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Ludwig Ganghofer

Bergheimat

Der Schuß in der Nacht

eingestellt: 25.7.2007





Kaum einen Büchsenschuß vom Waldsaum stand das Haus meiner Eltern - das Forsthaus. Oh, ihr allzu nahen Bäume! Wie manche Portion wohlgesalzener Hiebe habt ihr mir eingetragen! Wenn ich da, ein achtjähriges Bürschlein, nach Hause kehrte, in zerkratzten Händen das ausgenommene Eichkatzl, die junge Nebelkrähe oder den flatternden, kaum flüggen Kuckuck schwingend, so galt der erste Blick meiner guten Mutter durchaus nicht dem erbeuteten Getier; forschend überflog vielmehr ihr Auge die Ellbogen meines Jöppchens und die Knie- und Sitzgegend meiner Unaussprechlichen. Weh mir, wenn da zutage kam, daß die allzu spitzen Aststümpchen oder die Pechnarben der erkletterten Tanne dem teueren Buckskin ein Leids getan. Heute noch seh ich sie vor mir, die gefürchtete, langriemige Peitsche mit dem Rehfußgriff, die zu unbenutzten Zeiten im Hausflur zwischen Gewehren und Rucksäcken am Zapfenbrett hing. Wurde sie dann, was glücklicherweise nicht allzu häufig geschah, durch die Hand ihres gestrengen Herrn vom Haken gelöst, so verkrochen wir uns in alle Winkel, ich, Hektor, der hochstämmige Schweißhund, und Bursch, der krummbeinige Teckel.



Jenen allzunahen Bäumen bin ich aber deshalb doch niemals gram geworden. Und heut noch gedenk ich ihrer in dankbarer Liebe. Strömte doch das geheimnisvolle Leben, das zwischen ihren weitgespannten Ästen und in ihrem moosigen Schatten webte und wirkte, jene unendliche Fülle grüner Poesie über die Zeit meiner frühesten Jugend aus! Wenn der Lenzwind leise durch die Wipfel plauderte und mit zischelndem Rauschen vom Waldsaum niederstrich über die rohrdurchwachsenen Teiche, wenn hoch in sonnigen Lüften der Weih seine stillen Kreise spannte, wenn aus den abenddunklen Buchen und Eichen das Gurren und Liebeslocken der Wildtauben klang, wenn im tauigen Wiesengrunde das schlanke braune Reh im Dämmerlicht zur Asung zog und der graue Reiher mit ruhigem Flügelzuge zu Horste strich - wenn dann erst die Nacht herniedersank über die weite Flur, wenn ich pochenden Herzens am offenen Fenster saß, dem eintönigen Lied der Unken lauschte und dem schauerlichen Huhn des Holimanns, der draußen im schwarzen Wald seine Kinder, die Käuzlein, zum Nachtgejaide rief, da trieb meine jugendliche Phantasie ihre Blüten, so seltsam und zahlreich, wie der Waldgrund seine Pilze treibt nach einer lauen Regennacht.



Und welch ein lautes, lustiges Jägerleben umgab mich im eigenen Hause! Da war der kiesige Hof mit den munteren, schmucken Hunden, da war der Wiesengarten mit dem Scheibenstand, an dem die Büchsen eingeschossen wurden, da war die Zwirchkammer, darin die erlegten Böcke, Füchse und Hasen an den schweißfleckigen Eisenhaken hingen, da sah man in allen Gängen und Gemächern Jagdgeräte und Jagdtrophäen - und wenn der Abend kam, dann saßen im traulichen Wohnzimmer rings um den Eichentisch die Jäger, hinter dem Bierkrug ihre Pfeifen schmauchend, und da gab es Jagdgeschichten, deutsch und lateinisch.



Was Wunder, daß in solcher Umgebung die Liebe zum waldfrohen Weidwerk in meinem Herzen bald eine dauernde Wohnstätte fand! Schon als kleiner Junge schlich ich mich, die hölzerne Arrnbrust - vulgo Balester - auf dem Rücken, hinaus in den Wald und schnellte meinen Lindenbolz nach dem kreischenden Häher in das Buchenlaub. Und welch ein Vergnügen, da ich das erstemal als Treiber zum Fuchsriegeln mitgenommen wurde oder auf den Anstand und zur Hühnerjagd! Mit welcher Inbrunst drückte ich das kleine Zimmergewehr an die Wange, mit dem ich überrascht wurde, als ich nach dem ersten Lateinschuljahr auf Ferien kam! Und als ich gar acht Jahre später mit dem roten Käpplein und einer guten Note heimzog, wurde ich vor Freude halb verrückt, als ich auf dem Tisch meines Ferienstübchens eine vollständige Jagdausrüstung, eine zierliche Büchsflinte und eine wahrhaftige Jagdkarte vorfand.



Nun gings aber an ein Jagern!



Tag und Nacht gönnte ich mir keine Ruh. Und als ich nur erst einen Rehbock mit der Kugel geschossen hatte, legte ich mich unter uns Jägern breit in den Tisch und lateinerte mit den graubärtigen Hubertusjüngern um die Wette. Meine Phantasie hatte damals, um mich eines beliebten Ausdrucks zu bedienen, alle Hände voll zu tun, damit es meinem Jägerlatein nur niemals an Stoff gebrach. Aber dann ist mir ein ganz seltsames Abenteuer wirklich und wahrhaftig widerfahren - ja, ja, ein recht seltsames Abenteuer!



Ein starkes Gewitter hatte mir die Frühpirsch verregnet. Als es aber neun Uhr vormittags wurde, ließ das Unwetter nach, die Sonne brach sich Bahn durch die treibenden Wolken, und in ihrer milden Wärme kräuselten sich blau und luftig die Wasserdünste aus den dunklen Wäldern. Da hatt ich jetzt ein Pirschwetter, wie es ein Weidmann sich nur wünschen mag.



Rasch nahm ich einen Imbiß zu mir, der mich das Mittagessen verschmerzen lassen konnte. Dann gings hinaus unter die regennassen Bäume, von denen der leichte Wind die schillernden Tropfen auf mich niederstäubte.



Lautlos gleitet zu solcher Zeit der Fuß des Jägers über den feuchten Waldgrund; da raschelt kein Laub, und unhörbar schmiegt sich das nasse Reisig unter dem Tritt ins weiche Moos.



Und welch ein reiches Leben umgibt zu solcher Stunde den unter triefenden Ästen spähend von Stamm zu Stamm sich schleichenden Jäger! Tausende von Käfern und flinkfüßigen Würmchen kribbeln und huschen zwischen den glitzernden Moosfasern und tropfenschweren Farnblättern hin und her; in gesteigertem Eifer reisen die fleißigen Ameisen durch die Rindenklunsen aller Bäume vom Grunde zu den Wipfeln und wieder niederwärts zur Erde; die Vögel, die sich während des Regens stumm und ängstlich unter die dichtesten Zweige duckten, recken und spreizen pispernd die nassen Flügel und schwingen sich zwitschernd von einem sonnigen Plätzchen zum anderen; unter Kreischen und Krächzen beginnen die Häher, diese Gassenbuben des Waldes, von neuem ihr lärmendes Flatterspiel. Da bockelt auch schon ein junges Häslein mit sorglosem Gleichmut, als gäb es weder Hund noch Jäger, über die vielverschlungenen Wurzeln dem Felde zu, manchmal sich verhaltend, um von dem winzigen Moosklee zu naschen; und die Rehe, die nun in dem nassen Buschwerk ein gar unbehagliches Weilen haben, recken windend die zierlich schönen Köpfe aus den Stauden und ziehen äsend nach den grasigen Waldwegen und Lichtungen, um sich in der Sonne zu trocknen.



Solche Lichtungen und Wege suchte ich schleichenden Fußes auf; und es währte auch nicht lange, da hatt ich schon einen Rehbock, der mir auf zwanzig Gänge über den Weg getreten war, in der unverzeihlichsten Weise gefehlt.



Durch dieses Mißgeschick - wir Jäger sagen Pech - war ich unmutig, ungeduldig und unvorsichtig geworden, so daß ich, als ich nachmittags vier Uhr an der weitentlegenen Jagdgrenze aus dem Wald auf die Wiesen trat, einen völlig erfolglosen Pirschgang hinter mir hatte.



Zu meinen Füßen im Tal, kaum zwanzig Minuten von der Stelle, an der ich stand, lag eine kleine Ortschaft, in der ich schon manchmal auf meinen Streifzügen ein paar Stunden hinter einem Kruge kühlen Sommerbieres gerastet hatte.



Im aufziehenden Winde hörte ich von der Kegelbahn des Wirtshauses her das Rollen der Kugel, das Poltern der fallenden Kegel und ab und zu ein lautes, mehrstimmiges Gelächter. Ich traf also jedenfalls da drunten eine lustige Gesellschaft, die mir recht willkommen schien, um mir den Unmut über mein Weidmannspech aus den Gedanken zu treiben.



Ich hatte Zeit bis sechs Uhr. Anderthalb Stunden brauchte ich dann für den Heimweg - und inmitten dieses Weges lag an der stillen Waldstraße eine vor wenigen Jahren erst neubebaute Windbruchfläche, die kreuz und quer von Wildwechseln durchzogen war. Da konnte ich vor Einbruch der Dämmerung noch eine Stunde ansitzen und, wenn Hubertus mir gnädig war, durch einen glücklichen Schuß das Mißgeschick des Morgens wieder gutmachen.

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