Klärchen! siehst du nicht, wo wir sind?
Klärchen. Wo? Unter dem Himmel, der so oft sich herrlicher zu wölben schien, wenn der Edle unter ihm herging. Aus diesen Fenstern haben sie herausgesehn, vier, fünf Köpfe
über einander; an diesen Thüren haben sie gescharrt und genickt, wenn er auf die Memmen herabsah. O, ich hatte sie so lieb, wie sie ihn ehrten! Wäre er Tyrann gewesen, möchten sie immer vor seinem Falle seitwärts gehn. Aber sie liebten ihn!--O ihr Hände, die ihr an die Mützen grifft, zum Schwert könnt ihr nicht greifen--Brackenburg, und wir?--Schelten wir sie?--Diese Arme, die ihn so oft fest hielten, was thun sie für ihn?--List hat in der Welt so viel erreicht.--Du kennst Wege und Stege,
kennst das alte Schloß. Es ist nichts unmöglich, gieb mir einen Anschlag.
Brackenburg. Wenn wir nach Hause gingen.
Klärchen. Gut.
Brackenburg. Dort an der Ecke seh' ich Albas Wache; laß doch die Stimme der Vernunft dir zu Herzen dringen. Hältst du mich für feig? Glaubst du nicht, daß ich um deinetwillen sterben könnte? Hier sind wir beide toll, ich so gut wie du. Siehst du nicht das Unmögliche? Wenn du dich faßtest! Du bist außer dir.
Klärchen. Außer mir! Abscheulich! Brackenburg, ihr seid außer euch. Da ihr laut den Helden verehrtet, ihn Freund und Schutz und Hoffnung nanntet, ihm Vivat rieft, wenn er kam; da stand ich in meinem Winkel, schob das Fenster halb auf, verbarg mich lauschend, und das Herz schlug mir höher als euch allen. Jetzt schlägt mir's wieder höher als euch allen! Ihr verbergt euch, da es not ist, verleugnet ihn und fühlt nicht, daß ihr untergeht, wenn er verdirbt.
Brackenburg. Komm nach
Hause.
Klärchen. Nach Hause?
Brackenburg. Besinne dich nur! Sieh dich um! Dies sind die Straßen, die du nur sonntäglich betratst, durch die du sittsam nach der Kirche gingst, wo du übertrieben ehrbar zürntest, wenn ich mit einem freundlichen grüßenden Wort mich zu dir gesellte. Du stehst und redest, handelst vor den Augen der offnen Welt; besinne dich, Liebe! Wozu hilft es uns?
Klärchen. Nach Hause! Ja, ich besinne mich. Komm, Brackenburg, nach Hause!
Weißt du, wo meine Heimat ist? (Ab.)
Gefängnis
durch eine Lampe erhellt, ein Ruhebett im Grunde.
(Egmont allein.)
Alter Freund! immer getreuer Schlaf, fliehst du mich auch, wie die übrigen Freunde? Wie willig senktest du dich auf mein freies Haupt herunter, und kühltest, wie ein schöner Myrtenkranz der Liebe, meine Schläfe! Mitten unter Waffen, auf der Woge des Lebens, ruht' ich leicht atmend, wie ein aufquellender Knabe, in deinen Armen. Wenn
Stürme durch Zweige und Blätter sausten, Ast und Wipfel sich knirrend bewegten, blieb innerst doch der Kern des Herzens ungeregt. Was schüttelt dich nun? Was erschüttert den festen, treuen Sinn? Ich fühl's, es ist der Klang der Mordaxt, die an meiner Wurzel nascht. Noch steh' ich aufrecht, und ein innrer Schauer durchfährt mich. Ja, sie überwindet, die verräterische Gewalt; sie untergräbt den festen hohen Stamm, und eh' die Rinde dorrt, stürzt krachend und zerschmetternd deine Krone.
Warum denn jetzt, der du so oft gewalt'ge Sorgen gleich Seifenblasen dir vom Haupte weggewiesen, warum vermagst du nicht die Ahnung zu verscheuchen, die tausendfach in dir sich auf und nieder treibt? Seit wann begegnet der Tod dir fürchterlich, mit dessen wechselnden Bildern, wie mit den übrigen Gestalten der gewohnten Erde, du gelassen lebtest?--Auch ist er's nicht, der rasche Feind, dem die gesunde Brust wetteifernd sich entgegensehnt; der Kerker ist's, des Grabes Vorbild, dem
Helden wie dem Feigen widerlich. Unleidlich ward mir's schon auf meinem gepolsterten Stuhle, wenn in stattlicher Versammlung die Fürsten, was leicht zu entscheiden war, mit wiederkehrenden Gesprächen überlegten, und zwischen düstern Wänden eines Saals die Balken der Decke mich erdrückten. Da eilt' ich fort, sobald es möglich war, und rasch aufs Pferd mit tiefem Atemzuge. Und frisch hinaus, da wo wir hingehören! ins Feld, wo aus der Erde dampfend jede nächste Wohlthat der Natur, und durch
die Himmel wehend alle Segen der Gestirne uns umwittern; wo wir, dem erdgebornen Riesen gleich, von der Berührung unsrer Mutter kräftiger uns in die Höhe reißen; wo wir die Menschheit ganz, und menschliche Begier in allen Adern fühlen; wo das Verlangen, vorzudringen, zu besiegen, zu erhaschen, seine Faust zu brauchen, zu besitzen, zu erobern, durch die Seele des jungen Jägers glüht; wo der Soldat sein angebornes Recht auf alle Welt mit raschem Schritt sich anmaßt, und in fürchterlicher
Freiheit wie ein Hagelwetter durch Wiese, Feld und Wald verderbend streicht, und keine Grenzen kennt, die Menschenhand gezogen.
Du bist nur Bild, Erinnerungstraum des Glücks, das ich so lang besessen; wo hat dich das Geschick verräterisch hingeführt? Versagt es dir, den nie gescheuten Tod im Angesicht der Sonne rasch zu gönnen, um dir des Grabes Vorgeschmack im ekeln Moder zu bereiten? Wie haucht er mich aus diesen Steinen widrig an! Schon starrt das Leben; vor dem Ruhebette
wie vor dem Grabe scheut der Fuß.--
O Sorge! Sorge! die du vor der Zeit den Mord beginnst, laß ab!--Seit wann ist Egmont denn allein, so ganz allein in dieser Welt? Dich macht der Zweifel hilflos, nicht das Glück. Ist die Gerechtigkeit des Königs, der du lebenslang vertrautest, ist der Regentin Freundschaft, die fast, du darfst es dir gestehn, fast Liebe war, sind sie auf einmal, wie ein glänzend Feuerbild der Nacht, verschwunden, und lassen dich allein auf dunkelm Pfad
zurück? Wird an der Spitzedeiner Freunde Oranien nicht wagend sinnen? Wird nicht ein Volk sich sammeln und mit anschwellender Gewalt den alten Freund erretten?
O haltet, Mauern, die ihr mich einschließt, so vieler Geister wohlgemeintes Drängen nicht von mir ab; und welcher Mut aus meinen Augen sonst sich über sie ergoß, der kehre nun aus ihren Herzen in meines wieder. O ja, sie rühren sich zu Tausenden! sie kommen! stehen mir zur Seite! Ihr frommer Wunsch eilt dringend zu dem
Himmel, er bittet um ein Wunder. Und steigt zu meiner Rettung nicht ein Engel nieder, so seh' ich sie nach Lanz' und Schwertern greifen. Die Thore spalten sich, die Gitter springen, die Mauer stürzt vor ihren Händen ein, und der Freiheit des einbrechenden Tages steigt Egmont fröhlich entgegen. Wie manch bekannt Gesicht empfängt mich jauchzend! Ach, Klärchen, wärst du Mann, so säh' ich dich gewiß auch hier zuerst, und dankte dir, was einem Könige zu danken hart ist, Freiheit.
Klärchens Haus.
Klärchen (kommt mit einer Lampe und einem Glas Wasser aus der Kammer; sie setzt das Glas auf den Tisch und tritt ans Fenster).
Brackenburg? Seid Ihr's? Was hört' ich denn? Noch niemand? Es war niemand! Ich will die Lampe ins Fenster setzen, daß er sieht, ich wache noch, ich warte noch auf ihn. Er hat mir Nachricht versprochen. Nachricht? Entsetzliche Gewißheit!--Egmont verurteilt!--Welch Gericht darf ihn fordern? und sie verdammen ihn! Der
König verdammt ihn? oder der Herzog? Und die Regentin entzieht sich! Oranien zaudert, und alle seine Freunde!--Ist dies die Welt, von deren Wankelmut, Unzuverlässigkeit ich viel gehört und nichts empfunden habe? Ist dies die Welt?--Wer wäre bös genug, den Teuern anzufeinden? Wäre Bosheit mächtig genug, den allgemein Erkannten schnell zu stürzen? Doch ist es so--es ist!--O Egmont, sicher hielt ich dich vor Gott und Menschen, wie in meinen Armen! Was war ich dir? Du hast mich dein genannt,
mein ganzes Leben widmete ich deinem Leben.--Was bin ich nun? Vergebens streck' ich nach der Schlinge, die dich faßt, die Hand aus. Du hilflos, und ich frei!--Hier ist der Schlüssel zu meiner Thür. An meiner Willkür hängt mein Gehen und mein Kommen, und dir bin ich zu nichts!--O, bindet mich, damit ich nicht verzweifle; und werft mich in den tiefsten Kerker, daß ich das Haupt an feuchte Mauern schlage, nach Freiheit winsle, träume, wie ich ihm helfen wollte, wenn Fesseln mich nicht
lähmten, wie ich ihm helfen würde!--Nun bin ich frei! Und in der Freiheit liegt die Angst der Ohnmacht.--Mir selbst bewußt, nicht fähig, ein Glied nach seiner Hilfe zu rühren. Ach leider, auch der kleine Teil von deinem Wesen, dein Klärchen, ist wie du gefangen, und regt getrennt im Todeskrampfe nur die letzten Kräfte.--Ich höre schleichen, husten--Brackenburg--er ist's!--Elender, guter Mann, dein Schicksal bleibt sich immer gleich; dein Liebchen öffnet dir die nächtliche Thür, und ach!
zu welch unseliger Zusammenkunft!
(Brackenburg tritt auf.)
Klärchen. Du kommst so bleich und schüchtern, Brackenburg! was ist's?
Brackenburg. Durch Umwege und Gefahren such' ich dich auf. Die großen Straßen sind besetzt; durch Gäßchen und durch Winkel hab' ich mich zu dir gestohlen.
Klärchen. Erzähl', wie ist's?
Brackenburg (indem er sich setzt). Ach, Kläre, laß mich weinen. Ich liebt' ihn nicht. Er war der reiche Mann und lockte des
Armen einziges Schaf zur bessern Weide herüber. Ich hab' ihn nie verflucht; Gott hat mich treu geschaffen und weich. In Schmerzen floß mein Leben von mir nieder, und zu verschmachten hofft' ich jeden Tag.
Klärchen. Vergiß das, Brackenburg! Vergiß dich selbst! Sprich mir von ihm! Ist's wahr? Ist er verurteilt?
Brackenburg. Er ist's! Ich weiß es ganz genau.
Klärchen. Und lebt noch?
Brackenburg. Ja, er lebt noch.
Klärchen. Wie willst
du das versichern?--Die Tyrannei ermordet in der Nacht den Herrlichen! vor allen Augen verborgen fließt sein Blut. Ängstlich im Schlafe liegt das betäubte Volk, und träumt von Rettung, träumt ihres ohnmächtigen Wunsches Erfüllung; indes, unwillig über uns, sein Geist die Welt verläßt. Er ist dahin!--Täusche mich nicht! dich nicht!
Brackenburg. Nein, gewiß, er lebt!--Und leider! es bereitet der Spanier dem Volke, das er zertreten will, ein fürchterliches Schauspiel, gewaltsam
jedes Herz, das nach Freiheit sich regt, auf ewig zu zerknirschen.
Klärchen. Fahre fort und sprich gelassen auch mein Todesurteil aus! Ich wandle den seligen Gefilden schon näher und näher, mir weht der Trost aus jenen Gegenden des Friedens schon herüber. Sag' an.
Brackenburg. Ich konnt' es an den Wachen merken, aus Reden, die bald da, bald dorten fielen, daß auf dem Markte geheimnisvoll ein Schrecknis zubereitet werde. Ich schlich durch Seitenwege, durch bekannte
Gänge nach meines Vettern Hause, und sah aus einem Hinterfenster nach dem Markte.--Es wehten Fackeln in einem weiten Kreise spanischer Soldaten hin und wieder. Ich schärfte mein ungewohntes Auge, und aus der Nacht stieg mir ein schwarzes Gerüst entgegen, geräumig, hoch; mir grauste vor dem Anblick. Geschäftig waren viele rings umher bemüht, was noch von Holzwerk weiß und sichtbar war, mit schwarzem Tuch einhüllend zu verkleiden. Die Treppen deckten sie zuletzt auch schwarz, ich sah es
wohl. Sie schienen die Weihe eines gräßlichen Opfers vorbereitend zu begehn. Ein weißes Kruzifix, das durch die Nacht wie Silber blinkte, ward an der einen Seite hoch aufgesteckt. Ich sah, und sah die schreckliche Gewißheit immer gewisser. Noch wankten Fackeln hie und da herum; allmählich wichen sie und erloschen. Auf einmal war die scheußliche Geburt der Nacht in ihrer Mutter Schoß zurückgekehrt.
Klärchen. Still Brackenburg! Nun still! Laß diese Hülle auf meiner Seele ruhn.
Verschwunden sind die Gespenster, und du, holde Nacht, leih' deinen Mantel der Erde, die in sich gärt; sie trägt nicht länger die abscheuliche Last, reißt ihre tiefen Spalten grausend auf und knirscht das Mordgerüst hinunter. Und irgend einen Engel sendet der Gott, den sie zum Zeugen ihrer Wut geschändet; vor des Boten heiliger Berührung lösen sich Riegel und Bande, und er umgießt den Freund mit mildem Schimmer; er führt ihn durch die Nacht zur Freiheit sanft und still. Und auch mein Weg
geht heimlich in dieser Dunkelheit, ihm zu begegnen.
Brackenburg (sie aufhaltend). Mein Kind, wohin? was wagst du?
Klärchen. Leise, Lieber, daß niemand erwache! daß wir uns selbst nicht wecken! Kennst du dies Fläschchen, Brackenburg? Ich nahm dir's scherzend, als du mit übereiltem Tod oft ungeduldig drohtest.--Und nun, mein Freund--
Brackenburg. In aller Heiligen Namen!--
Klärchen. Du hinderst nichts. Tod ist mein Teil! und gönne mir den sanften
schnellen Tod, den du dir selbst bereitetest. Gieb' mir deine Hand!--Im Augenblick, da ich die dunkle Pforte eröffne, aus der kein Rückweg ist, könnt' ich mit diesem Händedruck dir sagen: wie sehr ich dich geliebt, wie sehr ich dich bejammert! Mein Bruder starb mir jung; dich wählt' ich, seine Stelle zu ersetzen. Es widersprach dein Herz, und quälte sich und mich, verlangtest heiß und immer heißer, was dir nicht beschieden war. Vergieb' mir und leb' wohl! Laß mich dich Bruder nennen! Es
ist ein Name, der viel Namen in sich faßt. Nimm die letzte schöne Blume der Scheidenden mit treuem Herzen ab--nimm diesen Kuß.--Der Tod vereinigt alles, Brackenburg, uns denn auch.
Brackenburg. So laß mich mit dir sterben! Teile! Teile! Es ist genug, zwei Leben auszulöschen.
Klärchen. Bleib! du sollst leben, du kannst leben.--Steh meiner Mutter bei, die ohne dich in Armut sich verzehren würde. Sei ihr, was ich ihr nicht mehr sein kann; lebt zusammen, und beweint
mich. Beweint das Vaterland und den, der es allein erhalten konnte. Das heutige Geschlecht wird diesen Jammer nicht los; die Wut der Rache selbst vermag ihn nicht zu tilgen. Lebt, ihr Armen, die Zeit noch hin, die keine Zeit mehr ist. Heut' steht die Welt auf einmal still; es stockt ihr Kreislauf, und mein Puls schlägt kaum noch wenige Minuten. Leb' wohl!
Brackenburg. O, lebe du mit uns, wie wir für dich allein! Du tötest uns in dir, o leb' und leide! Wir wollen unzertrennlich
dir zu beiden Seiten stehn, und immer achtsam soll die Liebe den schönsten Trost in ihren lebendigen Armen dir bereiten. Sei unser! Unser! Ich darf nicht sagen, mein.
Klärchen. Leise, Brackenburg! Du fühlst nicht, was du rührst. Wo Hoffnung dir erscheint, ist mir Verzweiflung.
Brackenburg. Teile mit den Lebendigen die Hoffnung! Verweil' am Rande des Abgrundes, schau' hinab und sieh auf uns zurück.
Klärchen. Ich hab' überwunden, ruf' mich nicht wieder zum
Streit.
Brackenburg. Du bist betäubt; gehüllt in Nacht suchst du die Tiefe. Noch ist nicht jedes Licht erloschen, noch mancher Tag!--
Klärchen. Weh! über dich Weh! Weh! Grausam zerreißest du den Vorhang vor meinem Auge. Ja, er wird grauen, der Tag! vergebens alle Nebel um sich ziehn und wider Willen grauen! Furchtsam schaut der Bürger aus seinem Fenster, die Nacht läßt einen schwarzen Flecken zurück; er schaut, und fürchterlich wächst im Lichte das Mordgerüst. Neu
leidend wendet das entweihte Gottesbild sein flehend Auge zum Vater auf. Die Sonne wagt sich nicht hervor; sie will die Stunde nicht bezeichnen, in der er sterben soll. Träge gehn die Zeiger ihren Weg, und eine Stunde nach der andern schlägt. Halt! Halt! nun ist es Zeit! mich scheucht des Morgens Ahnung in das Grab. (Sie tritt ans Fenster, als sähe sie sich um, und trinkt heimlich.)
Brackenburg. Kläre! Kläre!
Klärchen (geht nach dem Tisch und trinkt das Wasser).
Hier ist der Rest! Ich locke dich nicht nach. Thu', was du darfst, leb' wohl. Lösche diese Lampe still und ohne Zaudern, ich geh' zur Ruhe. Schleiche dich sachte weg, ziehe die Thür nach dir zu. Still! Wecke meine Mutter nicht! Geh, rette dich. Rette dich, wenn du nicht mein Mörder scheinen willst. (Ab.)
Brackenburg. Sie läßt mich zum letztenmale, wie immer. O, könnte eine Menschenseele fühlen, wie sie ein liebend Herz zerreißen kann. Sie läßt mich stehn, mir selber überlassen;
und Tod und Leben ist mir gleich verhaßt.--Allein zu sterben!--Weint, ihr Liebenden! Kein härter Schicksal ist als meins! Sie teilt mit mir den Todestropfen und schickt mich weg! von ihrer Seite weg! Sie zieht mich nach, und stößt ins Leben mich zurück. O Egmont, welch preiswürdig Los fällt dir! Sie geht voran; der Kranz des Siegs aus ihrer Hand ist dein, sie bringt den ganzen Himmel dir entgegen!--Und soll ich folgen? wieder seitwärts stehn? den unauslöschlichen Neid in jene Wohnungen
hinübertragen?--Auf Erden ist kein Bleiben mehr für mich, und Höll' und Himmel bieten gleiche Qual. Wie wäre der Vernichtung Schreckenshand dem Unglückseligen willkommen!
(Brackenburg geht ab, das Theater bleibt einige Zeit unverändert. Eine Musik, Klärchens Tod bezeichnend, beginnt; die Lampe, welche Brackenburg auszulöschen vergessen, flammt noch einigemal auf, dann erlischt sie. Bald verwandelt sich der Schauplatz in das
Gefängnis.
(Egmont liegt schlafend auf dem Ruhebette. Es entsteht ein Gerassel mit Schlüsseln, und die Thür thut sich auf. Diener mit Fackeln treten herein; ihnen folgt Ferdinand, Albas Sohn, und Silva, begleitet von Gewaffneten. Egmont fährt aus dem Schlaf auf.)
Egmont. Wer seid ihr, die ihr mir unfreundlich den Schlaf von den Augen schüttelt? Was künden eure trotzigen, unsichern Blicke mir an? Warum diesen fürchterlichen Aufzug? Welchen Schrekkenstraum
kommt ihr der halberwachten Seele vorzulügen?
Silva. Uns schickt der Herzog, dir dein Urteil anzukündigen.
Egmont. Bringst du den Henker auch mit, es zu vollziehen?
Silva. Vernimm es, so wirst du wissen, was deiner wartet.
Egmont. So ziemt es euch und euerm schändlichen Beginnen! In Nacht gebrütet und in Nacht vollführt. So mag diese freche Tat der Ungerechtigkeit sich verbergen!--Tritt kühn hervor, der du das Schwert verhüllt unter dem Mantel
trägst; hier ist mein Haupt, das freieste, das je die Tyrannei vom Rumpf gerissen.
Silva. Du irrst! Was gerechte Richter beschließen, werden sie vorm Angesicht des Tages nicht verbergen.
Egmont. So übersteigt die Frechheit jeden Begriff und Gedanken.
Silva (nimmt einem Dabeistehenden das Urteil ab, entfaltet's und liest's). "Im Namen des Königs, und kraft besonderer von Seiner Majestät uns übertragenen Gewalt, alle seine Unterthanen, wes Standes sie seien,
zugleich die Ritter des goldnen Vließes zu richten, erkennen wir--"
Egmont. Kann die der König übertragen?
Silva. "Erkennen wir, nach vorgängiger genauer, gesetzlicher Untersuchung, dich Heinrich Grafen Egmont, Prinzen von Gaure, des Hochverrats schuldig, und sprechen das Urteil: daß du mit der Frühe des einbrechenden Morgens aus dem Kerker auf den Markt geführt, und dort vorm Angesicht des Volks zur Warnung aller Verräter mit dem Schwerte vom Leben zum Tode
gebracht werden sollest. Gegeben Brüssel am" (Datum und Jahrzahl werden undeutlich gelesen, so, daß sie der Zuhörer nicht versteht.) "Ferdinand, Herzog von Alba, Vorsitzer des Gerichts der Zwölfe." Du weißt nun dein Schicksal; es bleibt dir wenige Zeit, dich drein zu ergeben, dein Haus zu bestellen und von den Deinigen Abschied zu nehmen.
(Silva mit dem Gefolge geht ab. Es bleibt Ferdinand und zwei Fackeln; das Theater ist mäßig erleuchtet.)
Egmont (hat eine Weile in
sich versenkt, stille gestanden und Silva, ohne sich umzusehen, abgehen lassen. Er glaubt sich allein, und da er die Augen aufhebt, erblickt er Albas Sohn). Du stehst und bleibst? Willst du mein Erstaunen, mein Entsetzen noch durch deine Gegenwart vermehren? Willst du noch etwa die willkommne Botschaft deinem Vater bringen, daß ich unmännlich verzweifle? Geh! Sag' ihm! Sag' ihm, daß er weder mich, noch die Welt belügt. Ihm, dem Ruhmsüchtigen, wird man es erst hinter den Schultern leise
lispeln, dann laut und lauter sagen, und wenn er einst von diesem Gipfel herabsteigt, werden tausend Stimmen es ihm entgegen rufen: Nicht das Wohl des Staats, nicht die Würde des Königs, nicht die Ruhe der Provinzen haben ihn hierher gebracht. Um sein selbst willen hat er Krieg geraten, daß der Krieger im Kriege gelte. Er hat diese ungeheure Verwirrung erregt, damit man seiner bedürfe. Und ich falle, ein Opfer seines niedrigen Hasses, seines kleinlichen Neides. Ja, ich weiß es, und ich
darf es sagen; der Sterbende, der tödlich Verwundete kann es sagen: mich hat der Eingebildete beneidet; mich wegzutilgen, hat er lange gesonnen und gedacht.
Schon damals, als wir noch jünger mit Würfeln spielten und die Haufen Goldes, einer nach dem andern, von seiner Seite zu mir herübereilten, da stand er grimmig, log Gelassenheit, und innerlich verzehrte ihn die Ärgernis, mehr über mein Glück, als über seinen Verlust. Noch erinnere ich mich des funkelnden Blicks, der
verräterischen Blässe, als wir an einem öffentlichen Feste vor vielen tausend Menschen um die Wette schossen. Er forderte mich auf, und beide Nationen standen; die Spanier, die Niederländer wetteten und wünschten. Ich überwand ihn; seine Kugel irrte, die meine traf; ein lauter Freudenschrei der Meinigen durchbrach die Luft. Nun trifft mich sein Geschoß. Sag' ihm, daß ich's weiß, daß ich ihn kenne, daß die Welt jede Siegszeichen verachtet, die ein kleiner Geist erschleichend sich
aufrichtet. Und du! wenn einem Sohne möglich ist, von der Sitte des Vaters zu weichen, übe beizeiten die Scham, indem du dich für den schämst, den du gerne von ganzem Herzen verehren möchtest.
Ferdinand. Ich höre dich an, ohne dich zu unterbrechen! Deine Vorwürfe lasten wie Keulschläge auf einen Helm; ich fühle die Erschütterung, aber ich bin bewaffnet. Du triffst mich, du verwundest mich nicht; fühlbar ist mir allein der Schmerz, der mir den Busen zerreißt. Wehe mir! Wehe! Zu
einem solchen Anblick bin ich aufgewachsen, zu einem solchen Schauspiele bin ich gesendet!
Egmont. Du brichst in Klagen aus? Was rührt, was bekümmert dich? Ist es eine späte Reue, daß du der schändlichen Verschwörung deinen Dienst geliehen? Du bist so jung und hast ein glückliches Ansehn. Du warst so zutraulich, so freundlich gegen mich. So lang ich dich sah, war ich mit deinem Vater versöhnt. Und eben so verstellt, verstellter als er, lockst du mich in das Netz. Du bist der
Abscheuliche! Wer ihm traut, mag er es auf seine Gefahr thun; aber wer fürchtete Gefahr, dir zu vertrauen? Geh! Geh! Raube mir nicht die wenigen Augenblicke! Geh, daß ich mich sammle, die Welt und dich zuerst vergesse!--
Ferdinand. Was soll ich dir sagen? Ich stehe und sehe dich an, und sehe dich nicht, und fühle mich nicht. Soll ich mich entschuldigen? Soll ich dir versichern, daß ich erst spät, erst ganz zuletzt des Vaters Absichten erfuhr, daß ich als ein gezwungenes, ein
lebloses Werkzeug seines Willens handelte? Was fruchtet's, welche Meinung du von mir haben magst? Du bist verloren; und ich Unglücklicher stehe nur da, um dir's zu versichern, um dich zu bejammern.
Egmont. Welche sonderbare Stimme, welch ein unerwarteter Trost begegnet mir auf dem Wege zum Grabe? Du, Sohn meines ersten, meines fast einzigen Feindes, du bedauerst mich, du bist nicht unter meinen Mördern? Sage, rede! Für wen soll ich dich halten?
Ferdinand. Grausamer
Vater! Ja, ich erkenne dich in diesem Befehle. Du kanntest mein Herz, meine Gesinnung, die du so oft als Erbteil einer zärtlichen Mutter schaltest. Mich dir gleich zu bilden, sandtest du mich hierher. Diesen Mann am Rande des gähnenden Grabes, in der Gewalt eines willkürlichen Todes zu sehen, zwingst du mich; daß ich den tiefsten Schmerz empfinde, daß ich taub gegen alles Schicksal, daß ich unempfindlich werde, es geschehe mir, was wolle.
Egmont. Ich erstaune! Fasse dich!
Stehe, rede wie ein Mann!
Ferdinand. O, daß ich ein Weib wäre! daß man mir sagen könnte: was rührt dich? was ficht dich an? Sage mir ein größeres, ein ungeheureres Übel, mache mich zum Zeugen einer schrecklichern That; ich will dir danken, ich will sagen: es war nichts.
Egmont. Du verlierst dich? Wo bist du?
Ferdinand. Laß diese Leidenschaft rasen, laß mich losgebunden klagen! Ich will nicht standhaft scheinen, wenn alles in mir zusammenbricht. Dich soll
ich hier sehn?--Dich?--Es ist entsetzlich! Du verstehst mich nicht! Und sollst du mich verstehen? Egmont! Egmont! (Ihm um den Hals fallend.)
Egmont. Löse mir das Geheimnis.
Ferdinand. Kein Geheimnis.
Egmont. Wie bewegt dich so tief das Schicksal eines fremden Mannes?
Ferdinand. Nicht fremd! Du bist mir nicht fremd. Dein Name war's, der mir in meiner ersten Jugend gleich einem Stern des Himmels entgegenleuchtete. Wie oft hab' ich nach dir
gehorcht, gefragt! Des Kindes Hoffnung ist der Jüngling, des Jünglings der Mann. So bist du vor mir her geschritten; immer vor, und ohne Neid sah ich dich vor, und schritt dir nach, und fort und fort. Nun hofft' ich endlich dich zu sehen, und sah dich, und mein Herz flog dir entgegen. Dich hatt' ich mir bestimmt, und wählte dich aufs neue, da ich dich sah. Nun hofft' ich erst mit dir zu sein, mit dir zu leben, dich zu fassen, dich.--Das ist nun alles weggeschnitten, und ich sehe dich
hier!
Egmont. Mein Freund, wenn es dir wohlthun kann, so nimm die Versicherung, daß im ersten Augenblick mein Gemüt dir entgegenkam. Und höre mich. Laß uns ein ruhiges Wort unter einander wechseln. Sage mir: ist es der strenge, ernste Wille deines Vaters, mich zu töten?
Ferdinand. Er ist's.
Egmont. Dieses Urteil wäre nicht ein leeres Schreckbild, mich zu ängstigen, durch Furcht und Drohung zu strafen, mich zu erniedrigen, und dann mit königlicher Gnade
mich wieder aufzuheben?
Ferdinand. Nein, ach leider nein! Anfangs schmeichelte ich mir selbst mit dieser ausweichenden Hoffnung; und schon da empfand ich Angst und Schmerz, dich in diesem Zustande zu sehen. Nun ist es wirklich, ist gewiß. Nein, ich regiere mich nicht. Wer giebt mir eine Hilfe, wer einen Rat, dem Unvermeidlichen zu entgehen?
Egmont. So höre mich. Wenn deine Seele so gewaltsam dringt, mich zu retten, wenn du die Übermacht verabscheust, die mich
gefesselt hält, so rette mich! Die Augenblicke sind kostbar. Du bist des Allgewaltigen Sohn, und selbst gewaltig.--Laß uns entfliehen! Ich kenne die Wege; die Mittel können dir nicht unbekannt sein. Nur diese Mauern, nur wenige Meilen entfernen mich von meinen Freunden. Löse diese Bande, bringe mich zu ihnen und sei unser! Gewiß, der König dankt dir dereinst meine Rettung. Jetzt ist er überrascht, und vielleicht ist ihm alles unbekannt. Dein Vater wagt; und die Majestät muß das Geschehene
billigen, wenn sie sich auch davor entsetzet. Du denkst? O, denke mir den Weg der Freiheit aus! Sprich, und nähre die Hoffnung der lebendigen Seele.
Ferdinand. Schweig'! o schweige! Du vermehrst mit jedem Worte meine Verzweiflung. Hier ist kein Ausweg, kein Rat, keine Flucht.--Das quält mich, das greift und faßt mir wie mit Klauen die Brust. Ich habe selbst das Netz zusammengezogen; ich kenne die strengen festen Knoten; ich weiß, wie jeder Kühnheit, jeder List die Wege verrennt
sind; ich fühle mich mit dir und mit allen andern gefesselt. Würde ich klagen, hätte ich nicht alles versucht? Zu seinen Füßen habe ich gelegen, geredet und gebeten. Er schickte mich hierher, um alles, was von Lebenslust und Freude in mir lebt, in diesem Augenblicke zu zerstören.
Egmont. Und keine Rettung?
Ferdinand. Keine!
Egmont (mit dem Fuße stampfend). Keine Rettung!--Süßes Leben! schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens! von dir soll
ich scheiden! So gelassen scheiden! Nicht im Tumulte der Schlacht, unter dem Geräusch der Waffen, in der Zerstreuung des Getümmels giebst du mir ein flüchtiges Lebewohl; du nimmst keinen eiligen Abschied, verkürzest nicht den Augenblick der Trennung. Ich soll deine Hand fassen, dir noch einmal in die Augen sehn, deine Schöne, deinen Wert recht lebhaft fühlen, und dann mich entschlossen losreißen und sagen: Fahre hin!
Ferdinand. Und ich soll daneben stehn, zusehn, dich nicht
halten, nicht hindern können! O, welche Stimme reichte zur Klage! Welches Herz flösse nicht aus seinen Banden vor diesem Jammer!
Egmont. Fasse dich!
Ferdinand. Du kannst dich fassen, du kannst entsagen, den schweren Schritt an der Hand der Notwendigkeit heldenmäßig gehn. Was kann ich? Was soll ich? Du überwindest dich selbst und uns; du überstehst; ich überlebe dich und mich selbst. Bei der Freude des Mahls hab' ich mein Licht, im Getümmel der Schlacht meine Fahne
verloren. Schal, verworren, trüb' scheint mir die Zukunft.
Egmont. Junger Freund, den ich durch ein sonderbares Schicksal zugleich gewinne und verliere, der für mich die Todesschmerzen empfindet, für mich leidet, sieh mich in diesen Augenblicken an; du verlierst mich nicht. War dir mein Leben ein Spiegel, in welchem du dich gerne betrachtetest, so sei es auch mein Tod. Die Menschen sind nicht nur zusammen, wenn sie beisammen sind; auch der Entfernte, der Abgeschiedene lebt uns.
Ich lebe dir, und habe mir genug gelebt. Eines jeden Tages hab' ich mich gefreut; an jedem Tage mit rascher Wirkung meine Pflicht gethan, wie mein Gewissen mir sie zeigte. Nun endigt sich das Leben, wie es sich früher, früher, schon auf dem Sande von Gravelingen hätte endigen können. Ich höre auf zu leben; aber ich habe gelebt. So leb' auch du, mein Freund, gern und mit Lust, und scheue den Tod nicht.
Ferdinand. Du härtest dich für uns erhalten können, erhalten sollen. Du hast
dich selber getötet. Oft hört' ich, wenn kluge Männer über dich sprachen, feindselige, wohlwollende, sie stritten lang über deinen Wert; doch endlich vereinigten sie sich, keiner wagt' es zu leugnen, jeder gestand: ja, er wandelt einen gefährlichen Weg. Wie oft wünscht' ich, dich warnen zu können! Hattest du denn keine Freunde?
Egmont. Ich war gewarnt.
Ferdinand. Und wie ich punktweise alle diese Beschuldigungen wieder in der Anklage fand, und deine Antworten! Gut
genug, dich zu entschuldigen; nicht triftig genug, dich von der Schuld zu befreien.--
Egmont. Dies sei beiseite gelegt. Es glaubt der Mensch sein Leben zu leiten, sich selbst zu führen; und sein Innerstes wird unwiderstehlich nach seinem Schicksale gezogen. Laß uns darüber nicht sinnen; dieser Gedanken entschlag' ich mich leicht--schwerer der Sorge für dieses Land; doch auch dafür wird gesorgt sein. Kann mein Blut für viele fließen, meinem Volk Friede bringen, so fließt es
willig. Leider wird's nicht so werden. Doch es ziemt dem Menschen, nicht mehr zu grübeln, wo er nicht mehr wirken soll. Kannst du die verderbende Gewalt deines Vaters aufhalten, lenken, so thu's. Wer wird das können?--Leb' wohl!
Ferdinand. Ich kann nicht gehn.
Egmont. Laß meine Leute dir aufs beste empfohlen sein! Ich habe gute Menschen zu Dienern; daß sie nicht zerstreut, nicht unglücklich werden! Wie steht es um Richard, meinen Schreiber?
Ferdinand. Er
ist dir vorangegangen. Sie haben ihn als Mitschuldigen des Hochverrats enthauptet.
Egmont. Arme Seele!--Noch eins, und dann leb' wohl, ich kann nicht mehr. Was auch den Geist gewaltsam beschäftigt, fordert die Natur zuletzt doch unwiderstehlich ihre Rechte; und wie ein Kind, umwunden von der Schlange, des erquickenden Schlafs genießt, so legt der Müde sich noch einmal vor der Pforte des Todes nieder und ruht tief aus, als ob er einen weiten Weg zu wandern hätte.--Noch
eins.--Ich kenne ein Mädchen; du wirst sie nicht verachten, weil sie mein war. Nun ich sie dir empfehle, sterb' ich ruhig. Du bist ein edler Mann; ein Weib, das den findet, ist geborgen. Lebt mein alter Adolf? ist er frei?
Ferdinand. Der muntre Greis, der Euch zu Pferde immer begleitete?
Egmont. Derselbe.
Ferdinand. Er lebt, er ist frei.
Egmont. Er weiß ihre Wohnung; laß dich von ihm führen, und lohn' ihm bis an sein Ende, daß er dir den Weg zu
diesem Kleinode zeigt.--Leb wohl!
Ferdinand. Ich gehe nicht.
Egmont (ihn nach der Thür drängend). Leb' wohl!
Ferdinand. O, laß mich noch!
Egmont. Freund, keinen Abschied!
(Er begleitet Ferdinanden bis an die Thür, und reißt sich dort von ihm los. Ferdinand, betäubt, entfernt sich eilend.)
Egmont (allein). Feindseliger Mann! Du glaubtest nicht, mir diese Wohlthat durch deinen Sohn zu erzeigen. Durch ihn bin ich der Sorgen
los und der Schmerzen, der Furcht und jedes ängstlichen Gefühls. Sanft und dringend fordert die Natur ihren letzten Zoll. Es ist vorbei, es ist beschlossen! und was die letzte Nacht mich ungewiß auf meinem Lager wachend hielt, das schläfert nun mit unbezwinglicher Gewißheit meine Sinnen ein.
(Er setzt sich aufs Ruhebett. Musik.)
Süßer Schlaf! Du kommst wie ein reines Glück, ungebeten, unerfleht am willigsten. Du lösest die Knoten der strengen Gedanken, vermischest
alle Bilder der Freude und des Schmerzes; ungehindert fließt der Kreis innerer Harmonieen, und, eingehüllt in gefälligen Wahnsinn, versinken wir und hören auf, zu sein.
(Er entschläft; die Musik begleitet seinen Schlummer. Hinter seinem Lager scheint sich die Mauer zu eröffnen, eine glänzende Erscheinung zeigt sich. Die Freiheit in himmlischem Gewande, von einer Klarheit umflossen, ruht auf einer Wolke. Sie hat die Züge von Klärchen, und neigt sich gegen den schlafenden
Helden. Sie drückt eine bedauernde Empfindung aus, sie scheint ihn zu beklagen. Bald faßt sie sich, und mit aufmunternder Gebärde zeigt sie ihm das Bündel Pfeile, dann den Stab mit dem Hute. Sie heißt ihn froh sein, und indem sie ihm andeutet, daß sein Tod den Provinzen die Freiheit verschaffen werde, erkennt sie ihn als Sieger und reicht ihm einen Lorbeerkranz. Wie sie sich mit dem Kranze dem Haupte nahet, macht Egmont eine Bewegung, wie einer, der sich im Schlafe regt, dergestalt, daß
er mit dem Gesicht aufwärts gegen sie liegt. Sie hält den Kranz über seinem Haupte schwebend; man hört ganz von weitem eine kriegerische Musik von Trommeln und Pfeifen; bei dem leisesten Laut derselben verschwindet die Erscheinung. Der Schall wird stärker. Egmont erwacht; das Gefängnis wird vom Morgen mäßig erhellt. Seine erste Bewegung ist, nach dem Haupte zu greifen; er steht auf und sieht sich um, indem er die Hand auf dem Haupte behält.)
Verschwunden ist der Kranz! Du
schönes Bild, das Licht des Tages hat dich verscheuchet! Ja, sie waren's, sie waren vereint, die beiden süßesten Freuden meines Herzens. Die göttliche Freiheit, von meiner Geliebten borgte sie die Gestalt; das reizende Mädchen kleidete sich in der Freundin himmlisches Gewand. In einem ernsten Augenblick erscheinen sie vereinigt, ernster als lieblich. Mit blutbefleckten Sohlen trat sie vor mir auf, die wehenden Falten des Saumes mit Blut befleckt. Es war mein Blut und vieler Edeln Blut.
Nein, es ward nicht umsonst vergossen. Schreitet durch! Braves Volk! Die Siegesgöttin führt dich an! Und wie das Meer durch eure Dämme bricht, so brecht, so reißt den Wall der Tyrannei zusammen, und schwemmt ersäufend sie von ihrem Grunde, den sie sich anmaßt, weg!
(Trommeln näher.)
Horch! Horch! Wie oft rief mich dieser Schall zum freien Schritt nach dem Felde des Streits und des Siegs! Wie munter traten die Gefährten auf der gefährlichen, rühmlichen Bahn! Auch ich
schreite einem ehrenvollen Tode aus diesem Kerker entgegen; ich sterbe für die Freiheit, für die ich lebte und focht, und der ich mich jetzt leidend opfre.
(Der Hintergrund wird mit einer Reihe spanischer Soldaten besetzt, welche Hellebarden tragen.)
Ja, führt sie nur zusammen! Schließt eure Reihen, ihr schreckt mich nicht. Ich bin gewohnt, vor Speeren gegen Speere zu stehn, und, rings umgeben von dem drohenden Tod, das mutige Leben nur doppelt rasch zu fühlen.
(Trommeln.)
Dich schließt der Feind von allen Seiten ein! Es blinken Schwerter; Freunde, höhern Mut! Im Rücken habt ihr Eltern, Weiber, Kinder!
(Auf die Wache zeigend.)
Und diese treibt ein hohles Wort des Herrschers, nicht ihr Gemüt. Schützt eure Güter! Und euer Liebstes zu erretten, fallt freudig, wie ich euch ein Beispiel gebe.
(Trommeln. Wie er auf die Wache los und auf die Hinterthür zugeht, fällt der Vorhang; die Musik fällt ein
und schließt mit einer Siegessymphonie das Stück.)