Jules Verne
Der Archipel in Flammen
Drittes Kapitel.
eingestellt: 28.7.2007
In den vorgeschichtlichen Tagen, zur Zeit, als sich die feste Erdrinde unter der Arbeit von inneren, neptunischen oder vulkanischen Kräften allmählich umgestaltete, entstand Griechenland, und zwar zufolge eines Erdbebens, das diesen Teil der Erde über die Meeresfläche hob, während ein ganzer Teil des Kontinents im Archipel verschlungen wurde, von welchem nur noch die Spitzen in Gestalt von Inseln vorhanden sind. Griechenland liegt nämlich in der Erdbebenzone, die sich
von Cypern bis Toskana erstreckt.
Wie es scheint, ist den Bewohnern Griechenlands von dem unbeständigen Boden ihrer Heimat der Instinkt zu jener physischen und moralischen Erregung überkommen, die ihren Heldenmut bis zur höchsten Ueberschwenglichkeit zu steigern vermag. Ganz ebenso wahr ist es, daß sie es einzig und allein durch die ihnen angeborenen Eigenschaften, unzähmbaren Mut, hohe Vaterlandsliebe, hohen Freiheitssinn, erreicht haben, aus diesen seit so viel Jahrhunderten
unter ottomanischem Druck schmachtenden Provinzen einen unabhängigen Staat zu bilden.
In der allerfrühesten Zeit pelasgisch, das heißt bevölkert durch Stämme Asiens; vom 16. bis zum 14. Jahrhundert vor Christi Geburt hellenisch, nämlich seit Auftreten der Hellenen, von denen ein Stamm, die Graikoi, dem Lande den Namen geben sollte in jenen fast mythologischen Zeiten der Argonauten, der Herakliden und des trojanischen Kriegs; endlich griechisch im eigentlichen Sinne des Wortes,
und zwar seit Lykurg, Miltiades, Themistokles, Aristides, Leonidas, Aeschylos, Sophokles, Aristophanes, Herodot, Thukydides, Pythagoras, Sokrates, Pluto, Aristoteles, Hippokrates, Phidias, Perikles, Alcibiades, Pelopidas, Epaminondas, Demosthenes; so dann macedonisch mit Philipp und Alexander dem Großen: fällt Griechenland unter dem Namen Achaia im Jahre 146 vor Christi Geburt als Provinz unter die Herrschaft Roms und bleibt unter derselben ganze vier Jahrhunderte.
Von dieser Zeit ab
tritt Griechenland nacheinander unter die Herrschaft der Westgoten, Vandalen, Ostgoten, Bulgaren, Slaven, Araber, Normannen, Sizilier, wird zu Anfang des 13. Jahrhunderts von den Kreuzfahrern erobert, im 15. Jahrhundert in eine große Anzahl von Einzelreichen zerstückelt und gerät von da ab unter türkische Herrschaft.
Alles politische Leben erstirbt nun volle zwei Jahrhunderte fast vollständig in Griechenland. Die Willkürherrschaft der türkischen Behörden überschritt alle Grenzen.
Griechenland war weder ein annektiertes, noch ein erobertes, noch gar ein besiegtes Land; die Griechen waren Sklaven, die unter der Fuchtel des Paschas standen, dem zur Rechten der Imam oder Priester, zur Linken der Dschellah oder Henker stand.
Aber noch immer war nicht alles Leben aus diesem im Todeskampfe liegenden Lande gewichen. Noch einmal sollte es unter dem Uebermaß von Schmerz und Leiden zucken. Im Jahre 1766 standen die Montenegriner im Epirus, im Jahre 1769 die Manioten auf;
ihnen folgten die albanesischen Sulioten, die ihre Unabhängigkeit verkündeten; aber im Jahre 1804 wurden all diese Versuche, das tyrannische Joch der Türken abzuschütteln, durch den Pascha Ali von Janina endgültig unterdrückt.
Nun war die Zeit zur Intervention für die europäischen Mächte gekommen, wenn sie nicht zur völligen Vernichtung Griechenlands selber die Hand mit bieten wollten. Blieb Griechenland auf seine eigene Kraft beschränkt, so konnte es über dem Versuche, seine
Unabhängigkeit wieder zu erringen, bloß in den Tod gehen.
Im Jahre 1821 rief Ali Pascha, als er sich selber gegen den Sultan Mahmud empörte, die Griechen zu Hilfe unter Zusicherung ihrer Freiheit. Sie standen auf in Masse. Aus allen Teilen Europas eilten ihnen die Philhellenen zu Hilfe. Italiener, Polen, Deutsche, vor allem aber Franzosen scharten sich zusammen wider die Bedrücker Griechenlands. Die Namen Guy de Sainte-Hélène, Gaillard, Chaurassaigne, der Kapitäne Baleste und
Jourdain, des Obersten Fabvier, des Reiterführers Regnaud de Saint-Joau dAngely, des Generals Maison, sodann der Briten Lord Cochrane, Lord Byron und Colonel Hastings haben in diesem Lande, für das sie stritten und starben, ein unvergängliches Andenken hinterlassen.
Diesen berühmten Namen von Männern, welche sich durch ihre Hingabe für ein bedrücktes Volk zu den heldenmütigsten Taten begeistern ließen, stellte Griechenland selber zahlreiche Namen aus den edelsten Geschlechtern an die
Seite: drei Hydrioten: Tombasis, Tsamados, Miaulis, dann: Colocotroni, Marco Botsaris, Maurocordato, Mauranichalis, Constantin Canaris, Negris, Constantin und Demetrius Yphilanti, Ulysses und noch viele andere. Von Anfang an nahm der Aufstand den Charakter eines Kriegs bis aufs Messer an: Zahn um Zahn, Auge um Auge: und die grausigsten Repressalien wurden hüben und drüben genommen.
Im Jahre 1821 stehen die Sulioten und Manioten auf. In Patras erhebt Bischof Germanos mit dem Kreuz in
der Hand den ersten Schlachtruf. Morea, die Moldau und der Archipel scharen sich unter die Flagge der Unabhängigkeit. Die Hellenen sind siegreich auf dem Meere: es gelingt ihnen, Tripolitsa zu nehmen. Auf diese ersten Erfolge der Griechen geben die Türken die Antwort durch das Blutbad von Konstantinopel, bei welchem alle in der türkischen Hauptstadt seßhaften Griechen ermordet werden.
Im Jahre 1822 wird Ali Pascha in seiner Feste Janina von dem Türkengeneral Kurschid belagert und bei
einer ihm von dem letzteren vorgeschlagenen Zusammenkunft meuchlings ermordet. Kurze Zeit nachher werden Maurocordato und die Philhellenen in dem Treffen bei Arta vernichtet, erringen aber vor Missolunghi Vorteile, dessen erste Belagerung Omar Pascha, und zwar nicht ohne erhebliche Verluste, aufheben muß.
Vom Jahre 1823 ab setzen die Mächte Europas energischer ein, schlagen dem Sultan ihre Vermittelung vor. Der Sultan weist jede Einmischung zurück und landet, um seiner
ablehnenden Haltung Nachdruck zu verleihen, auf Euböa zehntausend Mann asiatischer Truppen. Sein Vasall Mehemet Ali, – der Pascha von Aegypten – erhält das Oberkommando. In den Kämpfen dieses Jahres fällt Marco Botsaris, jener griechische Patriot, von dem sich sagen läßt: Er lebte wie Aistides und starb wie Leonidas.
Im Jahre 1824, als es um die Sache der Griechen am schlimmsten steht, landet Lord Byron in Missolunghi am 24. Januar, stirbt aber schon am Ostersonntag vor
Lepanto, ohne daß er die Verwirklichung seines Traumes erlebt. Die Ipsarionten werden von den Türken niedergemacht und die Stadt Candia auf Kreta ergibt sich den Truppen Mehemet-Alis. Einzig und allein die Erfolge zur See vermögen die Griechen über solches Unmaß von Ungemach zu trösten.
Im Jahre 1825 landet Mehemet-Alis Sohn, Ibrahim Pascha, mit 11000 Mann in Modon auf Morea, erobert Navarin und schlägt Colocotroni bei Tripolitsa. Die hellenische Regierung unterstellt nun ein Korps
regulärer Truppen zwei französischen Offizieren: den Obersten Fabvier und Regnaud de Saint-Jean dAngely. Bevor aber dieses Korps ausrückt, verwüstet Ibrahim Messenien und Magnos und rückt vor Missolunghi, um den Getteral Kiutaghi bei dessen Belagerung zu unterstützen; denn trotz dem Befehle des Sultans: »entweder Missolunghi oder deinen Kopf!« kann Kiutaghi die Feste nicht bezwingen.
Am 25. Januar 1825 rückt Ibrahim Pascha, nachdem er Pyrgos eingeäschert, vor Missolunghi. Vom 25. bis
28. Januar bombardiert er die Stadt, berennt sie dreimal, vermag sie aber nicht zu nehmen, trotzdem er nur wenig über 2000 von Hunger und Not entkräftete Griechen gegen sich hat. Als aber Miaulis mit seinem Geschwader, das der belagerten Feste Hilfe bringen soll, zurückgeschlagen wird, gelangt Ibrahim Pascha zum Ziele, und am 23. April, nach einer Belagerung, die über zwei Drittel seiner Besatzung das Leben gekostet hat, fällt Missolunghi. Seine gesamte Bewohnerschaft wird mit dem Reste der
Besatzung, zusammen an 9000 Köpfe, Männer, Weiber und Kinder, von den Soldaten Ibrahim Paschas erbarmungslos niedergemetzelt.
Noch im selben Jahre rücken die Türken unter Führung von Kiutaghi, nachdem sie Phokis und Böotien verwüstet, am 10. Juli vor Theben, dringen in Attika ein, berennen Athen, erobern es, und belagern die von fünfzehnhundert Griechen verteidigte Akropolis.
Dieser Feste, die als Schlüssel von Griechenland gilt, zu Hilfe entsendet die neue Regierung einen
der Helden von Missolunghi, Karaiskakis, und den Obersten Fabvier mit seinem Korps regulärer Truppen. Die Schlacht, die sie den Türken bei Chaidari liefern, wird verloren, und Kiutaghi kann die Belagerung der Akropolis fortsetzen. Inzwischen dringt Karaiskakis durch die Schluchten des Parnaß, schlagt die Türken bei Arachowa am 5. Dezember und errichtet auf dem Schlachtfelde die grausige Trophäe von dreihundert abgeschnittenen Türkenköpfen. Der ganze Norden Griechenlands wird durch diesen Sieg
frei.
Leider wird der griechische Archipel jetzt die Beute der schlimmsten Seeräuber, die jemals diese Meere verheert haben. Der Kriegszustand im Lande begünstigt natürlich ihr Treiben. Unter ihnen gilt, als der blutdürstigste und verwegenste der Pirat Sakratif, dessen bloßer Name Schrecken und Entsetzen in allen Häfen und an allen Küsten der Levante herruft.
Sieben Monate vor der Zeit, zu welcher diese Erzählung beginnt, werden jedoch die Türken gezwungen, sich in
verschiedene feste Plätze des westlichen Griechenlands zurückzuziehen. Im Februar 1827 haben die Griechen das türkische Joch vom Golf von Ambrakia bis zu den Grenzen von Attika abgeschüttelt. Der Halbmond weht bloß noch über Missolunghi, Bonitsa und Naupaktos. Am 21. März berufen die Griechen der nördlichen Provinzen und die Griechen des Peloponnes, unter Verzicht auf ihre innern Streitigkeiten, unter Lord Cochranes Einfluß die Vertreter der Nation zu einer Versammlung in Trözene, und legen die
Gesamtgewalt in eine Hand, in die Hand eines Fremden, eines russischen Diplomaten griechischer Abstammung, des aus Korfu gebürtigen Capo dIstria.
Aber Athen befand sich in den Händen der Türken. Am 5. Juni hatte die Akropolis kapituliert. Nordgriechenland wurde nun wieder unter türkisches Joch gezwungen. Am 6. Juli unterzeichneten allerdings Frankreich, England, Rußland und Oesterreich eine Konvention, kraft deren sie der griechischen Nation ihre Unabhängigkeit unter türkischer
Oberhoheit zuerkannten, und verpflichteten sich in einer geheimen Klausel, gemeinsam gegen die Türkei vorzugehen, falls sich der Sultan einem gütlichen Abkommen verschließen sollte.
Dies sind die Hauptakte jenes blutigen Dramas, die der Leser kennen muß, weil sie mit der Erzählung, die nun folgt, in unmittelbarem Zusammenhang stehen.
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