Frei Lesen: Die Trutze von Trutzberg

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Ludwig Ganghofer

Die Trutze von Trutzberg

3. Kapitel

eingestellt: 25.7.2007





In der niederen, aber sehr geräumigen Erkerstube der Trutzburg saß Herr Melcher mit seinen Gästen und Hausgenossen bei der Mahlzeit, die fast schon zu Ende war. Auf der weißen Tischleinwand, in deren roten Stickereien sich die Blumen, Tierbilder, Ornamente und Menschenfigürchen schwer voneinander unterscheiden ließen, standen nur silberne und zinnerne Becher von verschiedener Größe. Da hätte man vermuten können, daß die Mahlzeit nun erst beginnen sollte. Aber das, Weinfeuer auf den Gesichtern des Burgherrn, des Puechsteiners und des Jungherrn war verräterisch und erzählte von einer Tafelsitzung, die schon lange gedauert hatte. Jeder Zweifel wurde noch völlig entschieden durch einen Blick, der den Tischplatz des Herrn Melcher und seine der Tafel zugewandte Mannesbrust samt Halskragen einer kundigen Betrachtung unterzog. Schon ein flüchtiger Augenschein vermochte an untrüglichen Beweisen festzustellen: daß es eine Safransuppe gegeben hatte, geröstete Fische an Holzspießchen, junges Geflügel von zartem Knochenbau, Brunnenkresse mit gefärbten Eiern und Hasenläufe mit Hagebuttentunke. Doch von einer süßen Speise war noch keine verlorene Spur an Herrn Melcher oder in seiner Nähe zu gewahren. Also mußte diese Köstlichkeit erst noch kommen.



Mit dieser Tatsache hing der wunderliche Befehl zusammen, den die vor Zorn und Ärger spitznäsig gewordene Frau Angela einem Tafelknecht in das Ohr zischelte: »Für meinen Gemahl das Röhrlein!« Sie warf einen erbitterten Blick zu dem unverbesserlichen Missetäter hinüber. Verleitet durch die Nachwirkung der Sonntagspredigt von der Kraft des Willens, hatte sie vor der Mahlzeit sehr eindringlich mit Herrn Melcher gesprochen und unter Hinweis auf die Gäste ein Gefühl der Scham in ihm zu wecken versucht. Aber nie noch hatte er so grauenvoll gekleckst wie gerade heute. Frau Angela schien in gereiztem Mißmut zur Erkenntnis zu gelangen, daß sich für Herrn Melcher das Himmelreich der Reinlichkeit auch durch die Allmacht des heißesten Hausfrauenwillens nicht erfechten ließ. Er war sogar weit davon entfernt, ein schlechtes Gewissen zu verraten, legte sich mit breiten Ellenbogen über seinen Tafelplatz, erörterte in wachsender Weinhitze mit dem ihm gegenübersitzenden Korbin von Puechstein den Prozeß um den Jagdbann in den Seeforsten und machte geheimnisvolle Andeutungen über eine heilsame Lunte, die er unter den Diebsnasen der Brüder von Seeburg ins Bremseln bringen wollte.



»Die Lunt allein wirds nit tun«, meinte Herr Korbin, »da mußt du den Seeburgern erst die Nasenlöcher mit Pulver füllen. Aber ich sorg, sie werden schneuzen, eh du parat bist mit der Lunt.«



Außer den beiden Herren beteiligte sich niemand an diesem Wortgefecht. Frau Angela überwachte mit bösem Blick die Hantierungen der Tafelknechte, die neben dem Anrichtkasten die zierlichen Schüsselchen aus Buchsbaumholz mit einem Bäuschlein von Schachtelhalmen ausrieben und in einer großen Kupferwanne spülten. Frau Scholastika schwärmte stumm und mit glücklichen Augen ihren Gatten an und errötete stolz bei jedem derben Scherz, den er im Gespräch zu finden wußte. Der Wanderpfaff, der unter der Linde so mächtig geredet hatte, besaß jetzt keine Stimme mehr, nur noch eine schluckende Kehle und zwei aufmerksame, immer lauschende Ohren.



Sein Nachbar an der Tafel, der dreiundneunzigjährige Burgkaplan, schien sich mit Geduld der Beschäftigung des Wiederkauens hinzugeben. So sah es aus. Aber das ruhelose Gemummel seines Unterkiefers war nur eine ihm selber unbewußte Schwäche seines hohen Alters. Eine müde, hilflos in sich versunkene Gestalt, vom schwarzen Kuttenrock umschlottert, ein Runzelkopf, der das letzte Härchen schon längst verloren hatte, mit sanften, kindisch gewordenen Augen. Um seine Geisteskräfte war es schon übel bestellt. Predigen konnte er seit vielen Jahren nimmer, seit ihm die letzten Zähne ausgefallen waren. Bei der zunehmenden Schwäche seines Verstandes war von allen guten und starken Worten seines frommen Priestertums nur dieses einzige noch völlig hell in ihm zurückgeblieben: »Kindlein, liebet einander!« Doch wenn er so sprach, mußte man von früheren Zeiten wissen, wie es lauten sollte. Sonst verstand mans nicht. Halbwegs deutlich konnte er nur noch einsilbige Wörter herausbringen, zu denen man keine Zähne nötig hat, wie »Gott« und »Ach« und »Oh« und »Weh, ach weh!« Sooft er Ursache fand, ein solches Wort zu sagen, füllten sich seine rotgeränderten Kinderaugen mit großen Tränen, die immer lange in den tiefen Lidergruben hängenblieben, bevor sie über das weiße Runzelgesicht herunterkollerten.



Während der ganzen Mahlzeit hatte der Greis keinen Laut gesprochen, hatte nur immer hilflos, verlegen und dankbar vor sich hingenickt, wenn Hilde, die seine Nachbarin an der Tafel war, ihm die Speisen vorlegte, ihm das Fleisch zerkleinerte, ihm das Schüsselchen gegen die Brust rückte, ihn freundlich bediente und seinen Wein mit Wasser mischte.



Zwischen Schüssel und Schüssel, während die anderen Männer am Tische fleißig becherten, hatte er, tief in den Sessel zurückgesunken, immer dieses liebliche Mädchengesicht betrachtet, und sein stummes Kiefermummeln hatte sich verwandelt in ein Lächeln der Freude und des Wohlgefallens. Und weil er einmal wunderlich sehnsüchtig hinaufguckte zu den roten Nelken in Hildes Haar, zog sie eine der blutfarbenen Blüten aus ihrem Kranz und steckte sie dem erschrockenen Greis in ein ausgefranstes Knopfloch seines schwarzen Kuttenrockes. Als er darauf das Schüsselchen auslöffelte, darin ihm Hilde den Hasenbraten kleingerupft und mit Hagebuttentunke Übergossen hatte, hüllte er, während er mit der Rechten aß, die hohle Linke ängstlich über die rote Blume an seiner Brust.



Diesen Vorgang hatte Hildes Bräutigam und Seelengatte mit Ärger bemerkt. Er hielt in seinem zierlichen Geflüster inne, blieb schweigsam und ließ sich zweimal von einem Tafelknecht den hastig geleerten Becher füllen. Was in seinem Gesichte spielte, war nicht gut zu erkennen. Er saß mit dem Rücken gegen das Licht des Erkers, hatte Schimmerlinien um die starr von den Ohren abstehenden Blondsträhne und ein dunkel überschattetes Antlitz, in dem die großwimperigen Hummelaugen so heftig funkelten wie polierte Messingknöpfe.



Erst nach einer Weile wurde Hilde seines Schweigens gewahr und fragte lustig: »Eberhard? Schläfst du?«



»Ich wache, wie jene wachten, die mit brennendem Lämplein ihr Glück erwarteten.« Obwohl der Ärger und noch etwas anderes in ihm tobten, sprach er so höfisch zart wie immer seit Jahresfrist. »Ich schwieg nur, weil ich sinnen mußte über ein schmerzvolles Ding.«



»Schmerz?« Sie schien nicht zu verstehen.



»Ich bin in Fehde geraten mit meiner Jugend, muß meinen blühenden Jahren zürnen und mich getrösten mit dem Glück meines kommenden Alters. Da wirst du mir auch das Schüsselein behüten, das Becherlein füllen und für die Treue meines Herzens mit einer Blume danken.«



Sie betrachtete ihn verdutzt. Dann sagte sie heiter: »Ach, du! Sei froh, daß du junge, gesunde Hände hast, um dir selbst zu helfen. Alt sein, heißt warten müssen auf die Hilfe der anderen.« Der Klang ihrer Stimme wurde herzlich. »Wenn du von meinen Blumen haben willst, warum sagst dus nicht? Was mir gehört, ist alles dein.«



Hilde nahm drei Nelken aus ihrem Kranz. Er griff in gieriger Hast nach den Blumen und stammelte: »Alles mein!«



Als seine Faust ihre Finger umklammerte, fühlte sie die heiße Glut seiner Hand und fragte in ehrlichem Schreck: »Bist du krank?«



Unter dem Gebrüll, mit dem Herr Melcher gegen die bösen Brüder und Pergamentenschnüffler von Seeburg wetterte, fand Eberhard ein flötendes Gleichnis von einem blutenden Herzen und von Amors Pfeil.



Seine Brautgemahlin wurde ernst und sagte mit leisen Worten: »Ich fürchte, du hast zu schnell getrunken. Tu es mir zuliebe und trinke nimmer.«

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