Ludwig Ganghofer
Die Trutze von Trutzberg
9. Kapitel
eingestellt: 25.7.2007
Den gleichen Fluchttrieb, von dem die Schafherde befallen war, hatte der Puechsteinische Reiter auch in die Gehöfte der hörigen Bauern geworfen. Da begann in jedem Hag ein Rennen und Hasten, ein zorniges Schelten der Männer und ein grillendes Geschrei der Weibsleute. Jetzt kam das »Himmelreich«, von dem ihre sehnsüchtigen Christenseelen bei der Predigt des Wanderpfaffen geträumt hatten. In Wirklichkeit sah es
wesentlich anders aus, als es in ihren Träumen sich angesehen hatte. Da wars gewesen wie ein hoher Feiertag im Schlaraufenland, mit Tanz und lustigem Frieden, mit vollen Geldsäckeln und wunschlosem Magen, mit dem Duft gebratener Ochsen und mit dem lieblichen Geplätscher des aus unerschöpflichen Brunnen strömenden Weines. Das Himmelreich, das nun zu kommen drohte, hatte den Vorgeschmack von rinnendem Blut, den Geruch von brennenden Häusern und das grinsende Gesicht
aller Lebensnot.
Mit dem wirren Stimmengekreisch der Männer und Weiber mischte sich das Geplärr der Kinder, das Brüllen der Kühe, das Gackern, Geschnatter und Flügelschlagen des Federviehs. Man fing die Hennen, Enten und Gänse von den Misthaufen weg und sperrte sie in hohe Körbe, die aus Stroh oder Weidenruten geflochten waren. Mit Stricken knüpfte man die Rinder an den Hörnern zusammen, die Ziegen an den Hälsen, die Schweine und Ferkel an den Füßen. Den armseligen Hausrat lud man auf die Karren; Gewand, Geschirr und Nahrungsmittel wurden in die Waldsäcke gestopft.
Nur an dieser Habe, die man schleppen und treiben konnte, hing die Sorge der Flüchtenden. Ein heimatliches Hängen an den bedrohten Dächern, die sie jetzt verlassen mußten, kannten sie nicht. Diese Häuser und Hütten waren für die Armen, die da wohnten, ein unsicheres und häufig wechselndes Lehen und waren, wie die Ställe und Scheunen, Besitz des Burgherrn, der diese Dächer, wenn ein Feind sie niederbrannte, neu wieder aufbauen mußte. Statt sein Haus zu lieben, dachte der hörige Bauer: ein frisches Dach hält den Regen besser aus als ein morsch gewordenes, und für das Vieh ist ein neuer Stall gesünder als ein alter. Doch die fahrende Habe, die sein Eigentum war, konnte Raubgut der feindlichen Söldner werden. Und übel mußten die Mannsleute sich sorgen um ihre Mütter und Bräute, um ihre Weiber und Töchter. Man kriegt nicht gern ein Kind, von dem es schwer zu erraten ift, wem es gleichschaut. Die Greise, die halbwüchsigen Buben, die Weibsleute und Mädchen hoben die Säcke und Körbe auf den Rücken, nahmen die schreienden Kinder an die Hand, begannen die zusammengekoppelten Viehhaufen zu treiben und die Karren zu schleppen, flüchteten gegen die verläßlichen Schlupfwinkel der Berge und beteten dabei mit Inbrunst, daß der liebe, barmherzige Gott keinem anderen den Sieg verleihen möchte als Herrn Melcher Trutz und dem Ritter Korbin von Puechstein.
Die rüstigen Mannsleute und die wehrfähigen Burschen gaben den Flüchtigen unter klugen und törichten Ratschlägen das Geleit, bis die bergenden Wälder begannen. Dann kehrten sie um und zogen mit ihren Hauswaffen und Schanzwerkzeugen zur Burg ihres Herrn hinauf. Hier langten sie gerade rechtzeitig an, um die Heimkehr des Trutzbergischen Kriegsgottes und die Ankunft der Puechsteinischen Auswanderer mitzuerleben. Es war ein langer Zug, der sich über die vielen Schlangenwindungen des steilen Burgpfades heraufbewegte. An der Spitze dieses halb kriegerisch und halb friedsam ausschauenden Heerwurmes ritt Herr Melcher, wieder umfunkelt von seinen Waffen, auf dem Haupt die springende Katze, mit dem ernsten Blick eines sorgenvollen, seiner Verantwortung tief bewußten Feldherrn. Diesen Führerposten hatte er gewählt, damit er als erster in die Burg käme und vor dem Eintritt der Puechsteinischen Gäste noch Zeit hätte, den voraussichtlich sehr heftigen Zorn der Frau Angela zu beschwichtigen.
Neben der Tatsache, daß er ihren ausdrücklichen Wünschen zuwidergehandelt hatte, mußte er ein bedrohliches Aufbrennen ihrer Reizbarkeit noch aus einem zweiten Grunde befürchten. Seinen Schwur, auf dem Puechstein weder zu essen, noch zu trinken, hatte er treulich gehalten. Solche Gewissenhaftigkeit war ihm dadurch erleichtert worden, daß es Frau Scholastika in ihrem Kummer und bei der Plage des flinken Packens völlig übersehen hatte, dem Gast einen Trunk oder Bissen anzubieten. Und dennoch hatte Herr Melcher sich ganz entsetzlich bekleckert. Beim Ausritt aus dem Puechstein hatte in der Torhalle die springende Katze seines Helmes einen mit Kalk gefüllten Kübel vom Mauergesims heruntergestoßen, und von der Schulter war ihm der weiße Farbstrom über Küraß, Waffenrock und Beinschienen bis auf den Sporn geronnen. Eigentlich sah das gar nicht unsauber aus. Es hatte nur den Anschein, als wäre der grimme Kriegsgott zur linken Hälfte in einen weißen Friedensengel verwandelt. Daß auch der Scheck, auf dem er geritten kam, von dem Kalkregen was Erkleckliches abbekommen halte, das merkte man gar nicht, weil der Gaul ohnehin schon mit weißen Sprenkeln versehen war.
Hinter Herrn Melcher kamen die von des Puechsteiners hörigen Bauern geführten, von Ochsen und Kühen gezogenen Karren, jeder hoch beladen mit Truhen, Hausrat, Geschirr, Weinfässern, Mehlsäcken, Waffen, Kugelbeuteln, Gewand, Schmalztöpfen, Pulverkisten und Käsekorben. Das Wertlose war in der verlassenen Burg zurückgeblieben, nur das Beste hatte man mitgenommen, und dennoch sah diese Karrenreihe aus wie der Umzug eines Trödelmarktes. Einen grotesken Anblick bot der letzte der Karren, den man auf Frau Schliggas inständige Bitten mit ihrem mächtigen Ehebett beladen hatte. Weil es der Länge nach auf dem Karren keinen Halt gefunden, hatte man es senkrecht auf die Fußwand stellen müssen. Aus Bettzeug, Kissen und Linnlaken aufragend, umweht von den grünen und gelben Fähnchen seines Himmels, kam es angewackelt wie eine jener lustigen Faschingskanzeln, die in den Städten am närrischen Dienstag umhergefahren werden. Es fehlte nur der Narr mit seinen zynischen Knittelversen. Freilich, beim Aufladen im Hof des Puechsteins hatte Frau Scholastika mancherlei Späße vernehmen müssen. Unter Tränen hatte sie den Spott der üblen Stunde geschluckt. Was den Scherz der anderen weckte, war für sie eine Schatzkammer der verzettelten Seligkeiten ihrer entschwundenen Jugend, ein Perlenschrein der ungezählten Tränen, die sie aus sorgenvoller Sehnsucht nach dem immer fernen Gatten vergossen hatte in tausend einsamen Nächten, und das zärtlich behütete Heiligtum ihres neu erblühten Spätglückes, für dessen Erhaltung sie in jeder Stunde einen verschwiegenen Schrei zum Himmel schickte.
Im Gefolge dieses letzten Karrens, der für Frau Scholastika der einzig zählende war, meckerten die Ziegen und grunzten die Schweinchen einher, die von der alten Schloßhauserin Barbara und der jungen, hübschen, rothaarigen Magd Pernella getrieben wurden. Auf dem Rücken der beiden Weibsleute flatterten die Hennen und Enten in den hohen Weidenkäfigen.
Nun kam Herr Korbin geritten, auf einem zahmen Gaul seines Söldnerstalles, mit einem schmerzhaften Ausdruck im heißen Gesicht und doch belustigt durch das komische Bild der eigenen Armut, die da auf Reisen ging. Er trug seine schwersten Waffen; nur das verwundete Bein war ohne Stahlplatten und umwickelt mit linden Tüchern.
Zu beiden Seiten des Puechsteiners ritten Frau Scholastika und Hilde mit blassen Gesichtern und feuchten Augen, in den gleichen Kleidern, die sie an dem schönen Sonntagsmorgen bei der Predigt des Wanderpfaffen getragen hatten. Statt des Kränzleins aus roten Nelken saß der Hut mit den zwei Schwanenfedern auf dem Braunhaar des Fräuleins. Immer hingen die Blicke der beiden in tiefer Sorge an dem lachenden Reiter. Und sooft das ungetüme Ehebett auf dem letzten Karren einen bedrohlichen Wackler machte, erschrak Frau Scholastika bis tief ins Herz und streckte die Hand, als müßte sie stützen und helfen.
Die drei, die erst auf halber Höhe des Burgwaldes ritten, konnten das Tor und die Mauer noch nicht sehen. Aber sie hörten das Geknatter und Gerassel, mit dem die Zugbrücke herunterfiel. Heiter sagte der Puechsteiner: »Jetzt wird Frau Engelein vor Schreck einen Purzelbaum schlagen und aus der Haut fahren. Hoffentlich hat sie eine andere zur Hand, die ihr paßt. Sonst muß sie als geschundene Heilige durchs Leben wandern.« Er sah die gequälten Gesichter seiner Frau und Tochter an und lachte wieder. »Meine zwei lieben Weiblein, nehmt das Ding nit so hart! Wir reiten einer flinken und lustigen Hochzeit entgegen. Wird Frau Engelein zum Vorspiel ein lützel grob, so muß mans schlucken mit Heiterkeit. Sie kann nit anders. Alles ist und bleibt, wies Gotts Weisheit erschaffen hat.« Den Schritt des Pferdes verhaltend, drehte er den Kopf. Hinter ihm kamen die Geleitsknechte des Herrn Melcher, die paar Söldner und der alte Torwärtl des Puechsteiners; sie waren neben der eigenen Wehr, die sie trugen, noch mit allem Waffenzeug beladen, das man auf den Karren nimmer untergebracht hatte. Freundlich nickte Herr Korbin den Leuten zu und rief: »Ein lützel langsamer! Herr Melcher wird Zeit brauchen zum Turnei mit seinem Hausvergnügen.«
Im gleichen Augenblick vernahm man vom Tor herunter das Hufgepolter des schweren Schecken auf der Brücke.
Der halb zum Friedensengel gewordene Kriegsgott ritt in die Trutzburg ein. Seine Augen guckten ein bißchen scheu. So blicken die Feiglinge, wenn sie wissen, daß sie in die Nähe des Feindes geraten.
Im großen Hofe waren schon beim Anmarsch der hörigen Bauern alle Grünroten zusammengelaufen, und Jungherr Eberhard war eben dabei, die Dorfleute in die Losamente der Schützengänge zu verteilen. Ein aus Aufregung und Heiterkeit gemischter Stimmenlärm erhob sich beim Eintritt des bekleckerten Burgherrn und beim Erscheinen des ersten Plunderkarrens.
Im dunklen Spitzbogentor des Herrenhauses tauchte Frau Engelein auf.
Melcher Trutz zu Trutzberg bekreuzigte die Nase, die man als fürstlich bezeichnen konnte, weil sie Purpur trug. Mit einer für seine Leibesfülle sehr ungewohnten Eile schwang er sich aus dem Sattel, klirrte auf seine Hausehre zu und machte beschwichtigende Zeichen mit der Eisenhand, die zwei stählerne Haken an Stelle der verlorenen Finger trug. Bevor er noch reden konnte, schlug Frau Angela schon die Hände über dem Kopf zusammen. Der Schreck, den sie über die grauenvolle Bekleckerung ihres Ehegemahls empfand, war so sinnverwirrend, daß sie die durch das Tor hereinholpernden Plunderkarren gar nicht zu gewahren schien.
»Ja, Mann! Ja, Mann! Wie siehst du schon wieder aus! Wo hast du denn Kindermus gegessen?«
»Sei versöhnlich, Weibl!« stammelte Herr Melcher. »Ich hab meinen Schwur gehalten, hab auf dem Puechstein nit gegessen und nit getrunken. Aber der Mensch entrinnt seinem Schicksal nit.« Er guckte an sich herunter. »Das ist kein Kindermus, meine gute Angela! Das ist geloschener Kalch.«
»Jesus, Jesus!« klagte die Trutzbergerin. »Kalch ist doch wie Feuer für alles, was Faden heißt.« Gleich begann sie am Waffenrock ihres Gemahls zu rippeln und hatte Tränen in den Augen, »Richtig, schau nur, da brechen schon die Löcher hinein.« Sie richtete sich auf, wollte ihrem Gatten etwas sehr Hartes ins Gesicht sagen, blieb aber stumm und bekam ein gelb verzerrtes Gesicht, weil sie die mit Hausrat beladenen Karren gewahrte und im Sonnenschein außerhalb des Torbogens das ungetüme Ehebett der Puechsteinischen mit der grünen und gelben Himmelsfahne heranwackeln sah.
Herr Melcher sagte herzlich: »Guck, Weibl! Du bist doch in Sorg gewesen, wer das viele Wildbret verschlucken soll, bevor es überständig wird. Jetzt kriegen wir liebe Gäst. Die helfen uns speisen. Wirst sehen, da bleibt nichts übrig.«
Einem Weinkrampf nahe, begann Frau Angela die überkochende Schale ihres Zornes auf die noch unbekleckerte Hälfte des Gatten zu entleeren. Sein Waffenrock bekam davon keine Flecken, aber sein Gesicht nahm eine blaurote Färbung an. Mit dem Stahlhaken, der ihm den verlorenen Zeigefinger ersetzte, faßte er seine Hausehre am Brustlatz und sagte sehr schnell und kräftig: »Weib! Die jetzige Stund ist allzu ernst, als daß ichs mit dir zu tun haben möcht. Ich hab mir viel gefallen lassen mein Leben lang. Beschämst du mich jetzt vor Freund und Gesind – da könnts geschehen, Weib, daß ich mich aller schuldigen Ehrfurcht entschlag und so kotzenmäßig und saugrob mit dir umspring, wie dus von mir in dreißig geduldigen Jahren nie noch erfahren hast!«
Frau Engelein stand wie versteinert. Da bekanntlich den Steinen die Gabe der Sprache versagt ist, ließ auch die Trutzin von Trutzberg, obwohl ihr Mund sich ein bißchen zu bewegen anfing, keinen merkbaren Laut vernehmen.
Wesentlich anders als auf die Hausehre des Herrn Melcher wirkte der Einzug der Puechsteinischen auf Hildes Bräutigam und Himmelsgatten. Den lustigen Lärm, den die im Hofe versammelten Menschen bei dem Gegaukel des aus der Torhalle heraustauchenden Ehebettes erhoben, schien Jungherr Eberhard nicht zu vernehmen. Ein hurtiger Wechsel seelischer Wallungen führte ihn durch Verblüffung, Scham, Verlegenheit und ratloses Zaudern, bis in seinem leichtbeweglichen, auf das Himmelreich eines beschleunigten Glückes gerichteten Christenwillen eine neue Hoffnung zu keimen begann. Sich flink aus einem berserkerischen Kriegsmann in den höfisch gezierten Galan verwandelnd, sprang, er zur Brückenhalle hinüber, riß am Fensterlein der Wärtlstube die roten Blüten von den Blumenstöcken, fügte sie zu einem hübschen Sträußchen, schmiegte sich unter dem Tor an den einmarschierenden Ziegen und Ferkeln vorüber und stand inmitten des verklärenden Sonnenschimmers auf der Zugbrücke, als Herr Korbin mit Frau und Tochter geritten kam.
Die Puechsteinerin gab sich alle Mühe, freundlich zu schauen. Und Herr Korbin sagte lachend: »Jungherr, mir deucht, der Seeburger hat nit bloß für deinen Vater das Wild ins Garn getrieben. Er treibt auch deiner ungeduldigen Sehnsucht das flinke Glück an den Hals.«
Durch dieses Wort ermutigt, tänzelte Eberhard mit zierlichem Schritt auf die Fuchsstute seiner Seelengattin zu, faßte den Zaum des Pferdes, küßte den Steigbügel, machte eine höfische Reverenz und bot seiner Braut die roten Blumen mit dem schnellgefundenen Verslein: »Meine Treu, ergeben frumm, bietet mit Blumen den Willekumm. Schönste der Schönen! Tu mich begnaden mit gütigem Blick! Tu mich belehnen mit Lieb und Glück!«
Aus Hildes Gesicht verschwand die Blässe, die ihr der Kummer dieser Stunden und die Sorge um den Vater auf die Wangen gegossen hatte. Ein heißes Brennen rann ihr vom Halse hinauf bis unter die Löcklein an Stirn und Schläfen. Das glich aber nicht dem holdseligen Erröten einer glücklichen Braut. Fast war es wie ein Glühen in Scham und Zorn. Und während sie ihren Bräutigam mit den großen, in Tränen schwimmenden Augen stumm betrachtete, war in ihrem Blick ein fremdes, erschrockenes Staunen und ein ratloses Suchen nach etwas Verlorenem, das sich nimmer finden ließ.
»Mädl!« mahnte Herr Korbin ungeduldig. »Laß die zimpferliche Kinderei und nimm die Blumen! Hast du deinem Bräutigam wegen des Späßleins auf dem Taubenturm noch nit verziehen, so denk der herzlichen Güt, die Herr Melcher uns bietet. Guck auf! Da steht das Tor deiner künftigen Heimat. Zieh friedsam ein!«
Unter irrendem Lächeln, das der erzwungenen Heiterkeit einer leidenden Seele glich, streckte Hilde die Hand und wollte die roten Blumen nehmen. Da kam ein Hindernis. Hinter den Herrenleuten erhoben die Söldner auf ihren scheuenden Gäulen einen unmutigen Spektakel; man hörte das heisere Gekläff eines Hundes; und nun fingen auch die Pferde des Herrn Korbin, der Frau Scholastika und des Fräuleins zu bocken an, was auf der immerhin breiten, aber geländerlosen Zugbrücke auch für tapfere Seelen keine angenehme Sache war. Drohte da auch kein Todessturz, so drohte doch ein unerquickliches Bad in dem nicht sehr reinlichen Wasser des Torgrabens. Herr Korbin haschte die Zügel des Schimmels und der Fuchsstute. Das tat er unter grimmigen Flüchen, obwohl er den Pferden die bockende Unruhe nicht verdenken konnte. Unter ihren Bäuchen kam mit Geblök und Gemecker, mit Wackelbuckeln und Klunkerschwänzen eine dicke, wilde Sache über die Brücke gefahren, ähnlich einem weißwollenen Teufel. Es waren die hundertzwanzig von der Herde des Schäfers ausgesonderten Schlachtschafe, getrieben und gehetzt vom Wulli. Der kümmerte sich in seiner Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit nicht um Menschen und Gäule, nicht um Söldner und Herrenleute, sondern hußte die Schafe in das Burgtor, wie sein Schäfer es ihm drunten beim Forellenbach befohlen hatte.
Mitten unter dem Wollgewimmel klapperten die drei Puechsteinischen Pferde in die Torhalle hinein. Und Eberhard, um von dem rasenden Klunkerteufel nicht über die Brücke hinausgestoßen zu werden, klammerte sich schleunigst an den Schwanz von Frau Scholastikas Schimmel und sah sich gerettet. Aber die schönen, roten Willekummsblümchen waren verschwunden.
Im Burghof gab es nach dem überstandenen Schreck ein befreiendes Gelächter. Sogar das Fräulein von Puechstein wurde ein bißchen heiter. Doch immer huschten ihre Augen suchend umher, als wäre es für sie eine schwerbegreifliche Sache, einen Schäferhund ohne Schäfer gewahren zu müssen.
Unter den mahnenden Blicken des Herrn Melcher lief der Empfang der Gäste durch die Burgherrin glimpflich ab. Freilich war Frau Engeleins gallenfarbene Höflichkeit noch immer ausreichend, um die Augen der Puechsteinerin mit Tränen zu füllen.
Für diese wenig feierliche Empfangszeremonie hatte Wulli kein Interesse. Er tat, was seines Amtes war und drängte die hundertzwanzig Schafe in ihren Winterstall. Trotz allem Gewühl, das mit Menschen, Gäulen, Vieh und Karren den Burghof füllte, entging ihm nur ein einziges der ihm anvertrauten Herdenkinder, ein alter, bockbeiniger Hammel, der vor der Stalltür immer wieder auskniff, um sich unter die Karren und zwischen die Röcke der kreischenden Weibsleute zu flüchten. Während Wulli hinter dem Ausreißer herkläffte, konnte er die herzliche Fürsorge nicht beachten, mit der das Fräulein von Puechstein und der weißgestreifte Kriegsgott den hinkenden Ritter Korbin über die Steinstufen zum Herrenhaus hinaufgeleiteten; konnte nicht sehen, wie ängstlich Frau Scholastika das Abladen ihres mächtigen Perlenschreins behütete, dem die heiter zuguckenden Bauernburschen einen sehr unehrerbietigen Namen gaben; und konnte nicht vernehmen, daß Frau Engeleins zornschrillende Stimme einen höchst bedrohlichen Aufruhr innerhalb des geheiligten Burgfriedens zu entzünden drohte.
Die mühsam erzwungene Selbstbeherrschung, die sie unter den drohenden Funkelblicken ihres Gemahls betätigt hatte, ging plötzlich in die Brüche, als sie die junge Puechsteinische Magd, die hübsche, runde, rothaarige Pernella entdeckte. Wurde Frau Angela um der roten Haare willen abergläubisch? Oder hatte sie noch andere Ursache, tragische Verwicklungen vorauszuahnen? Wie eine Rasende fuhr sie auf das erschrockene Mädel los und kreischte: »Hinaus! Die soll nit eingehen unter meinem sauberen Dach! Der geb ich den Weg zu meinen Stuben nit frei! Die soll sich nit umwargeln in meinen ehrsamen Betten! Hinaus mit der rothaarigen Föhl! Hinaus! Hinaus!«
Im ersten Schreck wollte Pernella gegen die Torhalle flüchten und Reißaus nehmen, mitsamt den Hennen und Enten, die sie in dem Weidenkäfig noch auf dem Rücken trug. Da sperrte eine lebendige Mauer von etwa vierzig Mannsbrüsten ihren Fluchtweg. Sei es, daß der grausame Gemütsumschlag der Burgherrin das menschliche Erbarmen in den Herzen des dienenden Mannsvolkes weckte; sei es, daß die Söldner und Bauernburschen die rote Haarfarbe Pernellas für minder gefährlich hielten und weniger abergläubisch waren als Frau Engelein; oder sei es, daß die Kriegsmänner, die ihr Blut und ihre Haut zu Markte tragen sollten, ein rundes, hübsches Gesicht mit jungen Augen als nötig zur Stärkung ihrer Tapferkeit erachteten – so oder so, es blieb der Trutzin die unliebsame Erkenntnis nicht erspart, daß die vom Seeburger drohende Fehde ihren Anfang nahm mit einer lärmvollen, zwischen Zorn und Heiterkeit baumelnden Meuterei im eigenen Burgfrieden.
Es erhob sich ein so schreiender Tumult, daß ihn sogar der halbtaube Burgkaplan in seinem Pfaffenstübchen vernehmen mußte. Sein verstörtes Gesicht erschien in dem kleinen Turmfenster, er streckte die beiden Arme heraus, machte beschwichtigende Gesten mit den Händen und bewegte dabei den zahnlosen Mund, als müßte er wieder einmal predigen: »Kindlein, liebet einander!«
Von dieser frommen Mahnung verstand man im Lärm des Hofes keinen Laut. Hier brüllte ein halbes Hundert von rauhen Männerstimmen: »Das gute, schuldlose Mädel soll bleiben! Die Brück hinauf! Die Brück hinauf!« Und weil der Torwärtl nicht gleich gehorchen wollte, sprang ein Dutzend der entschuldbaren Aufrührer zur Kettenwinde und begann die Fallbrücke hochzuziehen.
Das geschah in dem gleichen Augenblick, in dem der Schäferhund den eigensinnigen Hammel glücklich in den Winterstall hineingebissen hatte. Nun rannte Wulli auf der Suche nach seinem Herrn zum Tor, jagte über den schon halb emporgezogenen Brückenboden hinauf und beförderte sich durch einen waghalsigen Sprung ins Freie. Für ein paar Sekunden glich der tapfere Wulli einer riesenhaften Fledermaus. Das tolle Heldenstücklein des Schäferhundes wirkte auf die Meuterer so belustigend, daß ihr Aufruhr sich in Heiterkeit verwandelte. Ehe sie des Lachens noch satt wurden, war Wulli schon im Burgwald verschwunden, raste über das Waldgehänge hinunter zum Forellenbach und sauste auf der Fährte seines Herrn davon, den nahen Bergen entgegen.
Die rotgewordene Sonne wollte schon sinken, als Wulli, inmitten eines steil aufsteigenden Waldes, plötzlich herumgerissen wurde wie vom Zug einer unsichtbaren Kette. Dieser Tag der Unbegreiflichkeiten gab ihm eine neue Rätselnuß zu knacken. Mit lechzender Zunge und unter heftigem Pumpen seiner Flanken blieb er stehen und betrachtete ratlos die geheimnisvolle Welthälfte, die vor ihm lag. Die andere Hälfte, die hinter ihm in der Tiefe geblieben war, ging den Wulli nichts mehr an, seit die Schlachtschafe im Stall waren. Was galt ihm der lärmvolle Trutzberg und der stille Puechstein im roten Blutglanz des Abends? Was kümmerten den Wulli die herdenlos gewordenen Bruchböden der Heide und die zwei starken, von Staub umwirbelten Kriegshaufen, die vom Seeforst langsam über die beiden Moorstraßen heranzogen? Ihn beschäftigte nur die unerklärliche Tatsache, daß die Fährte des Lien durch den Wald hinüberzulaufen schien nach dem Puechstein, während die Herde unverkennbar zwischen den Spuren von anderem Vieh und vielen Menschen bergauf und gegen die Almen gezogen war.
In wachsender Seelenbedrängnis schlapperte der Hund mit Lefzen und Nase über die geheimnisvolle Sprache des Bodens hin. Je länger er schnupperte, je weiter er im Zickzack hin und her revierte, um so unerklärlicher wurde die Sache. Daß Lien beim Anblick der nahenden Kriegshaufen den Rest seiner Herde dem Fluchtschwarm der Hörigen anvertraut hatte und wie ein Sinnloser gegen den Puechstein gesprungen war – dieses völlig Undenkbare konnte dem Wulli doch nicht einfallen! Es stimmte nur für seine Nase: daß Lien ein treuloser Schäfer geworden und die Herde verlassen hatte.
Wahrhaftig, Wulli befand sich in der Zwangslage, schlecht von seinem Herrn denken zu müssen, und ließ in Kummer die beiden Ohren schlappern. Aber wie es Mütter gibt, die ihre guten Kinder vernachlässigen und mit doppelter Zärtlichkeit an mißratenen Söhnen hängen, so gibt es auch Schäferhunde, die in Verzweiflung und wider besseres Wissen einem zum Verbrecher gewordenen Hirten in wandelloser Treue ergeben sind. Wulli wußte ganz genau, daß sein Platz bei der verlassenen Herde war, deren klagendes Geblök noch deutlich von der Höhe des Bergwaldes herunterklang. Weil aber der verlorene, irrsinnig gewordene Schäfer doch auch nicht ohne hilfreichen Beistand bleiben durfte, und weil doch Wulli an diesem Rätsel- und Unglückstage der amtsgemäßen Heldentaten schon sehr viele geleistet hatte, ließ er in dem neuerlichen Kampfe zwischen Pflicht und Liebe die letztere siegen und stellte die Ohren wieder auf. Wie es in Sachen der Liebe häufig zu geschehen pflegt, schien auch Wulli zu denken: Einmal ist keinmal! Und schien der Meinung zu sein, daß ein Verbrechen aus Liebe um so entschuldbarer ist, je schneller es begangen wird. Gleich einer fliegenden Pelzkugel sauste er seitlich durch den Bergwald und erreichte das offene, unbetreute Tor des Puechsteins, bevor die Sonne sich in einen glühenden Igel verwandeln und hinter den brennenden Hügelgrat mit den zum Himmelreich weisenden Feuerfingern hinunterkriechen konnte.
Wie ein verzaubertes Märchenschloß, offen, doch menschenleer, schweigsam und doch erfüllt von redenden Geheimnissen, stand die schon etwas zerbröckelte Puechsteiner Burg im triefenden Blut des Abends. Ihre zweifelhaften Schätze waren bewacht von einer einzigen vergessenen Henne und von etlichen Tauben, die unbeweglich auf Turm und Firsten saßen. Ein leiser Schauer hätte jedes Menschenkind beim Eintritt in dieses rotglühende, von gespenstigen Schatten durchwirkte Schweigen befallen. Doch Wulli, unbewandert in allem, was Märchen heißt, empfand weder Staunen noch Gruseln. Seine Nase fuhr über das grobe, löcherige Pflaster hin. Winselnd schlug er Haken und Kreise und verlor immer wieder die Spur seines Herrn, obwohl sie auf den Pflastersteinen so frisch zu erschnuppern war, als hätte Lien diese langen Sätze durch den Burghof jetzt eben erst gemacht.
Daß der irrsinnig gewordene Schäfer in der Hast seiner Sorge gleich fünf Stufen des zum Herrenhause führenden Holztreppleins übersprungen hatte – auf solch eine vernunftwidrige Vermutung konnte Wulli unmöglich verfallen. Was hatte der Schäfer im Herrenhause zu suchen? Ein Hund ist klüger, als Menschen sind, und denkt immer logisch. Drum sauste Wulli durch die leeren Ställe, durch die verlassenen Söldnerstuben und wollte, um sich auf der Rückfährte von der Verläßlichkeit seiner Nase zu überzeugen, wieder zum Brückentor hinausjagen. Da klang von irgendwo die hallende Stimme eines Unsichtbaren: »Edel Fräulen ... edel Fräulen ... edel Fräulein ...« Und Wulli, alle Logik mißachtend, nur der Liebe und seinem Ohr gehorchend, rasselte über die steilen Treppen des öden Herrenhauses hinauf, surrte durch verwüstete Stuben, übersprang den wertlosen Plunder, der auf den Dielen umherlag, kam in ein Ehegemach, aus dem das Ehebett verschwunden war, und kam zu dem Trepplein, das hinunterführt in Hildes Kämmerchen.
Unglaublich, aber es stimmte: hier war der Lien! Beim Anblick des Heißgesuchten wurde plötzlich in Wulli das böse Gewissen viel stärker als die Freude des Wiedersehens. Was hat ein Schäferhund, der zur Herde gehört, beim Fräulein von Puechstein zu schaffen? Ganz klein und still geworden, duckte Wulli sich mit fieberndem Bauch und hängender Zunge auf den Boden hin, staubte mit der ruhelosen Schweifquaste die Türschwelle ab und betrachtete vorwurfsvoll diesen unbegreiflichen Lien.
In dem kleinen Raum, durch dessen Fensterchen noch ein blutfarbener Feuerschein der sinkenden Sonne hereinfiel, stand der Schäfer unbeweglich, berührt von einem lähmenden Zauber. Halb wie ein Jäger und halb wie ein Kriegsmann sah er aus, mit der Schäferschippe als Speer, mit dem Wolfseisen am Gürtel, mit der Armbrust über dem leeren Waldsack. Nach dem schweren Schreck, der ihn beim Anblick des verödeten Burghofes befallen hatte, kam er, trotz seiner langsamen Art zu denken, nun doch der beruhigenden Wahrheit auf die Spur: daß Herr Korbin und die Seinigen sich vor dem nahenden Feinde hinter die festen Mauern der Trutzburg gerettet hatten, und daß dieses verlassene Kämmerchen die Schlafstube des Fräuleins von Puechstein war. Langsam zog er das Hütl herunter und hielt es an seine Brust gedrückt, als stünde er in einer Kirche. Nun ließ er sich gar aufs Knie fallen und bekreuzigte das strenge, erhitzte Gesicht. Während er betete, sah er nicht zu dem kleinen Kreuzbild an der Wand hinauf, sah nur immer das alte, viel zu kurze Bettlein an, das ohne Kissen und Decken war und nur noch einen Strohsack und einen weißleinenen Himmel hatte.
Nun erhob er sich. So stehen Menschen auf, die was Notwendiges zu tun haben. Sein Blick huschte durch den kleinen Raum. Was mußte er da noch in Sicherheit bringen, bevor die Seeburgischen kamen? Die Bettlade? Auf dem Trutzberg haben sie Betten genug. Auch Truhen und einen Webstuhl hat Frau Angela, und Spinnräder und Garnhaspel. Sie hat auch ein Kreuzbild in jeder Stube. Aber ein Menschenkind soll den Herrgott nicht im Stich lassen, mit dem es zu reden gewohnt ist. Könnt sein, daß das edel Fräulein seinen Herrgott nötig hat in den nächsten Tagen.
Mit flinker Hand nahm Lien das kleine, plump aus Kupfer gegossene Kreuzbild von der Wand und schob es in seinen Waldsack.
In der Fensternische sah er zwei Bilder hängen. Wenn das edel Fräulein hier auf der Truhe sitzt und spinnt, da muß sie doch allweil die zwei Bilder sehen und muß sie liebhaben. Die wird sie missen, wenn sie auf dem Trutzberg den Faden zieht. Die müssen mit.
Es waren zwei Holzschnitte in Rähmchen aus Birkenholz, das die weiße Rinde noch hatte. Jedes ein Doppelbild, Freude und Not aus dem Leben eines jungen Weibes. Das eine Bild zeigt eine gepanzerte Jungfrau, die inmitten vieler Ritter einem knienden König die Krone auf die Locken setzt; und darunter ein flammender Holzstoß, auf dem eine junge, schöne Hexe im Ketzerhemde verbrannt wird. Das andere Bild zeigt einen höfischen Tanz, bei dem die Reihe der festlichen Paare geführt wird von einem fürstlichen Jungherrn und einem schmucken, feinhälsigen Bürgermädchen; und darunter ein Strom und eine Brücke, auf der sich viele Menschen drängen, und in den Wellen schwimmt eine junge Frau, streckt hilfesuchend die Hände, und zwei Henkersknechte fassen sie mit langen Stangen am reichen Haar und stoßen sie unter das Wasser. Unter jedem Doppelbilde stand ein Name: »Joanne Darc« – »Frau Nese Bernauerin«. Aber der Schäfer konnte nicht lesen. Während er die zwei Bildchen, mit den Gesichtern gegeneinander gekehrt, in seinen Waldsack schob, vernahm er aus dem Tal herauf einen dumpfen Lärm. Er guckte zum Fenster hinunter. »Höi! Jetzt hats aber Eil!« Flink faßte er die Schippe und sprang über das Trepplein hinauf. »Komm, Wulli!« Es schien für den Schäfer eine selbstverständliche Sache zu sein, daß der Hund da auf der Schwelle lag. Und Wulli, von der Last des bösen Gewissens erlöst, ließ seine Freude toben und warf mit dem Ungestüm seiner Liebe den Schäfer beinahe zu Boden.
Über die steilen Treppen hinunter – das war wie eine Schlittenfahrt. Durch den kühl und dunkel gewordenen Hof zur offenen Torhalle, in der man ein rotglühendes Stücklein des Himmels sah. Draußen legte der Schäfer die Schippe, den Waldsack und die Armbrust in eine Staude. »Wulli! Das tust du mir hüten! Bist du nicht treu, ich reiß dir die Ohren vom Grind!« Und in das Tor zurück. Man kann doch nicht dem Fräulein von Puechstein die Burg so stehenlassen, offen für jeden Seeburgischen! Lien drehte mit keuchender Hast die Kettenwinde und zog die Brücke hinauf. Draußen winselte der Wulli. Unter den vielen Hanfstricken, die vom Packen der Plunderwagen noch umherlagen, wählte der Schäfer den längsten. Zur Mauerkante hinauf! Das Seil um eine Zinne, so wie der Trutzbergische Burgkaplan beim Predigen die Stola um den mageren Hals hat! Zwischen den beiden Seilsträngen rutschte Lien über die Mauer hinunter, wie ein Marder über einen Baumstamm zu Boden fährt. Das Seil riß er hinter sich her, weil ers drüben auf dem Trutzberg wieder nötig hatte; da wird doch die Brück schon in der Höh sein; die laßt man doch, wenn schon die Seeburgischen herumschnufeln, nicht wieder herunter, nur weil der Lien hineinwill.
»So, Wulli, jetzt komm!«
Durch den dämmernden Wald hinunter. Das ganze Tal war schon erfüllt von Lärm und Hufgetrappel. Gleich zwei grauen, fliegenden Schatten jagten Schäfer und Hund über das Sträßlein und über die nebelnde Wiese, dem Saum des Trutzbergischen Burgwaldes entgegen. Zornige Stimmen schrien den Buben an. Es kam ein Augenblick, in dem er dachte: ›Jetzt könnt ichs dem Seeburger selber sagen, wer seinen Bruder vom Gaul geschmissen! Und Herr Korbin und Herr Melcher haben Frieden und Ruh! Aber muß denn nicht das edel Fräulein zuerst den nötigen Herrgott und die lieben Bildlein haben?‹ Der Schäfer sprang. Hinter ihm ein aufblitzendes Flämmchen und ein Geknatter. Neben dem Lien pfiff etwas Grobes in den Boden hinein und warf den Rasen auseinander. Er lachte: »Ja! Schnecken! Aber nit den Lien!«
Während er hinaufkeuchte durch den steilen Burgwald, knüpfte er das Seil an den Schippenschaft und legte den Strang in Schlingen.
Nun kam der breite, baumlose Gehängstreif, der den Fuß der Mauer umzog.
Droben in den Scharten fingen die Söldner und Hörigen des Herrn Melcher gleich zu lärmen an, als sie den springenden Menschen gewahrten.
»Nit schießen!« schrie der Schäfer. »Ich bins, der Lien! Ich muß dem Fräulein von Puechstein was Nötiges bringen. Hoppla, fanget das Seil!« Die Schäferschippe flog und trug das Ende des Stranges über den Bord der Mauer hinüber.
Mit fünffacher Schlinge wickelte Lien seinen rechten Arm in das Seil hinein, umklammerte mit dem linken seinen Wulli hinter den Vorderbeinen und sagte ernst: »Sei gescheit, du, und tu nit zappeln! Sonst muß ich dich fallen lassen. Ich täts nit gern.«
Droben begannen sie lustig am Seil zu ziehen. Die gespreizten Beine gleich einer eisernen Gabel wider die Mauer spreizend, ließ sich der Lien mit dem Wulli aufwärtslupfen und näherte sich bei dieser mühsamen Sache, die ihm den Arm fast aus der Schulter riß, sehr merklich dem Himmelreich. Auf dem Bord der Mauer unterbrach er seine Reise.
Man empfing ihn mit heiterem Geschrei. Die hörigen Bauern wußten wohl mancherlei vom Lien; aber für die Söldner des Herrn Melcher war es was Neues, als sie zu merken bekamen, welch ein kecker und schneidiger Luderskerl dieser »Unschick und dumme Lümmel« von Schäfer war.
Der Himmel wurde des leuchtenden Abends müd. Es kam die Nacht. In den Höfen und auf den Wehrtürmen der Trutzburg begannen die Pechfeuer zu lodern.
Gegen die sechste Morgenstunde erwachte Lien. Bei der ersten Bewegung, die der Schäfer machte, richtete auch Wulli sich auf, der neben seinem Herrn auf dem von Mauslöchern durchwühlten Lehmboden gelegen.
Als Lien am verwichenen Abend dem Fräulein von Puechstein die drei nötigen Sachen, das kupferne Kreuz und die Bilder der Joanne Darc und der Frau Nese Bernauerin, ins Herrenhaus hinaufgeschickt und nach einem Tag, welcher Hunger und Plage gewesen, den Wulli und sich selber gefüttert hatte, war er in einen bleiernen Schlaf gefallen. Jetzt beim Erwachen fand er sich nicht zurecht. Er suchte das Moorland, den Pferch und seine Herde und mußte sich erst an das Bild gewöhnen, das ihn umgab. Ein großer, kahler, matt erhellter und unsauberer Raum – eins von den Losamenten, die zwischen den Ställen unter die Schützengänge eingebaut waren. Solcher Stuben gab es in der Trutzburg für das niedere Gesind und die hörigen Wehrleute genau ein Dutzend, Die Herrschaft bezeichnete sie nach den Monatsnamen. Die Stube, wo der Lien geschlafen hatte, hieß die Maistube. In der Gesindsprache hatten die Losamente ganz andere Namen: Zeckenloch, Ratzenstadel, Flohkeller usw. Bei den Knechten hieß die Maistube: der Mauskäfig. Daß es ein Wohnraum war, das sah man nur an dem aus Feuerstein gemauerten Ofen, an den paar Schüsseln und Krügen, die umherstanden, an dem Kram, der die Gesimse der Fensternischen füllte, und an den Zapfenbrettern, von denen Kleider und Waffen herunterhingen. Sieben Strohsäcke lagen rings um die Wände herum. Sechse waren leer; die Bauern und Buben, die da bis Mitternacht gelegen, waren seit der Morgenwende auf Wache. Den müden Lien hatten sie schlafen lassen.
»Wulliwulli!« Nach dem Erwachen war das sein erstes Wort. »Gotts Not! Wie stinkts da in der Stub! Draußen auf der Heid schmeckts besser.«
Er bekreuzigte das Gesicht und betete. Als er sich erhob, brauchte er, um fertig gekleidet zu sein, nur die nackten Füße in die Holzschuhe zu stecken. Vor der Türe bürstete er mit einem Besen den Fluchtstaub der Herde von seinem Gewand. Am Brunnen wusch er sich. Sehr sauber. Die Seeburgischen sollten, wenn man ihn auslieferte, nicht sagen: »So ein Schmierfink hat unseren Herren totgeschmissen.«
Nach dem Sechsuhrläuten kamen die Kameraden des Mauskäfigs von der Mauerwache. Der Stubenälteste brachte die Arbeitslosung mit, die der Jungherr schon ausgegeben hatte. Lien war der Schmiede zugeteilt und mußte beim Kugelgießen helfen. Das sollte nach der Frühmahlstunde beginnen. Zwei von den alten Mägden des Trutzberges trugen die Suppenschüssel herbei, den Korb mit Brot und Selchfleisch, dazu die große hölzerne Weinbitsche. Es gab im Mauskäfig über den reichlich zugemessenen Wein ein gerechtes Staunen; doch gleich beim ersten Trunk merkte man, daß Frau Engelein die größere Hälfte des Gesindweins aus dem Brunnen kelterte. »Zur Tapferkeit hilft das nit«, sagte einer von den Bauernbuben, »aber die Nasen bleiben weißer.«
Unter dem Geschwatz der anderen verzehrte der Schäfer schweigend seine paar Bissen; was er vom Frühmahl absparte, gab er dem Wulli. Dann wies er ihn auf den Strohsack. »Da tust du warten! Schauen wir halt, wies geht!« Er schritt zur Türe.
Der Ältestmann des Mauskäfigs rief ihm nach: »Hast ja noch Zeit!« Er meinte: zur Arbeit.
Lien schüttelte den Kopf und ging davon. Im Burghof, über den die Sonne schon herunterblinzelte, liefen Söldner und Mägde die Kreuz und Quer. Aus allen Losamenten hörte man die Männerstimmen. Überall ein ruhiges Reden. Nur droben auf dem Söller des Brückenturmes ging es lustig zu. Hier verteilte die junge, hübsche, rothaarige Pernella das Frühmahl. »Die Supp ist mager, da muß man Fleisch einbröckeln!« sagte ein alter Söldner und zwickte das nette, lachende Mädel in die Schattenseite.
»Du?« fragte Lien im Hof eine alte Magd. »Ist das edel Fräulein von Puechstein schon auf?«
»Was gehts dich an? Mach, daß du weiterkommst!«
»Gut, mir eilts nit!« Er trat in die Halle des Burgfrieds und stieg zum Pfaffenstüblein hinauf. Von einem der Wehrböden klang die Stimme des Jungherrn herunter, und undeutlich hörte man das Gurren vieler Tauben.
In der kleinen, weißen Turmstube griff die Morgensonne mit rosiger Hand zum Fenster herein und streichelte die runzlige Wange des greisen Priesters, der neben dem unberührten Bett im Lehnstuhl schlummerte. Erst der Handkuß des Schäfers weckte ihn.
»Oh?« Die gütigen Kinderaugen des Greises fragten.
»Tätst du mir nit die Beicht hören, guter Herr? Könnt sein, daß ich sterben müßt, ich weiß nit, wie bald.«
Ein gähnendes Lallen. »Wa willtu?«
Lien hob die Stimme: »Beichten, Herr!«
Der Kaplan verstand erst völlig, als der Schäfer eine Handbewegung von seinem Mund zum Ohr des Priesters machte. Nickend erhob sich der Greis, wobei ihm Lien behilflich war, legte die Stola um den mageren Hals, holte ein weißes Tuch, nahm es gleich einem Schleier über Kopf und Gesicht, ließ sich wieder in den Lehnstuhl fallen und neigte die Wange gegen den Schäfer hin.
Auf beiden Knien liegend, über der Sessellehne die braunen Hände ineinanderklammernd, redliche Andacht in den blanken Augen und in dem strengen Jünglingsgesicht, fing Lien am Ohr des Priesters zu flüstern an. Immer nickte der Greis, um sein Beichtkind glauben zu machen, daß er alles gut verstünde. Die Sonne spielte über die beiden hin. Neben dem Taubengurren und dem Gepolter auf den Wehrböden des Turmes, neben dem Stimmengeräusch, das aus den Burghöfen und von den Schützengängen kam, tönte auch aus dem tiefen Tal herauf ein dumpfes Gelärme, während der Schäfer flüsternd seine Sünden bekannte: Fluchreden und schieche Gefräßigkeit; Speisenstehlen aus den Körben und Schüsseln der Margaret; arge Trotzgedanken wider die Herrenleute; Unachtsamkeit bei der Sonntagspredigt; Zorn und Grobheit gegen Hund und Schaf; verstecktes Lügen, um nicht ein Söldner werden zu müssen; arge Not am jungen Leib und im jungen Blut; unsauberes Träumen, das so kommt in der Nacht, man weiß nicht, was es ist und was es will; nach der toten Mutter ein Sehnen, das oft stärker ist als die Christenlieb zu Gott und den guten Heiligen; um der toten Mutter willen ein böses Denken wider ein Mannsbild, das man nicht kennt und nie gesehen und nie hat nennen hören; nicht verzeihen können, wenn Menschen schlecht gewesen; unchristliche Verachtung gegen solche, die schwach sind und sich fürchten müssen; ein grausliches Lügen und Heucheln mit Wort und Stein; vom Vaterunser bloß den Anfang und das Amen sagen; verderben müssen, was einem gütigen Maidlein ein Schönes ist; in Not und Fährnis untreu werden als Schäfer und die Herd verlassen; und das Ärgste von allem Argen: Schuld haben am Tod eines Menschen und nicht bereuen können und denken müssen, man tat es wieder und allweil wieder, wenns dem Herrn von Puechstein ans Leben geht.
Der Sünder schwieg. Und der greise Priester hielt noch immer das Ohr hinuntergebogen und nickte und nickte, als ginge die Beichte immer noch weiter. Daß sie schon zu Ende war, merkte er erst, als Lien nach geduldigem Harren das heiße Gesicht erhob und auf den Knien den schlanken Körper streckte. Das weiße Beichttüchlein vom Kahlkopf herunterziehend, drehte der Greis den mageren Hals und sah dem Schäfer ängstlich forschend in die bittenden Augen. Der Glanz des Morgens schimmerte breit und schön um die beiden her. Je länger der alte Burgkaplan dem Lien in die jungen Augen sah, um so freundlicher wurde sein Blick. Jetzt lächelte er ein bißchen und hob die Hand mit gespreizten Fingern. Das bedeutete: fünf Vaterunser zur Buße!
»Guter Herr«, stammelte Lien erschrocken, »das ist zu wenig für so viel Sünd!«
Lächelnd bekreuzigte der Priester die Stirn und den Mund des Schäfers, strich ihm freundlich mit der zitternden Runzelhand über das kurzgeschorene Haar und lallte lateinische Worte, zu denen Cicero und Horaz, die sich gut auf die Sprache Roms verstanden, sehr verwundert den Kopf geschüttelt hätten. Der Schäfer Lien, der kein Latein verstand, lauschte diesem Gestammel in Andacht und mit aufatmender Seele. Dankbar küßte er die Hand des Greises.
Flink hinunter über die Holzstiege des Burgfrieds. Der Schritt des Schäfers federte, als wären seine Sehnen aus toledanischem Stahl geschmiedet. In seinen Augen war ein froher Glanz – freilich, das Leben wird manchmal ein hartes Ding, es ist schon wahr – aber ein leichtes ist der Tod, wenn man eine frischgewaschene Seele hat. Da geht es aus dem Seeburgischen Profosenstrick geradeswegs hinauf ins liebe Himmelreich.
Ob wohl das Fräulein von Puechstein jetzt schon auf ist? Zu sehen war nichts von ihr. Da muß man geduldig sein. Die Herrenleute mögen das nicht gern, wenn man sie stört in ihrer Morgenruhe.
Der Schäfer sprang in die Schmiede, um sich zur Arbeit zu stellen. Hier war um die rote Esse herum ein lautes, aufgeregtes Gerede; die Leute wußten schon, daß die Seeburgischen während der Nacht den ganzen Trutzberg umzingelt hatten und sich im Burgwald, dem Brückenturm gegenüber, hinter festen Schanzen eingruben.
Man verstand nur nicht, warum es drüben auf dem Puechstein so still wäre.
Lien lächelte. Schweigsam tat er seine Arbeit und schwenkte die schwere Bleikelle aus der Eisenglut heraus, als wärs ein Suppenschluck. Bis die anderen ihre drei Kugelsätze gossen, hatte der Schäfer schon viere und fünfe fertig. Sie sahen aus wie silberne Kronreife, die man entzweigeschnitten und gestreckt hatte zu geraden Stänglein – heiße Kronreife eines kalten Königs, der ohne Vater und ohne Kinder ist und immer regiert für sich allein. Mit den zwölf Kugelsätzen, die der Lien hatte gießen müssen, und mit der Beißzange ging er in den Mauskäfig, damit der Wulli auf seinem einsamen Strohsack nicht Langweil bekäme. Wem das feine Hundl wohl gehören wird? Morgen? Oder später? Vielleicht so einem groben Unverständling, der nicht weiß, daß gesunde Prügel nur helfen, wenn man sie aufschmälzt mit freundlichen Worten?
Während Lien im leeren Mauskäfig auf dem Strohsack hockte und die schimmernden Kugeln sauber von den Bleihälsen herunterzwickte, rieb er immer wieder die Wange an der Schnauze des Wulli, der den Hals auf seines Herren Schulter gelegt hatte und bei der kriegerischen Tätigkeit des Kugelzwickens verwundert zuguckte. Plötzlich fuhr der Hund mit der Nase in die Luft und begann zu knurren. Als der Schäfer aufblickte, stand Hilde auf der Schwelle der Maistube, in dem braunen Hauskittelchen, das sie beim Morgenritt ins neblige Moorland getragen hatte. Ihr Gesichtl war blaß und kummervoll, doch in ihren Augen war ein Lächeln. »Schäfer, ich muß dir ein Vergeltsgott sagen.«
Stumm und unbeweglich blieb er auf dem Strohsack sitzen.
»Du hast mir gestern mein Kammerkreuzlein und meine zwei lieben Bilder hinaufgeschickt. Wie ist das gekommen, Schäfer, daß du auf dem Puechstein warst?«
»Ich selber weiß nit, wie!« Lien erhob sich und umschloß mit der Faust die Schnauze des Wulli, der noch immer knurrte. »Aber gut ists, edel Fräulein, daß du da bist! Ich muß dir was sagen.«
Gleich rieselte ihr ein feiner Bluthauch über die Wangen. »Was, Lien?« Dabei lächelte sie, als wüßte sie schon alles.
Mit Worten brachte ers nicht heraus. Außerhalb der Pfaffenstube bekennt man nicht gerne, daß man gelogen hat. Durch das offene Fensterloch hinausspähend, neigte er sich vor und deutete mit dem Arm. »Siehst du das kleine Wetterfähnl auf dem Hausfirst droben?«
Sie nickte.
Er nahm aus seinem Hütl eine von den abgezwickten Bleikugeln. »Das ist so weit, wie im Bruch die Elster gewesen ist.« Das eine Knie nach vorne stellend, beugte er das andere und bog den Körper nach rückwärts. »Guck, du!« Er warf. Dieses Bleiklümplein, das man nicht fliegen sah, war die erste treffende Kugel, die bei der Belagerung des Trutzberges verschossen wurde. Droben auf dem Hausfirst gabs einen scharfen Klirr. Dann fuhr das Wetterfähnchen ein dutzendmal wie rasend um die Stange herum. Ernst sagte der Schäfer: »Weißt dus jetzt?«
Ihre Wangen wurden wie reife Pfirsiche, und das junge Brüstlein hob sich unter einem frohen Atemzug. »Ich habs doch allweil schon gewußt. Aber mein Vater hat mirs nit glauben mögen. Auch Herr Melcher nit. Komm, Lieni! Denen mußt du es selber sagen!«
Diese Notwendigkeit begriff er. »Gelt, ja! Nachher wird der Herr schon wissen, was er tun muß. Und der Puechstein hat wieder Ruh!« Er streckte sich, wie es Menschen tun, die einer unlieben Pflicht gerecht geworden. Freilich, manches auf der Welt ist hart. Aber ein schönes Ding ist das Leben halt doch! Lien sah das Fräulein von Puechstein an. Schön oder nicht – wenns sein muß, macht man ein Kreuz drüber. Und besser heut als morgen. Wer weiß, ob er nicht morgen schon wieder ein Häuflein Sünden auf der Seele hat? Dann ist, wenn das liebe Leben schon hin sein muß, auch das Himmelreich noch verloren. »So komm halt!« sagte Lien zu dem Fräulein und deutete, als Wulli ihm folgen wollte, auf den Strohsack. »Du, sei gescheit und bleib!« Er strich dem Hund mit zärtlicher Hand über die Stirn. Wie ein Abschied wars. Und Wulli, von einer sorgenvollen Ahnung befallen, ließ die Ohren schlappern und fing zu winseln an, als die beiden aus der Maistube gingen.
Seite an Seite schritten sie durch den lärmvollen, schon sonnig gewordenen Hof. Keines von den beiden hörte die aufgeregte Stimme des Jungherrn, die von irgendwo aus einem Schützengang herunterscholl. Die kleinen Füße des Fräuleins huschelten so flink, daß der Schäfer lange Schritte machen mußte, um nicht zurückzubleiben. In der Halle des Herrenhauses kam ihnen Frau Angela entgegen, sehr eilfertig, mit unruhigen Sorgenaugen und gallblassem Gesicht. In der grauen Hauskutte und der großen weißen Haube hatte sie etwas Gespenstiges und war anzusehen wie eine aus dem Grab heraufgestiegene Klosterfrau. So hatte Hilde die Trutzbergerin schon oft gesehen. Das konnte also nicht die Ursache sein, weshalb das Fräulein so wunderlich erschrak und eine Bewegung machte, als möchte sie den Lien an der Hand fassen.
Den Schäfer schien Frau Angela nicht sehen zu wollen. Ihr Blick vermied ihn so geflissentlich, als wäre er Luft. Sie guckte nur das Fräulein an und hatte ein zorniges Staunen in den Augen. Schon wollte sie eine strenge Frage stellen. Da zappelte eine alte Magd, die etwas in der gerafften Schürze trug, aus der Küchentür heraus und jammerte: »Frau, Frau, heut sind schon wieder um sieben Eier zu wenig in den Nestern gewesen!« Dieses Unglück schien für Frau Engelein viel schwerer zu wiegen als alles andere, was ihr mißfiel. Während sie mit der Magd in einen heftigen Wortwechsel geriet, winkte Hilde dem Lien und eilte wie eine Flüchtende über die Stiege hinauf. Als er sie einholte, mußte er fragen: »Warum tust du so zittern?«
Schweigend schüttelte sie den Kopf.
Da beugte er sich zu ihr hin und fragte leis: »Ist dir noch allweil was Schönes verdorben?«
Wieder schüttelte sie stumm den Kopf; aber nun konnte sie lächeln, und ihr Schreck erlosch in einem Aufglänzen der blauen Augen. Sie ging so rasch davon, daß ihr braunes Kittelchen rauschte.
Trepplein auf und Trepplein nieder. Ein langer, enger Gang, durch dessen schmale, hohe Fenster die Morgensonne goldene Streifen auf die weiße Mauer warf. Und eine schwere, braune Tür, durch welche die lauten Stimmen des Burgherrn und des Korbin von Puechstein herausklangen.
Lien streckte seinen Arm vor das Fräulein hin. »Eh wir da hineingehen, muß ich dich noch was fragen.«
Sie sah zu ihm auf. »Was, Lieni?«
»Magst du mir versprechen, daß du dem Wulli eine gute Herrin sein willst?«
»Wer ist das?«
»Mein Hund. Der ist mein. Sonst hab ich nichts. Der Wulli hats nit verdient, daß er schlechte Zeiten erleben müßt. Wirst du ihm gut sein?«
Lächelnd sagte sie: »Du bist ihm doch selber der beste Herr.«
»Wer weiß, wie lang.«
Was er meinte, verstand sie nicht. Sie glaubte nur, daß er an die Gefahr der nächsten Tage dächte. »Gelt, ja! Die Zeit wird hart werden für uns alle. Der liebe Gott soll dich schützen, Lieni, derweil du fechten wirst für uns!«
»Fechten?« Unter einem etwas unfrohen Lachen griff er an seinen Hals.
»Und gut ists, Lieni, daß du mich gemahnt hast an die ernste Zeit! Dir bin ich ein Vergeltsgott schuldig. Du hast mir den Vater am Leben erhalten. Gelt, Lieni, jetzt darf ich auch was tun? Für dich!« Sie hob die Hände und knüpfte von ihrem Hals ein seidenes Schnürchen los, an dem eine kleine, schimmernde Münze hing. »Das ist ein Petersgroschen. Den hat der Heilige Vater zu Rom geweiht. Komm, Lieni, tu deinen Hals ein lützel herunter zu mir! Das heilige Ding wird dich schützen in aller Not!«
Der Schäfer sah aus, als hätte ihm ein Sonnenstich das Gesicht verbrannt. Ungeschickt und hölzern beugte er sich und schauerte ein bißchen, als die zarten Finger des Fräuleins seinen Nacken berührten.
»So, Lien! Da mußt du Obacht geben drauf! Gelt, ja?«
Er nickte stumm und straffte sich in die Höhe, zog mit beiden Fäusten vor seiner braunen Brust den mürben Kittel zusammen und schloß die eiserne Hafte, wie er es sonst nur im Frost des Winters tat. »Edel Fräulen!« Ganz erloschen klang seine Stimme. »Jetzt will ichs mit Freuden bekennen.« Er selber streckte die Hand nach der Türklinke.
Als die beiden eintraten, sagte Herr Korbin aus dem Bett heraus zu Melcher Trutz: »Vor dem Bruckentor müssen wir uns Luft schaffen. Da steht der Wald zu nah. Ich hab dir schon oft gesagt, daß du da roden mußt.«
Herr Melcher, der rittlings auf einem Holzstuhl saß, brummte sorgenvoll: »Allweil ist mir leid gewesen um die schönen Bäum.«
»Jetzt kann sich der Seeburger hinter ihnen eingraben. Sobald der Sonnenwind fester gegen das Bergland zieht, schmeißen wir die Pechfässer in den Wald.« Herr Korbin verstummte, sah lachend sein Mädel an und zog die Bettdecke über seine Blöße herauf.
»Geh, Korbi, tu dich doch ein lützel stillhalten!« mahnte Frau Schligg mit sorgenvoller Sanftmut, während sie die lange Leinenbinde des Verbandes vom nackten, haarigen Schenkel ihres Gemahls herunterwickelte.
An der Mauer der etwas kahlen Gästestube standen noch die Bretter des abgeschlagenen Bettes, das dem grün und gelb überhimmelten Perlenschrein der Frau Scholastika hatte Platz machen müssen. Waffenzeug und Kleider lagen zu hohen Stößen geschichtet. Um Ordnung zu machen, war der Puechsteinerin noch keine Zeit verblieben. Ihr Mann hatte eine unruhige Nacht verbracht, und nun blühten auf seinen hageren Wangen die Knospen werdender Fieberrosen. Das konnte ihm die gute Laune nicht verderben. »Mädel?« rief er heiter und hob das Bein, um seiner Frau die ärztliche Mühe zu erleichtern.
»Was willst du mit dem Schäfer? Glaubst du, wir sind Hammel, die man sälzen muß?«
Minder lustige Augen hatte Herr Melcher; er betrachtete den Lien so unfreundlich, als hätte seine wohlwollende Seele sich plötzlich verwandelt in das Gallengemüt der Frau Engelein.
Hilde war zum Bett getreten. Sie vermochte nicht gleich zu sprechen. Was sie vom Gesicht der Mutter las, erneute ihre Sorge um den Vater. Nun war ihr »das Schöne« wieder verdorben. Zwischen Schreck und Freude stammelte sie: »Schau, Vater! Da steht der Lien! Er hat es getan. Jetzt hat er es selber eingestanden.«
»Was?« fragte Herr Korbin.
»Tu reden, Lien! Sag es so ehrlich, wie dus mir gesagt hast!«
Der Schäfer, der wie ein Träumender aussah, streckte sich gleich einem Erwachenden und nickte ein paarmal rasch mit dem Kopf. »Wahr ists, ihr Herren! Ihr müßt Unfried leiden um meinetwegen. Ich bins, der den Seeburger vom Gaul geworfen hat.«
Der kurze, dicke Hals des Herrn Melcher schien plötzlich wachsen zu wollen. Und der Puechsteiner rief mit Lachen: »Bub? Wahrhaftig? Du?« Heiter stupste er mit den Zehen des gesunden Beines nach dem schweigsamen Trutz von Trutzberg. »Höi, Melcher? Was sagst du jetzt? So ein Lümmel und Unschick von einem Schäfer! Und schmeißt mit einem Stein, wie der beste Schütz nit schießt mit Büchs oder Armbrust.«
Wieder nickte Lien. »Ist schon wahr, Herr! Ein lützel unschickig hab ichs angestellt. Ich hätt besser zielen können, es wär genug gewesen, wenn ich ihm den Arm, mit dem er zugestochen, in Scherben geworfen hätt. Da wär dem Puechstein viel Unliebsames erspart geblieben. Aber wie mans halt macht in der Hitz!«
Immer vergnügter wurde Herr Korbin. »Komm her da, Bub! Und red! Wie bist du dazu gekommen?«
Um das zu sagen, brauchte Lien keine vierzig Worte. Dann sah er das Fräulein an, legte den Kopf in den Nacken zurück und sprach gegen die Stubendecke hinauf: »In Gottes Namen, ihr Herren! Jetzt laßt mir halt die Händ binden! Man soll mich dem Seeburgischen Bruder zur Buß hinunterschicken! Und alles ist gut. Und der Puechstein hat wieder Fried.«
Hilde erschrak, daß sie eine weiße Stirn und erweiterte Augen bekam. Auch Herr Korbin stellte das Lachen ein, wurde ernst und betrachtete erwartungsvoll den Burgherrn. Der hatte, obwohl er in der Morgenfrühe noch ziemlich nüchtern war, ein so krebsrotes Gesicht, wie man es sonst nur zu Beginn einer schweren Trunkenheit an ihm gewahrte. Man konnte diese Blutwallung für aufsteigenden Zorn, aber auch für etwas anderes halten. In diesem unklaren Gemütszustand sprach er seit dem Eintritt des Schäfers das erste Wort. Ein sehr grobes. »Du Schafskopf! Weißt du nit, wer ich bin?«
»Wohl, das weiß ich gut. Ihr seid mein Herr und könnet jetzt machen mit mir, was Euch ein Nutzen ist« Lien verlor seine Ruhe ein bißchen. »Aber, was ein Schaf ist, das weiß ich besser als die Herrenleut, die nit merken, wieviel Klugheit in so einem Viechlein steckt. Schafskopf muß man sagen zu einem Menschen, den man loben will. Zu einem, der gescheiter ist als ander Leut und besser sieht und besser hört. Und in der Nacht ein Giftkräutl wegscheidet von einem gesunden Halm. Und folgsam ist und treu und gelehrig. Freilich, so ein alter, unguter und ewig brunftiger Hammel! Der ist halt, wie er ist!«
»So? So?« knurrte Herr Melcher.
»Wohl, Herr, aber meine guten Schaf, die laß ich nit durch ein unbedächtiges Wörtl verschimpfen.«
Herr Korbin hatte sein heiteres Lachen wiedergefunden, wurde aber unterbrochen durch einen leisen Schreckensruf seiner Gattin. Mit der Lösung des Verbandes beschäftigt, hatte Frau Schligg auf das Gerede der Mannsleute nicht geachtet. Beim Anblick der heiß entzündeten Wundränder schossen ihr die Tränen in die Augen. »Mann, ach. Mann, ich bitt dich«, bettelte sie, »so bleib doch ruhig ein lützel! Ich muß das Essigwasser holen. Kindl, du mußt mir helfen! So komm doch, komm!«
Hildes verstörte Augen irrten ratlos, zwischen Lien und dem Vater hin und her. Dann eilte sie stumm der Mutter nach, die in der Türe des anstoßenden Raumes verschwunden war.
Nun betrachtete auch Herr Korbin die Wunde. Sie schien ihm nicht zu gefallen. Er sagte: »Pfui Teufel!« Dann lachte er wieder und winkte dem Lien. »Du! Ein Schäfer, heißts allweil, kann mehr wie Kirschenessen. Komm her da und schau!«
Weil Lien nicht schnell genug zum Perlenschrein der Frau Scholastika hintrat, brüllte Herr Melcher in unbegreiflicher Erregung: »Wie, du! Wenn du gar so gescheit bist! So rühr dich halt ein lützel!«
Aufmerksam betrachtete der Schäfer die Wunde; aus dem anderen Raume vernahm er das Geklapper einer Kupferschüssel und das Plätschern von Wasser; er drehte das ernste Gesicht zur Türe, sah den Ritter Korbin wieder an und dämpfte die Stimme. »Herr, so ists einmal bei mir gewesen, wie mich ein halberschlagener Wolf noch gerissen hat. Da ist kein ander Mittel nimmer. Das muß man ausglühen. Sonst könnt sich der Brand dazuschlagen. Bei mir hab ichs mit der Schippenschaufel gemacht. Mit einem neuen Messer täts besser gehen. Das könnt ich ja schnell noch machen, ehe ich hinunter muß zu den Seeburgischen.«
»Du Narr!« stammelte Herr Melcher in Zorn und Schreck und stieß mit seiner dreifingerigen Faust den Schäfer von der Bettlade weg.
»Laß den Buben!« Der Puechsteiner war nachdenklich und bedeckte das wunde Bein mit dem Linnlaken. »Kann sein, daß er recht hat. Aber meine gute Schligg wirds nit leiden wollen. Da muß ich heut nacht erst reden mit ihr. In der Finsternis sind die Weibsleut allweil gescheiter als wie am Tag.« Während er diese Worte langsam vor sich hinredete, hatte er sich in den Kissen aufgesetzt. Durch das offene Fenster, durch das der Lärm der Tiefe in die stille Stube hereinquoll, sah er immer zu dem von der Morgensonne umzitterten Puechstein hinüber. Und plötzlich, mit einer ganz anderen Stimme, sagte er: »Daß sich auf meiner Mauer noch allweil nichts rührt? Ich verstehs nit.«
»Gar so flink kommen die Seeburgischen nit hinein, Herr!« tröstete Lien. »Gestern vor Nacht hab ich die Brück noch hinaufgezogen.«
»Was hast du?« schrie Herr Melcher.
Diesem sonderbaren Zorn gegenüber wurde Lien verlegen. »Wahr ists, Herr, schon gestern am Abend hätt ichs dem Puechsteiner gern gesagt, daß ich allein an allem Unfried schuld bin. Aber Hof und Stuben da drüben sind leer gewesen. Ich hab gemeint: so dürft man das Tor nit stehenlassen. Und hab die Brück hinaufgehaspelt und hab mich abgeseilt über die Mauer.«
Herr Melcher und Herr Korbin sahen einander an und musterten wieder den Schäfer, dem unter diesen Blicken unbehaglich zumut wurde.
Frau Schligg und Hilde kamen mit der Kupferschüssel und mit dem Verbandzeug. »Die fremden Leut müssen aus der Stub«, klagte die Puechsteinerin, »schaut mir einer zu, so hab ich keine ruhigen Händ.«
Wie die zürnende Justitia einen üblen Verbrecher faßt, so packte Herr Melcher den Lien an der Schulter. Um besser greifen zu können, tat ers mit der fünffingerigen Linken. »Weil du gar so gescheit und schickig bist – und weil wir schon eh nit bleiben dürfen – jetzt komm einmal! Dich muß ich ein lützel besser anschauen.«
Wit rauschendem Kittelchen kam das Fräulein von Puechstein zur Tür gelaufen, faßte den empörten Burgherrn am Arm und flehte: »Er hats doch nur getan, um meines Vaters Leben zu wahren! Deswegen darf man ihn doch nit leiden lassen!«
Herr Welcher hatte kein Ohr für dieses Argument, dem einige Gerechtigkeit nicht abzusprechen war. Knurrend und brummend stieß er den Lien zur Türe hinaus, während der Puechsteiner im umfangreichen Schatzkästlein der Frau Scholastika mit Lachen rief: »Höi! Mädel! Spinnst du? Dem feinen Buben geschieht doch nichts!« ,
Im weißen Treppengang, wo Hilde dem Schäfer das hilfreiche Petersgröschlein um den Hals gebunden hatte, guckte Herr Melcher zur Linde des Burggartens hinunter. »Ei wohl! Da üben sie grad mit den Brusten. Jetzt komm!« Um eine Begegnung mit Frau Engelein zu vermeiden, nahm er mit seinem Häftling den Weg zum Burggarten nicht über die Hauptstiege des Herrenhauses, sondern durch verwinkelte Mauerschlüfte und über beschwerliche Holztreppen des Söldnerbaues. In der Wehrhalle huschte die hübsche, rothaarige Pernella lachend und mit heißen Wangen an den beiden vorüber, und dann lief ihnen der Jungherr Eberhard, der es eilig hatte, in den Weg. Verdutzt betrachtete er das blaurote Gesicht seines heftig schnaubenden Vaters und fragte: »Was ist mit dem Schäfer? Hat er ein schlechtes Ding getan?«
»Schau zu deinen Pflichten!« schrie Herr Melcher. »Der Feind ist vor der Mauer.« Und zum Schäfer, den er noch immer am mürben Kittel gefaßt hielt, sagte er: »So, du! Jetzt komm! Jetzt muß ich einmal sehen, ob der Geißbock tanzen will auf einem ehrlichen Seil.«
Im sonnigen Burggarten waren vier Söldner dabei, die neugefiederten Armbrustbolzen zu prüfen. Die schwarze Scheibe mit den zwei weißen Strichen, die sich kreuzten, hing am Stamm der Linde, unter deren weitgespanntem Gezweige der Wanderpfaff von der Macht des Christenwillens und vom erfechtenswerten Himmelreiche gepredigt hatte. Krachend schlugen die Bolzen in das Scheibenholz, und die Scheibe sah aus wie ein Igel, dem in der Mitte seines Rückens die Stacheln erst wachsen sollten.
Herr Melcher schrie: »Wo ist der Kassel, mein Serjant?«
Der wäre für einen Sprung hinauf in seine Stube. So sagte ein Söldner, sehr ernst; die anderen schmunzelten. Und da wußte Herr Melcher: daß der Kassel droben in seiner Serjantenstube aus dem heimlichen Rotweinfäßlein die leergewordene Gurke füllte. Das war in so kriegerischer Stunde ein schweres Vergehen. Der Burgherr hätte zürnen und strafen müssen. Aber er selber wußte am besten, was Durst bedeutet. Und wußte aus alter Erfahrung: je mehr dieser Kassel soff, um so nüchterner sah er aus, um so ruhiger, umsichtiger und verläßlicher war er. Einmal hatte Herr Melcher den Kassel drei Tage lang unter strenger Bewachung dürsten lassen und hatte ihm nur Wasser gestattet, das bekanntlich einen rechtschaffenen Durst nicht zu stillen vermag. Am Abend des dritten Tages glich der Serjant einem unzurechnungsfähigen Trunkenbold; man mußte ihm zehn Maß Wein verordnen, um ihn wieder nüchtern zu machen. »So!« befahl Herr Melcher. »Gebt dem Buben da eine Armbrust!« Gleich lachten alle Söldner. »Jetzt nimm dich zusammen, Schäfer! Spielst du wieder einmal den unschickigen Geißbock, so laß ich dir die Hörner strecken.«
Jeder Blutstropfen wich aus dem Gesicht des Lien, als er die Waffe faßte. Sein Blick flog hinaus zu dem seinen Bruchland. Der klügste von seinen klugen Gedanken riet ihm wieder: Stell dich dumm! Aber die gereinigte Seele mit einer Lüge beflecken? Und wer zum Profosenstrick der Seeburgischen hinunter muß, der braucht doch auch kein Söldner zu werden! Freilich, ein Schäfer kann man da auch nimmer bleiben! So oder so – das Lügen nützte nichts mehr, und die Wahrheit schadete nimmer. Er besah die Waffe und sagte ernst: »An das neue Brüstl bin ich nit gewöhnt. Mit meinem alten Scherben, da schieß ich besser.«
»So! Also! Dann hol deinen Scherben! Und flink! Oder ich mach dir Füß.«
Lien sauste davon. Eh man ein Vaterunser hätte beten können, war er wieder bei der Linde, mit seiner alten Armbrust, mit den Bolzen, die er selber gefiedert hatte, und mit dem Wulli, der sich in der ungewohnten Umgebung und gegenüber so vielen neuen Lebensrätseln immer dicht an die Wade seines Herrn schmiegte.
Während Lien die dicke Armbrustsehne ohne Hebel spannte und den Bolzen in die Rinne gab, guckten Herr Melcher und die Söldner sehr neugierig zu. Aber noch viel aufmerksamer war Wulli: der wußte doch, daß jetzt entweder ein Geier aus der Luft herunterfallen, oder ein Fuchs sich irgendwo überpurzeln, oder ein Marder aus der Linde zu Boden plumpsen wird.
Das Gesicht des Herrn Melcher wurde äußerst nachdenklich, als er den Schäfer so breitspurig stehen und mit der Waffe wie zu einem einzigen ehernen Ding verwachsen sah.
Die Sehne klang, ein Schlag im Scheibenholz, und Wulli raste im Burggarten umher, ohne den Geier, den Fuchs oder den Marder finden zu können. Ein neues Rätsel für ihn.
Die Söldner guckten verdutzt und ein bißchen eifersüchtig drein, als sie gewahrten, daß der Bolz des Schäfers mitten im weißen Kreuz der Scheibe stak. Hinter dem glückhaften Schützen machte Herr Melcher eine sonderbare Bewegung mit der Hand; doch er beruhigte sich und sagte: »Auch ein blinder Gockel findet ein Haferkorn. Schieß zum anderen Mal!«
»Da muß man erst den Bolz aus dem Kreuz ziehen. Sonst ist er hin.«
»Wie!« knurrte Herr Melcher in Zorn. »Das muß ich erst sehen.«
Der Schäfer schoß. Der zweite Bolz zersplitterte den Schaft des ersten, Holzstücke und Fiederung flogen davon, und im Kreuz der Scheibe stak nur ein einziger Bolz, der zwei stählerne Spitzen hatte.
»So, so?« sagte Herr Melcher und schlug den Lien von hinten her übers Ohr. Sehr kräftig. Ein Glück, daß es mit der dreifingerigen Hand geschehen war. Sonst hätte man auf der Wange des Lien fünf rote Striche brennen sehen.
»Herr!« Der Schäfer wuchs um einen halben Kopf. Von den drei glühroten Flecken abgesehen, war er bleich bis in den zugeheftelten Hals hinunter. »Warum schlaget Ihr mich?«
Der Trutz von Trutzberg faßte ihn am Arm. Doch aus seiner Stimme, so grob sie sich anhörte, klang etwas anderes als Zorn. »Weil du mich seit fünf Jahren durch Lügen und Geißbockerei verhindert hast, den Sohn deiner feinen Mutter selig zu einem wahrhaften Mannsbild zu machen! – Jetzt komm!«
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