Johanna Spyri
Heimatlos Am Silser- und am Gardasee
Der Rat des Herrn Pfarrer
eingestellt: 25.7.2007
In diesem Zustand der Unruhe war es für Frau Menotti ein rechter Trost, als sie einmal wieder nach langer Zeit den wohlmeinenden alten Herrn Pfarrer durch den Garten kommen sah, der von Zeit zu Zeit den kleinen Kranken besuchte. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und rief erfreut: Sieh, Silvio, da kommt der gute Herr Pfarrer!« und ging ihm entgegen. Silvio aber rief in seinem Groll über alle Dinge so laut er konnte der Mutter nach: »Ich wollte lieber, Stineli
käme!«
Dann kroch er eilends unter die Decke, damit der Pfarrer nicht wisse, woher die Stimme kam. Die Mutter war sehr erschrocken und bat im Eintreten den Besuch, er solle doch den Empfang nicht übel nehmen, er sei nicht so ernst gemeint. Silvio rührte sich nicht, er sagte nur ganz heimlich unter der Decke: »Doch, es ist mir sicher Ernst.«
Der Pfarrer mußte geahnt haben, woher die Stimme kam; er trat an das Bett heran, und obwohl er kein Haar von Silvio
sah, sagte er: »Gott grüß dich, mein Sohn, wie steht es mit deiner Gesundheit, und warum verkriechst du dich in unterirdische Höhlen wie ein kleiner Dachs? Komm hervor und erkläre mir, was verstehst du unter einem Stineli?«
Nun kroch Silvio hervor; denn er hatte Respekt vor dem würdigen alten Herrn, da er nun so nah war. Er streckte schnell seine kleine magere Hand zum Gruß aus und sagte: »Ricos Stineli!
Die Mutter mußte erklärend dazwischen treten; denn
der Pfarrer schüttelte verwundert den Kopf, während er sich an Silvios Bett niedersetzte. Sie erzählte ihm nun die ganze Sache mit Stineli, und wie der kleine Silvio sich in den Kopf gesetzt habe, es werde ihm nie mehr wohl, wenn StineIi nicht zu ihm komme. Wie Rico nun auch unvernünftig geworden sei und meine, er könne das Mädchen holen, während er keinen Weg und Steg wisse und es ja so weit weg oben in den Bergen wohne, wo niemand hinkomme und man nicht wissen könne, was für ein
schreckliches Volk da sei. Man könne sich denken, wie es da zugehen müsse, wenn ein zartes Büblein wie Rico lieber Gefahren entgegenlaufe und sie bestehe, als unter solchen Leuten zu bleiben. Wenn alles anders wäre, fügte Frau Menotti hinzu, wäre ihr kein Geld zuviel, dieses Mädchen kommen zu lassen, um Silvio das Verlangen zu erfüllen und jemand für ihn zu haben; denn manchmal werde es ihr fast zuviel mit allem, was sie zu tragen habe. Und Rico, der sonst vernünftig rede, meine,
kein Mensch könne ihr so gut in allem beistehen, wie Stineli. Er müsse sie gut kennen, und wenn sie so sei, wie er sie beschreibe, so könnte es auch noch eine Wohltat für so ein Mädchen sein, wenn es da droben wegkomme; aber sie wüßte keinen Menschen, der ihr einen solchen Dienst tun würde.
Der alte Herr hatte ganz ernsthaft zugehört und kein Wort gesagt, bis Frau Menotti fertig war. Er hätte auch nicht gut mit Worten dazwischenkommen können; denn sie hatte ihr Herz
lange nicht ausgeschüttet, und es war ihr so voll geworden, daß sie bei dem großen Andrang der Worte fast um den Atem gekommen war.
Als nun aIles still war, nahm er erst ganz ruhig noch eine Prise zu der vorhergehenden, dann sagte er gelassen:
»Hm, hm, Frau Menotti, ich glaube fast, sie haben von den Leuten da droben, eine Meinung, die zu schlecht ist. Es gibt doch auch noch Christen da, und seit man so allerhand Mittel erfunden hat, um weiterzukommen,
wird es auch noch möglich sein, daß einer ohne Gefahr dort hinaufkommt. Das wird man gewiß in Erfahrung bringen können. Man muß sich besinnen. «
Hier muß der Pfarrer sich erst wieder ein wenig stärken aus seiner Dose, dann fügte er bei: »Es gibt allerlei Händler, die von da oben herunter nach Bergamo kommen, Schafhändler und Pferdehändler, die müssen die Wege wissen. Man kann sich erkundigen, und dann muß man sich besinnen. Es wird sich doch ein Mittel finden lassen.
Wenn Ihnen vid daran liegt, Frau Menotti, will ich mich umsehen. Ich komme alle Jahre ein- oder zweimal nach Bergamo, darum könnte ich die Sache ein wenig in die Hand nehmen.«
Silvio hatte während des ganzen Gesprächs den Besucher mit seinen grauen Augen fast durchbohrt vor Spannung. Als dieser nun aufstand und dem Kleinen die Hand zum Abschied bot, patschte Silvia die seinige ganz gewaltig hinein, so als wollte er sagen: diesmal gilt's! Der Pfarrer versprach,
Bericht zu geben, sobald er seine Erkundigungen eingezogen hätte und wüßte, ob die Sache ausführbar wäre, oder ob Silvio von seinem Begehren abstehen müsse.
Nun vergingen die Wochen; eine nach der anderen mußte Silvio das Warten lernen, aber er hielt sich gut. Er hatte eine bestimmte Hoffnung vor Augen, und dazu war Rico auf einmal so unterhaltend und lebendig geworden, wie noch nie. Er wußte Silvio mehr zu erzählen als je, und nahm er seine Geige zur Hand, kamen so
herzerquickende Töne und Weisen daraus hervor, daß Frau Menotti gar nicht mehr aus dem Zimmer wegmochte und sich nicht genug verwundern konnte, woher Rico das alles nahm.
Mit jedem Tag kam Rico lieber in das Haus, und oft, wenn er eintrat, dachte er: so ist es wohl einem zumute, der heimkommt. Aber er war hier ja nicht daheim; er durfte nur für ein paar Stunden kommen und mußte immer wieder gehen.
In der letzten Zeit war etwas in Rico gefahren, das die
Wirtin manchmal in große Verwunderung versetzte. Wenn sie etwa das schmutzige, zerbrochene Abfallbecken vor ihn hinstellte und sagte: »Da, Rico, bring es den Hühnern!« - stellte er sich auf die Seite und legte die Hände auf den Rücken, zum Zeichen, daß er das Becken nicht berühren möge. Dann sagte er ruhig: »Ich wollte lieber, das täte jemand anderes!«
Und wenn sie die alten Schuhe hervorbrachte und Rico in die Hand geben wollte, daß er sie zum Schuhilicker trage, tat
Rico wieder desgleichen und sagte: » Ich wollte lieber, es ginge ein anderer! «
Die Wirtin war eine kluge Frau und hatte ihre Augen im Kopfe, um damit zu sehen, was vorging, und so war ihr nicht entgangen, wie Rico sich seit einiger Zeit verändert hatte und wie er aussah. Frau Menotti hatte ihn immer gut gekleidet, seit sie die Verpflichtung dazu übernommen hatte. Weil aber dem Rico alles gut stand, und er immer mehr aussah wie ein Herrensöhnchen, bekam Frau Menotti
ihre Freude daran und kleidete ihn womöglich noch besser. Rico ging sorgsam und ordentlich damit um; denn er mochte gern, was schön anzusehen war, und Schmutz und Unordnung waren ihm zuwider wie der Lärm. Das sah die Wirtin alles, und dazu war ihr wohlbewußt, wie Rico immer noch, wenn er von Tanzbelustigungen heimkehrte, seine Tasche vor ihr ausleerte und das Geld hinrollen ließ, ohne Miene zu machen, als ob er etwas davon begehre.
Er brachte immer mehr; denn er war
nicht nur Tanzgeiger wie die anderen. Man wollte auch immer noch nach dem Tanzen seine Lieder hören und allerhand Melodien, die er wußte. So war der Wirtin daran gelegen, den Rico wiIlig zu erhalten, und sie ließ ihn in Ruhe mit den Hühnern und den alten Schuhen und begehrte diese Dienste nicht mehr von ihm.
Über all diesen Ereignissen vergingen drei Jahre, seit Rico in Peschiera erschienen war. Er war nun cm vierzehnjähriger, aufgeschlossener Junge geworden, und wer
ihn sah, hatte sein Wohlgefallen an ihm.
Wieder leuchteten die goldenen Herbsttage über den Gardasee, und der blaue Himmel lag auf der stillen Flut. Im Garten hingen die Trauben golden an den Ranken, und die roten Oleanderblumen funkelten im lichten Sonnenschein. In Silvios Stube war es ganz still. Die Mutter war draußen, um Trauben und Feigen zum Abend hereinzuholen. Silvio lauschte auf Ricos Tritt; denn die Zeit seines Besuches war gekommen. Jetzt wurde das Pförtchen
am Zaun geöffnet, und Silvio richtete sich auf. Ein langer schwarzer Rock näherte sich; es war der Herr Pfarrer. Diesmal verkroch sich Silvio nicht ins Loch. Er streckte seine Hand, soweit er konnte, dem wohimeinenden Herrn entgegen, lange, ehe dieser nur halbwegs im Garten angekommen war. Der Empfang gefiel dem Besucher. Er trat gleich in die Stube und an Silvios Bett, obschon er die Mutter hinten im Garten sah und sagte: »So ist's recht, mein Sohn, und wie steht es mit der
Gesundheit? - «Gut«, entgegnete Silvio schnell. Er schaute in höchster Spannung sein Gegenüber an und fragte dann halblaut: »Wann kann Rico gehen?«
Der Pfarrer setzte sich am Bett nieder und sagte feierlich: Morgen um fünf Uhr wird Rico reisen, mein Söhnchen.«
Frau Menotti war eben eingetreten, und nun ging es an ein Fragen und Verwundern von ihrer Seite, daß der Pfarrer Mühe hatte, seinen Bericht zu beginnen. Es gelang ihm endlich, und Silvio hielt
seine Augen auf ihn geheftet wie ein kleiner Sperber, als nun die Erzählung kam.
Der Herr Pfarrer kam eben von Bergamo her, wo er zwei Tage zugebracht hatte. Da hatte er mit Hilfe seiner Freunde einen Pferdehändler ermittelt, der kam schon seit dreißig Jahren jeden Herbst nach Bergamo und kannte alle Wege und Gegenden von da bis weit über die Berge hinaus, wo Rico hin mußte. Er wußte, wie man in die Berge hinaufkommen konnte, ohne unterwegs auszusteigen und zu
übernachten. Den Weg machte er selbst und wollte den Rico mitnehmen, wenn er am Morgen mit dem ersten Zug in Bergamo ankomme. Der Mann kannte auch alle Kutscher und Schaffner und wollte für die Rückkehr den Jungen und seine Begleiterin den Leuten übergeben und an-empfehlen, so daß sie sicher reisen würden.
So fand der Pfarrer, man könne nun Rico in Frieden ziehen lassen, und gab seinen Segen zu der Reise.
Als er aber schon am Gartenzaun stand, kehrte Frau
Menotti, die ihn begleitet hatte, noch einmal um und fragte voller Besorgnis: »Ach, Herr Pfarrer - wird auch sicher keine Gefahr sein, daß Rico sich auf den verwirrenden Wegen verlieren könnte und dann in den wilden Bergen umherirren mußte?«
Der Pfarrer beruhigte die Frau nochmals, und nun ging sie zurück und bedachte, was nun alles für Rico zu tun sei. Dieser trat eben in den Garten ein, und das Freudengeschrei, das ihm Silvio entgegensandte, war so durchdringend,
daß Rico in drei Sprüngen am Bett war, um zu sehen, was sich da ereignet habe.
»Was hast du? Was hast du?« fragte Rico immerzu, und Silvio rief in einem fort: «Ich will's sagen! Ich will's sagen!« vor lauter Angst, die Mutter komme ihm zuvor. Diese ließ die Buben mit ihrer Freude allein und ging ihrem Geschäfte nach; denn das war nun das Wichtigste. Sie holte einen Reisesack hervor und stopfte unten hinein ein riesiges Stück geräuchertes Fleisch, einen halben Laib
Brot, ein großes Paket gedörrter Pflaumen und Feigen, und eine Flasche Wein. Dann kamen die Kleider, zwei Hemden, zwei Paar Strümpfe, und ein Paar Schuhe und Taschentücher, und bei alledem war der Mutter Silvios nicht anders zumute, als reise Rico nach dem fernsten Weltteil? und sie merkte nun erst recht, wie lieb Rico ihr war, so daß sie ohne ihn fast nicht mehr sein konnte.
Sie mußte, während sie packte, immer wieder denken: »Wenn es nur kein Unglück gibt!«
Nun kam sie mit dem Reisesack herunter und ermahnte Rico, jetzt gleich hinzugehen und der Wirtin alles gut zu erklären und sie zu bitten, daß sie ihn auch gehen lasse und nichts dagegen habe. Den Sack könne er gleich zur Bahn bringen.
Rico war äußerst erstaunt, daß dies sein Gepäck sein sollte, er tat aber folgsam, wie ihm geheißen wurde und ging dann zur Wirtin. Er erzählte dieser, daß er in die Berge hinauf müsse und Stineli herunterholen, und es komme vom
Herrn Pfarrer her, daß er gleich morgen um fünf Uhr fort müsse. Der Wirtin flößte schon ein wenig Achtung ein, daß der Herr Pfarrer mit der Sache zu tun hatte. Sie wollte wissen, wer Stineli sei, dachte gleich, das könnte etwas für sie sein, mußte aber hören, daß das Mädchen zu Frau Menotti komme. Da ließ sie die Sache gehen; denn der Frau Menotti wollte sie nichts in den Weg legen. Sie war zufrieden, daß diese ihr den Rico so ruhig überlassen hatte. Sie nahm auch an, Stineli sei
Ricos Schwester, er sage es nur nicht, wie er überhaupt nie etwas von seinen Familienverhältnissen erwähnt hatte.
So erzählte sie auch noch denselben Abend allen Gästen, die ins Haus kamen, Rico hole morgen seine Schwester herunter; denn er habe erfahren, wie gut man es hier unten haben könne.
Nun wollte sie aber auch zeigen, wie sie es mit Rico meinte. Sie holte einen großen Korb vom Estrich herunter und steckte ihn voller Würste, Käse und Eier,
Brotschnitten mit fingerdicker Butter dazwischen und sagte:
Auf der Reise sollst du keinen Hunger haben, und was mehr ist, kannst du dort oben verzehren. Da wirst du nicht viel finden, und für den Heimweg mußt du auch noch etwas haben. Denn du kommst doch wieder, Rico, sicher?«
»Sicher,«, sagte Rico, »in acht Tagen bin ich wieder da.« Nun trug Rico noch seine Geige zu Frau Menotti; denn die hätte er sonst niemand anvertraut. Dann nahm er
Abschied.
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