Johanna Spyri
Heimatlos Am Silser- und am Gardasee
Ein trauriges Haus, aber der See hat einen Namen
eingestellt: 25.7.2007
Die Base war nicht in der Stube; so ging er wieder hinaus und machte die Küchentür auf. Da stand sie; aber ehe er eintreten konnte, hob sie den Finger in die Höhe, zischelte »Bst! Bst!« und sagte: »Mach nicht alle Türen auf und zu und einen Lärm, als kämen ihrer vier, Geh in die Stube hinein und halte dich still. Der Vater liegt oben in der Kammer; sie haben ihn auf einem Wagen gebracht, er ist krank,«
Rico ging hinein, setzte sich auf die
Bank an der Wand und bewegte sich nicht. So saß er eine halbe Stunde lang; die Base schaffte noch immer in der Küche herum, Da dachte Rico, er wolle ganz leise in die Kammer hineinschauen, vielleicht wollte der Vater auch etwas zu Abend essen; es war schon lange Zeit dazu.
Er schlich hinter dem Ofen die kleine Treppe hinauf und kroch in die Kammer, Nach einiger Zeit kam er wieder und ging gleich in die Küche hinaus und nahe an die Base heran. Dann sagte er leise:
»Base, komm!«
Diese wollte ihn eben tüchtig ausschelten, als ihre Blicke auf sein Gesicht fielen; es war völlig ohne Farbe, Wangen und Lippen weiß wie ein Tuch, und aus den Augen schaute er so dunkel, daß sich die Base fast fürchtete.
»Was hast du?« fragte sie hastig und folgte ihm unwillkürlich. Da lag der Vater mit starren Augen auf seinem Bett; er war tot.
»Ach, du mein Gott«, schrie die Base und lief mit Lärm zur Tür hinaus, die Treppe
hinunter und gleich ins andere Haus hinein und rief, der Nachbar und die Großmutter sollten herüberkommen; und von da lief sie zum Lehrer und zum Gemeindevorsteher.
So kam eins ums andere und alle traten in die stille Kammer, bis sie voll von Menschen war; denn einer hörte draußen vom andern, was geschehen sei. Und mitten in dem Gewimmel und den vielen bedauernden Worten der Nachbarn stand Rico an dem Bett, lautlos und unbeweglich, und schaute den Vater an.
Die ganze Woche durch kamen täglich noch Leute ins Haus, die den Vater ansehen und von der Base hören wollten, wie alles zugegangen sei, so daß es Rico einmal über das andere erzählen hörte: Sein Vater hatte drunten bei St. Gallen an einer Eisenbahn Arbeit gehabt. Beim Steinsprengen hatte er eine tiefe Wunde in den Kopf bekommen, und da er nun doch nicht mehr arbeiten konnte, wollte er heimgehen, um sich zu pflegen, bis es besser würde. Aber die lange Reise, teils zu Fuß, teils
auf offenen Fuhrwagen, hatte er nicht ertragen können, war am Sonntag gegen Abend daheim angekommen und hatte sich auf sein Bett gelegt. Ohne daß ihn jemand gesehen hatte, war er gestorben; denn Rico hatte ihn schon starr ausgestreckt auf dem Bett gefunden.
Am Sonntag darauf wurde der Vater begraben. Rico war der einzige Verwandte, der dem Sarge folgte. Einige gute Nachbarn hatten sich noch angeschlossen; so ging der Zug hinüber nach Sils. Dort hörte Rico, wie der
Pfarrer bei der Beerdigung laut ablas: »Der Verstorbene hieß Enrico Trevillo und war gebürtig aus Peschiera am Gardasee.« Da war es Rico, als höre er etwas, das er gut gewußt, aber nicht mehr hatte zusammenfinden können. Immer hatte er auch den See vor sich gesehen, wenn er mit dem Vater gesungen hatte:
»Una sera in Peschiera.«
Aber er hatte nicht gewußt, warum. Leise mußte er die Namen wiederholen; eine Menge alte Lieder lebte damit in ihm auf.
Als er allein zurückgewandert kam, sah er die Großmutter auf dem Holzstumpf sitzen und neben ihr Stineli. Sie winkte ihn zu sich. Dann steckte sie ihm ein Stück Brot in die Tasche, gab auch Stineli davon und sagte, nun sollten sie spazieren gehen, an dem Tage solle auch Rico nicht allein sein. Da wanderten die Kinder zusammen in den hellen Abend hinaus. Die Großmutter blieb auf ihrem Holze sitzen und schaute mitleidig dem schwarzen Büblein nach, bis sie nichts mehr von den
Kindern sehen konnte. Dann sagte sie leise für sich:
»Doch was er tut und läßt geschehn, Das nimmt ein gutes End!«
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