Frei Lesen: Faust I, Der Tragödie erster Teil

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Johann Wolfgang von Goethe

Faust I, Der Tragödie erster Teil

Kerker

eingestellt: 15.6.2007



Faust mit einem Bund Schlüssel und einer Lampe, vor einem eisernen Türchen.

Mich faßt ein längst entwohnter Schauer,
Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an
Hier wohnt sie hinter dieser feuchten Mauer
Und ihr Verbrechen war ein guter Wahn
Du zauderst, zu ihr zu gehen!
Du fürchtest, sie wiederzusehen!
Fort! dein Zagen zögert den Tod heran.
(Er ergreift das Schloß. Es singt inwendig.)
Meine Mutter, die Hur
Die mich umgebracht hat!
Mein Vater, der Schelm
Der mich gessen hat!
Mein Schwesterlein klein
Hub auf die Bein
An einem kühlen Ort;
Da ward ich ein schönes Waldvögelein;
Fliege fort, fliege fort!
FAUST (aufschließend):
Sie ahnet nicht, daß der Geliebte lauscht,
Die Ketten klirren hört, das Stroh, das rauscht.
(Er tritt ein.)

MARGARETE (sich auf dem Lager verbergend):
Weh! Weh! Sie kommen. Bittrer Tod!

FAUST (leise):
Still! Still! ich komme, dich zu befreien.

MARGARETE (sich vor ihn hinwälzend):
Bist du ein Mensch, so fühle meine Not.

FAUST:
Du wirst die Wächter aus dem Schlafe schreien!
(Er faßt die Ketten, sie aufzuschließen.)

MARGARETE (auf den Knien):
Wer hat dir Henker diese Macht
Über mich gegeben!
Du holst mich schon um Mitternacht.
Erbarme dich und laß mich leben!
Ist's morgen früh nicht zeitig genung?
(Sie steht auf.)
Bin ich doch noch so jung, so jung!
Und soll schon sterben!
Schön war ich auch, und das war mein Verderben.
Nah war der Freund, nun ist er weit;
Zerrissen liegt der Kranz, die Blumen zerstreut.
Fasse mich nicht so gewaltsam an!
Schone mich! Was hab ich dir getan?
Laß mich nicht vergebens flehen,
Hab ich dich doch mein Tage nicht gesehen!

FAUST:
Werd ich den Jammer überstehen!

MARGARETE:
Ich bin nun ganz in deiner Macht.
Laß mich nur erst das Kind noch tränken.
Ich herzt es diese ganze Nacht;
Sie nahmen mir's, um mich zu kränken,
Und sagen nun, ich hätt es umgebracht.
Und niemals werd ich wieder froh..
Sie singen Lieder auf mich! Es ist bös von den Leuten!
Ein altes Märchen endigt so,
Wer heißt sie's deuten?

FAUST (wirft sich nieder):
Ein Liebender liegt dir zu Füßen,
Die Jammerknechtschaft aufzuschließen.

MARGARETE (wirft sich zu ihm):
O laß uns knien, die Heil'gen anzurufen!
Sieh! unter diesen Stufen,
Unter der Schwelle
Siedet die Hölle!
Der Böse,
Mit furchtbarem Grimme,
Macht ein Getöse!

FAUST (lacht):
Gretchen! Gretchen!

MARGARETE (aufmerksam):
Das war des Freundes Stimme!
(Sie springt auf. Die Ketten fallen ab.)
Wo ist er? ich hab ihn rufen hören.
Ich bin frei! mir soll niemand wehren.
An seinen Hals will ich fliegen,
An seinem Busen liegen!
Er rief Gretchen! Er stand auf der Schwelle.
Mitten durchs Heulen und Klappen der Hölle,
Durch den grimmigen, teuflischen Hohn
Erkannt ich den süßen, den liebenden Ton.

FAUST:
Ich bin's!

MARGARETE:
Du bist's! O sag es noch einmal!
(Ihn fassend.)
Er ist's! Er ist's! Wohin ist alle Qual?
Wohin die Angst des Kerkers? der Ketten?
Du bist's! Kommst, mich zu retten.
Ich bin gerettet!
Schon ist die Straße wieder da
Auf der ich dich zum ersten Male sah
Und der heitere Garten'
Wo ich und Marthe deiner warten

FAUST (fortstrebend):
Komm mit! Komm mit!

MARGARETE:
O weile Weil ich doch so gern, wo du weilest.
(Liebkosend.)

FAUST:
Eile!
Wenn du nicht eilest
Werden wir's teuer büßen müssen.

MARGARETE:
Wie? du kannst nicht mehr küssen?
Mein Freund, so kurz von mir entfernt
Und hast's Küssen verlernt?
Warum wird mir an deinem Halse so bang?
Wenn sonst von deinen Worten, deinen Blicken
Ein ganzer Himmel mich überdrang
Und du mich küßtest, als wolltest du mich ersticken.
Küsse mich!
Sonst küß ich dich! (Sie umfaßt ihn.)
O weh! deine Lippen sind kalt,
Sind stumm.
Wo ist dein Lieben
Geblieben?
Wer brachte mich drum? (Sie wendet sich von ihm.)

FAUST:
Komm! Folge mir! Liebchen, fasse Mut!
Ich herze dich mit tausendfacher Glut
Nur folge mir! Ich bitte dich nur dies!

MARGARETE (zu ihm gewendet):
Und bist du's denn? Und bist du's auch gewiß?

FAUST:
Ich bin's! Komm mit!

MARGARETE:
Du machst die Fesseln los, Nimmst wieder mich in deinen Schoß.
Wie kommt es, daß du dich vor mir nicht scheust?
Und weißt du denn, mein Freund, wen du befreist?

FAUST:
Komm! komm! schon weicht die tiefe Nacht.

MARGARETE:
Meine Mutter hab ich umgebracht,
Mein Kind hab ich ertränkt.
War es nicht dir und mir geschenkt?
Dir auch.- Du bist's! ich glaub es kaum.
Gib deine Hand! Es ist kein Traum!
Deine liebe Hand!- Ach, aber sie ist feucht!
Wische sie ab! Wie mich deucht,
Ist Blut dran.
Ach Gott! was hast du getan!
Stecke den Degen ein,
Ich bitte dich drum!
FAUST:
Laß das Vergangne vergangen sein,
Du bringst mich um.

MARGARETE:
Nein, du mußt übrigbleiben!
Ich will dir die Gräber beschreiben,
Für die mußt du sorgen
Gleich morgen;
Der Mutter den besten Platz geben,
Meinen Bruder sogleich darneben,
Mich ein wenig beiseit',
Nur nicht gar zu weit!
Und das Kleine mir an die rechte Brust.
Niemand wird sonst bei mir liegen!-
Mich an deine Seite zu schmiegen,
Das war ein süßes, ein holdes Glück!
Aber es will mir nicht mehr gelingen;
Mir ist's, als müßt ich mich zu dir zwingen,
Als stießest du mich von dir zurück;
Und doch bist du's und blickst so gut, so fromm.

FAUST:
Fühlst du, daß ich es bin, so komm!

MARGARETE:
Dahinaus?

FAUST:
Ins Freie.

MARGARETE:
Ist das Grab drauß, Lauert der Tod, so komm!
Von hier ins ewige Ruhebett
Und weiter keinen Schritt
Du gehst nun fort? O Heinrich, könnt ich mit!

FAUST:
Du kannst! So wolle nur! Die Tür steht offen!

MARGARETE:
Ich darf nicht fort; für mich ist nichts zu hoffen.
Was hilft es, fliehn? Sie lauern doch mir auf.
Es ist so elend, betteln zu müssen
Und noch dazu mit bösem Gewissen!
Es ist so elend, in der Fremde schweifen
Und sie werden mich doch ergreifen!

FAUST:
Ich bleibe bei dir

MARGARETE:
Geschwind! Geschwind!
Rette dein armes Kind!
Fort! immer den Weg
Am Bach hinauf,
Über den Steg,
In den Wald hinein,
Links, wo die Planke steht,
Im Teich.
Faß es nur gleich!
Es will sich heben,
Es zappelt noch!
Rette! rette!

FAUST:
Besinne dich doch!
Nur einen Schritt, so bist du frei!

MARGARETE:
Wären wir nur den Berg vorbei!
Da sitzt meine Mutter auf einem Stein,
Es faßt mich kalt beim Schopfe!
Da sitzt meine Mutter auf einem Stein
Und wackelt mit dem Kopfe
Sie winkt nicht, sie nickt nicht, der Kopf ist ihr schwer,
Sie schlief so lange, sie wacht nicht mehr.
Sie schlief, damit wir uns freuten.
Es waren glückliche Zeiten!

FAUST:
Hilft hier kein Flehen, hilft kein Sagen,
So wag ich's, dich hinwegzutragen.

MARGARETE:
Laß mich! Nein, ich leide keine Gewalt!
Fasse mich nicht so mörderisch an!
Sonst hab ich dir ja alles zulieb getan.

FAUST:
Der Tag graut! Liebchen! Liebchen!

MARGARETE:
Tag! Ja, es wird Tag! der letzte Tag dringt herein;
Mein Hochzeittag sollt es sein!
Sag niemand, daß du schon bei Gretchen warst.
Weh meinem Kranze!
Es ist eben geschehn!
Wir werden uns wiedersehn;
Aber nicht beim Tanze.
Die Menge drängt sich, man hört sie nicht.
Der Platz, die Gassen
Können sie nicht fassen.
Die Glocke ruft, das Stäbchen bricht.
Wie sie mich binden und packen!
Zum Blutstuhl bin ich schon entrückt.
Schon zuckt nach jedem Nacken
Die Schärfe, die nach meinem zückt.
Stumm liegt die Welt wie das Grab!

FAUST:
O wär ich nie geboren!

MEPHISTOPHELES (erscheint draußen):
Auf! oder ihr seid verloren.
Unnützes Zagen! Zaudern und Plaudern!
Mein Pferde schaudern,
Der Morgen dämmert auf.

MARGARETE:
Was steigt aus dem Boden herauf?
Der! der! Schick ihn fort!
Was will der an dem heiligen Ort?
Er will mich!

FAUST:
Du sollst leben!

MARGARETE:
Gericht Gottes! dir hab ich mich übergeben!

MEPHISTOPHELES (zu Faust):
Komm! komm! Ich lasse dich mit ihr im Stich.

MARGARETE:
Dein bin ich, Vater! Rette mich!
Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!
Heinrich! Mir graut's vor dir.

MEPHISTOPHELES:
Sie ist gerichtet!

STIMME (von oben):
Ist gerettet!

MEPHISTOPHELES (zu Faust):
Her zu mir!
(Verschwindet mit Faust.)

STIMME (von innen, verhallend):
Heinrich! Heinrich!

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