Frei Lesen: Kein Durcheinander

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Jules Verne

Kein Durcheinander

XX.

eingestellt: 23.7.2007



»Barbicane?... Nicholl?...

– Maston!

– Sie?...

– Wir!«

Und aus diesem ganz synchronisch von den beiden Collegen mit eigenthümlichem Tone hervorgestoßenen Fürworte hörte man die ganze Ironie und alle darin eingekapselten Vorwürfe deutlich heraus.

J. T. Maston fuhr sich mit dem Eisenhaken nach der Stirne. Dann sagte er mit einer Stimme, welche mehr durch seine Lippen pfiff – gleich der einer Natter, wie sich Ponson du Terrail ausgedrückt haben würde –:

»War denn Euere Gallerie im Kilimandjaro bei siebenundzwanzig Meter Durchmesser auch richtig sechshundert Meter lang?

– Gewiß!

– Wog Euer Projectil genau hundertachtzig Millionen Kilogramm?

– Ohne Zweifel!

– Und ist der Schuß mit einer Ladung von zwei Millionen Tonnen Meli-Melonit abgefeuert worden?

– Das versteht sich!«

Diese drei Bestätigungen fielen wie Keulenschläge auf das Hinterhaupt J. T. Mastons.

»Dann schließe ich ... fuhr er fort,

– Was denn? ... fragte der Präsident Barbicane.

– Nun das Folgende, erklärte J. T. Maston. Da die Operation nicht gelungen ist, wird das daran liegen, daß das Pulver dem Projectil keine Anfangsgeschwindigkeit von zweitausendachthundert Kilometern ertheilte!

– Recht schön! ... warf Kapitän Nicholl dazwischen.

– Daran, daß Euer Meli-Melonit sich nur dazu eignet, Kinderpistolen zu laden!«

Der Kapitän Nicholl schnellte bei diesem Worte, das sich für ihn zur blutigsten Beleidigung verwandelte, mit einem Satze in die Höhe.

»Maston! stieß er hervor.

– Nicholl!

– Wenn Sie sich mit mir auf Meli-Melonit schlagen wollen...

– Nein! ... Lieber auf Schießbaumwolle! ... Das ist sicherer!«

Mrs. Evangelina Scorbitt mußte dazwischen treten, um die beiden jähzornigen Artilleristen zu besänftigen.

»Meine Herren... meine Herren! sagte sie. Unter Collegen!...«

Da nahm der Präsident Barbicane mit sehr ruhiger Stimme das Wort.

»Wozu solche gegenseitige Schmähungen? Es ist ausgemacht, daß die Berechnungen unseres Freundes Maston richtig waren, ebenso wie es ausgemacht ist, daß der Explosivstoff unseres Freundes Nicholl ausreichen mußte. Ohne Zweifel haben wir auch die Ergebnisse der Wissenschaft peinlich genau in die Praxis übersetzt. Und doch schlug das Experiment fehl! Aus welchen Gründen ... Das wird man wahrscheinlich nie erfahren!

– Ei nun! rief der Schriftführer des Gun-Club, so fangen wir die Sache noch einmal von vorne an!

– Und das Geld, welches bis jetzt schon zum Fenster hinaus geworfen ist! bemerkte der Kapitän Nicholl.

– Und die öffentliche Meinung, setzte Mrs. Evangelina Scorbitt hinzu, die Ihnen niemals gestatten wird, das Schicksal der Welt wieder aufs Spiel zu setzen!

– Ja, was wird dann aber aus unserem circumpolaren Gebiete werden? versetzte der Kapitän Nicholl.

– Bis zu welchem Schleuderpreise werden damit die Actien der »North Polar Practical Association« herabsinken?« rief der Präsident Barbicane.

O, der »Krach« am Kilimandjaro war auch schon in diese gefahren und man bot die hübschen Scheine packetweise zum Preise alten Papieres aus.

Das war der schließliche Ausgang des gigantischen Unternehmens, das denkwürdige Fiasco, in dem die übermenschlichen Pläne von Barbicane und Cie. untergingen.

Wenn sich jemals die öffentliche Lachlust freien Lauf gewährte, um wackere, nur aus Zufall verführte Ingenieure verächtlich zu machen, wenn je phantastische Zeitungsartikel, Carricaturen, Gassenhauer, Parodien fetten Nahrungsstoff fanden, so war das bei dieser Gelegenheit der Fall. Der Präsident Barbicane, die Verwaltungsräthe der neuen Gesellschaft, deren Collegen im Gun-Club, wurden alle ganz unglaublich verhöhnt. Man warf ihnen Titel an den Hals, welche nicht einmal in lateinischer Sprache, ja kaum durch das Volapük hier wiederzugeben sind. Vorzüglich Europa überließ sich einem solchen Stromschwalle von schlechten Witzen, daß es die Yankees schließlich verschnupfte. In Erwägung, daß Barbicane, Nicholl und Maston doch immer amerikanischer Herkunft waren, daß sie der weitberühmten Gesellschaft in Baltimore angehörten, fehlte gar nicht viel, daß die Leute ihre Bundesregierung gezwungen hätten, der Alten Welt den Krieg zu erklären.

Den härtesten Schlag erlitten sie durch ein französisches Lied, welches der berühmte Paulus – er lebte jener Zeit noch – in Schwung brachte. Das lustige Poëm hielt sehr bald seinen Einzug in alle Cafés-chantants der Welt.

Eine der beifälligst aufgenommenen Strophen desselben lautete:

Von der Erdenschachtel so alt und fein,
Da sollte die Achse zum Kukuk sein,
Schnell baun sie in Berg ein Kanonenrohr ein,
Um Alles Zu schießen gleich kurz und klein!
Nun Achtung, sonst schlägt Euch der Teufel drein!
Zwar richten das Röhrchen in festem Gestein
Verrückte sehr sorgsam gleich zu Drein –
Los donnert der Schuß in den Weltraum hinein,
Doch ändert er nichts an dem fernein Gedeihn
Der Erdenschachtel, so alt und so fein!

Doch sollte man denn wirklich niemals erfahren, was den Fehlschlag dieses Unternehmens verschuldet hatte? Bewies dieses Mißlingen allein schon die Unausführbarkeit des ganzen Planes? Zeigte es bereits, daß die Kräfte, über welche Menschen verfügen können, nimmer hinreichen werden, um eine Aenderung in der täglichen Bewegung der Erde hervorzubringen; daß die Nordpolgebiete niemals würden in der Breitenlage verschoben und nach Stellen versetzt werden können, wo deren Eismauern und Krystallpanzer unter den Strahlen der Sonne wegschmelzen müßten?

Auf diese Fragen wurde man wenige Tage nach der Rückkehr des Präsidenten Barbicane und seines Collegen in die Vereinigten Staaten unwillkürlich hingewiesen.

Am 17. October erschien nämlich eine einfache Notiz in dem »Temps«, und diese Zeitungsnummer des Herrn Hébrard leistete der Welt den Dienst, sie über diesen, bezüglich ihrer Sicherheit so interessanten Punkt aufzuklären.

Die betreffende Notiz lautete folgendermaßen:

»Allgemein bekannt geworden ist das negative Resultat jenes Unternehmens, welches die Schaffung einer neuen Erdachse zum Ziele hatte. Die Berechnungen J. T. Mastons hätten, da sie auf richtiger Grundlage beruhten, gewiß die geplante Folge gehabt, wenn sie nicht in Folge einer unerklärlichen Zerstreutheit schon von Anfang an mit einem Fehler behaftet gewesen wären.

»Als der mit Recht berühmte Schriftführer des Gun-Club nämlich den Umfang des Erdsphäroïds als Basis annahm, hat er diesen in seine Rechnung mit vierzigtausend Metern, statt mit vierzigtausend Kilometern eingesetzt – was die Lösung des Problems von vornherein vereiteln mußte.

»Wie konnte ein solcher Irrthum aufkommen? ... Wer hatte denselben verschuldet? ... Wie war es einem so hervorragenden Rechenmeister möglich, ihn zu begehen? ... Hierüber verliert man sich in ganz unbegründbare Muthmaßungen.

»Gewiß ist indeß das Eine, daß das Problem einer Veränderung der Erdachse, da es correct aufgestellt war, ebenso sicher hätte gelöst werden müssen. Die Auslassung von drei Nullen hat am schließlichen Resultat aber einen Fehler um zwölf Nullen zur Folge gehabt.

»Nicht einer, das 27 Cm.-Geschütz um das einmillionenfache übertreffenden Kanone, sondern einer Trillion solcher Kanonen hätte es bedurft, und diese mußten eine Trillion Geschosse von je hundertachtzigtausend Tonnen Gewicht hinausschleudern, wenn der Pol um 23° 28 verlegt werden sollte, immer noch vorausgesetzt, daß der Meli-Melonit die Explosivkraft wirklich besaß, welche der Kapitän Nicholl ihm zuschreibt.

»In Summa, der vereinzelte Schuß bei den Bedingungen und Verhältnissen, unter welchen derselbe am Kilimandjaro abgefeuert worden ist, hat den Pol nur um drei Mikrons (drei Tausendtheile eines Millimeters) verschoben und das Niveau der Meere nur um einen Höchstbetrag von neun Tausendel eines Mikrons verändert!

»Was das Projectil angeht, so gehört dieses jetzt als ein neuer, ganz kleiner Nebenplanet unserem Systeme an, in welchem es durch die Anziehung der Sonne und der Erde selbst zurückgehalten wird.

»Alcide Pierdeux.«

Es war also eine Zerstreutheit J. T. Mastons, ein, Fehler von drei Nullen im Anfang seiner Berechnungen, welche jenes für die neue Gesellschaft so beschämende Resultat gezeitigt hatte.

Wenn seine Collegen im Gun-Club aber gegen ihn wütheten, ihn mit ihren Verwünschungen überhäuften, fo trat dafür in der öffentlichen Meinung ein Umschwung zu Gunsten des armen Mannes ein. Alles in Allem war es jener Schnitzer, der so viel Unheil angerichtet, oder vielmehr so viel Segen gebracht hatte, da er der Welt eine der entsetzlichsten Katastrophen ersparte. »Kein Durcheinander!« – – – –

Als Folge hiervon strömten von allen Seiten Glückwünsche auf ihn ein, mit Millionen von Briefen, welche J. T. Maston feierten, weil er sich – um drei Nullen geirrt hatte!

J. T. Maston felbst freilich, der jetzt knurriger und sauertöpfiger als je war, wollte von dem gewaltigen Hurrah, das die ganze Welt ihm zu Ehren ausbrachte, nichts wissen. Der Präsident Barbicane, der Kapitän Nicholl, Tom Hunter mit den Stelzbeinen, der Oberst Bloomberry, der immer hüpfende Bilsby und deren Collegen würden ihm doch niemals verzeihen können. ...

Zum Glück blieb ihm noch Mrs. Evangelina Scorbitt. Diese vortreffliche Dame konnte kein Hühnchen mit ihm zu rupfen haben.

Vor Allem begann J. T. Maston seine Rechnungen noch einmal durchzusehen, überzeugt, daß er eines so groben Fehlers nicht fähig gewesen sei.

Und doch war es an dem! Der Ingenieur Alcide Pierdeux hatte sich nicht getäuscht. Daher kam es, daß dieser Originalbursche, als er im letzten Augenblicke jenen Fehler herausgefunden, wo ihm die Zeit mangelte, seine Mitmenschen zu beruhigen, inmitten der allgemeinen Todesangst eine so vollkommene Ruhe, bewahrte. Daher kam es, daß er in der Stunde, wo der Riesenschuß vom Kilimandjaro hinausdonnerte, einen Toast auf die Alte Welt ausbrachte.

Ja! Drei Nullen vergessen bei der Messung des Erdumfangs!...

Plötzlich dämmerte in J. T. Maston eine Erinnerung auf. Es war ganz zu Anfang seiner Arbeit, als er sich in sein Arbeitszimmer in der Ballistic-Cottage eingeschlossen. Er hatte die Zahl 40,000,000 ganz richtig auf die schwarze Tafel niedergeschrieben.

In demselben Augenblicke rasselte die Rufglocke des Telephons. J. T. Maston begab sich nach der Schallplatte ... er wechselte einige Worte mit Mrs. Evangelina Scorbitt ... da streckt ihn ein Donnerschlag zu Boden und stürzt seine Tafel um... Er erhebt sich wieder ... Er schreibt die beim Umsturz halb ausgelöschte Zahl aufs neue hin .,. kaum hat er die Ziffern 40.000 vollendet... da ertönt die Klingel zum zweiten Male ... Und als er sich wieder an die Arbeit begibt, hat er die drei letzten Nullen der Zahl vergessen, welche den Umfang der Erde angibt!

Nun sieh, an alledem trug Mrs. Evangelina Scorbitt die Schuld. Hätte sie ihn nicht gestört, so wäre er vielleicht auch von dem Rückschläge jener elektrischen Entladung verschont geblieben! Vielleicht hätte der Donner ihm dann nicht einen jener verwünschten Streiche gespielt, welche hinreichen, die ganze Existenz eines guten, ehrsamen Rechenmeisters in Frage zu stellen!

Wie tief erschüttert fühlte sich die unglückliche Dame, als J. T. Maston ihr nun mittheilen mußte, unter welchen Umständen sich jener Fehler eingeschlichen hatte! ... Ja, sie, sie war die Ursache seines Unglückes! ... Durch ihr Verschulden sah J. T. Maston sich entehrt für die langen Jahre, die er noch zu leben hatte, denn in der ehrbaren Vereinigung des Gun-Club pflegte man erst mit hundert Jahren zu sterben.

Nach diesem Gespräch war J. T. Maston aus dem Hotel im New-Park entflohen und nach der Ballistic-Cottage zurückgekehrt. Hier wanderte er in seinem Arbeitszimmer auf und ab und murmelte für sich:

»Jetzt bin ich zu nichts mehr nütze in dieser Welt!

– Nicht einmal, sich endlich zu verheiraten?...« erklang da eine Stimme, welche die Aufregung der Sprechenden zu einer herzzerreißenden machte.

Mrs. Evangelina Scorbitt war es. Verweint, vernichtet, hatte sie doch nicht umhin gekonnt, J. T. Maston nachzugehen...

»Lieber Maston!... sagte sie.

– Nun, meinetwegen, ja!... Aber unter der einen Bedingung, daß ich mich niemals wieder mit der Mathematik abgebe!

– Bester Freund, ich habe auch ein Härchen drin gefunden!« antwortete die vortreffliche Wittwe.

Und der Schriftführer des Gun-Club machte aus Mrs. Evangelina Scorbitt endlich eine Mrs. J. T. Maston.

Was die Notiz Alcide Pierdeuxs angeht, so brachte sie dem Ingenieur und in seiner Person auch der »Schule« ein Uebermaß von Ehren und Berühmtheit ein. In alle Sprachen übersetzt, in alle Zeitungen aufgenommen, verbreitete diese einfache Notiz seinen Namen durch die ganze Welt. So traf es sich, daß der Vater der hübschen Provençalin, der ihm die Hand seiner Tochter verweigert hatte, »weil er zu gelehrt wäre«, genannte Notiz im »Petit Marseillais« zu lesen bekam. Nachdem er die hohe Bedeutung derselben dann, sogar ohne fremde Hilfe, begriffen, sendete er, von Gewissensbissen gefoltert und sich eines Besseren besinnend, an den Urheber derselben eine verbindliche Einladung zum Mittagessen.

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