Jules Verne
Reise um die Erde in 80 Tagen
Fünfunddreißigstes Capitel.
eingestellt: 5.7.2007
Am folgenden Tag würden die Bewohner der Saville-Row sehr erstaunt gewesen sein, hätte man ihnen gesagt, Herr Fogg sei wieder heimgekehrt. Thüren und Fenster waren sämmtlich geschlossen; außen war nicht das Geringste verändert.
In der That war Phileas Fogg vom Bahnhof weg, nachdem er Passepartout beauftragt hatte, einige Lebensmittel zu kaufen, in sein Haus zurückgekehrt.
Dieser Gentleman nahm den Schlag, welcher ihn traf, mit gewohntem
Gleichmuth auf. Ruinirt! und durch Schuld des unglückseligen Polizei-Agenten! Mit sicherem Schritt hatte er die ganze Reise gemacht, tausend Hindernisse beseitigt, tausend Gefahren getrotzt, hatte noch Zeit gefunden, unterwegs Wohlthaten zu üben – und nun mußte er im Hafen noch scheitern durch eine brutale That, welche er nicht voraussehen konnte, und gegen welche er entwaffnet war! Schreckliches Loos! Von der ansehnlichen Summe, welche er bei der Abreise mitgenommen hatte, war ihm nur
ein unbedeutender Rest geblieben. Sein Vermögen bestand nur noch aus den zwanzigtausend Pfund, welche bei den Gebrüdern Baring deponirt waren, und diese schuldete er seinen Collegen vom Reform-Club. Nach den ungeheuern Ausgaben, welche er gemacht, hätte ihn diese Wette, wenn er sie gewonnen, allerdings nicht reicher gemacht, und vermuthlich hatte er auch dabei nicht nach Bereicherung getrachtet, aber der Verlust dieser Wette ruinirte ihn gänzlich. Uebrigens hatte der Gentleman seinen Entschluß
gefaßt; er wußte, was ihm zu thun übrig blieb.
Ein Zimmer im Hause der Saville-Row war für Mrs. Aouda vorbehalten. Die junge Frau war in Verzweiflung: sie hatte aus einigen Aeußerungen des Herrn Fogg abgenommen, daß er etwas Unheilvolles im Sinne hatte.
Es ist bekannt, zu welchen beklagenswerthen äußersten Schritten mitunter die Engländer, welche an einer fixen Idee leiden, fortgerissen werden. Daher überwachte auch Passepartout seinen Herrn, ohne daß mans merkte.
Aber vor allen Dingen war der brave Bursche in sein Zimmer gegangen und hatte die Gasflamme gelöscht, welche seit achtzig Tagen brannte. Es fand sich im Briefkasten eine Rechnung der Gasgesellschaft, und er mußte diesen Kosten, welche er verschuldete, Einhalt thun.
Die Nacht verfloß, Herr Fogg war zu Bette gegangen, aber schlief er auch? Mrs. Aouda konnte nicht einen Augenblick Ruhe finden. Passepartout wachte wie ein treuer Hund an der Thüre seines Herrn.
Am
folgenden Morgen ließ ihn Herr Fogg kommen, und empfahl ihm in sehr knappen Worten, ein Frühstück für Mrs. Aouda zu bereiten; er werde sich mit einer Tasse Thee und einem Stück Braten begnügen. Mrs. Aouda möge ihn für seine Theilnahme am Frühstück und Diner entschuldigen, denn er sei vollauf mit Ordnung seiner Angelegenheiten beschäftigt. Er werde nicht hinunter kommen; nur am Abend werde er sich die Erlaubniß ausbitten, Mrs. Aouda einige Augenblicke zu sprechen.
Passepartout hatte
sich diesem Tagesprogramm nur zu fügen. Er sah seinen Herrn an, der fortwährend keine Gemütsbewegung erkennen ließ, und konnte sich nicht entschließen, sein Zimmer zu verlassen. Es schwoll ihm sein Herz, sein Gewissen war von Vorwürfen gepeinigt, denn mehr wie je maß er sich die Schuld des unverbesserlichen Unheils zu. Ja! hätte er Herrn Fogg gewarnt, hätte ihm des Agenten Fix Pläne enthüllt, so hätte derselbe sicherlich nicht den letzteren mit sich herumgeschleppt, um dann ...
Passepartout konnte sich nicht mehr zurückhalten.
»Mein Herr! Herr Fogg! rief er, fluchen Sie mir. Ich bin schuld, daß ...
– Ich klage Niemand an, erwiderte Phileas Fogg im ruhigsten Ton. Gehen Sie.«
Passepartout verließ das Zimmer und suchte die junge Frau auf, theilte ihr die Absicht seines Herrn mit.
»Madame, fügte er bei, ich vermag nichts durch mich selber, nichts! Ich habe auf den Geist meines Herrn gar keinen Einfluß. Sie vielleicht ...
– Was sollte ich für Einfluß üben, erwiderte Mrs. Aouda, Herr Fogg gestattet gar keinen! Hat er jemals begriffen, daß meine Dankbarkeit gegen ihn grenzenlos ist? Hat er jemals in meinem Herzen gelesen? ... Mein Freund, Sie dürfen ihn nicht einen Augenblick verlassen. Sie sagten, er habe die Absicht zu erkennen gegeben, mich diesen Abend zu sprechen?
– Ja, Madame. Es handelt sich ohne Zweifel darum, Ihre Lage in England zu sichern.
– Warten wir«,
erwiderte die junge Frau, die ganz nachdenklich wurde.
Also war während dieses Sonntags das Haus der Saville-Row wie unbewohnt, und zum erstenmal, seit Phileas Fogg dasselbe bewohnte, ging er nicht in seinen Club, als es auf der Thurmuhr des Parlaments halb Zwölf schlug.
Und weshalb hätte der Gentleman in den Reform-Club gehen sollen? Seine Collegen erwarteten ihn da nicht mehr. Weil Abends zuvor, an dem verhängnisvollen Samstag, 21. December, Phileas Fogg nicht um acht
Uhr fünfundvierzig im Salon des Reform-Clubs erschienen war, hatte er seine Wette verloren. Es war nicht einmal nöthig, daß er zu seinem Bankier ging, um die zwanzigtausend Pfund zu holen. Seine Gegner hatten eine von ihm unterzeichnete Anweifung in Händen, und es war bei den Gebrüdern Baring nur ein Schriftzug nöthig, um die zwanzigtaufend Pfund auf ihr Conto überzutragen.
Herr Fogg brauchte also nicht auszugehen, und er ging auch nicht aus. Er blieb auf seinem Zimmer und ordnete
seine Angelegenheiten. Passepartout nur ging unaufhörlich die Treppen des Hauses auf und ab. Es gab für den armen Jungen weder Zeil noch Stunde mehr. Er horchte an der Thüre seines Herrn, und dachte dabei nicht im Mindesten unrecht zu thun; er sah durch das Schlüsselloch, und meinte ein Recht dazu zu haben: er fürchtete jeden Augenblick eine Katastrophe. Manchmal dachte er an Fix, aber, seine Gedanken hatten schon umgeschlagen: er grollte dem Polizei-Agenten nicht mehr. Fix hatte sich, wie
Jedermann, in Hinsicht Phileas Foggs geirrt, und indem er ihm nachschlich, ihn verhaftete, that er nur seine Schuldigkeit, während er ... Dieser Gedanke drückte ihn zu Boden, und er hielt sich für den allerelendesten Menschen.
Wenn sich endlich Passepartout in seinem Alleinsein zu unglücklich fühlte, klopfte er an Mrs. Aoudas Thüre, trat in ihr Zimmer, setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, in eine Ecke und sah die junge Frau an, die stets gedankenvoll war.
Gegen halb
acht Uhr Abends ließ Herr Fogg bei Mrs. Aouda anfragen, ob sie ihn empfangen könne, und nach einer kleinen Weile befand er sich mit derselben allein in ihrem Gemach.
Phileas Fogg nahm einen Stuhl und setzte sich neben dem Kamin der Mrs. Aouda gegenüber. Seine Gesichtszüge zeigten gar keine Gemüthsbewegung. Fogg war bei seiner Rückkehr gerade wie bei seiner Abfahrt, ebenso ruhig, ebenso rührungslos.
Fünf Minuten sprach er kein Wort. Nachher blickte er Mrs. Aouda ins
Angesicht und sprach:
»Madame, werden Sie mir verzeihen, daß ich Sie nach England mitgenommen habe?
– Ich, Herr Fogg! ... erwiderte Mrs. Aouda, ihr Herzklopfen unterdrückend.
– Haben Sie die Güte, mich ausreden zu lassen, fuhr Herr Fogg fort. Als ich den Gedanken hatte, Sie von dem Lande, das für Sie so gefahrvoll war, weit wegzuführen, war ich reich, und ich konnte darauf rechnen, einen Theil meines Vermögens zu Ihrer Verfügung zu stellen. Sie hätten
hier ein glückliches und freies Leben führen können. Jetzt bin ich ruinirt.
– Ich weiß es, Herr Fogg, erwiderte die junge Frau, und ich frage Sie meinerseits: Werden Sie mir verzeihen, daß ich Sie begleitet, und, wer weiß vielleicht durch Verzögerung zu Ihrem Ruin beigetragen habe?
– Madame, in Indien konnten Sie nicht bleiben, und Ihre Rettung war nur dann gesichert, wenn Sie weit genug entfernt waren, daß jene Fanatiker Sie nicht wieder in ihre Hand
bekamen.
– Also, Herr Fogg, fuhr Mrs. Aouda fort, nicht zufrieden, mich von einem schrecklichen Tode zu retten, hielten Sie sich auch für verpflichtet, meine Lage im Ausland zu sichern?
– Ja, Madame, erwiderte Fogg, aber die Ereignisse sind gegen mich gewesen. Doch bitte ich mir zu gestatten, daß ich mit dem Wenigen, was mir bleibt, zu Ihren Gunsten verfüge.
– Aber, Herr Fogg, was soll aus Ihnen werden? fragte Mrs. Aouda.
– Ich,
Madame, erwiderte kaltblütig der Gentleman, bedarf nichts mehr.
– Aber, mein Herr, wie sehen Sie denn das Ihnen bevorstehende Loos an?
– So wie es sein muß, erwiderte Herr Fogg.
– Jedenfalls, erwiderte Mrs. Aouda, dürfte ein Mann wie Sie nicht Mangel leiden. Ihre Freunde ...
– Ich habe keine Freunde.
– Ihre Verwandten ...
– Ich habe keine Verwandten mehr.
– Dann sind Sie zu
beklagen, Herr Fogg, denn Vereinsamung ist ein trauriges Loos. Wie? kein Herz, um Ihren Kummer in dasselbe auszuschütten.
Doch sagt man, für zwei Seelen sei selbst das Unglück noch erträglich!
– Man sagt es, Madame.
– Herr Fogg, sagte darauf Mrs. Aouda, indem sie aufstand und dem Gentleman ihre Hand reichte, wollen Sie eine Verwandte und Freundin zugleich! Wollen Sie mich zur Frau?«
Bei diesem Wort stand auch Herr Fogg auf. Seine Augen
erglänzten in ungewohntem Wiederschein, seine Lippen schienen zu zittern. Er sah Mrs. Aouda ins Angesicht. Die Offenheit, Geradheit, Festigkeit und Sanftmuth dieses schönen Blickes einer edlen Frau, die Alles wagt, um den zu retten, welchem sie Alles verdankt, machten ihn bestürzt, durchdrangen ihn. Er schloß einen Augenblick die Augen, als wolle er vermeiden, daß dieser Blick tiefer eindringe ... Als er sie wieder öffnete, sprach er einfach:
»Ich liebe Sie! Ja, wahrhaftig, bei allem
Heiligsten, was es giebt auf der Welt, ich liebe Sie, gehöre ganz Ihnen an!
– Ah! ...« rief Mrs. Aouda aus, die Hand auf dem Herzen. Auf den Ton der Glocke erschien Passepartout, während Herr Fogg noch die Hand der Mrs. Aouda in der seinigen hielt. Passepartout begriff, wie es stand, und sein Angesicht strahlte gleich der Sonne im Zenith der Tropengegenden.
Herr Fogg fragte ihn, ob es nicht zu spät wäre, Se. Ehrwürden, Samuel Wilson, den Pastor von Mary-le-Bone zu
rufen.
Passepartout sprach mit herzlichem Lachen: »Niemals zu spät.« Es war erst acht Uhr fünf Minuten.
»Für morgen, Montag! sagte er.
– Für morgen Montag? fragte Herr Fogg und blickte die junge Frau an.
– Für morgen, Montag!« erwiderte Mrs. Aouda.
Passepartout lief spornstreichs fort.
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