Frei Lesen: Reise um die Erde in 80 Tagen

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Jules Verne

Reise um die Erde in 80 Tagen

Fünfzehntes Capitel.

eingestellt: 5.7.2007



Der Zug hielt im Bahnhofe an. Passepartout verließ zuerst den Wagen, dann folgte Herr Fogg, welcher seiner jungen Gefährtin aussteigen half, Phileas Fogg hatte vor, sich direct zum Packetboot nach Hongkong zu begeben, um Mrs. Aouda darin bequem einzurichten; denn er wollte, so lange sie in dem für sie so gefährlichen Lande weilte, ihr nicht von der Seite gehen.

Im Moment, als Herr Fogg aus dem Bahnhofe zu gehen im Begriff war, trat ein Polizeimann zu ihm und sprach:

»Herr Phileas Fogg?

– Der bin ich.

– Dieser Mensch ist Ihr Diener? fügte der Polizeimann bei, auf Passepartout deutend.

– Ja.

– Belieben Sie beide, mich zu begleiten.«

Herr Fogg ließ in keiner Bewegung irgend eine Ueberraschung merken. Dieser Agent war ein Repräsentant des Gesetzes, und jedem Engländer ist das Gesetz heilig. Passepartout mit seinen französischen Gewohnheiten wollte räsonniren, aber der Polizeimann berührte ihn mit seinem Stabe, und Phileas Fogg bedeutete ihn, zu gehorchen.

»Kann diese junge Dame uns begleiten? fragte Herr Fogg.

– Ja«, erwiderte der Polizist.

Der Polizeimann führte die drei Personen zu einem Palkighari, einer Art vierräderigen, zweispännigen Wagen zu vier Plätzen, und man fuhr ab. Während der etwa zwanzig Minuten dauernden Fahrt sprach Niemand ein Wort.

Der Wagen fuhr zuerst durch die »schwarze Stadt«, mit engen Straßen und Hütten, worin schmutziges, zerlumptes Volk aus allen Nationen wimmelte, nachher durch die europäische Stadt, die freundlich ist, mit Häusern von Ziegelstein, von Kokosbäumen beschattet, voll Masten und Stangen, worin bereits am frühen Morgen elegante Kavaliere mit prächtigem Gespann fuhren.

Der Palkighari hielt vor einem Hause von einfachem Aeußern, das aber zu Privatgebrauch nicht verwendet werden durfte. Der Polizeimann ließ seine Verhafteten aussteigen, führte sie in ein Zimmer mit vergitterten Fenstern und sprach:

»Um halb neun haben Sie vor dem Richter Obadiah zu erscheinen.«

Darauf zog er sich zurück und verschloß die Thüre.

»Nun! Da sind wir im Kerker!« rief Passepartout, indem er auf einen Stuhl sank.

Mrs. Aouda wandte sich sogleich an Herrn Fogg, und sprach mit Rührung, die sie nicht verbergen konnte:

»Mein Herr, Sie müssen mich preisgeben! Um meinetwillen verfolgt man Sie! Weil Sie mich gerettet haben!«

Phileas Fogg erwiderte nur, das sei nicht möglich. Wegen dieser Entführung der Witwe verfolgt, – das war nicht anzunehmen. Die Kläger würden nicht aufzutreten wagen. Es mußte da ein Mißverständniß obwalten. Herr Fogg setzte hinzu, jedenfalls werde er die junge Frau nicht im Stiche lassen, und werde sie nach Hongkong führen.

»Aber das Boot fährt schon um zwölf Uhr ab! bemerkte Passepartout.

– Ehe es zwölf Uhr ist, werden wir an Bord sein«, erwiderte ruhig der Gentleman.

Dies sprach er mit solcher Bestimmtheit, daß Passepartout nicht umhin konnte, sich selbst zu sagen:

»Der Tausend! Das heißt doch sicher! Vor zwölf Uhr werden wir an Bord sein!« Aber beruhigt war er durchaus nicht.

Um halb neun öffnete sich die Thüre, der Polizeimann trat herein und führte die Gefangenen in den daneben befindlichen Saal. Es war ein Verhörsaal, worin ein zahlreiches Publicum von Europäern und Eingeborenen bereits den Raum füllte.

Herr Fogg, Mrs. Aouda und Passepartout nahmen Platz auf einer Bank vor den Stühlen des Richters und Gerichtsschreibers.

Der Richter Obadiah kam alsbald in Begleitung des Gerichtsschreibers. Es war ein dicker, wohlbeleibter Mann. Er holte eine Perrücke, die an einem Nagel hing, und setzte sie rasch auf.

»Die erste Sache«, sprach er.

Dann aber, die Hand am Kopfe:

»Nun! Das ist ja nicht meine Perrücke!

– Wirklich, Herr Obadiah, es ist die meinige, erwiderte der Gerichtsschreiber.

– Lieber Oysterpuff, wie kann ein Richter ein richtiges Urtheil fällen unter des Gerichtsschreibers Perrücke!«

Die Perrücken wurden getauscht. Während dieser Präliminarien saß Passepartout wie auf glühenden Kohlen, denn der Zeiger auf dem Zifferblatte der großen Uhr des Gerichtssaales schien ihm fürchterlich schnell vorzurücken.

»Die erste Sache, wiederholte der Richter Obadiah.

– Phileas Fogg? sagte der Gerichtsschreiber Oysterpuff.

– Hier bin ich, erwiderte Herr Fogg.

– Passepartout?

– Hier!

– Gut! sagte der Richter. Seit zwei Tagen erwartete man Euch bei jedem Zuge, der von Bombay kam.

– Aber weshalb sind wir verklagt? rief Passepartout voll Ungeduld.

– Das werden Sie gleich hören, versetzte der Richter.

– Mein Herr, sagte darauf Herr Fogg, ich bin englischer Bürger, und ich bin berechtigt ...

– Hat mans an Achtung fehlen lassen? fragte Obadiah.

– Durchaus nicht.

– Gut! Die Kläger sollen eintreten.«

Auf des Richters Befehl öffnete sich eine Thüre, und ein Gerichtsdiener führte drei Hindupriester herein.

»Ja wohl! brummte Passepartout, diese Kerle haben unsere junge Dame verbrennen wollen!«

Die Priester standen vor dem Richter, und der Gerichtsschreiber verlas laut eine Klage auf Tempelschändung gegen Phileas Fogg und seinen Diener, weil sie einen durch die brahmanische Religion geheiligten Ort entweiht hätten.

»Sie habens gehört? fragte der Richter Phileas Fogg.

– Ja, mein Herr, versetzte Herr Fogg, und ich gebe es zu.

– Ah! Sie geben es zu ...

– Ich gebe es zu und erwarte, daß diese Priester ihrerseits gestehen, was sie in der Pagode zu Pillaji thun wollten.«

Die Priester sahen sich an. Sie schienen die Worte des Angeklagten nicht zu verstehen.

»Allerdings! rief Passepartout ungestüm, in der Pagode zu Pillaji, vor welcher sie ihr Opfer verbrennen wollten!«

Die Priester staunten abermals, der Richter Obadiah fragte verwundert:

»Was für ein Opfer? Verbrennen! Mitten in Bombay?

– Bombay? rief Passepartout.

– Allerdings. Von Pillaji ist keine Rede, sondern von der Pagode Malebar-Hill zu Bombay.

– Und zur Ueberführung, fügte der Gerichtsdiener bei, sind hier die Schuhe der Entweiher, und legte ein Paar Schuhe auf seinen Schreibtisch.

– Meine Schuhe!« rief voll Ueberraschung Passepartout, der die unwillkürliche Aeußerung nicht zurückhalten konnte.

Man denke sich die Verwirrung im Geiste des Herrn und Dieners. Sie hatten den Zwischenfall in der Pagode zu Bombay ganz vergessen, und wurden doch deshalb vor den Richter zu Calcutta geführt.

Wirklich hatte der Agent Fix darauf gesonnen, diesen leidigen Vorfall zu nützen. Er war noch zwölf Stunden zu Bombay geblieben und hatte da mit den Priestern von Malebar-Hill berathen; er hatte ihnen bedeutende Entschädigung zugesagt, denn er wußte, daß die englische Regierung solche Vergehen streng bestrafte; nachher hatte er sie mit dem nächsten Zuge zur Verfolgung des Tempelschänders abgeschickt. Aber in Folge des Zeitverlustes, welchen die Befreiung der Witwe verursachte, kam Fix mit seinen Hindu zu Calcutta eher an als Phileas Fogg und sein Diener, welche von der, durch eine Depesche unterrichteten Behörde beim Aussteigen verhaftet werden sollten. Wie war Fix in Verlegenheit, als er vernahm, Phileas Fogg sei noch gar nicht zu Calcutta angekommen! Er meinte, sein Dieb sei von einer Station aus in die nördlichen Provinzen geflüchtet. Vierundzwanzig Stunden lang hatte Fix in peinlichster Unruhe am Bahnhofe auf ihn gelauert. Und wie freute er sich, als er ihn endlich diesen Morgen aussteigen sah, zwar in Gesellschaft einer Frau, deren Anwesenheit er sich nicht erklären konnte. Er schickte ihm sogleich den Polizeimann auf den Hals, der, wie wir sahen, die drei Angekommenen vor den Richter Obadiah führte.

Wäre Passepartout nicht allzusehr mit der Sache beschäftigt gewesen, so hätte er den Detectiv in einer Ecke des Gerichtssaales gesehen, wie er mit großem Interesse der Verhandlung zuhörte, – denn zu Calcutta war, wie zu Bombay und Suez, der Verhaftsbefehl noch nicht angekommen!

Unterdessen hatte der Richter Obadiah das Passepartout entschlüpfte Eingeständniß prolokollirt.

»Die Thatsache ist eingestanden? sagte der Richter.

– Ja, eingestanden, erwiderte Herr Fogg kalt.

– In Anbetracht, fuhr der Richter fort, in Anbetracht, daß das englische Gesetz allen Religionen der indischen Bevölkerung gleichmäßig strengen Schutz verleiht, und da Herr Passepartout sein Vergehen eingestanden hat, und überführt ist, am 20. October mit ungeweihten Füßen den Boden der Pagode Malebar-Hill zu Bombay betreten zu haben: so wird gedachter Passepartout zu vierzehn Tagen Gefängniß und einer Buße von dreihundert Pfund verurtheilt.

– Dreihundert Pfund? rief Passepartout aus.

– Still! rief der Gerichtsdiener mit kreischender Stimme.

– Und, fuhr der Richter, fort, in Betracht daß es nicht materiell bewiesen ist, daß zwischen dem Herrn und dem Diener nicht ein Einverständniß stattgefunden, daß jedenfalls der Herr für die Handlungen und Bewegungen eines von ihm besoldeten Dieners verantwortlich sein muß, wird gedachter Phileas Fogg festgehalten und zu acht Tagen Gefängniß und hundertfünfzig Pfund Buße verurtheilt. – Gerichtsdiener, holen Sie eine andere Partie!«

Fix vernahm in seiner Ecke mit unbeschreiblicher Befriedigung, wie Phileas Fogg acht Tage zu Calcutta aufgehalten werden sollte; mehr bedurfte er nicht, um seinen Verhaftsbefehl zu erhalten.

Passepartout war ganz verstört. Dieser Spruch ruinirte seinen Herrn. Eine Wette von zwanzigtausend Pfund verloren, und zwar, weil er als echter Tölpel in die verwünschte Pagode gegangen!

Phileas Fogg war so ruhig geblieben, als ginge ihn der Spruch nichts an. Aber im Moment, als eine andere Partei berufen wurde, stand er auf und sagte:

»Ich biete Caution an.

– Das steht Ihnen zu«, versetzte der Richter.

Fix erschrak, daß es ihn kalt überlief, doch erholte er sich wieder, als er vernahm, wie der Richter, »in Betracht, daß Phileas Fogg und sein Diener Ausländer« sein, die Caution für jeden von beiden auf tausend Pfund ansetzte.

Also zweitausend Pfund sollte Herr Fogg einbüßen, wenn er sich nicht rechtfertigte.

»Ich zahle«, sagte der Gentleman.

Und er holte aus dem Sacke, welchen Passepartout trug, einen Pack Banknoten, und legte sie auf das Bureau des Gerichtsschreibers.

»Diese Summe wird Ihnen wieder zugestellt werden, sowie Sie aus dem Gefängniß, kommen, sagte der Richter. Inzwischen sind Sie frei gegen die Caution.

– Kommen Sie, sagte Phileas Fogg zu seinem Diener.

– Aber meine Schuhe müssen Sie wenigstens herausgeben!« rief Passepartout mit Entrüstung.

Man gab ihm seine Schuhe zurück.

»Die kommen theuer zu stehen! brummte er. Ueber tausend Pfund einer!«

Passepartout folgte mit kläglicher Miene Herrn Fogg, welcher der jungen Frau seinen Arm bot. Fix hoffte noch, sein Dieb werde sich nicht entschließen können, die zweitausend Pfund im Stiche zu lassen, und folgte ihm auf Schritt und Tritt.

Herr Fogg nahm einen Wagen, und stieg mit Mrs. Aouda und Passepartout unverzüglich ein. Fix lief hinter dem Wagen her, der bald an einem Quai hielt.

Eine halbe Meile entfernt lag der Rangoon auf der Rhede vor Anker, die Abfahrtsflagge schon aufgepflanzt. Es schlug elf, und Herr Fogg hatte noch eine Stunde Zeit. Er verließ also den Wagen und bestieg mit Mrs. Aouda und Passepartout einen Nachen. Der Detectiv stampfte mit dem Fuße.

»Der Lumpenkerl! rief er aus. Er reist ab, läßt zweitausend Pfund im Stich! So verschwenderisch ist nur ein Dieb! Ah! Ich bleibe ihm auf der Ferse bis ans Ende der Welt, wenns Noth thut; aber auf die Art wird das gestohlene Geld bald durchgebracht sein!«

Nicht ohne Grund sprach so der Polizei-Agent. Phileas Fogg hatte wirklich seit seiner Abfahrt aus London an Reisegeld und Prämien, für den Elephanten, Caution und Bußen bereits über fünftausend Pfund auf der Reise verzettelt, und die Procente der wieder beigebrachten Summe, welche den Detectiven zukommen, verminderten sich fortwährend.

< Vierzehntes Capitel.
Sechzehntes Capitel. >



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