Ludwig Ganghofer
Die Trutze von Trutzberg
6. Kapitel
eingestellt: 25.7.2007
Auf dem erschöpften Goldfuchs erreichte Lien im schwindenden Rotglanz des Abends den breiten und tiefen Graben, den der Bergbach durch die Hügel des Seeforstes gerissen hatte. Seine Sperberaugen fanden gleich die Fährte des Puechsteiners und seiner Geleitsleute. Beim Sprung in den rauschenden Bach spritzte das weiße Wasser hoch über den Reiter hinauf. Drüben, auf dem lehmigen Steilberg, drohte die Stute niederzubrechen.
Der Schäfer sprang ab und hielt das Pferd in der Höhe. »Wie, Rössl, sei noch gescheit ein lützel!« Ein paar Sprünge, und die beiden waren droben. Auf dem festen Moosboden schnellte sich Lien wieder auf den Gaul und trabte unter dem glühenden Himmel mit Lauschen und Spähen in den dämmernden Wald hinein. An den Hufrissen auf dem Grund, an geknickten Zweigen und gewendeten Birkenblättern erkannte er immer den Weg, den die Puechsteinischen
genommen hatten.
Der Wald wurde schütter. Lien konnte hinüberschauen zum anderen Rand des Bachgrabens und sah da drüben die grobmaschigen Wehrnetze stehen, mit weißen Flattertüchern, »Ei, guck, die Wildschnapper Hetzen wie ritterliche Herren!« Nun ritt er vorsichtig und langsam, sich immer deckend. Das tat er nicht aus irgendeinem klugen Gedanken. Er tat es, ohne zu wissen, warum – weil er einer von jenen Menschen war, die immer
das Richtige tun müssen, bevor sie darüber nachdenken.
Da drüben hinter dem Wehrnetz, das vom glühenden Himmel einen roten Schimmer hatte, tauchten flüchtende Rehe auf und verschwanden wieder. Ein Fuchs schnürte windend am Netz entlang. Bockelnde Hasen stellten sich zu unbewegt lichen Männchen auf, wurden wieder rührsam und sausten davon. Ein Mannsbild erschien und tauchte hinter einen Moosbuckel. Immer näher klangen die
Steckenschläge an den Bäumen und die näselnden Huplaute der Zutreiber, die schon in dichter Kette zu gehen schienen. Wirres Geschrei und Gelächter. Und ein Hirsch mit noch unfertigem Bastgeweih übersetzte in herrlicher Flucht das Netz, das nach den Landesgesetzen »nit höcher als eines gutgewachsenen Mannes Scheitel« sein durfte – nur so hoch, daß es die Hirsche noch überspringen konnten, die den Wildbretschüsseln des niederen
Adels entzogen und dem Jagdrecht des Herzogs und der Bischöfe vorbehalten waren.
Von solchen Weidwerksbräuchen wußte der Schäfer nichts. Drum plagte ihn auch kein Gedanke, der mit den Wunderlichkeiten dieser Stunde hatte rechnen müssen. Er sah die prachtvolle Flucht des Hirsches, sah das Wassersprühen im Bach, sah dag edle Tier heraushetzen über den Steilhang – und das war eine so schöne Sache, daß Lien für einen
herzklopfenden Augenblick nicht nur des Herrn von Puechstein, sondern auch aller Rehlein und Hasen des edlen Fräuleins völlig vergaß. Auch mußte er die Stute, die beim Vorüberprasseln des Wildes zu scheuen drohte, fest zwischen die Knie nehmen.
Als der Hirsch im Dickicht verschwunden war, lachte der Lien ein bißchen. Doch plötzlich wurde er wieder ernst und streckte lauschend den Kopf. Aus einer nahen Senkung des Waldes meinte er eine
knirschende Stimme vernommen zu haben, wie Herr Korbin von Puechstein sie hatte, wenn er zornig war.
Der Schäfer glitt von der Stute herunter und huschelte sich flink mit dem Gaul durch die Stauden. Er kam zu einem steilen Abhang. Und da drunten, auf der anderen Seite des Baches, vor einer aus den Waldhügeln flach in den Wassergraben herauslaufenden Sunke, war zwischen den Flanken der Wehrtücher der ausgebauchte Sack des Fangnetzes an Stäben aufgestellt.
Viele Rehe und Hasen zappelten schon in den engen Maschen, und immer neue wurden von der herandrängenden, aber noch unsichtbaren Treiberkette in den hänfenen Tod gesprengt. Grüngekleidete Jägerknechte und einer, der in herrischer Weidmannstracht auf einem Rappen mit flatterndem Schweifbusch und wehender Mähne saß, stachen unter fröhlichem Geschrei mit ihren langen Jagdspeeren in die von Leben wimmelnden Maschen des Netzes hinein. Die sinkende
Dämmerung umwob dieses Bild mit ihren grauen Schleiern.
Nahe vor dem Lien, hinter den Stauden der Waldsenkung, klang jene knirschende Stimme wieder: »Gotts Not und Elend! Die stechen dem Melcher das ganze Gewild zuschanden. Da kann ich auf Beistand nimmer harren. Wir müssen das Netz in Fetzen schlagen. Los!«
Fünf Reiter rasselten gegen den Bach hinunter, voraus Herr Korbin von Puechstein mit geschwungenem Eisen. Das Wasser
spritzte unter den zwanzig Hufen. Drüben ein wirres Gebrüll, ein Zusammenlaufen der Jägerknechte, ein Vorwerfen der blinkenden Spießklingen. Und im dunkeln Wald das Steckenklopfen und das näselnde »Hup hup!« der anrückenden Treiber.
Allen Lärm überschrillte die stahlharte Stimme des Puechsteiners: »Kerl, du! Schänder deines adligen Wappens! Was tust du da?«
»Was ich als Herr und
Edelmann schon allweil getan hab!« klang es mit höhnendem Lachen aus einer groben Kehle. »Und was nach Brief und Siegel mein Recht ist.«
»Nit Edelmann und Herr! Ein hundsföttischer Wildräuber bist du! Leut! Schmeißet dem Kerl das Diebsnetz über den Haufen!« Bei diesen Worten begann Herr Korbin mit dem blanken Eisen auf die Spannstränge des Fangnetzes einzuschlagen. Seine Leute taten es ihm nach. Die Wehrtücher
hüpften auf und pluderten auseinander. Die Holzstäbe zersplitterten, der mit zappelndem und erstochenem Wild angefüllte Sack des Fangnetzes wälzte sich über den Boden hin, die noch lebenden Tiere wurden frei, viele rannten frisch und gesund davon, manche mußten wanken und humpeln.
Als aus dem niedergerissenen Fangnetz die Garbe des befreiten Wildes auseinandergestoben war, hatte Lien über diese possierliche Sache lachen müssen. Doch
beim Anblick der vielen täppelnden Invaliden eines üblen Weidwerks wurde er von Erbarmen und Zorn befallen. Dabei gewahrte er, daß der Grüngekleidete auf dem Rappen seinen langen Jagdspeer fällte und gegen den Puechsteiner losrannte. In dem heißen Schreck, der den Schäfer um des edlen Fräuleins willen befiel, mußte Lien nun abermals etwas tun, ohne vorher zu denken. Ein flinker Schippenschwung. Der faustgroße Steinbrocken, den der
Schäfer aus dem Boden gestochen hatte, sauste pfeifend durch die Luft. Und in dem Augenblick, als Peter von Seeburg dem Puechsteiner den Jagdspeer zwischen die Herzrippen bohren wollte, machte der Angreifende einen sonderbaren Tunker über den Sattel hinaus. Die Speerspitze glitt nach abwärts, zerschnitt noch das Schenkelfleisch neben den stählernen Beinplatten des Herrn Korbin und viel zu Boden. Der Seeburger, dem ein dunkler Blutguß über die rechte Wange
herunterfuhr, stürzte seitwärts aus dem Sattel, wie von einem unsichtbaren Blitz erschlagen, und lag gleich einem unbeweglichen Stück Holz auf der Erde, während der reiterlos gewordene Rappe davonsauste.
Herr Korbin, durch die kreischenden Zurufe seiner Leute gewarnt, hatte den Gaul herumgerissen, um sich zu schützen. Er brauchte keinen Streich mehr zu machen, alle Arbeit zur Wahrung seines Lebens war getan. Ein bißchen verwundert senkte er das
Eisen, sah zu dem Unbeweglichen hinunter, in dessen blassem, von Blutfäden überronnenem Gesicht er den Tod erkannte, und sagte mit ruhigem Ernst: »Peter Seeburg! Heut hast du bei deiner unheiligen Sonntagsjagd einen kalten Hasen gefangen. Den kann dir auch eines Bischofs geschickter Koch nimmer aufwärmen. Gott soll dir gnädig sein da droben im Himmelreich, nach dem du wohl nit mit christlichem Willen getrachtet hast!«
Die Leute des Seeburgers
hatten unter Zorngeschrei einen Angriff wider die Puechsteinischen unternommen. Doch als sie ihren Herrn so wunschlos auf dem rotgefärbten Moosboden liegen sahen und das Eisengeklirr der drei Schwergewaffneten vernahmen, die mit dem Trutzbergischen Jäger durch den Bachgraben heranjagten, fühlten sie sich in der Minderzahl, bekehrten sich zu klagendem Frieden und versuchten den Erschlagenen vom Boden aufzurichten.
Herr Korbin gebot ihnen: »Tragt ihn heim
zu seinem fürsichtigen Bruder, der heut am Sonntag lieber gebetet hat, als daß er die Butterhasen des Melcher hetzte. Eure Waffen bleiben am Fleck. Für das erstochene Gewild wird sich der Trutzberger bei euch bedanken, weil ihr ihm eine Jägermüh erspart habt. Das Netzwerk pfänd ich. Macht, daß ihr weiterkommt! « Den hörigen Treibleuten brauchte, der Puechsteiner das gleiche nicht zu befehlen. Die waren schon im Zwielicht des Waldes wie graue
Schemen verduftet. Ganz schweigsam war es im Seeforst geworden. Man hörte außer dem Rauschen des Bergwassers nimmer viel.
Schweigend beugte sich Herr Korbin aus dem Sattel herunter und betrachtete die Schläfenwunde des Erschlagenen. Sie schien von einem Streithammer herzurühren, vom wilden, kraftvollen Stoß eines Schwertknaufes oder eines Speerschaftes.
Als der Seeburger von seinen Jägern davongetragen wurde, nickte der Puechsteiner seinen Leuten freundlich zu und fragte: »Wer hat mich erlöst von dem Kerl?« Weil die Knechte schwiegen,
fügte er bei: »Ders getan hat, soll guten Lohn haben. Viel Pfifferling ist mein Leben nit wert. Aber fehlts an Dukaten, so hat man auch den Heller noch gern im Sack.«
Nun gabs ein Erstaunen. Keiner von den Knechten hatte den erlösenden Streich getan. Das war geschehen wie ein unbegreifliches Wunder. Weder Herr Korbin noch einer von den Vieren, die bei ihm waren, hatte den Lien gesehen. Die Viere wußten nur, daß die Seeburgische Speerklinge
schon dicht neben der Herzstelle ihres Herrn gefunkelt hatte. Auch der Trutzbergische Jäger und die drei Schwergewaffneten hatten des Schäfers längst vergessen. Der zählte nicht.
Herr Korbin lachte: »Solls geschehen sein, wies will! Dem Himmelreich wär ich für heut entronnen.«
Da lallte der Jäger, der die Kieferstarre noch nicht völlig überwunden hatte: »Jesus, Herr, Euch tröpfelt das
Blut vom Schenkel.«
Nun erst entdeckte der Puechsteiner, daß er verwundet war. Er stieg vom Gaul. In der sinkenden Dämmerung ließ er sich die Beinplatten abschnallen und den durchlöcherten, mit Blut getränkten Strumpfschlauch herunterziehen. Eine spannenlange Fleischwunde ging schief über die Außenseite des Oberschenkels hin. Der Schnitt, obwohl er heftig schweißte, hatte kein bedenkliches Aussehen. Als Herr Korbin ein paar
Beugbewegungen mit dem Bein machte, gehorchten alle Muskeln und Sehnen. Er sagte: »Eine Läpperei! Das wird bei meiner guten Heilhaut in drei, vier Tagen überstanden sein!«
Einer von den Knechten holte Wasser in seinem Eisenhut. Man wusch die Wunde, verband sie mit der seidenen Schärpe des Herrn Korbin, nestelte den Strumpfschlauch wieder an den Gürtel und schnallte die Stahlplatten drüber. Während dieser Kur des blessierten
Ritters war rings um ihn herum in der Dunkelheit des Abends ein stummes Gezappel und ein lautloser Todeskampf der durch die Seeburgischen Speerstiche verwundeten Rehe, die nimmer von der Stelle kamen. Denen verband man die Wunden nicht; der Jäger des Herrn Melcher Trutz erlöste sie von ihren Leiden.
Ohne Hilfe konnte der Puechsteiner in den Sattel steigen. »Schafft das Netzwerk, die Waffen und das erstochene Wild zum Jägerhaus! Meine Knechte bleiben als
Wache dabei und halten Ausguck nach der Seeburg! Am Morgen soll man alles hinaufkarren zum Trutzberg!« Er wandte den Gaul und winkte dem ältesten seiner Knechte. »Du, Veit, mit mir!«
Zwischen den schwarz werdenden Waldsäumen und unter einem Himmel, der seine schöne Blutfarbe zu verlieren begann, ritten die beiden durch den Bachgraben davon. Bevor Herr Korbin das Pferd über den Hang hinauflenkte, wandte er das Gesicht und murrte
verdrießlich: »Das ist abgelaufen wie eine Kirchweih ohne Geigen und Blatterpfeif.«
Es ärgerte ihn, daß ihm die Arbeit dieses Abends so leicht geworden. Der Gedanke an den verewigten Peter von Seeburg bedrückte ihm keine Faser seines Gewissens. In den zwanzig Jahren seiner Söldnerdienste und Kriegsfahrten war ihm, was Menschenleben hieß, eine billige Ziffer geworden. Und der Friedensbruch des Erschlagenen war unleugbar. Beim
Gerichtshandel wird es sich auch erweisen lassen, wie es mit dem Seeburger zugegangen. An einen wundertätigen Engel, der mit einer Gottesbüchs aus dem Himmelreich heruntergeschossen, glaubte Herr Korbin nicht. Es wird wohl der Peter Seeburg bei einem scheuenden Sprung seines Gaules aus dem Sattel gepurzelt sein? Und ein Stein oder Wurzelknorren hat ihm die Schläfe zerschlagen?
So oder so, für den überlebenden Bruder des Erschlagenen wars eine Lehr
und Warnung. Der wird die Hasen und Rehe des Melcher von heute an in Ruhe lassen. Aber klagen wird er – bei Herzog und Reich – und verlieren! Kann auch Krawall machen, morgen den Fehdebrief schicken und nach drei, vier Tagen anrücken mit dem Seeburger Leuthaufen. Beim Gedanken an diese Wahrscheinlichkeit verbesserte sich der üble Humor des Puechsteiners. Das brächte ein bißchen Abwechslung in die Langweil dieser blumensatten Frühlingswochen.
Als Herr Korbin vom Waldsaum auf den das Moor durchziehenden Straßendamm einlenkte, spähte er durch die tiefe Dämmerung prüfend nach den Giebeln und Turmspitzen seiner Burg.
Eine Heimat war ihm das halbzerfallene Mauerloch da droben noch nie gewesen. Viel zu halten war da nicht. Es fehlte an allem. Rückt der Heini von Seeburg an, so wirds keine vier, fünf Tage dauern, bis der rote Hahn auf dem Puechsiein sitzt und seinen Feuerschrei
hinausgackert in die Nacht. Ein hartes Ding! Wird aber auch sein Gutes haben! Kommt schlechtes Wetter und regnets dem Mädel in das dachlos gewordene Bettlein, so muß man auf dem Trutzberg eine flinkere Hochzeit halten. Und liegt das liebe Kind unter dem Trutzbergischen Betthimmel, so kann Herr Korbin an die Donau reiten, wo man Männer gegen die Heiden braucht – oder sonst wohin, wo ein rechtschaffener Handel los ist. Die Toten haben nur ein einziges Himmelreich. Für
die Lebenden gibts einen Himmel überall, wo eine feste Mannesfaust ihren Wert hat.
Der ruhige Ernst dieser Rechnung wurde für Herrn Korbin durch einen heiteren Gedanken unterbrochen. Gingen die Dächer des Puechsteins in Rauch und Flammen auf, so mußte doch auch Frau Schligga bei ihrem vermählten Kind auf dem Trutzberg hausen. Frau Schligga und Frau Engelein als Gegenschwiegerinnen unter dem gleichen Dach! Katz und Hündlein am gleichen
Bändel! Bei aller Sanftmut, deren Frau Scholastika fähig war, konnte sie auch eine streitbare Seele erweisen, wenn es herging um das Glück ihres Kindes oder um das Ansehen ihres fernen Gatten. »Gotts Teufel! Da wirds Funken und Scherben geben! Die zwei geraten einander in die Zöpf, daß die Haar fliegen! und der gute Melcher hockt zwischen drinnen, tröpfelt sich an und weiß nit, zu welcher er halten soll.«
Herr Korbin lachte
bei diesem Gedanken so lustig in die tiefe Dämmerung hinaus, daß der alte Veit seinen Ritter verwundert anguckte.
Graue Nebel hingen über dem Moor. Nur gegen Westen war noch ein rötlicher Schimmer, als wäre dort der ferne Himmel überzogen von einem langen Glutstreif. Von diesem neblig verschleierten Rotschein hob sich plötzlich der schwarze Umriß eines Pferdes ab.
»Was ist da?« Der Puechsteiner
griff nach dem Eisen, wurde aber gleich wieder ruhig. Der Gaul war ohne Reiter, hielt den Kopf gesenkt und hing mit dem Zügel an einem Weidenast. Erst dachte Herr Korbin an den Rappen des Seeburgers. Beim Näherreiten erkannte er die Fuchsstute seiner Tochter. Der Frauensattel mit der zerrissenen Gurte lag nebenan auf der Straße.
In einer Sorge, wie sie sonst seinem Herzen nicht geläufig war, schrie der Puechsteiner den Namen seines Kindes in die sinkende
Dunkelheit.
Von irgendwo aus dem Nebel heraus, über hundert Schritte her, kam mit klingender Stimme die Antwort: »Nit ängsten, Herr! Das edel Fräulen ist gut daheim!«
Nun lachte Herr Korbin und fragte seinen Knecht: »Der da schreit? Wer ist denn das?«
»Irr ich nit, so ist es der Lieni, Herr! Der Trutzbergische Schäfer. Ist ein verläßlicher Bub.«
»So? Nimm den Gaul! Und flink! – Was muß es denn da gegeben haben?«
Diesen Wortwechsel und den Hufschlag der drei Pferde konnte der Schäfer nimmer hören. Er rannte über den feuchten Bruchboden hin, daß unter seinen Sprüngen das Wasser aufklatschte. Für solche Eile hatte er zwei gute Gründe: er wollte einer Frage entrinnen, die er nicht gern beantwortet hätte, und mußte heim zu seinem schutzlosen
Pferch.
Wulli, der seinen Herrn kommen hörte, begann wie irrsinnig zu kläffen und zu winseln, verließ aber doch das offene Türlein des Pferches nicht, weil die Schafe sonst wieder ausgebrochen wären. Auch die Herde schien zu fühlen, daß irgend etwas an diesem Abend nicht ganz in Ordnung war; statt zu rasten, trampelten die Tiere blökend und aufgeregt in der Hürde herum. Sie wurden erst ruhig, als Lien das Pferchgatter
geschlossen hatte.
»Sind alle drin? Hast du keins vergessen, Wulli?«
Weil der Hund nicht suchen wollte, wußte Lien, daß kein Stücklein der Herde sich verlaufen hatte. Nun wurde Wulli gelobt. Närrisch tollte der Hund an dem Schäfer hinauf. Der fing ihn plötzlich, mit dem Arm um den Hals herum, drückte die Wange an Wullis Schnauze und blieb so eine Weile stehen, wortlos, ohne sich zu rühren. Der Hund hielt diese
ungewöhnliche Sache geduldig aus; als er seine Freiheit hatte und wieder auf allen vieren stand, zuckte er mit den Ohren und spähte staunend dem Schäfer nach, der langsam zum Karren hinüberging. Gut war sein Herr wohl immer zu ihm gewesen – zärtlich nie. Nach diesem Rätsel kam aber gleich wieder etwas Verständliches, etwas Gewohntes, das sich an jedem Abend ereignete, solange die schimmligen Brotlaibe der Frau Angela dazu ausreichten. Lien saß im
Nebeldunkel auf der Deichsel des Karrens, und Wulli hockte vor ihm, mit dem Kopf auf dem Knie des Schäfers, welcher Scheiblein um Scheiblein vom Laib heruntersägte, immer das eine dem Hunde hinbot und das nächste selber speiste. Bei diesem Vorgang war Wulli sehr guter Laune und dennoch ein bißchen zerstreut. Von der Tatsache, daß im Kalender ein Sonntag stand, an dem sich eine Christenseele, was Besonderes vergönnen durfte, hatte er wohl kaum eine klare
Vorstellung. Aber seine Nase verriet ihm, daß heut im Schäferkarren viel feinere Dinge vorhanden waren als Frau Engeleins Schimmelbrot. Warum holte der dumme Lien die Köstlichkeiten der Margaret nicht heraus?
Immer schnupperte Wulli gegen das offene Karrentürchen. Der Schäfer blieb für die Klugheit seines Hundes blind, hatte Sonntag, Schmalzkrapfen und Selchfleisch völlig vergessen, zerbiß das trockene Brot und war ernst, schweigsam
und nachdenklich.
Ein Mensch? Das war doch schließlich was anderes als ein Wolf, den man lachend niederschlägt, wenn er eins von den Schafen reißen will. Immer wieder rieselte dem Lien in der lauen Frühlingsnacht etwas Kaltes über den Nacken, durch das Herz, durch alle Glieder. Dabei wußte er aber: wenn es heute nicht geschehen wäre, und es käme morgen so, dann müßte ers wieder tun! Man kann doch dem edlen
Fräulein von Puechstein nicht den Vater niederstechen lassen wie ein Osterschwein! Und sie hats doch haben wollen, »Hilf meinem Vater!« Hätte ers nicht getan, so müßte sie, wenn sie die Herrin auf dem Trutzberg wird, zu ihm sagen: »Du bist ein treuloser Knecht! Geh mir aus den Augen! Ich such mir einen besseren Schäfer!«
Lien drehte langsam den Kopf und sah zum Pferch hinüber – etwas Heißes und Schmerzendes
fing in seiner Seele zu brennen an. Aus dieser Qual erlöste er sich mit einem Lächeln: »Ich bin doch gehorsam gewesen! Ich muß doch bleiben dürfen!«
Freilich, böse Dinge würde es absetzen! Als der Grüngekleidete den Sturz aus dem Sattel getan, da hatte Lien verstanden, gegen wen er den Stein geworfen. Und hatte sich im ersten Schreck mit der Fuchsstute heimlich davongestohlen. Wenn Herren hadern, wird allweil ein Knecht zum
Sündenbock. Die Großen brocken ein, die Kleinen müssen austunken. Aber solls nun kommen, wies mag! Es war geholfen. Was ging ihn das andere an? Und daß es der Lien getan? Hat das einer gesehen? Die Steine, die dem Lien von der Schippe sausen, sieht man nicht fliegen in der Luft. Sie treffen nur. Und verständig den Schnabel halten, das heißt noch lange nicht: Lügen.
Schwer atmend schob der Schäfer zur großen Enttäuschung
des Wulli den Brotlaib in den Karren. Das Nachtmahl war kürzer gewesen als sonst.
»Genug, Wulli! Jetzt muß man schlafen. Leg dich!«
Gehorsam streckte sich der Hund zwischen den Karrenrädern in das Heidekraut.
Auf der Deichsel stehend, reckte sich Lien und lauschte hinüber gegen den im Nebel unsichtbaren Seeforst. Der Wald war still. Nur das Bachwasser rauschte. Und aus weiter Ferne klang undeutlich
das Bellen zweier Füchse, die auf den Fährten der wundgestochenen Rehe zu jagen begannen.
In dicken Schwaden zog der Nebel über den Moorboden hin. Gegen die Höhe wurde er dünner und ließ zuweilen den zerflossenen Schimmer eines großen Sternes heruntersickern. Lien entkleidete sich und schlüpfte in den Karren. Als er in dem engen schwarzen Käfig auf den Wolfshäuten lag, bekreuzigte er das Gesicht, faltete über der
Brust die Hände und betete drei Vaterunser für eine arme Seele, deren Namen er dem lieben Herrgott nicht nannte. Droben im Himmelreiche würden sie schon wissen, wen er meinte. Er betete langsam und sehr gewissenhaft. Das machte ihn ruhiger. Und die Müdigkeit schenkte ihm bald einen Schlaf, der freilich von mancherlei schweren Träumen ein bißchen gestört wurde. – – –
Um die gleiche Stunde glänzten auf dem Puechstein,
der sich hinaushob über den ziehenden Moornebel, zwei erleuchtete Fensterchen wie rote Augen in die von zahllosen Sternen durchfunkelte Frühlingsnacht. Neben den zwei hellen Fenstern war etwas tiefer ein drittes, das nur einen matten, kaum noch erkennbaren Schimmer hatte.
Es war das Fenster von Hildes winziger Schlafkammer, in die aus dem Ehegemach der Eltern ein sechsstufiges Wendeltrepplein herunterführte. Durch die offene Tür fiel eine zuckende Helle
herein und warf einen Lichtstreif über die weißgetünchte Mauer hin. Davon bekam die Kammer einen milden Dämmerschein, in dem alles Gerät wie von zartem Schleier umhangen schien: die Fenstertruhe mit Spinnrad und Stickrahmen, zwei Holzschnitte an der Erkerwand, der kleine Webstuhl in der Ecke, die Feuerhöhlung, das Bänklein mit Waschbecken und Handzwehle, das Stühlchen mit dem sorgsam ausgeglätteten Gewand, ein kleines, aus Kupfer gegossenes Kreuzbild
und das kurze, von linnenen Vorhängen umfältete Bett, in dem Hilde seit drei Jahren nimmer ausgestreckt, nur mit aufgehuschelten Knien liegen konnte.
Jetzt lag sie nicht. In ihrem blaßblauen Nachtkleide, über das die zwei aufgenestelten Zöpfe lang herunterhingen, saß sie zwischen dem Kissen und der aus Lammsfellen zusammengestückelten Bettdecke und streckte in erregtem Lauschen das Köpfchen gegen die offene Tür.
Da droben im Ehegemach der Eltern redeten Vater und Mutter immer von der Schenkelwunde, die Herr Korbin als »Läpperei«, Frau Schligg unter Tränen und Seufzern als »unbegreifliches Versäumnis der göttlichen Fürsicht« bezeichnete. Mit allen Aufgebot ihrer ärztlichen Hausfrauenkunst hatte Frau Scholastika die Wunde gereinigt, mit Harzpflaster überklebt und frisch verbunden. Aber noch immer wußte sie nicht, wie ihr Gemahl
in diesen »schrecklichen Zustand« geraten wäre. Herr Korbin wollte nicht reden, wollte vorerst seinen Durst und Hunger stillen. Und Ruhe wollte er haben, um alles Nötige für die nächsten Tage bedenken zu können.
»Ach, Mann, so red doch!« bettelte Frau Schligg unter neuen Tranen. »Die Angst erwürgt mich ja schier! So sag doch, was im Seeforst geschehen ist!«
»Meinetwegen!« Der
Puechsteiner war verdrießlich. »Die Neugier ist bei den Weibern allweil das Stärkste. Und erfahren mußt dus ja doch. Hängt der Teufel den Schwanz in die Welt, so merkt man, daß er Borsten hat.« Ein Lachen. Und der Deckel einer zinnernen Weinkanne klapperte. Dann dämpfte sich die Stimme des Herrn Korbin. »Das Mädel schlaft wohl schon? Geh, Schligg, und mach die Tür zu!«
Hilde sah die Mutter im Rahmen der
niederen Tür erscheinen, bekleidet mit der weitfaltigen, gelben Schlafkutte, das Haar von einem verblichenen Seidenhäubchen umschlossen. Aber wie Frau Schligga so dastand, im Schatten der starken Helle, erkannte man an ihr keine Farbe mehr. Ganz schwarz war sie und warf ein verzerrtes Schattenbild über die beleuchtete Mauer des Kämmerchens. Als sie die Türe zuziehen wollte, flüsterte Hilde mit zerdrückter Stimme: »Laß mich hören, Mutter! Ich tu
mich doch gerad so um den Vater sorgen wie du!«
»Nit erschrecken!« rief Herr Korbin unter gemütlichem Lachen. »Was jung ist, muß tapfer sein. Es genügt, wenn ich deine Mutter heulen seh. Die Tür kann offen bleiben. Komm, Schligg, setz dich her zu mir!«
Die Tränen bezwingend, mit dem festen Willen, tapfer und vor allem noch ein bißchen jung zu erscheinen, wandte sich Frau Scholastika in das Zimmer zurück, das erleuchtet war von einer lebhaft flackernden Talglampe. Den halben Raum nahm das mächtige, grün und gelb überhimmelte Ehebett ein, in welchem Herr Korbin trotz seiner Magerkeit die größere Hälfte für sich beanspruchte. Seine Kleider lagen wirr umher, und auf einem Schemel stand neben dem Verbandzeug noch die Kupferschüssel mit rotgefärbtem Wasser. Die gespreizten Beine von grobem Linnlaken bedeckt, in einem Hemd mit mürbhängender Halskrause, saß Herr Korbin in seiner anspruchsvollen Betthälfte, hatte den hohen, zinnernen Weinkrug neben sich auf dem Dielboden stehen und hielt auf dem Schoß einen flachen Holzteller mit Weißbrot, Käse und kaltem Fleisch.
Behaglich kauend, das Trockene immer fleißig befeuchtend, erzählte er von des Seeburgers rechtswidriger Klopfjagd im Seeforst.
»So was leidt man nit. Ich bin doch des Melchers redlicher Freund. Rechte Freundschaft muß durch Feuer und Wasser springen. Sonst ist sie ein Hennenmist.« Er zog mit den Fingern das weiße Fleisch von einer Hühnerbrust. »Kannst dir denken, wie ich dem Kerl das Netz in Scherben geschmissen hab!« Lachend schob er den Bissen zwischen die festen Zähne und redete beim Kauen weiter: »Der Seeburger, natürlich, der will mich anrennen mit dem Jagdspeer –«
»Jesus!« stammelte Frau Schligg erblassend.
»Närrlein, ich leb ja doch! Aber das ist nit mein Verdienst. Ich hör die Gesindleut schreien, wend mich und will mich wehren. Da macht der Seeburger einen Torkler aus dem Sattel, und sein Eisen läppert mir neben den Stahlplatten noch ein lützel über den Schenkel her. Dann ist der Peter von Seeburg dagelegen. Wies geschehen ist, weiß ich nit. Von den Knechten hats keiner getan. Tät ich an Wunder glauben, so müßt ich sagen: der junge David ist als ein Unsichtbarer vom Himmelreich heruntergehupft und hat sein Goliwatstückl wieder aufgespielt.« Herr Korbin griff nach der Weinkanne und tat einen Trunk. »Mags sein, wies will. Wärs geschehen um einen Schnaufer später, so tätst du heut heulen müssen, Schligg, mit gutem Grund. Jetzt tust dus ohne triftige Ursach.«
Die beiden hatten aus dem Kämmerlein keinen Laut vernommen, keinen Klapp eines nackten Fußes. Sie sahen nur plötzlich, daß Hilde auf der Schwelle stand. In dem weiten und langen Schlafkittel, mit dem bleichen Gesicht und den großen, heißglänzenden Augen war sie anzuschauen wie ein ekstatisches Nönnlein.
»Vater?«
Herr Korbin guckte verwundert sein Mädel an, in der einen Hand ein Rinkelchen Weißbrot, in der anderen ein Hühnerbein. »Kind? Was ist denn los?«
»Hast du ihn nit gesehen, Vater?«
»Wen?«
»Den Starken, der geholfen hat, wie der Seeburger dich erstechen hätt mögen?«
»Was für ein Starker solls denn gewesen sein?«
»Ein junger David.«
»Ach, geh, du Märleinspinnerin!« Erheitert lachte der Vater. »Red nit so närrisches Zeug! Oder meinst du am End den Lausbuben von Schäfer? Der ist doch gar nit dabei gewesen. Beim Sträßl im Bruch, da hat er dein Rössl an eine Staud gebunden. Und aus dem Nebel hab ich ihn schreien hören: ich sollt nit Sorg haben, mein Kindl wär gut daheim.«
Hilde atmete tief und nickte. Ihre glänzenden Augen sahen ins Leere, während in ihrem verstörten Gesichtchen ein irrendes Lächeln erwachte.
»Tu dich schlafen legen! Und komm –« Herr Korbin stellte den Holzteller in die leere Betthälfte hinüber und säuberte an seinem Hemd die Finger. »Gib deinem Vater noch einen Schmatz zur guten Nacht!«
Lächelnd kam sie. Auf der Bettkante sitzend, hing sie an seinem Hals. Er küßte ihr Haar, ihre Stirn, ihre Wange, wiegte in seinen Armen diesen feinen, knospenden Mädchenleib, beschloß seine Zärtlichkeit mit einem festen Klaps und sagte lachend: »Mädel, ich kanns dem jungen Trutz nit verargen, daß er dich knutschen möcht. Bist ein holdseliges Bröcklein! Jetzt geh schlafen, steh morgen mit Lachen auf und sei gescheit! Gelt, ja?«
Sie nickte. »Gut Nacht, herzlieber Vater!« Mit ihrem träumenden Lächeln ging sie lautlos davon und tauchte hinunter in das Zwielicht ihres Kämmerchens.
Inzwischen war Frau Scholastika blaß und wortlos in der Stube umhergegangen. Um ihre Tränen zu verheimlichen und das untapfere Zittern ihrer Angst zu überwinden, machte sie Ordnung im Ehegemach und wollte das rotgefärbte Wasser, das in der Kupferschüssel war, durch ein offenes Fenster hinausgießen. Sie mußte die Augen schließen, um das fertigzubringen: daß sie mit dem Wasser auch ihres Mannes Blut hinunterschüttete ins Bodenlose der Nacht. Sie hätte schreien mögen vor Weh und Sorge, als sie das Wasser in der Tiefe klatschen hörte.
Herr Korbin in seiner größeren Betthälfte streckte sich behaglich. »Komm, Weibl! Trenz nit so lang umeinander!«
Schweigend drückte sie an Hildes Kämmerchen die schwere Türe zu, und mit der rechten Hand sich bekreuzigend, stülpte sie mit der Linken das Kupferhütchen über die Flamme der Talglampe.
Die Stube wurde schwarz. In den zwei offenen Fensterluken flimmerten die kleinen Sterne wie goldene Nadelspitzen.
Ein erschrockenes Flüstern: »Aber Korbi! Denkst du denn nit an dein wehes Bein?«
»Das tut nit weh.« Der Puechsteiner lachte. »Und wenn! Wie weher einem ist, um so besser schmecken die lieben Sächlein des Lebens. Nit Zeit versäumen. Alles Irdische hat einen kurzen Schopf.«
»Mann, ach, Mann, mich erwürgt die Angst! Der Peter Seeburg ist erschlagen –«
»Gott geb ihm die ewige Ruh!«
»Und allweil denk ich in Sorg, was kommen wird!«
»Laß kommen, du Zitterhäslein! Was kommt, ist allweil anders, als wie mans hofft oder fürchtet. Der Wanderpfaff hat ein Maul ohne Hirn. Nie kommt, was die Dummen aus schwachem Willen erschreien. Es kommt nur, was kommen muß. Und was ein Starker erzwingen kann.« Wieder lachte Herr Korbin. »Gelt, ja? Dich zwing ich noch!«
Was Frau Schligga noch stammeln wollte, erlosch unter den Küssen ihres Mannes. Ein heißer Trunk des Vergessens betäubte in ihr jeden Sorgenschrei.