Frei Lesen: Das Dampfhaus - 1.Band

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Jules Verne

Das Dampfhaus - 1.Band

Dreizehntes Capitel.

eingestellt: 25.7.2007



Die Hälfte des 5. Juni und die darauf folgende Nacht brachten wir ruhig lagernd zu. Nach so viel Strapazen und ausgestandenen Gefahren that uns diese Erholung sehr noth.

Jetzt war es nicht mehr das Königreich Audh, das seine reichen Ebenen vor uns entfaltete. Das Steam-House dampfte nun durch das zwar noch fruchtbare, aber von sogenannten »Nullas« oder tiefen Hohlwegen durchschnittene Gebiet von Rohilkande. Bareille ist die Hauptstadt dieses gewaltigen Vierecks von hundertfünfundfünfzig Meilen Seite, das zahlreiche Neben- und Zuflüsse der Cogra bewässern und in dem sich da und dort Gruppen prächtiger Mangobäume neben einzelnen dichten Dschungeln erheben, welche vor der fortschreitenden Cultur zu verschwinden scheinen.

Hier lag nach der Einnahme von Delhi der Mittelpunkt der Empörung, gegen welche der eine Feldzug Sir John Campbells gerichtet war; hier erzielte die Colonne des Brigadiers Walpole anfänglich keine glücklichen Erfolge; endlich kam hier ein Freund Sir Edward Munros, der Oberst des 93 Regimentes der Schottländer um, der sich am 14. April bei dem Sturme auf Laknau besonders ausgezeichnet hatte.

Abgesehen von dem ganzen Charakter der Landschaft, konnte kein anderes Gebiet der Fahrt unseres Zuges günstiger sein. Schöne, gut geebnete Straßen, leicht zu überschreitende Wasseradern zwischen den beiden von Norden herabfließenden Hauptarterien, Alles wirkte zur Erleichterung unserer Reise günstig zusammen. Jetzt hatten wir nur noch wenige hundert Kilometer zurückzulegen, dann mußten sich schon die ersten Bodenwellen bemerkbar machen, welche die Ebene mit den Bergen von Nepal verknüpfen.

Freilich durfte die nun eingetretene Regenzeit nicht außer Rechnung gelassen werden.

Der in den ersten Monaten des Jahres herrschende Nordost-Mousson hatte jetzt gewechselt. Die Regenzeit ist an der Küste schlimmer als im Innern der Halbinsel und tritt hier auch etwas verzögert auf, weil die Wolken sich schon zum Theile erschöpfen, bevor sie die mittleren Theile Indiens erreichen. Außerdem wird ihre Richtung durch hohe Bergwände verändert, welche eine Art atmosphärischen Wirbels erzeugen. So tritt der Mousson-Wechsel an der Malabar-Küste schon Anfang Mai ein, in der Mitte der Central- und der Nordprovinzen macht er sich erst einige Wochen später, also im Juni, bemerkbar.

Wir waren jetzt im Juni, und unsere weitere Reise sollte nun unter jenen veränderten, aber wohl vorhergesehenen Verhältnissen vor sich gehen.

Unserem wackeren Goûmi, den der Blitz so jämmerlich entwaffnet hatte, ging es vom folgenden Tage ab besser. Die linksseitige Lähmung des Beines erwies sich nur als vorübergehend. Er behielt davon nichts zurück als – einen Groll gegen das Feuer des Himmels.

Im Laufe des 6. und 7. Juni hatte Hod mit Hilfe Phanns und Blacks mehr Jagdglück. Er erlegte ein Paar jener Antilopen, die man hierzulande »Nilgaus« nennt. Es sind das die blauen Ochsen der Hindus, die man richtiger als Hirsche bezeichnen sollte, denn den letzteren gleichen sie weit mehr als den Verwandten des Gottes Apis. Auch sollte man sie eigentlich perlgraue Hirsche nennen, denn ihre Farbe erinnert mehr an die des wolkenbedeckten, als an die des azurnen Himmels. Man behauptet jedoch, daß einzelne Exemplare dieser prächtigen Thiere mit spitzen, geraden Hörnern und langem, wenig gebogenem Kopfe wirklich ein blaues Fell hätten – eine Farbe, welche die Natur den Vierfüßlern völlig verweigert zu haben scheint, selbst dem blauen Fuchse, dessen Fell vielmehr schwarz ist.

Wilde Thiere, von denen Kapitän Hod immer schwärmte, waren das freilich noch nicht. Immerhin ist der Nilgau ziemlich gefährlich, wenn er sich, leicht verwundet, auf den Jäger stürzt. Eine erste Kugel vom Kapitän und eine zweite von Fox unterbrachen sofort den Lauf der beiden schönen Thiere. Sie wurden gleichsam im Fluge erlegt. Fox schätzte sie indeß nicht höher als Federwild!

Monsieur Parazard vertrat dagegen eine andere Ansicht, und die auf der Stelle gebratenen Keulen, welche er uns am nämlichen Tage auftischte, brachten auch uns auf seine Seite.

Mit Tagesanbruch, am 8. Juni, verließen wir unseren Halteplatz, der unweit eines kleinen Dorfes von Rohilkande lag und den wir am vergangenen Abend nach einer Fahrt von vierzig Kilometern von Rewah aus erreichten. Unser Zug hatte sich also auf den vom Regen mehr und mehr durchweichten Straßen nur mit sehr mäßiger Geschwindigkeit fortbewegt. Dazu begannen die Bäche anzuschwellen, und manchmal hielt uns eine überschwemmte Strecke mehrere Stunden lang auf. Trotzdem blieben wir hinter unserem Programme kaum einen bis zwei Tage zurück. Jedenfalls mußte die Berggegend, in der das Steam-House während einiger Sommermonate wie in einem Sanatorium verbleiben sollte, gegen Ende des Juni erreicht werden. Hier lag also kein Grund zur Beunruhigung vor.

An jenem 8. Juni entging dem Kapitän Hod ein recht interessanter Büchsenschuß.

Neben unserem Wege verliefen dichte Bambus-Dschungeln, wie das in der Nähe von Dörfern, welche wie in einem Blumenkorb gebaut scheinen, öfter vorkommt. Es waren das noch nicht die eigentlichen Dschungeln im Sinne der Hindus, welche die nackte unfruchtbare Ebene begrenzen, über die das aschgraue Buschwerk emporragte. Noch befanden wir uns in angebautem Lande und fruchtbarem Gebiete, das meist von sumpfigen Reisplantagen eingenommen wurde.

Von Storrs Hand geleitet, trabte der Stahlriese ruhig dahin und stieß seine sauberen Dampfwölkchen aus, die er unter die Bambus der Straße verstreute.

Plötzlich sprang ein Thier mit überraschender Gewandheit auf und stürzte sich unserem Elephanten an den Hals.

»Ein Tchita! Ein Tchita!« rief der Mechaniker.

Sofort eilte Kapitän Hod nach dem vorderen Balkon und ergriff die Büchse, die er immer gleich bei der Hand hatte.

»Ein Tchita! rief er nun auch selbst.

– So schießen Sie ihn doch! drängte ich.

– Ich habe ja noch Zeit!« antwortete Kapitän Hod, der sich begnügte, auf das Thier im Anschlag zu liegen.

Der Tchita bildet eine in Indien eigenthümliche Art von Leoparden, die nicht ganz so groß wie der Tiger, doch der Gewandtheit und der Kräfte ihrer Glieder wegen nicht minder furchtbar sind.

Oberst Munro, Banks und ich standen auf der Veranda und warteten auf den Schuß des Kapitäns.

Offenbar hatte sich der Leopard beim Anblick unseres Elephanten getäuscht; da, wo er lebendes Fleisch zu finden hoffte, in das er seine Zähne und Krallen einschlagen konnte, fand er eine Haut von Stahl, die seinen Angriffen trotzte. Wüthend über die Enttäuschung, klammerte er sich an die Ohren des falschen Thieres und wollte sich von demselben offenbar schon wegwenden, als er unserer ansichtig wurde.

Kapitän Hod hielt noch immer den Gewehrlauf auf jenen gerichtet, wie ein seines Schusses sicherer Jäger, der seine Beute im richtigen Augenblick und an der rechten Stelle treffen will.

Knurrend richtete der Tchita sich auf. Jedenfalls fühlte er die Gefahr, wollte aber nicht entfliehen. Vielleicht erwartete er nur den richtigen Augenblick, um auf die Veranda zu stürzen.

Er kletterte wirklich auf den Kopf des Elephanten, dessen als Rauchfang dienenden Rüssel er mit den Pranken umschlang, und stieg dann bis zum Ende desselben hinauf, aus dem der Dampf hervordrang.

»So schießen Sie doch, Hod! mahnte ich noch einmal.

– Dazu hab ich ja noch Zeit!« antwortete der Kapitän.

Dann wandte er sich, ohne den Leoparden, der uns anglotzte, aus den Augen zu lassen, an mich.

»Sie haben wohl noch niemals einen Tchita geschossen, Maucler? fragte er.

– Niemals.

– Wollen Sie einen erlegen?

– Kapitän, gab ich zur Antwort, ich will Ihnen nicht diesen herrlichen Schuß rauben ...

– Pah! stieß Hod hervor, das ist kein Schuß für einen Jäger! Nehmen Sie eine Büchse. Zielen Sie der Bestie nach der Schulter. Wenn Sie fehlen, schieße ich sie im Fluge!

– Meinetwegen!«

Fox, der inzwischen herbeigekommen war, reichte mir eine Doppelflinte, die er in der Hand hielt. Ich ergriff dieselbe, spannte den Hahn, zielte nach der Schulter des Leoparden und gab Feuer.

Getroffen, aber offenbar nur leicht verwundet, machte das Thier einen gewaltigen Sprung über das Thürmchen des Mechanikers hinweg und fiel auf dem ersten Dache des Steam-Houses nieder.

Ein so guter Schütze Kapitän Hod auch war, so hätte er jetzt doch nicht auf das Thier schießen können.

»Hierher, Fox! Mitkommen!« rief er.

Beide verließen die Veranda und nahmen in dem Thürmchen Platz.

Der Leopard begab sich nach dem Dache des zweiten Hauses, wobei er die Verbindungsbrücke leicht übersprang.

Eben als der Kapitän feuern wollte, sprang das Thier zur Erde hinab, erhob sich stolz und verschwand in der Dschungel.

»Stopp! Stopp!« rief Banks laut dem Mechaniker zu, der den Dampf absperrte und die Räder durch die Luftbremse sofort zum Stillstande brachte.

Der Kapitän und Fox sprangen auf die Straße hinab und eilten in das Dickicht, um den Tchita womöglich einzuholen.

Einige Minuten verstrichen. Wir lauschten nicht ohne einige Ungeduld. Vergebens. Kein Schuß krachte. Die beiden Jäger kamen mit leeren Händen zurück.

»Verschwunden! Entwischt! meldete Kapitän Hod. Und nicht einmal eine Blutspur im Grase.

– Das ist mein Fehler! sagte ich zum Kapitän. Sie hätten den Tchita an meiner Statt schießen sollen, Sie würden ihn nicht gefehlt haben!

– Mag sein, doch Sie haben auch getroffen, meinte Hod, das weiß ich, vielleicht nur nicht an der richtigen Stelle!

– Das war also weder mein achtunddreißigster, noch Ihr vierzigster, Herr Kapitän! sagte Fox sehr kleinlaut.

– Ei was, entgegnete Hod mit etwas erheuchelter Gleichgiltigkeit, ein Tchita ist kein Tiger! Sonst, Herr Maucler, hätte ich es nicht über mich gebracht, Ihnen den Schuß abzutreten.

– Zu Tisch, meine Herren, fiel da Oberst Munro ein. Das Frühstück erwartet uns und wird Sie trösten ...

– Um so eher, setzte Mac Neil hinzu. Da nur Fox an allem Unglück schuld ist!

– Ich? erwiderte der Diener, dem diese Anschuldigung sehr unerwartet erschien.

– Gewiß, Fox, fuhr der Sergeant fort, das Gewehr, das Du Herrn Maucler gegeben hast, war ja nur mit Hühnerschrot geladen!«

Mac Neil zeigte dabei die andere Patrone vor, die er aus der Waffe, die ich benutzt, herausgenommen hatte. Sie enthielt wirklich nur kleinkörniges Schrot.

»Fox! begann der Kapitän.

– Herr Kapitän!

– Zwei Tage Stubenarrest!

– Zu Befehl, Herr Kapitän!«

Fox begab sich nach seiner Cabine, mit dem Vorsatze, sich achtundvierzig Stunden über nicht wieder blicken zu lassen. Er schämte sich seines Fehlers und wollte seine Schande verbergen.

Am nächsten Tage, am 9. Juni, durchstreiften wir, Hod, Goûmi und ich, die Ebene längs der Straße während der halbtägigen Rast, welche Banks zugestanden hatte. Der ganze Morgen war regnerisch gewesen, gegen Mittag heiterte sich der Himmel indeß ein wenig auf und ließ auf einige Stunden bessere Witterung hoffen. Hod zog diesmal übrigens nicht als Raubthierjäger, sondern als Jäger auf eßbares Wild hinaus. Im Interesse der Küche sollten wir in Gesellschaft Blacks und Phanns ruhig am Rande der Reisfelder hinwandern. Monsieur Parazard hatte dem Kapitän gemeldet, daß die Speisekammer leer sei, und daß er von seiner Ehrwürden erwarte, Se. Ehrwürden werde »die geeigneten Maßregeln ergreifen«, dieselbe wieder zu füllen.

Kapitän Hod gab nach, und wir brachen, mit einfachen Jagdflinten ausgerüstet, auf. Zwei Stunden lang erzielten wir keinen anderen Erfolg, als daß wir einige Rebhühner und Hasen aufjagten, immer aber in solcher Entfernung, daß gar nicht daran zu denken war, sie zu erlangen.

Kapitän Hod verlor bald alle gute Laune. Inmitten dieser ausgedehnten Ebene ohne Dschungeln und Gebüsch, dagegen mit vielen Dörfern und Farmen, konnte er ja kaum erwarten, ein Raubthier zu treffen, das ihn für den gestern entwischten Leoparden entschädigt hätte. Er spielte ja nur die Rolle eines Lieferanten und dachte über den bevorstehenden Empfang seitens Monsieur Parazards nach, wenn er mit leerer Jagdtasche heimkehrte.

An uns lag die Schuld übrigens nicht. Um vier Uhr hatten wir noch niemals Gelegenheit gefunden, ein Gewehr abzufeuern. Es wehte ein trockener Wind und alles Wild erhob sich, wie gesagt, außer Schußweite.

»Lieber Freund, redete Kapitän Hod mich da an, so kanns entschieden nicht weiter gehen! Als wir Calcutta verließen, habe ich Ihnen die schönsten Jagdzüge versprochen, und nun hindert mich ein Unglück ohne Gleichen, ein ewiges Pech, das ich nicht begreife, mein Versprechen zu erfüllen.

– Ach, bester Kapitän, antwortete ich, nur nicht vorzeitig verzweifeln. Wenn ich dieses Malheur bedauere, so geschieht das weniger um meinet- als um Ihretwillen! ...

Wir werden das Versäumte in den Bergen von Nepal wieder einholen!

– Ja dort, bestätigte Kapitän Hod, auf den ersten Abhängen des Himalaya liegen die Verhältnisse günstiger. Sehen Sie, Maucler, ich möchte darauf wetten, daß unser Zug mit Allem, was dazu gehört, das Zischen des Dampfes und vorzüglich der riesenhafte Elephant selbst, die Raubthiere erschreckt, vielleicht noch mehr als eine Eisenbahn, und das wird immer der Fall sein, so lange er in Bewegung bleibt. Liegen wir erst ruhig, so dürfen wir hoffen, glücklicher zu sein. Wahrhaftig, jener Leopard war ein Narr! Er mußte wohl dem Hungertode nahe sein, daß er sich auf unseren Stahlriesen stürzte, und verdiente wahrlich mit einer hübschen Kugel begrüßt zu werden. Der verteufelte Fox! Ich werde ihm nie vergessen, was er da angerichtet hat! – Um wie viel Uhr ist es jetzt?

– Bald um fünf Uhr.

– Schon um Fünf und wir haben noch keine Patrone verplatzt?

– Vor sieben Uhr erwartet man uns nicht zurück. Vielleicht glückt es noch bis dahin ...

– Nein, das Glück ist einmal gegen uns, versetzte Kapitän Hod, und glauben Sie, das Glück ist der halbe Erfolg.

– Die Ausdauer aber nicht minder, antwortete ich. Nehmen wir uns vor, nicht mit leeren Händen heimzukehren. Ists Ihnen recht, Kapitän?

– Ob mir das recht ist! entgegnete Hod. Tod Allem, was sich blicken läßt!

– Einverstanden!

– Maucler, ich bringe lieber einen Maulesel oder ein Eichhörnchen mit, als daß ich als Schneider nach Hause gehe!«

Kapitän Hod, Goûmi und ich, wir befanden uns in der Gemüthsstimmung, wo uns Alles gute Beute schien. Die Jagd wurde also mit einem, einer besseren Sache würdigen Eifer fortgesetzt; doch auch die unschuldigsten Vögel mußten unsere Absicht errathen haben, denn es ließ sich keine Feder sehen.

So durchstreiften wir die Reisfelder, bald auf der einen, bald auf der anderen Seite der Straße, und kehrten wieder zurück, um uns nicht zu weit vom Halteplatz zu entfernen. Verlorene Mühe! Noch um ein halb sieben Uhr waren unsere Patronen intact. Wenn wir mit einem Spazierstocke in der Hand ausgegangen wären, hätten wir genau dasselbe erzielt.

Ich sah den Kapitän an. Er ging mit aufeinander gebissenen Zähnen dahin. Eine zwischen den Augenbrauen verlaufende lange und tiefe Furche der Stirn verrieth seinen stummen Groll. Er murmelte etwas zwischen den gepreßten Lippen und bedrohte alles Feder- und Pelzvieh, von dem sich noch kein einziges Exemplar zeigte, mit dem Tode. Allem Anschein nach hätte er seine Flinte auf jeden beliebigen Gegenstand, auf einen Felsen oder einen Baum, abgefeuert – eine bekannte Jägermanier, um dem Zorne Luft zu machen. Das Gewehr brannte ihm in den Händen, das sah man deutlich. Er warf es einmal in den Arm, trug es dann am Riemen oder schulterte damit, scheinbar ganz wider Willen.

Goûmi betrachtete ihn verwundert.

»Der Kapitän wird noch ganz rasend, wenn das so fortgeht, sagte er kopfschüttelnd.

– Gewiß, ich gäbe gern dreißig Schillinge für die simpelste Haustaube, die eine barmherzige Hand ihm in den Weg triebe. Das würde ihn beruhigen!«

Doch nicht für dreißig Schillinge, nicht für den doppelten oder dreifachen Preis hätte man sich hier das billigste und gewöhnlichste Stück Jagdwild verschaffen können. Das Feld ringsum war menschenleer und wir erblickten weder eine Farm noch ein Dorf.

Wahrlich, wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich Goûmi weggeschickt, um jeden Preis ein Stück Geflügel zu kaufen, und wenn es ein gerupftes Huhn war, um es als Sühnopfer unserem unwilligen Kapitän darbieten zu lassen.

Jetzt kam die Nacht allmälich heran. Nach einer Stunde war es nicht mehr hell genug, unsere nutzlose Expedition noch länger fortzusetzen. Obwohl wir übereingekommen waren, nicht mit leerer Jagdtasche nach dem Halteplatz zurückzukehren, so schien uns doch nichts Anderes übrig zu bleiben, wenn wir nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen wollten. Doch ohne Rücksicht darauf, daß für die Nacht Regen drohte, so wären Oberst Munro und Banks über unser Ausbleiben gewiß unruhig geworden, was ihnen doch erspart bleiben mußte.

Mit weit aufgerissenen Augen warf Kapitän Hod den Blick von der Rechten zur Linken und von der Linken zur Rechten mit der Schnelligkeit eines Vogels, und ging immer zehn Schritte voraus, doch in einer Richtung, die uns dem Steam-House nicht gerade näher brachte.

Ich beeilte meine Schritte, um ihn einzuholen, und ihn endlich zum Aufgeben dieser vergeblichen Versuche zu veranlassen, als ich zu meiner Rechten ein starkes Rauschen von Flügeln hörte. Ich blickte auf.

Eine schillernde Masse erhob sich langsam in einem Dickicht.

Ohne Kapitän Hod Zeit zu lassen, sich umzukehren, schlug ich an, und die beiden Schüsse der Flinte krachten.

Langsam fiel ein mir unbekannter Vogel am Rande des Reisfeldes nieder.

Phann sprang darauf zu und brachte dem Kapitän die Beute.

»Endlich, rief Hod, wenn Monsieur Parazard nun nicht zufrieden gestellt ist, mag er selbst, mit dem Kopfe voraus in seinen Kochtopf springen.

– Sind das aber auch eßbare Vögel, auf die ich geschossen habe?

– Natürlich ..., wenigstens wenn man keine anderen hat! meinte der Kapitän.

– Zum Glück hat Sie Niemand gesehen, Herr Maucler! bemerkte da Goûmi.

– Zum Glück? ... Was hab ich denn verbrochen?

– Ei, Sie haben einen Pfau getödtet, das ist verboten, da der Pfau ein in ganz Indien geheiligter Vogel ist.

– Der Kuckuck hole alle heiligen Vögel und die, welche sie heilig sprechen, rief Kapitän Hod. Der hier ist nun einmal geschossen und wird verspeist werden, meinetwegen mit aller Ehrfurcht, aber gegessen wird er doch!«

In der That, ist der Pfau schon seit dem Zuge Alexanders, zu welcher Zeit er sich in Indien verbreitete, überall im Lande der Brahmanen geheiligt. Die Hindus betrachten ihn als Symbol der Göttin Saravasti, der Beschützerin der Geburt und Ehe. Auf die Tödtung dieses Vogels sind schwere, auch vom englischen Gesetz anerkannte Strafen festgestellt.

Das Exemplar aus der Hühnerfamilie, das Kapitän Hod so sehr erfreute, war mit seinen grünen, metallisch glänzenden Flügeln, welche ein Goldrand umgab, wirklich prächtig anzusehen. Der wohlausgebildete Schweif erschien wie ein Fächer aus feinstem Seidenhaar.

»Nun vorwärts, drängte der Kapitän. Morgen wird Monsieur Parazard uns Pfauenbraten vorsetzen, was auch alle Brahmanen Indiens dazu sagen mögen. Wenn der Pfau an und für sich nichts Anderes als ein anspruchsvolles Huhn ist, so werden doch die künstlerisch angeordneten Federn von diesem hier uns einen hübschen Tafelschmuck liefern.

– Sind Sie nun zufrieden, Herr Kapitän?

– Mit Ihnen, lieber Freund, gewiß; mit mir leider nicht. Mein Pech ist noch nicht vorüber, ich werde das also noch abwarten müssen. Nun vorwärts!«

Wir schlugen die Richtung nach dem Lagerplatz ein, von dem wir gegen drei Meilen entfernt sein mochten. Auf dem Wege, der sich durch die vielen Krümmungen der dichten Bambus-Dschungeln wand, gingen wir, Kapitän Hod und ich, nebeneinander, Goûmi, der die Jagdbeute trug, kam wenige Schritte hinter uns. Noch war die Sonne nicht verschwunden, aber durch große Wolken verschleiert, so daß man den Weg im Halbdunkel nur mühsam erkannte.

Plötzlich ertönte aus dem Dickicht neben uns ein gewaltiges Brüllen. Mir erschien es so entsetzlich, daß ich wider Willen auf der Stelle stehen blieb.

Kapitän Hod ergriff meine Hand.

»Ein Tiger!« sagte er.

Dann kam ein Fluch über seine Lippen.

»Alle Donnerwetter Indiens! rief er, nun haben wir blos Hühnerschrot in den Flinten!«

Das war leider nur zu richtig, denn wir Alle besaßen keine einzige Kugelpatrone.

Uebrigens würden wir kaum Zeit gehabt haben, die Gewehre damit zu laden. Schon zehn Secunden nach dem Gebrüll erschien das Thier vor dem Dickicht und stand mit einem einzigen Sprung zwanzig Schritte vor uns auf der Straße.

Es war ein prächtiger Tiger von der Art, welchen die Hindus »Eater men« (Menschenfresser) nennen, und deren Wuth jährlich noch Hunderte zum Opfer fallen.

Unsere Lage war schrecklich.

Ich sah den Tiger an, ich verschlang ihn mit den Augen, und ich gestehe, daß mir die Flinte in den Händen zitterte. Jener maß etwa zehn Fuß in der Länge und hatte ein orangefarbenes Fell mit abwechselnd weißen und schwarzen Streifen.

Er beobachtete uns ebenfalls. Sein Katzenauge leuchtete durch das Halbdunkel und mit dem Schweife peitschte er den Boden. Er duckte und erhob sich wieder wie zum Sprunge.

Hod bewahrte seine gewöhnliche Kaltblütigkeit. Er hielt das Gewehr auf das Thier angelegt und murmelte nur mit einem gar nicht wieder zu gebenden Ausdruck:

»Schrot Numero sechs! Einen Tiger mit Hühnerschrot zu schießen! Wenn ich ihn nicht in beide Augen treffe, sind wir ...«

Er kam nicht dazu den Satz zu vollenden. Der Tiger näherte sich, nicht in Sprüngen, sondern schleichenden Schrittes.

Goûmi, der hinter uns kauerte, zielte ebenfalls auf denselben, seine Flinte enthielt aber nur Vogeldunst. Die meinige war gar nicht geladen.

Ich wollte eine Patrone aus der Tasche holen.

»Nicht rühren!« flüsterte mir der Kapitän zu; der Tiger würde springen, und dazu darf es nicht kommen!«

Wir verhielten uns also alle Drei stumm und still.

Langsam kam der Tiger heran. Den Kopf, den er früher bewegte, hielt er jetzt völlig still. Seine Augen starrten voraus, doch scheinbar mehr nach unten. Mit dem weit offenen Rachen, den er nahe der Erde hielt, schien er deren Ausdünstung aufzusaugen.

Bald stand das furchtbare Thier kaum noch zehn Schritte vom Kapitän entfernt.

Fest auf den Füßen und unbeweglich wie eine Statue, concentrirte Hod seine ganze Lebenskraft in den Augen. Der bevorstehende grauenhafte Kampf, dessen Ausgang Niemand vorhersagen konnte, machte ihm sicher kaum das Herz schneller schlagen.

In diesem Augenblick glaubte ich, der Tiger werde auf uns zuspringen.

Er machte noch fünf Schritte. Ich mußte mich stark bezwingen, um nicht dem Kapitän zuzurufen:

»So schießen Sie doch! Schießen Sie!«

Doch nein, der Kapitän hatte es gesagt – und das war wohl auch unser einziges Rettungsmittel – er wollte dem Thier die Augen verbrennen; dazu mußte er es jedoch sehr nahe haben.

Der Tiger machte noch drei Schritte und erhob sich zum Sprunge ...

Da ertönte ein gewaltiger Krach, dem fast augenblicklich ein zweiter Knall folgte.

Die zweite Detonation kam aus dem Leibe des Thieres selbst her, das nach einigem Zucken und Schmerzgebrüll todt niedersank.

»Wunder über Wunder! rief Kapitän Hod. Mein Gewehr ist also mit einer Kugel, und noch dazu mit einer explodirenden, geladen! O, dieses Mal danke ich Dir, Fox!

– Ist es möglich?

– Da, sehen Sie selbst!«

Kapitän Hob schlug die Flintenläufe zurück und holte aus dem linken die Patrone heraus.

Das war eine Kugelpatrone.

Jetzt erklärte sich Alles.

Kapitän Hod besaß eine Doppelbüchse und eine Doppelflinte, beide von demselben Kaliber. Aus Irrthum hatte Fox gleichzeitig die Büchse mit Jagdpatronen und die Flinte mit Explosionskugel-Patronen geladen. Wenn dieser Mißgriff gestern Abend dem Leoparden das Leben gerettet hatte, so rettete er heute das unsere.

»Ja wohl, sagte der Kapitän Hod, als ich das aussprach, und so nahe dem Tode bin ich fast noch nie gewesen!«

Eine halbe Stunde später waren wir am Halteplatz zurück. Hod ließ Fox rufen und berichtete das erlebte Abenteuer.

»Herr Kapitän, erwiderte der Diener, daraus geht hervor, daß ich vier Tage Arrest verdiene, da ich mich zweimal geirrt habe!

– Das mein ich auch, antwortete Hod, doch da mir Dein Irrthum den einundvierzigsten eingebracht hat, so ist es meine Absicht, Dir diese Guinee dafür anzubieten ...

– Und die meinige, dieselbe anzunehmen!« fiel Fox ein, der das Goldstück in der Tasche verschwinden ließ.

So verlief also das erste Zusammentreffen des Kapitän Hod mit seinem einundvierzigsten Tiger.

Am Abend des 12. Juni hielten wir nahe einem unbedeutenden Flecken und fuhren am nächsten Morgen wieder weiter, um die hundertfünfzig Kilometer zurückzulegen, die uns noch von den Bergen Nepals trennten.

< Zwölftes Capitel.
Vierzehntes Capitel. >



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