Frei Lesen: Der Chancellor

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Jules Verne

Der Chancellor

XLI.

eingestellt: 22.7.2007



Am 8. Januar.

– Die ganze Nacht über bin ich neben dem todten Körper geblieben, und Miß Herbey hat wiederholt Gebete für sein Seelenheil verrichtet.

Bei Anbruch des Tages ist der Leichnam völlig erkaltet. Ich hatte Eile ... ja! Eile, ihn ins Meer zu werfen, und ersuchte Robert Kurtis, mir in diesem traurigen Geschäfte beizustehen. Nach Einhüllung in seine Kleidungsstücke werden wir ihn den Wellen übergeben, und ich hoffe, daß er bei seiner außerordentlichen Magerkeit sich nicht schwimmend erhalten wird.

Mit Tagesgrauen treffen wir, Robert Kurtis und ich, gewisse Vorsichtsmaßregeln, nicht gesehen zu werden, und entnehmen den Taschen des Lieutenants noch einige Gegenstände, welche dessen Mutter zugestellt werden sollen, wenn Einer von uns am Leben bleibt.

Eben als ich den Leichnam in die Kleidungsstücke bringen will, die ihm als Bahrtuch dienen sollen, kann ich eine Bewegung des Entsetzens nicht unterdrücken.

Der rechte Fuß fehlt, das Bein ist nur noch ein blutiger Stumpf!

Wer ist der Urheber dieser Schändung? Ich bin also doch wohl in der Nacht einmal der Ermüdung erlegen, und Jemand hat sich meinen Schlummer zu Nutzen gemacht, diesen Körper zu verstümmeln. Aber wer, wer hat das gethan?

Robert Kurtis sieht rings umher, und seine Augen sprühen Flammen. An Bord bemerkt man nichts Ungewöhnliches, nur einige Jammerlaute unterbrechen das Stillschweigen. Vielleicht belauert man uns! Eilen wir, die Ueberreste ins Meer zu bringen, um noch schrecklichere Auftritte zu vermeiden.

Nach einem kurzen Gebete des Kapitäns lassen wir den Leichnam in die Fluthen gleiten, in denen er sofort versinkt.

»Donnerwetter! Die Haifische werden gut gemästet!«

Wer sprach das? Ich drehe mich um. Es war der Neger Jynxtrop.

Der Bootsmann stand gleichfalls in meiner Nähe.

»Vermuthen Sie, sage ich zu ihm, daß jene Unglücklichen diesen Fuß ...

– Diesen Fuß ... ah, ja! erwidert mir der Hochbootsmann. Im Uebrigen war das ihr Recht.

– Was? Ihr Recht? rufe ich erstaunt.

– Herr, entgegnet der Hochbootsmann, es ist besser, einen Todten zu verzehren, als einen Lebendigen!«

Diese frostige Antwort läßt mich verstummen, und ich gehe, um mich zu sammeln, nach dem Hintertheile des Flosses.

Gegen elf Uhr überrascht uns ein glücklicher Zufall. Der Hochbootsmann, der schon seit dem Morgen seine Angelschnuren wieder hat nachschleppen lassen, erzielt einen Erfolg, – er hat drei Fische gefangen. Es sind drei ziemlich große Schellfische von vierundzwanzig Centimeter Länge und zu der Art gehörig, welche getrocknet unter dem Namen »Stockfisch« bekannt ist.

Kaum hat der Hochbootsmann die drei Fische an Bord gezogen, so stürzen sich die Matrosen auf dieselben. Der Kapitän Kurtis, Falsten und ich werfen uns dazwischen, und die Ordnung ist bald wieder hergestellt. Es ist freilich wenig, drei Schellfische für vierzehn Verhungerte, doch, es bekommt Jeder seinen Theil. Die Einen verschlingen die Fische roh, man möchte sagen, noch lebend, und das thun die Meisten. Robert Kurtis, André Letourneur und Miß Herbey haben die Ueberwindung, zu warten. Auf einer Ecke des Flosses entzünden sie mittels einiger Stückchen Holz ein Feuer und rösten ihren Antheil. Ich habe nicht denselben Muth gehabt und verzehre das Fleisch noch blutend!

Mr. Letourneur ist nicht weniger ungeduldig gewesen, als ich und die meisten Anderen. Wie ein ausgehungerter Wolf stürzte er sich auf das ihm zukommende Stück Fisch. Wie vermag dieser unglückliche Mann, der so lange Zeit nichts genossen hat, nur überhaupt noch zu leben? – Ich begreife das nicht.

Ich erwähnte die große Freude des Bootsmannes, als er seine Angelleinen einzog, und diese Freude steigert sich fast bis zum Wahnwitz. Wenn der Fischfang noch weitere Beute liefert, ist es sicher, daß er uns vor einem grauenvollen Tode rettet.

Ich spreche deshalb mit dem Hochbootsmann und treibe ihn an, seine Versuche zu wiederholen.

»Ja wohl! antwortet er mir, ja ... gewiß ... ich werde es thun! ...

– Und warum legen Sie die Schnuren nicht schon wieder ein?

– Jetzt nicht! erwidert er ausweichend. Die Nacht ist günstiger als der Tag zum Fange der größeren Fische, und wir dürfen auch den Köder nicht verschwenden, denn vorhin haben wir Dummköpfe auch nicht ein Stückchen übrig gelassen, um es zum nächsten Fischfang zu verwenden!«

Das ist wahr, und der Fehler vielleicht nicht wieder gut zu machen.

»Indessen, werfe ich ein, da es Ihnen das erste Mal gelang ohne Lockspeise ...

– Ich hatte welche

– Eine gute?

– Eine ausgezeichnete, Herr, da jene Fische darauf anbissen!«

Ich sehe den Bootsmann an, dessen Blick auch auf mir haftet.

»Haben Sie auch noch etwas für Ihre Angelhaken übrig? frage ich.

– Ja wohl«, antwortete der Seemann mit leiser Stimme und wendet sich ohne ein weiteres Wort weg.

Die dürftige Nahrung hat uns aber doch einige Kräfte gegeben und neue Hoffnungen erweckt. Wir sprechen von dem Fischfange des Hochbootsmannes und können es gar nicht glauben, daß dieser nicht wiederholt von Erfolg sein werde. Sollte das Geschick endlich satt sein, uns zu prüfen?

Ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß in unserem Geiste eine Veränderung vor sich gegangen ist, liegt für mich darin, daß wir anfangen, von der Vergangenheit zu reden. Unsere Gedanken sind nicht einzig und allein auf die martervolle Gegenwart gerichtet oder auf die furchtbare Zukunft, die uns doch drohend bevorsteht. Die Herren Letourneur, der Ingenieur Falsten, der Kapitän Kurtis und ich erinnern uns der einzelnen Vorkommnisse seit dem Schiffbruche, lassen die Bilder der Umgekommenen an uns vorüberziehen, die Details der Feuersbrunst, die Strandung des Fahrzeugs, das Ham-Rock-Eiland, den Leck, die schreckliche Fahrt in den Mastkörben, das Floß, den Sturm, alle jene Zufälle, welche uns jetzt so fern zu liegen scheinen. Ja! Alles das hat uns betroffen, und doch leben wir noch!

Wir leben! Aber kann man diesen Zustand wirklich ein »Leben« nennen? Von achtundzwanzig sind wir nur noch vierzehn übrig, bald vielleicht nur noch dreizehn.

»Eine böse Zahl! sagt der junge Letourneur, doch würden wir wohl große Mühe haben, einen Vierzehnten für uns zu finden!«

In der Nacht vom 8. zum 9. hat der Hochbootsmann seine Leinen aufs Neue ausgelegt und ist selbst auf dem Hintertheile des Flosses geblieben, da er die Ueberwachung jener Niemandem anvertrauen wollte.

Am Morgen gehe ich auf ihn zu. Kaum graut der Tag, und mit den brennenden Augen sucht der Angler schon die Dunkelheit des Wassers zu durchdringen. Er hat mich weder schon gesehen, noch kommen hören.

Ich berühre leise seine Schulter; er wendet sich halb erschrocken um.

»Nun, wie stehts, Bootsmann?

– Die verdammten Haifische haben mir den Köder weggeschnappt! antwortet er mit tonloser Stimme.

– Und sie haben keinen mehr?

– Nein! Und wissen Sie, was damit bewiesen ist? fügt er hinzu und drückt mir den Arm. Damit ist bewiesen, daß man nichts blos halb thun soll ...«

Ich lege meine Hand auf seinen Mund; ich habe ihn verstanden!

Armer Walter! ...


 

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