Richard Wagner
Oper und Drama
Die Oper und das Wesen der Musik
eingestellt: 6.7.2007
Jedes Ding lebt und besteht durch die innere Notwendigkeit seines Wesens, durch das Bedürfnis seiner Natur. Es lag in der Natur der Tonkunst, sich zu einer Fähigkeit des mannigfaltigsten und bestimmtesten Ausdruckes zu entwickeln, zu der sie, wiewohl das Bedürfnis dazu in ihr lag, nie gelangt sein würde, wenn sie nicht in eine Stellung zur Dichtkunst gedrängt worden wäre, in der sie Anforderungen an ihr äußerstes Vermögen entsprechen zu wollen sich genötigt sah,
selbst wenn diese Anforderungen auf das ihr Unmögliche sich richten mußten.
Nur in seiner Form kann sich ein Wesen aussprechen: ihre Formen verdankte die Tonkunst dem Tanze und dem Liede. Dem bloßen Sprachdichter, der sich zur Erhöhung des ihm zu Gebote stehenden Ausdruckes für das Drama der Musik bedienen wollte, erschien diese nur in jener beschränkten Tanz- und Liedform, in welcher sie ihm unmöglich die Fülle des Ausdruckes zeigen konnte, dessen sie in Wahrheit doch fähig
war. Wäre die Tonkunst ein für allemal zu dem Sprachdichter in einer Stellung verblieben, wie dieser in der Oper sie jetzt zu ihr einnimmt, so würde sie von diesem nur nach ihrem beschränktesten Vermögen verwendet worden und nie zu der Fähigkeit gelangt sein, ein so überaus mächtiges Ausdrucksorgan zu werden, als sie es heute ist. Es mußte der Musik somit vorbehalten sein, sich selbst Möglichkeiten zuzutrauen, die in Wahrheit für sie Unmöglichkeiten bleiben sollten; sie mußte sich in den Irrtum
stürzen, als reines Ausdrucksorgan für sich auch das Auszudrückende deutlich bestimmen zu wollen; sie mußte sich in das hochmütige Unternehmen wagen, da Anordnungen zu treffen und Absichten aussprechen zu wollen, wo sie in Wahrheit einer, aus ihrem Wesen gar nicht zu fassenden Absicht sich unterzuordnen, in dieser Unterordnung aber auch an der Verwirklichung dieser Absicht einen einzig ermöglichenden Anteil haben kann. –
Nach zwei Seiten hin hat
sich nun das Wesen der Musik in dem von ihm aus bestimmten Kunstgenre der Oper entwickelt: nach einer ernsten – durch alle die Tondichter, welche die Last der Verantwortung auf sich fühlten, die der Musik zugeteilt war, als sie die Absicht des Dramas für sich allein übernahm –, nach einer frivolen – durch alle die Musiker, die, wie von dem Instinkt der Unmöglichkeit der Lösung einer unnatürlichen Aufgabe getrieben, dieser den Rücken wandten, und, nur auf den
Genuß des Vorteiles bedacht, den die Oper einer ungemein ausgedehnten Öffentlichkeit gegenüber gewonnen hatte, einem ungemischt musikalischen Experimentieren sich hingaben. Es ist notwendig, daß wir die erste, die ernste Seite, zuerst näher in das Auge fassen.
Die musikalische Grundlage der Oper war – wie wir wissen – nichts anderes als die Arie, die Arie aber wiederum nur das vom Kunstsänger der vornehmen Welt vorgeführte Volkslied, dessen
Wortgedicht ausgelassen und durch das Produkt des dazu bestellten Kunstdichters ersetzt wurde. Die Ausbildung der Volksweise zur Opernarie war zunächst das Werk jenes Kunstsängers, dem es an sich nicht mehr an dem Vortrage der Weise, sondern an der Darlegung seiner Kunstfertigkeit gelegen war: er bestimmte die ihm notwendigen Ruhepunkte, den Wechsel des bewegteren oder gemäßigteren Gesangsausdruckes, die Stellen, an denen er frei von allem rhythmischen und melodischen Zwange seine
Geschicklichkeit nach vollstem Belieben allein zu Gehör bringen konnte. Der Komponist legte nur dem Sänger, der Dichter wieder dem Komponisten das Material zu dessen Virtuosität zurecht.
Das natürliche Verhältnis zwischen den künstlerischen Faktoren des Dramas war hierbei im Grunde noch nicht aufgehoben, es war nur entstellt, indem der Darsteller, die notwendigste Bedingung für die Möglichkeit des Dramas, nur der Vertreter einer einzigen besonderen Geschicklichkeit (der absoluten
Gesangsfertigkeit), nicht aber aller gemeinsamen Fähigkeiten des künstlerischen Menschen war. Diese eine Entstellung des Charakters des Darstellers war es auch nur, welche die eigentliche Verdrehung im natürlichen Verhältnisse jener Faktoren hervorrief, nämlich die absolute Voranstellung des Musikers vor dem Dichter. Wäre jener Sänger ein wirklicher, ganzer und voller dramatischer Darsteller gewesen, so hätte der Komponist notwendig in seine richtige Stellung zum Dichter kommen müssen, indem
dieser es war, welcher bestimmt und für alles übrige maßgebend die dramatische Absicht ausgesprochen und ihre Verwirklichung angeordnet hätte. Der jenem Sänger zunächst stehende Dichter war aber der Komponist – der Komponist, der eben nur dem Sänger half, seine Absicht zu erreichen, diese Absicht, die, von aller dramatischen, ja nur dichterischen Beziehung überhaupt losgelöst, durchaus nichts anderes war, als seine spezifische Gesangskunstfertigkeit glänzen zu lassen.
Dieses
ursprüngliche Verhältnis der künstlerischen Faktoren der Oper zueinander haben wir uns fest einzuprägen, um im Verfolge genau zu erkennen, wie dieses entstellte Verhältnis durch alle Bemühungen, es zu berichtigen, nur immer noch mehr verwirrt werden konnte. –
Der dramatischen Kantate wurde, durch das luxuriöse Verlangen der vornehmen Herren nach Abwechselung im Vergnügen, das Ballett hinzugefügt. Der Tanz und die Tanzweise, ganz so willkürlich dem Volkstanze und der
Volkstanzweise entnommen und nachgebildet, wie die Opernarie es dem Volksliede war, trat mit der spröden Unvermischungsfähigkeit alles Unnatürlichen zu der Wirksamkeit des Sängers hinzu, und dem Dichter entstand, bei solcher Häufung des innerlich gänzlich Zusammenhangslosen, natürlich die Aufgabe, die Kundgebungen der vor ihm ausgelegten Kunstfertigkeiten zu einem irgendwie gefügten Zusammenhange zu verbinden. Ein immer mehr als notwendig sich herausstellender dramatischer Zusammenhang verband
nun unter des Dichters Hülfe das, was an sich eigentlich nach gar keinem Zusammenhange verlangte, so daß die Absicht des Dramas – von äußerlicher Not gedrungen – nur angegeben, keineswegs aber aufgenommen wurde. Gesangs- und Tanzweise standen in vollster, kältester Einsamkeit nebeneinander zur Schaustellung der Geschicklichkeit des Sängers oder des Tänzers, nur in dem, was sie zur Not verbinden sollte, in dem musikalisch rezitierten Dialoge, übte der
Dichter seine untergeordnete Wirksamkeit aus, machte das Drama sich irgendwie bemerklich.
Auch das Rezitativ ist keineswegs aus einem wirklichen Drange zum Drama in der Oper, etwa als eine neue Erfindung hervorgegangen: lange bevor man diese redende Gesangsweise in die Oper einführte, hat sich die christliche Kirche zur gottesdienstlichen Rezitation biblischer Stellen ihrer bedient. Der in diesen Rezitationen nach ritualischer Vorschrift bald stehend gewordene, banale, nur
noch scheinbar, nicht aber wirklich mehr sprechende, mehr gleichgültig melodische als ausdrucksvoll redende Tonfall ging zunächst, mit wiederum nur musikalischer Willkür gemodelt und variiert, in die Oper über, so daß mit Arie, Tanzweise und Rezitativ der ganze Apparat des musikalischen Dramas – und zwar bis auf die neueste Oper dem Wesen nach unverändert – festgestellt war. Die dramatischen Pläne, die diesem Apparate untergelegt wurden, gewannen ebenfalls bald stereotypen Bestand;
meistens der gänzlich mißverstandenen griechischen Mythologie und Heroenwelt entnommen, bildeten sie ein theatralisches Gerüst, dem alle Fähigkeit, Wärme und Teilnahme zu erwecken, vollständig abging, das dagegen die Eigenschaft besaß, sich zur Benutzung von jedem Komponisten nach Belieben herzugeben, wie denn auch die meisten dieser Texte von den verschiedensten Musikern wiederholt komponiert worden sind. –
Die so berühmt gewordene Revolution Glucks, die vielen
Unkenntnisvollen als eine gänzliche Verdrehung der bis dahin üblichen Ansicht von dem Wesen der Oper zu Gehör gekommen ist, bestand nun in Wahrheit nur darin, daß der musikalische Komponist sich gegen die Willkür des Sängers empörte. Der Komponist, der nächst dem Sänger die Beachtung des Publikums besonders auf sich gezogen hatte, da er es war, der diesem immer neuen Stoff für seine Geschicklichkeit herbeischaffte, fühlte sich ganz in dem Grade von der Wirksamkeit dieses Sängers beeinträchtigt,
als es ihm daran gelegen war, jenen Stoff nach eigener erfinderischer Phantasie zu gestalten, so daß auch sein Werk, und vielleicht endlich nur sein Werk dem Zuhörer sich vorstelle. Es standen dem Komponisten zur Erreichung seines ehrgeizigen Zieles zwei Wege offen: entweder den rein sinnlichen Inhalt der Arie, mit Benutzung aller zu Gebote stehenden und noch zu erfindenden musikalischen Hülfsmittel, bis zur höchsten, üppigsten Fülle zu entfalten oder – und
dies ist der ernstere Weg, den wir für jetzt zu verfolgen haben – die Willkür im Vortrage dieser Arie dadurch zu beschränken, daß der Komponist der vorzutragenden Weise einen dem unterliegenden Worttexte entsprechenden Ausdruck zu geben suchte. Wenn diese Texte ihrer Natur nach als gefühlvolle Reden handelnder Personen gelten mußten, so war es von jeher gefühlvollen Sängern und Komponisten ganz von selbst auch schon beigekommen, ihre Virtuosität mit dem Gepräge der nötigen Wärme
auszustatten, und Gluck war gewiß nicht der erste, der gefühlvolle Arien schrieb, noch seine Sänger die ersten, die solche mit Ausdruck vortrugen. Daß er aber die schickliche Notwendigkeit eines der Textunterlage entsprechenden Ausdruckes in Arie und Rezitativ mit Bewußtsein und grundsätzlich aussprach, das macht ihn zu dem Ausgangspunkt für eine allerdings vollständige Veränderung in der bisherigen Stellung der künstlerischen Faktoren der Oper zueinander. Von jetzt an geht die
Herrschaft in der Anordnung der Oper mit Bestimmtheit auf den Komponisten über: der Sänger wird zum Organ der Absicht des Komponisten, und diese Absicht ist mit Bewußtsein dahin ausgesprochen, daß dem dramatischen Inhalte der Textunterlage durch einen wahren Ausdruck desselben entsprochen werden solle. Der unschicklichen und gefühllosen Gefallsucht des virtuosen Sängers war also im Grunde einzig entgegengetreten worden, im übrigen aber blieb es in bezug auf den ganzen unnatürlichen
Organismus der Oper durchaus beim alten. Arie, Rezitativ und Tanzstück stehen, für sich gänzlich abgeschlossen, eben so unvermittelt nebeneinander in der Gluckschen Oper da, als es vor ihr und bis heute fast immer noch der Fall ist.
In der Stellung des Dichters zum Komponisten war nicht das mindeste geändert; eher war die Stellung des Komponisten gegen ihn noch diktatorischer geworden, da er, bei ausgesprochenem Bewußtsein von seiner – dem virtuosen Sänger gegenüber
– höheren Aufgabe, mit vorbedachterem Eifer die Anordnungen im Gefüge der Oper traf. Dem Dichter fiel es gar nicht ein, in diese Anordnungen sich irgendwie einzumischen; er konnte die Musik, der nun einmal die Oper ihre Entstehung verdankte, gar nicht anders fassen als in jenen engen, ganz bestimmten Formen, die er – als selbst den Musiker wiederum gänzlich bindend – vorfand. Es wäre ihm undenklich erschienen, durch Anforderungen der dramatischen Notwendigkeit an sie, auf diese
Formen in dem Grade zu wirken, daß sie ihrem Wesen nach aufgehört hätten, Schranken für die freie Entwickelung der dramatischen Wahrheit zu sein, da er eben nur in diesen – dem Musiker selbst unantastbaren – Formen das Wesen der Musik begriff. Er mußte daher, gab er sich nun einmal zur Dichtung eines Operntextes her, peinlicher als der Musiker selbst auf die Beobachtung jener Formen bedacht sein und höchstens diesem Musiker es überlassen, auf dem ihm heimischen Felde Erweiterungen
und Entwickelungen auszuführen, zu denen er sich nur behilflich erzeigen, nie aber anfordernd sich stellen konnte. Somit wurde vom Dichter selbst, der dem Komponisten mit einer gewissen heiligen Scheu zusah, diesem die Diktatur in der Oper eher noch vollständiger zugeführt als bestritten, als er wahrnahm, welch ernsten Eifer der Musiker an seine Aufgabe setzte.
Erst Glucks Nachfolger waren aber darauf bedacht, aus dieser ihrer Stellung für wirkliche Erweiterung der vorgefundenen
Formen Vorteil zu ziehen. Diese Nachfolger, unter denen wir die Komponisten italienischer und französischer Herkunft zu begreifen haben, welche dicht am Ende des vorigen und im ersten Anfange dieses Jahrhunderts für die Pariser Operntheater schrieben, gaben ihren Gesangstücken, bei immer vollendeterer Wärme und Wahrheit des unmittelbaren Ausdruckes, zugleich eine immer ausgedehntere formelle Grundlage. Die herkömmlichen Einschnitte der Arie, im wesentlichen zwar immer noch beibehalten, wurden
mannigfaltiger motiviert, Übergänge und Verbindungsglieder selbst in das Bereich des Ausdruckes gezogen; das Rezitativ schloß sich unwillkürlicher und inniger an die Arie an und trat als notwendiger Ausdruck selbst in die Arie hinein. Eine namentliche Erweiterung erhielt die Arie aber dadurch, daß an ihrem Vortrage – je nach dem dramatischen Bedürfnisse – auch mehr als eine Person teilnahm und so das wesentlich Monologische der früheren Oper sich vorteilhaft verlor. Stücke
wie Duette und Terzette waren zwar auch schon früher längst bekannt; daß in einem Stücke zwei oder drei sangen, hatte im wesentlichen aber nicht das mindeste im Charakter der Arie geändert: diese blieb in der melodischen Anlage und in Behauptung des einmal angeschlagenen thematischen Tones – der eben nicht auf individuellen Ausdruck, sondern auf eine allgemeine, spezifisch-musikalische Stimmung sich bezog – vollkommen sich gleich, und nichts Wirkliches änderte sich in ihr, gleichviel
ob sie als Monolog oder als Duett vorgetragen wurde, als höchstens ganz Materielles, nämlich daß die musikalischen Phrasen abwechselnd von verschiedenen Stimmen, oder gemeinschaftlich, durch bloß harmonische Vermittelung als zwei- oder dreistimmig usw., gesungen wurden. Dies spezifisch Musikalische eben so weit zu deuten, daß es des lebhaft wechselnden individuellen Ausdruckes fähig wurde, dies war die Aufgabe und das Werk jener Komponisten, wie es sich in ihrer Behandlung des sogenannten
dramatisch-musikalischen Ensembles darstellt. Die wesentliche musikalische Essenz dieses Ensembles blieben in Wahrheit immer nur Arie, Rezitativ und Tanzweise: nur mußte, wenn einmal in Arie und Rezitativ ein der Textunterlage entsprechender Gesangsausdruck als schickliches Erfordernis erkannt worden war, folgerichtig die Wahrheit dieses Ausdruckes auch auf alles das ausgedehnt werden, was in dieser Textunterlage sich von dramatischem Zusammenhang vorfand. Dem redlichen Bemühen, dieser
notwendigen Konsequenz zu entsprechen, entsprang die Erweiterung der älteren musikalischen Formen in der Oper, wie wir sie in den ernsten Opern Cherubinis, Mehuls und Spontinis antreffen: wir können sagen, in diesen Werken ist das erfüllt, was Gluck wollte oder wollen konnte, ja, es ist in ihnen ein für allemal das erreicht, was auf der ursprünglichen Grundlage der Oper sich Natürliches, d. h. im besten Sinne Folgerichtiges, entwickeln konnte.
Der jüngste jener drei Meister, Spontini, war auch so vollkommen überzeugt, das höchste Erreichbare im Genre der Oper wirklich erreicht zu haben; er hatte einen so festen Glauben an die Unmöglichkeit, seine Leistungen irgendwie überboten zu sehen, daß er in allen seinen späteren Kunstproduktionen, die er den Werken aus seiner großen Pariser Epoche folgen ließ, nie auch nur den mindesten Versuch machte, in Form und Bedeutung über den Standpunkt, den er in diesen Werken einnahm,
hinauszugehen. Er sträubte sich hartnäckig, die spätere sogenannte romantische Entwickelung der Oper für irgend etwas anderes als einen offenbaren Verfall der Oper anzuerkennen, so daß er denjenigen, denen er sich seitdem hierüber mitteilte, den Eindruck eines bis zum Wahnsinn für sich und seine Werke Eingenommenen machen mußte, während er eigentlich doch nur eine Überzeugung aussprach, der in Wahrheit eine kerngesunde Ansicht vom Wesen der Oper sehr wohl zugrunde lag. Spontini konnte, beim
Überblick des Gebarens der modernen Oper, mit vollstem Rechte fragen: »Habt ihr die wesentliche Form der musikalischen Opernbestandteile irgendwie weiter entwickelt, als ihr sie bei mir vorfindet? Oder habt ihr etwa gar irgend etwas Verständliches oder Gesundes zustande bringen können mit wirklicher Übergehung dieser Form? Ist nicht alles Ungenießbare in euren Arbeiten nur ein Resultat eures Heraustretens aus dieser Form, und habt ihr alles Genießbare nicht nur innerhalb dieser Formen
hervorbringen können? Wo besteht diese Form nun großartiger, breiter und umfangreicher als in meinen drei großen Pariser Opern? Wer aber will mir sagen, daß er diese Form mit glühenderem, gefühlvollerem und energischerem Inhalte erfüllt habe als ich?« –
Es dürfte schwer sein, Spontini auf diese Fragen eine Antwort zu geben, die ihn verwirren müßte; jedenfalls noch schwerer, ihm zu beweisen, daß er wahnsinnig sei, wenn er uns für wahnsinnig hält. Aus Spontini
spricht die ehrliche, überzeugte Stimme des absoluten Musikers, der da zu erkennen gibt: »Wenn der Musiker für sich, als Anordner der Oper, das Drama zustande bringen will, so kann er, ohne sein gänzliches Unvermögen hierzu darzulegen, nicht einen Schritt weiter gehen, als ich gegangen bin.« Hierin liegt aber unwillkürlich des weiteren die Aufforderung ausgesprochen: »Wollt ihr mehr, so müßt ihr euch nicht an den Musiker, sondern – an den Dichter
wenden.« –
Wie verhielt sich nun zu Spontini und dessen Genossen dieser Dichter? Bei allem Heranwachsen der musikalischen Opernform, bei aller Entwickelung der in ihr enthaltenen Ausdrucksfähigkeit, veränderte die Stellung des Dichters sich doch nicht im mindesten. Er blieb immer der Bereiter von Unterlagen für die ganz selbständigen Experimente des Komponisten. Fühlte dieser, durch gewonnene Erfolge, sein Vermögen zu freierer Bewegung innerhalb seiner Formen
wachsen, so gab er dadurch dem Dichter nur auf, ihn mit weniger Befangenheit und Ängstlichkeit bei Zuführung des Stoffes zu bedienen; er rief ihm gleichsam zu: »Sieh, was ich vermag! Geniere dich nun nicht; vertraue meiner Tätigkeit, auch deine gewagtesten dramatischen Kombinationen mit Haut und Haar in Musik aufzulösen!« – So ward der Dichter vom Musiker nur mit fortgerissen; er durfte sich schämen, seinem Herren hölzerne Steckenpferde vorzuführen, wo dieser imstande war, ein wirkliches
Roß zu besteigen, da er wußte, daß der Reiter die Zügel tüchtig zu handhaben verstand – diese musikalischen Zügel, die das Roß in der wohlgeebneten Opernreitbahn schulgerecht hin- und herlenken sollten, und ohne die weder Musiker noch Dichter es zu besteigen sich getrauten, aus Furcht, es setze hoch über die Einhegung hinweg und liefe in seine wilde, herrliche Naturheimat fort.
So gelangte der Dichter neben dem Komponisten allerdings zu steigender Bedeutung, aber doch nur genau
in dem Grade, als der Musiker vor ihm her aufwärtsstieg und er diesem nur folgte; die streng musikalischen Möglichkeiten allein, die der Komponist ihm wies, hatte der Dichter einzig als maßgebend für alle Anordnung und Gestaltung, ja selbst Stoffauswahl im Auge; er blieb somit, bei allem Ruhm, den auch er zu ernten begann, immer gerade nur der geschickte Mann, der es vermochte, den »dramatischen« Komponisten so entsprechend und nützlich zu bedienen. Sobald der Komponist selbst keine
andere Ansicht von der Stellung des Dichters zu ihm gewann, als er sie der Natur der Oper nach vorfand, konnte er sich selbst auch nur für den eigentlichen verantwortlichen Faktor der Oper ansehen, und so mit Recht und Fug auf dem Standpunkte Spontinis, als dem zweckmäßigsten, stehenbleiben, da er sich die Genugtuung geben durfte, auf ihm alles das zu leisten, was irgend dem Musiker möglich war, wenn er der Oper, als musikalischem Drama, einen Anspruch als gültige Kunstform gewahrt wissen
wollte.
Daß im Drama selbst aber Möglichkeiten lagen, die in jener Kunstform – wenn sie nicht zerfallen sollte – gar nicht auch nur berührt werden durften, dies stellt sich uns jetzt wohl deutlich heraus, mußte dem Komponisten und Dichter jener Periode aber vollständig entgehen. Von allen dramatischen Möglichkeiten konnten ihnen nur diejenigen aufstoßen, die in jener ganz bestimmten und ihrem Wesen nach durchaus beschränkten Opernmusikform zu verwirklichen waren.
Die breite Ausdehnung, das lange Verweilen bei einem Motiv, dessen der Musiker bedurfte, um in seiner Form sich verständlich auszusprechen – die ganze rein musikalische Zutat, die ihm als Vorbereitung nötig war, um gleichsam seine Glocke in Schwung zu setzen, daß sie ertöne und namentlich so ertöne, daß sie einem bestimmten Charakter ausdrucksvoll entspreche –, machten es von je dem Dichter zur Aufgabe, nur mit einer ganz bestimmten Gattung von dramatischen Entwürfen sich zu
befassen, die in sich Raum hatten für die gedehnte, geschraubte Gemächlichkeit, die dem Musiker für sein Experimentieren unerläßlich war. Das bloß Rhetorische, phrasenhaft Stereotype in seinem Ausdrucke war für den Dichter eine Pflicht, denn auf diesem Boden allein konnte der Musiker Raum zu der ihm nötigen, in Wahrheit aber gänzlich undramatischen, Ausbreitung erhalten. Seine Helden kurz, bestimmt und voll gedrängten Inhaltes sprechen zu lassen, hätte dem Dichter nur den Vorwurf der
Unpraktikabilität seines Gedichtes für den Komponisten zuziehen müssen. Fühlte der Dichter sich also notgedrungen, seinen Helden diese banalen, nichtssagenden Phrasen in den Mund zu legen, so konnte er auch mit dem besten Willen von der Welt es nicht ermöglichen, den so redenden Personen wirklichen Charakter und dem Zusammenhange ihrer Handlungen das Siegel voller dramatischer Wahrheit aufzudrücken. Sein Drama war immer mehr nur ein Vorgeben des Dramas; alle Konsequenzen der
wirklichen Absicht des Dramas zu ziehen, durfte ihm gar nicht beikommen. Er übersetzte daher, strenggenommen, eigentlich auch nur das Drama in die Opernsprache, so daß er meistens sogar nur längst bekannte und auf der Bühne des gesprochenen Schauspieles bis zum Überdruß bereits dargestellte Dramen für die Oper bearbeitete, wie dies in Paris namentlich mit den Tragödien des Théatre français der Fall war. Die Absicht des Dramas, die hiernach innerlich hohl und nichtig war, ging offenkundig
somit immer nur in die Intentionen des Komponisten über; von diesem erwartete man das, was der Dichter von vornherein aufgab. Ihm – dem Komponisten – mußte daher auch allein nur zufallen, dieser inneren Hohlheit und Nichtigkeit des ganzen Werkes, sobald er sie wahrnahm, abzuhelfen; er mußte sich also die unnatürliche Aufgabe zugeteilt sehen, von seinem Standpunkte aus, vom Standpunkte desjenigen, der die vollkommen dargelegte dramatische Absicht nur vermöge des ihm zu Gebote
stehenden Ausdruckes zu verwirklichen helfen soll, diese Absicht selbst zu fassen und in das Leben zu rufen. Genaugenommen hatte der Musiker demnach bedacht zu sein, das Drama wirklich zu dichten, seine Musik nicht nur zum Ausdrucke, sondern zum Inhalte selbst zu machen, und dieser Inhalt sollte, der Natur der Sache gemäß, kein anderer als das Drama selbst sein.
Von hieran beginnt auf das erkennbarste die wunderliche Verwirrung der Begriffe vom Wesen der Musik
durch das Prädikat »dramatisch«. Die Musik, die als eine Kunst des Ausdruckes, bei höchster Fülle in diesem Ausdrucke nur wahr sein kann, hat hierin naturgemäß sich immer nur auf das zu beziehen, was sie ausdrücken soll: in der Oper ist dies ganz entschieden die Empfindung des Redenden und Darstellenden, und eine Musik, die dies mit überzeugendster Wirkung tut, ist gerade das, was sie irgend sein kann. Eine Musik, die aber mehr sein, sich nicht auf einen
auszudrückenden Gegenstand beziehen, sondern ihn selbst erfüllen, d. h. dieser Gegenstand zugleich sein will, ist im Grunde gar keine Musik mehr, sondern ein von Musik und Dichtkunst phantastisch abstrahiertes Unding, das sich in Wahrheit nur als Karikatur verwirklichen kann. Bei allen verkehrten Bestrebungen ist die Musik, die irgend wirkungsvolle Musik, wirklich auch nichts anderes geblieben als Ausdruck: jenen Bestrebungen, sie zum Inhalte – und zwar zum Inhalte des Dramas –
selbst zu machen, entsprang aber das, was wir als den folgerichtigen Verfall der Oper, und somit als die offenkundige Darlegung der gänzlichen Unnatur dieses Kunstgenres zu erkennen haben.
War die Grundlage und der eigentliche Inhalt der Spontinischen Oper hohl und nichtig und die auf ihnen sich kundgebende musikalische Form borniert und pedantisch, so war sie in dieser Beschränktheit doch ein aufrichtiges, in sich klares Bekenntnis von dem, was in diesem Genre zu
ermöglichen sei, ohne die Unnatur in ihm zum Wahnsinn zu treiben. Die moderne Oper ist dagegen die offene Kundgebung dieses wirklich eingetretenen Wahnsinnes. Um ihr Wesen näher zu ergründen, wenden wir uns jetzt jener andern Richtung der Entwickelung der Oper zu, die wir oben als die frivole bezeichneten, und durch deren Vermengung mit der soeben besprochenen ernsten eben jener unbeschreiblich konfuse Wechselbalg zutage gefördert worden ist, den wir, nicht
selten selbst von anscheinend vernünftigen Leuten, »moderne dramatische Oper« nennen hören.
[ II ]
Schon lange vor Gluck – wir erwähnten dessen bereits – ist es glücklich begabten, gefühlvollen Komponisten und Sängern ganz von selbst angekommen, den Vortrag der Opernarie mit innigem Ausdrucke auszustatten, bei Gesangsfertigkeit und trotz der Virtuosenbravour überall da, wo es die Textunterlage gestattete, und selbst, wo sie diesem Ausdrucke nirgends entgegenkam, durch Mitteilung wirklichen Gefühles und wahrer Leidenschaft auf ihre Zuhörer zu wirken. Es hing diese Erscheinung ganz von der individuellen Aufgelegtheit der musikalischen Faktoren der Oper ab, und in ihr zeigte sich das wahre Wesen der Musik insoweit siegreich über allen Formalismus, als diese Kunst, ihrer Natur nach, sich als unmittelbare Sprache des Herzens kundgibt.
Wenn wir in der Entwickelung der Oper diejenige Richtung, in welcher durch Gluck und seine Nachfolger diese edelste Eigenschaft der Musik grundsätzlich zur Anordnerin des Dramas erhoben wurde, als die reflektierte bezeichnen wollen, so haben wir dagegen jene andere Richtung, in welcher – namentlich auf italienischen Operntheatern – diese Eigenschaft bei glücklich begabten Musikern sich bewußtlos und ganz von selbst geltend machte, die naive zu nennen. Von jener ist es charakteristisch, daß sie in Paris, als übersiedeltes Produkt, vor einem Publikum sich ausbildete, das, an sich durchaus unmusikalisch, mehr der wohlgeordneten, blendenden Redeweise als einem gefühlvollen Inhalte der Rede selbst mit Anerkennung sich zuwendet; wogegen diese, die naive Richtung, den Söhnen des Heimatlandes der modernen Musik, Italiens, vorzüglich zu eigen blieb.
War es auch ein Deutscher, der diese Richtung in ihrem höchsten Glanze zeigte, so ward sein hoher Beruf ihm doch gerade nur dadurch zugeteilt, daß seine künstlerische Natur von der ungetrübten, fleckenlosen Klarheit eines hellen Wasserspiegels war, zu welchem die eigentümliche schönste Blüte italienischer Musik sich neigte, um sich – wie im Spiegelbilde – selbst zu erschauen, zu erkennen und zu lieben. Dieser Spiegel war aber nur die Oberfläche eines tiefen, unendlichen Meeres des Sehnens und Verlangens, das aus der unermeßlichen Fülle seines Wesens sich zu seiner Oberfläche als zu der Äußerung seines Inhaltes ausdehnte, um aus dem liebevollen Gruße der schönen Erscheinung, die wie im Durste nach Erkenntnis ihres eigenen Wesens zu ihm hinab sich neigte, Gestalt, Form und Schönheit zu gewinnen.
Wer in Mozart den experimentierenden Musiker erkennen will, der von einem Versuche zum anderen sich wendet, um z. B. das Problem der Oper zu lösen, der kann diesem Irrtume, um ihn aufzuwiegen, nur den andern an die Seite stellen, daß er z. B. Mendelssohn, wenn dieser, gegen seine eigenen Kräfte mißtrauisch, scheu und zögernd aus weitester Ferne nur nach und nach sich annähernd der Oper zuwandte, Naivetät zuspricht. Der naive, wirklich begeisterte Künstler stürzt sich mit enthusiastischer Sorglosigkeit in sein Kunstwerk, und erst wenn dies fertig, wenn es in seiner Wirklichkeit sich ihm darstellt, gewinnt er, aus seinen Erfahrungen, die echte Kraft der Reflexion, die ihn allgemeinhin vor Täuschungen bewahrt, im besonderen Falle, also da, wo er durch Begeisterung sich wieder zum Kunstwerke gedrängt fühlt, ihre Macht über ihn dennoch aber vollständig wieder verliert. Von Mozart ist mit Bezug auf seine Laufbahn als Opernkomponist nichts charakteristischer als die unbesorgte Wahllosigkeit, mit der er sich an seine Arbeiten machte: ihm fiel es so wenig ein, über den der Oper zugrunde liegenden ästhetischen Skrupel nachzudenken, daß er vielmehr mit größter Unbefangenheit an die Komposition jedes ihm aufgegebenen Operntextes sich machte, sogar unbekümmert darum, ob dieser Text für ihn, als reinen Musiker, dankbar sei oder nicht. Nehmen wir alle seine hier und da aufbewahrten ästhetischen Bemerkungen und Aussprüche zusammen, so versteigt all seine Reflexion gewiß sich nicht höher als seine berühmte Definition von seiner Nase. Er war so ganz und vollständig Musiker, und nichts als Musiker, daß wir an ihm am allerersichtlichsten und überzeugendsten die einzig wahre und richtige Stellung des Musikers auch zum Dichter begreifen können. Das Wichtigste und Entscheidendste für die Musik leistete er unbestreitbar gerade in der Oper – in der Oper, auf deren Gestaltung mit gleichsam dichterischer Machtvollkommenheit einzuwirken ihm nicht im entferntesten beikam, sondern in der er gerade nur das leistete, was er nach rein musikalischem Vermögen leisten konnte, dafür aber eben durch getreuestes, ungetrübtestes Aufnehmen der dichterischen Absicht – wo und wie sie vorhanden war – dieses sein rein musikalisches Vermögen zu solcher Fülle ausdehnte, daß wir in keiner seiner absolut musikalischen Kompositionen, namentlich auch nicht in seinen Instrumentalwerken, die musikalische Kunst von ihm so weit und reich entwickelt sehen als in seinen Opern. Die große, edle und sinnige Einfalt seines rein musikalischen Instinktes, d. h. des unwillkürlichen Innehabens des Wesens seiner Kunst, machte es ihm sogar unmöglich, da als Komponist entzückende und berauschende Wirkungen hervorzubringen, wo die Dichtung matt und unbedeutend war. Wie wenig verstand dieser reichbegabteste aller Musiker das Kunststück unserer modernen Musikmacher, auf eine schale und unwürdige Grundlage goldflimmernde Musiktürme aufzuführen, und den Hingerissenen, Begeisterten zu spielen, wo alles Dichtwerk hohl und leer ist, um so recht zu zeigen, daß der Musiker der wahre Hauptkerl sei und alles machen könne, selbst aus nichts etwas erschaffen – ganz wie der liebe Gott! O wie ist mir Mozart innig lieb und hoch verehrungswürdig, daß es ihm nicht möglich war, zum »Titus« eine Musik wie die des »Don Juan«, zu »Cosi fan tutte« eine wie die des »Figaro« zu erfinden: wie schmählich hätte dies die Musik entehren müssen! – Mozart machte immerfort Musik, aber eine schöne Musik konnte er nie schreiben, als wenn er begeistert war. Mußte diese Begeisterung von innen, aus eigenem Vermögen kommen, so schlug sie bei ihm doch nur dann hell und leuchtend hervor, wenn sie von außen entzündet wurde, wenn dem Genius göttlichster Liebe in ihm der liebenswerte Gegenstand sich zeigte, den er, brünstig selbstvergessen, umarmen konnte. Und so wäre es gerade der absoluteste aller Musiker, Mozart, gewesen, der längst schon das Opernproblem uns klar gelöst, nämlich das wahrste, schönste und vollkommenste – Drama dichten geholfen hätte, wenn eben der Dichter ihm begegnet wäre, dem er als Musiker gerade nur zu helfen gehabt haben würde. Der Dichter begegnete ihm aber nicht: bald reichte ihm nur ein pedantisch langweiliger oder ein frivol aufgeweckter Operntextmacher seine Arien, Duetten und Ensemblestücke zur Komposition dar, die er dann, je nach der Wärme, die sie ihm erwecken konnten, so in Musik setzte, daß sie immer den entsprechendsten Ausdruck erhielten, dessen sie nach ihrem Inhalte irgend fähig waren.
So hatte Mozart nur das unerschöpfliche Vermögen der Musik dargetan, jeder Anforderung des Dichters an ihre Ausdrucksfähigkeit in undenklichster Fülle zu entsprechen, und bei seinem ganz unreflektierten Verfahren hatte der herrliche Musiker auch in der Wahrheit des dramatischen Ausdruckes, in der unendlichsten Mannigfaltigkeit seiner Motivierung, dieses Vermögen der Musik in bei weitem reicherem Maße aufgedeckt als Gluck und alle seine Nachfolger. Etwas Grundsätzliches war aber in seinem Wirken und Schaffen so wenig ausgesprochen, daß die mächtigen Schwingen seines Genius das formelle Gerüst der Oper eigentlich ganz unberührt gelassen hatten: er hatte in die Formen der Oper nur den Feuerstrom seiner Musik ergossen, sie selbst waren aber zu unmächtig, diesen Strom in sich festzuhalten, sondern er floß aus ihnen dahin, wo er in immer freierer und unbeengenderer Einhegung seinem natürlichen Verlangen nach sich ausdehnen konnte, bis wir ihn in den Symphonien Beethovens zum mächtigen Meere angeschwollen wiederfinden. Während in der reinen Instrumentalmusik die eigenste Fähigkeit der Musik sich zum ungemessensten Vermögen entwickelte, blieben jene Opernformen, gleich ausgebranntem Mauerwerk, nackt und frostig in ihrer alten Gestalt stehen, harrend des neuen Gastes, der seine flüchtige Heimat in ihnen aufschlagen sollte. Nur für die Geschichte der Musik allgemeinhin ist Mozart von so überraschend wichtiger Bedeutung, keineswegs aber für die Geschichte der Oper, als eines eigenen Kunstgenres, im Besonderen. Die Oper, die in ihrem unnatürlichen Dasein an keine Gesetze wirklicher Notwendigkeit für ihr Leben gebunden war, konnte jedem ersten besten Musikabenteurer als gelegentliche Beute verfallen.
Dem unerquicklichen Anblicke, den das Kunstschaffen der sogenannten Nachfolger Mozarts darbietet, können wir hier füglich vorbeigehen. Eine ziemliche Reihe von Komponisten bildete sich ein, Mozarts Oper sei etwas durch die Form Nachzuahmendes, wobei natürlich übersehen wurde, daß diese Form an sich nichts und Mozarts musikalischer Geist eben alles gewesen war: die Schöpfungen des Geistes durch pedantische Anordnungen nachzukonstruieren ist aber noch niemand gelungen.
Nur eines blieb in diesen Formen noch auszusprechen übrig: Hatte Mozart in ungetrübtester Naivetät ihren rein musikkünstlerischen Gehalt zu höchster Blüte entwickelt, so war der eigentliche Grund des ganzen Opernwesens, dem Quell seiner Entstehung gemäß, mit unverhülltester, nacktesten Offenheit in denselben Formen noch kundzutun; es war der Welt noch deutlich und unumwunden zu sagen, welchem Verlangen und welchen Anforderungen an die Kunst eigentlich die Oper Ursprung und Dasein verdanke; daß dieses Verlangen keineswegs nach dem wirklichen Drama, sondern nach einem – durch den Apparat der Bühne nur gewürzten – keineswegs ergreifenden und innerlich belebenden, sondern nur berauschenden und oberflächlich ergötzenden Genuß ausging. In Italien, wo diesem – noch unbewußten – Verlangen die Oper entstanden war, sollte endlich mit vollem Bewußtsein ihm auch entsprochen werden.
Wir müssen hier näher auf das Wesen der Arie zurückkommen.
Solange Arien komponiert werden, wird der Grundcharakter dieser Kunstform sich immer als ein absolut musikalischer herauszustellen haben. Das Volkslied ging aus einer unmittelbaren, eng unter sich verwachsenen, gleichzeitigen Gemeinwirksamkeit der Dichtkunst und der Tonkunst hervor, einer Kunst, die wir im Gegensatze zu der von uns einzig fast nur noch begriffenen, absichtlich gestaltenden Kulturkunst kaum Kunst nennen möchten, sondern vielleicht durch: unwillkürliche Darlegung des Volksgeistes durch künstlerisches Vermögen bezeichnen dürften. Hier ist Wort- und Tondichtung eins. Dem Volke fällt es nie ein, seine Lieder ohne Text zu singen, ohne den Wortvers gäbe es für das Volk keine Tonweise. Variiert im Laufe der Zeit und bei verschiedenen Abstufungen des Volksstammes die Tonweise, so variiert ebenso auch der Wortvers; irgendwelche Trennung ist ihm unfaßlich, beide sind ihm ein zu sich gehöriges Ganzes, wie Mann und Weib. Der Luxusmensch hörte diesem Volksliede nur aus der Ferne zu; aus dem vornehmen Palaste lauschte er den vorüberziehenden Schnittern, und was von der Wiese herauf in seine prunkenden Gemächer drang, war nur die Tonweise, während die Dichtweise für ihn da unten verhallte. War diese Tonweise der entzückende Duft der Blume, der Wortvers aber der Leib dieser Blume selbst mit all seinen zarten Zeugungsorganen, so zog der Luxusmensch, der einseitig nur mit seinen Geruchsnerven, nicht aber gemeinsinnig mit dem Auge zugleich genießen wollte, diesen Duft von der Blume ab und destillierte künstlich den Parfüm, den er auf Fläschchen zog, um nach Belieben ihn willkürlich bei sich führen zu können, sich und sein prachtvolles Gerät mit ihm zu netzen, wie er Lust hatte. Um sich auch an dem Anblicke der Blume selbst zu erfreuen, hätte er notwendig näher hinzugehen, aus seinem Palaste auf die Waldwiese herabsteigen, durch Äste, Zweige und Blätter sich durchdrängen müssen, wozu der Vornehme und Behagliche durchaus kein Verlangen hatte. Mit diesem wohlriechenden Substrate besprengte er nun auch die öde Langeweile seines Lebens, die Hohlheit und Nichtigkeit seiner Herzensempfindung, und das künstlerische Gewächs, das dieser unnatürlichen Befruchtung entsproß, war nichts anderes, als die Opernarie. Sie blieb, mochte sie in noch so verschiedenartige willkürliche Verbindungen gezwungen werden, doch ewig unfruchtbar und immer nur sie selbst, das, was sie war und nicht anders sein konnte: ein bloß musikalisches Substrat. Der ganze luftige Körper der Arie verflog in die Melodie; und diese ward gesungen, endlich gegeigt und gepfiffen, ohne nur irgend noch sich anmerken zu lassen, daß ihr ein Wortvers oder gar Wortsinn unterzuliegen habe. Je mehr dieser Duft aber, um ihm irgendwelchen Stoff zum körperlichen Anhaften zu bieten, zu Experimenten aller Art sich hergeben mußte, unter denen das pomphafteste das ernstliche Vorgeben des Dramas war, desto mehr fühlte man ihn von all der Mischung mit Sprödem, Fremdartigem angegriffen, ja an wollüstiger Stärke und Lieblichkeit abnehmen. Der diesem Dufte nun, unnatürlich wie er war, wieder einen Körper gab, der, nachgemacht wie er war, doch wenigstens so täuschend wie möglich jenen natürlichen Leib nachahmte, der einst diesen Duft aus seiner natürlichen Fülle, als den Geist seines Wesens, in die Lüfte aussandte; der ungemein geschickte Verfertiger künstlicher Blumen, die er aus Samt und Seide formte, mit täuschenden Farben bemalte, und deren trockenen Kelch er mit jenem Parfümsubstrat netzte, daß es aus ihm zu duften begann, wie fast aus einer wirklichen Blume; – dieser große Künstler war Joachimo Rossini.
Bei Mozart hatte jener melodische Duft in einer herrlichen, gesunden, ganz mit sich einigen, künstlerischen Menschennatur einen so nährenden Boden gefunden, daß er aus ihr heraus selbst wieder die schöne Blume echter Kunst trieb, die uns zu innigstem Seelenentzücken hinreißt. Auch bei Mozart fand er jedoch nur diese Nahrung, wenn das ihm Verwandte, Gesunde, Reinmenschliche als Dichtung zur Vermählung mit seiner ganz musikalischen Natur sich ihm darbot, und fast war es nur glücklicher Zufall, wenn wiederholt diese Erscheinung ihm entgegenkam. Wo Mozart von diesem befruchtenden Gotte verlassen war, da vermochte auch das Künstliche jenes Duftes sich nur mühsam, und doch nur ohne wahres, notwendiges Leben, wiederum künstlich zu erhalten; die noch so aufwandvoll gepflegte Melodie erkrankte am leblosen kalten Formalismus, dem einzigen Erbteil, das der früh Verscheidende seinen Erben hinterlassen konnte, da er im Tode eben sein – Leben mit sich nahm.
Was Rossini in der ersten Blüte seiner üppigen Jugend um sich gewahrte, war nur die Ernte des Todes. Blickte er auf die ernste französische, sogenannte dramatische Oper, so erkannte er mit dem Scharfblicke jugendlicher Lebenslust eine prunkende Leiche, die selbst der in prachtvoller Einsamkeit dahinschreitende Spontini nicht mehr zu beleben vermochte, da er – wie zur feierlichen Selbstverherrlichung – sich bereits selbst lebendig einbalsamierte. Von keckem Instinkte für das Leben getrieben, riß Rossini auch dieser Leiche die pomphafte Larve vom Gesicht, wie um den Grund ihres einstigen Lebens zu erspähen: durch alle Pracht der stolz verhüllenden Gewänder hindurch entdeckte er da dieses – den wahren Lebensgrund auch dieser gewaltig sich Gebarenden –: die Melodie. – Blickte er auf die heimische italienische Oper und das Werk der Erben Mozarts, nichts anderes gewahrte er als wiederum den Tod – den Tod in inhaltslosen Formen, als deren Leben ihm die Melodie aufging – die Melodie schlechtweg, ohne alle das Vorgeben von Charakter, das ihm durchaus heuchlerisch dünken mußte, wenn er auf das sah, was ihm Unfertiges, Gewaltsames und Halbes entsprungen war.
Leben wollte aber Rossini, und um dies zu können, begriff er sehr wohl, daß er mit denen leben müsse, die Ohren hatten, um ihn zu hören. Als das einzige Lebendige in der Oper war ihm die absolute Melodie aufgegangen; so brauchte er bloß darauf zu achten, welche Art von Melodie er anschlagen müßte, um gehört zu werden. Über den pedantischen Partiturenkram sah er hinweg, horchte dahin, wo die Leute ohne Noten sangen und was er da hörte, war das, was am unwillkürlichsten aus dem ganzen Opernapparate im Gehöre haften geblieben war, die nackte, ohrgefällige, absolut melodische Melodie, d. h. die Melodie, die eben nur Melodie war und nichts anderes, die in die Ohren gleitet – man weiß nicht warum, die man nachsingt – man weiß nicht warum, die man heute mit der von gestern vertauscht und morgen wieder vergißt – man weiß auch nicht warum, die schwermütig klingt, wenn wir lustig sind, die lustig klingt, wenn wir verstimmt sind, und die wir uns doch vorträllern – wir wissen eben nicht warum?
Diese Melodie schlug denn Rossini an, und – siehe da! – das Geheimnis der Oper ward offenbar. Was Reflexion und ästhetische Spekulation aufgebaut hatten, rissen Rossinis Opernmelodien zusammen, daß es wie wesenloses Hirngespinst verwehte. Nicht anders erging es der »dramatischen« Oper, wie der Wissenschaft mit den Problemen, deren Grund in Wahrheit eine irrige Anschauung war, und die bei tiefstem Forschen immer nur irriger und unlösbarer werden müssen, bis endlich das Alexandersschwert sein Werk verrichtet und den Lederknoten mitten durchhaut, daß die tausend Riemenenden nach allen Seiten hin auseinanderfallen. Dies Alexandersschwert ist eben die nackte Tat, und eine solche Tat vollbrachte Rossini, als er alles Opernpublikum der Welt zum Zeugen der ganz bestimmten Wahrheit machte, daß dort die Leute nur »hübsche Melodien« hören wollten, wo es irrenden Künstlern zuvor eingefallen war, durch den musikalischen Ausdruck den Inhalt und die Absicht eines Dramas kundzutun.
Alle Welt jubelte Rossini für seine Melodien zu, ihm, der es ganz vortrefflich verstand, aus der Verwendung dieser Melodien eine besondere Kunst zu machen. Alles Organisieren der Form ließ er ganz beiseite; die einfachste, trockenste und übersichtlichste, die er nun vorfand, erfüllte er dagegen mit dem ganzen folgerichtigen Inhalte, dessen sie einzig von je bedurft hatte –: narkotisch-berauschende Melodie. Ganz unbekümmert um die Form, eben weil er sie durchaus unberührt ließ, wandte er sein ganzes Genie nur zu den amüsantesten Gaukeleien auf, die er innerhalb dieser Formen ausführen ließ. Den Sängern, die zuvor auf dramatischen Ausdruck eines langweiligen und nichtssagenden Worttextes studieren mußten, sagte er: »Macht mit den Worten, was ihr Lust habt, vergeßt aber vor allem nur nicht, für lustige Läufe und melodische Entrechats euch tüchtig applaudieren zu lassen.« Wer gehorchte ihm lieber als die Sänger? – Den Instrumentisten, die zuvor abgerichtet waren, pathetische Gesangsphrasen so intelligent wie möglich in übereinstimmendem Gesamtspiele zu begleiten, sagte er: »Machts euch leicht, vergeßt vor allem nur nicht, da, wo ich jedem von euch Gelegenheit dazu gebe, für eure Privatgeschicklichkeit euch gehörig beklatschen zu lassen.« Wer dankte ihm eifriger als die Instrumentisten? – Dem Operntextdichter, der zuvor unter den eigensinnig befangenen Anordnungen des dramatischen Komponisten Blut geschwitzt hatte, sagte er: »Freund, mach, was du Lust hast, denn dich brauche ich gar nicht mehr.« Wer war ihm verbundener für solche Enthebung von undankbarer, saurer Mühe als der Operndichter?
Wer aber vergötterte für alle diese Wohltaten Rossini mehr als die ganze zivilisierte Welt, soweit sie die Operntheater fassen konnten? Und wer hatte mehr Grund dazu als sie? Wer war, bei so viel Vermögen, so grundgefällig gegen sie als Rossini? – Erfuhr er, daß das Publikum dieser einen Stadt besonders gern Läufe der Sängerinnen hörte, das der anderen dagegen lieber schmachtenden Gesang, so gab er für die erste Stadt seinen Sängerinnen nur Läufe, für die zweite nur schmachtenden Gesang. Wußte er, daß man hier gern die Trommel im Orchester hörte, so ließ er sogleich die Ouvertüre zu einer ländlichen Oper mit Trommelwirbel beginnen; wurde ihm gesagt, daß man dort leidenschaftlich das Crescendo in Ensemblesätzen liebte, so setzte er seine Oper in der Form eines beständig wiederkehrenden Crescendos. – Nur einmal hatte er Grund, seine Gefälligkeit zu bereuen. Für Neapel riet man ihm, sorgfältiger in seinem Satze zu verfahren: seine solider gearbeitete Oper sprach nicht an, und Rossini nahm sich vor, nie in seinem Leben wieder auf Sorgfalt bedacht zu sein, selbst wenn man ihm dies anriete. –
Übersah Rossini den ungeheuern Erfolg seiner Behandlung der Oper, so ist es ihm nicht im mindesten als Eitelkeit und anmaßender Hochmut zu deuten, wenn er lachend den Leuten in das Gesicht rief, er habe das wahre Geheimnis der Oper gefunden, nach welchem alle seine Vorgänger nur irrend herumgetappt. Wenn er behauptete, es würde ihm ein leichtes sein, die Opern auch seiner größten Vorgänger, und gelte es selbst Mozarts »Don Juan«, vergessen zu machen, und zwar einfach dadurch, daß er dasselbe Sujet auf seine Weise wieder komponiere, so sprach sich hierin keinesweges Arroganz, sondern der ganz sichere Instinkt davon aus, was das Publikum eigentlich von der Oper verlange. In der Tat würden unsere Musikreligiösen der Erscheinung eines Rossinischen »Don Juan« nur zu ihrer vollsten Schmach zuzusehen gehabt haben; denn mit Sicherheit ließe sich annehmen, daß Mozarts »Don Juan« vor dem eigentlichen entscheidenden Theaterpublikum – wenn nicht auf immer, so doch für eine längere Zeit – dem Rossinischen hätte weichen müssen. Denn dies ist der eigentliche Ausschlag, den Rossini in der Opernfrage gab: er appellierte mit Haut und Haar der Oper an das Publikum; er machte dieses Publikum mit seinen Wünschen und Neigungen zum eigentlichen Faktor der Oper.
Hätte das Opernpublikum irgendwie den Charakter und die Bedeutung des Volkes, nach dem richtigen Sinne dieses Wortes, an sich gehabt, so müßte uns Rossini als der allergründlichste Revolutionär im Gebiete der Kunst erscheinen. Einem Teile unsrer Gesellschaft gegenüber, der aber nur als ein unnatürlicher Auswuchs des Volks und in seiner sozialen Überflüssigkeit, ja Schädlichkeit, nur als das Raupennest anzusehen ist, welches die gesunden, nährenden Blätter des natürlichen Volksbaumes zernagt, um aus ihm höchstens die Lebenskraft zu erlangen, als luftige, gaukelnde Schmetterlingsschar ein ephemeres, luxuriöses Dasein dahinzuflattern – einem solchen Volksabhube gegenüber, der auf einem zu schmutziger Roheit versunkenen Bodensatze sich nur zu lasterhafter Eleganz, nie aber zu wahrer, schöner menschlicher Bildung erheben konnte – also – um den bezeichnendsten Ausdruck zu geben – unserem Opernpublikum gegenüber, war Rossini jedoch nur Reaktionär, während wir Gluck und seine Nachfolger als methodische, prinzipielle, nach ihrem wesentlichen Erfolge machtlose, Revolutionäre anzusehen haben. Im Namen des luxuriösen, in der Tat aber einzig wirklichen Inhaltes der Oper und der konsequenten Entwickelung desselben, reagierte Joachimo Rossini ebenso erfolgreich gegen die doktrinären Revolutionsmaximen Glucks, als Fürst Metternich, sein großer Protektor, im Namen des unmenschlichen, in Wahrheit aber einzigen Inhaltes des europäischen Staatswesens und der folgerichtigen Geltendmachung desselben, gegen die doktrinären Maximen der liberalen Revolutionäre reagierte, welche innerhalb dieses Staatswesens, und ohne gänzliche Aufhebung seines unnatürlichen Inhalts, in denselben Formen, die diesen Inhalt aussprachen, das Menschliche und Vernünftige herstellen wollten. Wie Metternich den Staat mit vollem Rechte nicht anders als unter der absoluten Monarchie begreifen konnte, so begriff Rossini mit nicht minderer Konsequenz die Oper nur unter der absoluten Melodie. Beide sagten: »Wollt ihr Staat und Oper, hier habt ihr Staat und Oper – andere gibt es nicht!«
Mit Rossini ist die eigentliche Geschichte der Oper zu Ende. Sie war zu Ende, als der unbewußte Keim ihres Wesens sich zu nacktester, bewußter Fülle entwickelt hatte, der Musiker als der absolute Faktor dieses Kunstwerkes mit unumschränkter Machtvollkommenheit, und der Geschmack des Theaterpublikums als die einzige Richtschnur für sein Verhalten anerkannt war. Sie war zu Ende, als jedes Vorgeben des Dramas bis zur Grundsätzlichkeit tatsächlich beseitigt, den singenden Darstellern die Ausübung unbedingtester und ohrgefälligster Gesangsvirtuosität als ihre einzige Aufgabe, und ihre hierauf begründeten Ansprüche an den Komponisten als ihr unveräußerlichstes Recht zuerkannt waren. Sie war zu Ende, als die große musikalische Öffentlichkeit unter der vollständig charakterlosen Melodie einzig den Inhalt der Musik, in dem losen Zusammenhange der Opertonstücke einzig das Gefüge der musikalischen Form, unter der narkotisch berauschenden Wirkung eines Opernabends einzig das Wesen der Musik ihrem Eindrucke nach allein noch begriff. Sie war zu Ende – an jenem Tage, als der von Europa vergötterte, im üppigsten Schoße des Luxus dahinlächelnde Rossini es für geziemend hielt, dem weltscheuen, bei sich versteckten, mürrischen, für halbverrückt gehaltenen Beethoven einen – Ehrenbesuch abzustatten, den dieser – – nicht erwiderte. Was mochte wohl das lüstern schweifende, dunkle Auge des wollüstigen Sohnes Italias gewahren, als es in den unheimlichen Glanz des schmerzlich gebrochenen, sehnsuchtsiechen – und doch todesmutigen Blickes seines unbegreiflichen Gegners unwillkürlich sich versenkte? Schüttelte sich ihm das furchtbar wilde Kopfhaar des Medusenhauptes, das niemand erschaute, ohne zu sterben? – So viel ist gewiß, mit Rossini starb die Oper. –
Von der großen Stadt Paris aus, in der die gebildeten Kunstkenner und Kritiker noch heute nicht begreifen können, welch ein Unterschied zwischen zwei berühmten Komponisten wie Beethoven und Rossini stattfinden solle, als etwa der, daß dieser sein himmlisches Genie auf die Komposition von Opern, jener dagegen auf Symphonien verwandt habe – von diesem splendiden Sitze aller modernen Musikweisheit aus sollte dennoch der Oper noch eine verwunderliche Lebensverlängerung bereitet werden. Der Hang am Dasein ist urkräftig in allem, was da ist. Die Oper war einmal da, wie das Byzantinische Kaisertum, und ganz wie dieses wird sie bestehen, solange irgend die unnatürlichen Bedingungen vorhanden bleiben, die sie – innerlich tot – immer noch am Leben erhalten – bis endlich die ungezogenen Türken kommen, die einst schon dem Byzantinischen Reiche einmal ein Ende machten und so grob waren, in der prunkend heiligen Sophienkirche ihre wilden Rosse zur Krippe zu führen.
Als Spontini mit sich die Oper für tot ansah, irrte er sich, weil er die »dramatische Richtung« der Oper für ihr Wesen hielt: er vergaß die Möglichkeit eines Rossini, der ihm vollkommen das Gegenteil beweisen könnte. Als Rossini mit bei weitem größerem Rechte die Oper mit sich für fertig hielt, so irrte er sich zwar weniger, weil er das Wesen der Oper erkannt, deutlich dargetan und zur allgemeinen Geltung gebracht hatte, und somit annehmen konnte, nur noch nachgeahmt, nicht aber mehr überboten zu werden. Dennoch täuschte aber auch er sich darüber, daß aus allen bisherigen Richtungen der Oper nicht eine Karikatur zusammengesetzt werden könnte, die nicht nur von der Öffentlichkeit, sondern auch von kunstkritischen Köpfen als eine neue und wesentliche Gestalt der Oper aufgenommen sein dürfte; denn er wußte zur Zeit seiner Blüte noch nicht, daß es den Bankiers, für die er bis dahin Musik gemacht hatte, einmal einfallen würde, selbst auch zu komponieren.
O wie ärgerte er sich, der sonst so leichtsinnige Meister, wie ward er bös und übelgelaunt, sich, wenn auch nicht an Genialität, doch in der Geschicklichkeit der Ausbeutung der öffentlichen Kunstnichtswürdigkeit übertroffen zu sehen! O wie war er der »dissoluto punito«, die ausgestochene Kurtisane, und von welchem ingrimmigen Verdrusse ob dieser Schmach war er erfüllt, als er dem Pariser Operndirektor, der ihn bei augenblicklich eingetretener Windstille einlud, den Parisern wieder etwas vorzublasen, antwortete, er würde nicht eher zurückkommen, als bis dort »die Juden mit ihrem Sabbat fertig wären«! – Er mußte erkennen, daß, solange Gottes Weisheit die Welt regiert, alles seine Strafe findet, selbst die Aufrichtigkeit, mit der er den Leuten gesagt hatte, was an der Oper wäre – und ward, um wohlverdiente Buße zu tragen, Fischhändler und Kirchenkomponist! –
Nur auf weiterem Umwege können wir jedoch zur verständlichen Darstellung des Wesens der modernsten Oper gelangen. –
[ III ]
Die Geschichte der Oper ist seit Rossini im Grunde nichts anderes mehr als die Geschichte der Opernmelodie, ihrer Deutung vom künstlerisch spekulativen, und ihres Vortrages vom wirkungssüchtigen Standpunkte der Darstellung aus.
Rossinis von ungeheurem Erfolge gekröntes Verfahren hatte unwillkürlich die Komponisten vom Aufsuchen des dramatischen Inhaltes der Arie, und von dem Versuche, ihr eine konsequente dramatische Bedeutung einzubilden, abgezogen. Das Wesen der Melodie selbst, in welche sich das ganze Gerüst der Arie aufgelöst hatte, war es, was jetzt den Instinkt wie die Spekulation des Komponisten gefangennahm. Man mußte empfinden, daß selbst an der Arie Glucks und seiner Nachfolger das Publikum nur in dem Grade sich erbaut hatte, als die durch die Textunterlage bezeichnete allgemeine Empfindung im rein melodischen Teile dieser Arie einen Ausdruck erhalten hatte, der wiederum in seiner Allgemeinheit sich nur als absolut ohrgefällige Tonweise kundgab. Wird uns dies an Gluck schon vollkommen deutlich, so wird an dem letzten seiner Nachfolger, Spontini, es uns zum Handgreifen ersichtlich. Sie alle, diese ernsten musikalischen Dramatiker, hatten sich mehr oder weniger selbst belogen, wenn sie die Wirkung ihrer Musik weniger der rein melodischen Essenz ihrer Arien als der Verwirklichung der, von ihnen denselben untergelegten, dramatischen Absicht zuschrieben. Das Operntheater war zu ihrer Zeit, und namentlich in Paris, der Sammelplatz ästhetischer Schöngeister und einer vornehmen Welt, die sich darauf steifte, ebenfalls ästhetisch und schöngeistig zu sein. Die ernste ästhetische Intention der Meister ward von diesem Publikum mit Respekt aufgenommen; die ganze Glorie des künstlerischen Gesetzgebers strahlte um den Musiker, der es unternahm, in Tönen das Drama zu schreiben, und sein Publikum bildete sich wohl ein, von der dramatischen »Deklamation« ergriffen zu sein, während es in Wahrheit doch nur von dem Reize der Arienmelodie hingerissen war. Als das Publikum, durch Rossini emanzipiert, sich dies endlich offen und unumwunden eingestehen durfte, bestätigte es somit eine ganz unleugbare Wahrheit und rechtfertigte dadurch die ganz folgerichtige und natürliche Erscheinung, daß da, wo nicht nur der äußerlichen Annahme, sondern auch der ganzen künstlerischen Anlage des Kunstwerkes gemäß, die Musik die Hauptsache, Zweck und Ziel war, die nur helfende Dichtkunst und alle durch sie angedeutete dramatische Absicht wirkungslos und nichtig bleiben müsse, dagegen die Musik alle Wirkung durch ihr eigenstes Vermögen ganz allein hervorzubringen habe. Alle Absicht, sich selbst dramatisch und charakteristisch geben zu wollen, konnte die Musik nur in ihrem wirklichen Wesen entstellen, und dieses Wesen spricht sich, sobald die Musik zur Erreichung einer höhern Absicht nicht nur helfen und mitwirken, sondern für sich ganz allein wirken will, nur in der Melodie, als dem Ausdrucke einer allgemeinen Empfindung, aus.
Allen Opernkomponisten mußte durch Rossinis unwiderlegliche Erfolge dies ersichtlich werden. Stand tiefer fühlenden Musikern hiergegen eine Erwiderung offen, so konnte es bloß die sein, daß sie den Charakter der Rossinischen Melodie nicht nur als seicht und ungemütlich, sondern als das Wesen der Melodie überhaupt nicht erschöpfend begriffen. Es mußte solchen Musikern die künstlerische Aufgabe sich darstellen, der unstreitig allmächtigen Melodie den ganzen vollen Ausdruck schöner menschlicher Empfindung zu geben, der ihr ureigen ist; und in dem Streben, diese Aufgabe zu lösen, setzten sie die Reaktion Rossinis – über das Wesen und die Entstehung der Oper hinaus – bis zu dem Quelle fort, aus dem auch die Arie wiederum ihr künstliches Leben geschöpft hatte, bis zur Restauration der ursprünglichen Tonweise des Volksliedes.
Von einem deutschen Musiker ward diese Umwandelung der Melodie zuerst und mit außerordentlichem Erfolge in das Leben gerufen. Karl Maria von Weber gelangte zu seiner künstlerischen Reife in einer Epoche geschichtlicher Entwickelung, wo der erwachte Freiheitstrieb sich weniger noch in den Menschen als solchen, sondern in den Völkern als nationalen Massen kundgab. Das Unabhängigkeitsgefühl, das in der Politik sich noch nicht auf das Reinmenschliche bezog, als reinmenschliches Unabhängigkeitsgefühl sich daher auch noch nicht als absolut und unbedingt erfaßte, suchte, wie sich selbst unerklärlich, und mehr zufällig als notwendig erweckt, noch nach Berechtigungsgründen und glaubte diese in der nationalen Wurzel der Völker finden zu dürfen. Die hieraus entstehende Bewegung glich in Wahrheit weit mehr einer Restauration als einer Revolution; sie gab sich in ihrer äußersten Verirrung als Sucht der Wiederherstellung des Alten und Verlorenen kund, und erst in der neuesten Zeit haben wir erfahren dürfen, wie dieser Irrtum nur zu neuen Fesseln für unsre Entwickelung zur wirklich menschlichen Freiheit führen konnte: dadurch, daß wir dies erkennen mußten, sind wir nun aber auch mit Bewußtsein auf die rechte Bahn getrieben worden, und zwar mit schmerzlicher, aber heilsamer Gewalt.
Ich habe nicht im Sinne, hier die Darlegung des Wesens der Oper als im Einklange mit unsrer politischen Entwickelung stehend zu geben; der willkürlichen Wirkung der Phantasie ist hier ein zu beliebiger Spielraum geboten, als daß bei solchem Beginnen nicht die absurdesten Abenteuerlichkeiten ausgeheckt werden könnten – wie es denn auch in unerbaulichster Fülle in bezug auf diesen Gegenstand bereits geschehen ist. Es liegt mir vielmehr daran, das Unnatürliche und Widerspruchsvolle dieses Kunstgenres, sowie seine offenkundige Unfähigkeit, die in ihm vorgegebene Absicht wirklich zu erreichen, einzig aus seinem Wesen selbst zur Erklärung zu bringen. Die nationale Richtung aber, die in der Behandlung der Melodie eingeschlagen wurde, hat in ihrer Bedeutung und Verirrung, endlich in ihrer immer klarer werdenden und ihren Irrtum kundgebenden Zersplitterung und Unfruchtbarkeit, zu viel Übereinstimmendes mit den Irrtümern unsrer politischen Entwickelung in den letzten vierzig Jahren, als daß die Beziehung hierauf übergangen werden könnte.
In der Kunst, wie in der Politik, hat diese Richtung das Bezeichnende, daß der ihr zugrundeliegende Irrtum in seiner ersten Unwillkürlichkeit sich mit verführerischer Schönheit, in seiner eigensüchtig bornierten endlichen Halsstarrigkeit aber mit widerlicher Häßlichkeit zeigte. Er war schön, solange der, nur befangene, Geist der Freiheit sich in ihm aussprach; er ist jetzt ekelhaft, wo der Geist der Freiheit in Wahrheit ihn bereits gebrochen hat und nur gemeiner Egoismus ihn noch künstlich aufrecht erhält.
In der Musik äußerte sich die nationale Richtung bei ihrem Beginne um so mehr mit wirklicher Schönheit, als der Charakter der Musik sich überhaupt mehr in allgemeiner als in spezifischer Empfindung ausspricht. Was bei unsern dichtenden Romantikern sich als römisch-katholisch mystische Augenverdreherei und feudal-ritterliche Liebedienerei kundgab, äußerte sich in der Musik als heimisch innige, tief und weitatmige, in edler Anmut erblühende Tonweise – als Tonweise, wie sie dem wirklichen letzten Seelenhauche des verscheidenden naiven Volksgeistes abgelauscht war.
Dem über alles liebenswürdigen Tondichter des »Freischützen« schnitten die wollüstigen Melodien Rossinis, in denen alle Welt schwelgte, widerlich schmerzlich in das reinfühlende Künstlerherz; er konnte es nicht zugeben, daß in ihnen der Quell der wahren Melodie läge; er mußte der Welt beweisen, daß sie nur ein unreiner Ausfluß dieses Quelles seien, der Quell selbst aber, da wo man ihn zu finden wisse, in ungetrübtester Klarheit noch fließe. Wenn jene vornehmen Gründer der Oper auf den Volksgesang nur hinlauschten, so hörte nun Weber mit angestrengtester Aufmerksamkeit auf ihn. Drang der Duft der schönen Volksblume von der Waldwiese auf in die prunkenden Gemächer der luxuriösen Musikwelt, um dort zu portativen Wohlgerüchen destilliert zu werden, so trieb die Sehnsucht nach dem Anblicke der Blume Weber aus den üppigen Sälen hinab auf die Waldwiese selbst: dort gewahrte er die Blume am Quell des munter rieselnden Baches, zwischen kräftig duftendem Waldgrase auf wunderbar gekräuseltem Moose, unter sinnig rauschendem Laubgezweige der alten stämmigen Bäume. Wie fühlte der selige Künstler sein Herz erbeben bei diesem Anblicke, beim Einatmen dieser Fülle des Duftes! Er konnte dem Liebesdrange nicht widerstehen, der entnervten Menschheit diesen heilenden Anblick, diesen belebenden Duft zur Erlösung von ihrem Wahnsinne zuzuführen, die Blume selbst ihrer göttlich zeugenden Wildnis zu entreißen, um sie als Allerheiligstes der segenbedürftigen Luxuswelt vorzuhalten: er brach sie! – Der Unglückliche! – Oben im Prunkgemache setzte er die süß Verschämte in die kostbare Vase; täglich netzte er sie mit frischem Wasser aus dem Waldquell. Doch sieh! – die so keusch geschlossenen straffen Blätter entfalten sich, wie zu schlaffer Wollust ausgedehnt; schamlos enthüllt sie ihre edlen Zeugungsglieder und bietet sie mit grauenvoller Gleichgültigkeit der riechenden Nase jedes gaunerischen Wollüstlings dar. »Was ist dir, Blume?« ruft in Seelenangst der Meister: »vergissest du so die schöne Waldwiese, wo du so keusch gewachsen?« Da läßt die Blume, eines nach dem andern, die Blätter fahren; matt und welk zerstreuen sie sich auf dem Teppich; und ein letzter Hauch ihres süßen Duftes weht dem Meister zu: »Ich sterbe nur – da du mich brachest!« – Und mit ihr starb der Meister. Sie war die Seele seiner Kunst, und diese Kunst der rätselvolle Haft seines Lebens gewesen. – Auf der Waldwiese wuchs keine Blume mehr! – Tiroler Sänger kamen von ihren Alpen: sie sangen dem Fürsten Metternich vor; der empfahl sie mit guten Briefen an alle Höfe, und alle Lords und Bankiers amüsierten sich in ihren geilen Salons an dem lustigen Jodeln der Alpenkinder und wie sie von ihrem »Dierndel« sangen. Jetzt marschieren die Burschen nach Bellinischen Arien zum Morde ihrer Brüder, und tanzen mit ihrem Dierndel nach Donizettischen Opernmelodien, denn – die Blume wuchs nicht wieder! –
Es ist ein charakteristischer Zug der deutschen Volksmelodie, daß sie weniger in kurzgefügten, keck und sonderlich bewegten Rhythmen, sondern in langatmigen, froh und doch sehnsüchtig geschwellten Zügen sich uns kundgibt. Ein deutsches Lied, gänzlich ohne harmonischen Vortrag, ist uns undenkbar: überall hören wir es mindestens zweistimmig gesungen; die Kunst fühlt sich ganz von selbst aufgefordert, den Baß und die leicht zu ergänzende zweite Mittelstimme einzufügen, um den Bau der harmonischen Melodie vollständig vor sich zu haben. Diese Melodie ist die Grundlage der Weberschen Volksoper; sie ist, frei aller lokal-nationellen Sonderlichkeit, von breitem, allgemeinem Empfindungsausdrucke, hat keinen andern Schmuck als das Lächeln süßester und natürlichster Innigkeit, und spricht so, durch die Gewalt unentstellter Anmut, zu den Herzen der Menschen, gleichviel welcher nationalen Sonderheit sie angehören mögen, eben weil in ihr das Reinmenschliche so ungefärbt zum Vorschein kommt. Möchten wir in der weltverbreiteten Wirkung der Weberschen Melodie das Wesen deutschen Geistes und seine vermeintliche Bestimmung besser erkennen, als wir in der Lüge von seinen spezifischen Qualitäten es tun! –
Nach dieser Melodie gestaltet Weber alles; was er, gänzlich von ihr erfüllt, gewahrt und wiedergeben will, was er so im ganzen Gerüste der Oper für fähig erkennt oder fähig zu machen weiß, in dieser Melodie sich auszudrücken, sei es auch nur dadurch, daß er es mit ihrem Atem überhaucht, mit einem Tautropfen aus dem Kelche der Blume es besprengt, das mußte ihm gelingen zu hinreißend wahrer und treffender Wirkung zu bringen. Und diese Melodie war es, die Weber zum wirklichen Faktor seiner Oper machte: das Vorgeben des Dramas fand durch diese Melodie insoweit seine Verwirklichung, als das ganze Drama von vornherein wie vor Sehnsucht hingegossen war, in diese Melodie aufgenommen, von ihr verzehrt, in ihr erlöst, durch sie gerechtfertigt zu werden. Betrachten wir so den »Freischützen« als Drama, so müssen wir seiner Dichtung genau dieselbe Stellung zu Webers Musik zuweisen, als der Dichtung des »Tankredi« zur Musik Rossinis. Die Melodie Rossinis bedingte den Charakter der Dichtung des »Tankredi« ganz ebenso als Webers Melodie die Dichtung des Kindischen »Freischützen«, und Weber war hier nichts anderes, als was Rossini dort war, nur er edel und sinnig, was dieser frivol und sinnlich. Weber öffnete nur die Arme zur Aufnahme des Dramas um so viel weiter, als seine Melodie die wirkliche Sprache des Herzens, wahr und ungefälscht war: was in ihr aufging, war wohlgeborgen und sicher vor jeder Entstellung. Was in dieser Sprache, bei all ihrer Wahrheit, dennoch ihrer Beschränktheit wegen nicht auszusprechen war, das mühte sich auch Weber vergebens herauszubringen; und sein Stammeln gilt uns hier als das redliche Bekenntnis von der Unfähigkeit der Musik, selbst wirklich Drama zu werden, nämlich, das wirkliche, nicht bloß für sie zugeschnittene Drama in sich aufgehen zu lassen; wogegen sie vernünftigerweise in diesem wirklichen Drama aufzugehen hat. –
Wir haben die Geschichte der Melodie fortzusetzen.
War Weber im Aufsuchen der Melodie auf das Volk zurückgegangen, und traf er im deutschen Volke die glückliche Eigenschaft naiver Innigkeit ohne beengende nationelle Sonderlichkeit an, so hatte er die Opernkomponisten im allgemeinen auf einen Quell hingelenkt, dem sie nun überall, wohin ihr Auge zu dringen vermochte, als einem nicht übel ergiebigen Brunnen nachspäheten.
Zunächst waren es französische Komponisten, die auf Zubereitung des Krautes Bedacht nahmen, das bei ihnen als heimische Pflanze gewachsen war. Schon längst hatte sich bei ihnen das witzige oder sentimentale »Couplet« auf der Volksbühne im rezitierten Schauspiele geltend gemacht. Seiner Natur nach mehr für den heitern, oder – wenn für den empfindsamen, doch nie für den leidenschaftlichen tragischen Ausdruck geeignet, hat es ganz von selbst auch den Charakter des dramatischen Genres bestimmt, in welchem es mit vorherrschender Absicht angewandt wurde. Der Franzose ist nicht gemacht, seine Empfindungen gänzlich in Musik aufgehen zu lassen; steigert sich seine Erregtheit bis zum Verlangen nach musikalischem Ausdrucke, so muß er dabei sprechen oder mindestens dazu tanzen können. Wo bei ihm das Couplet aufhört, da fängt der Kontretanz an; ohne den gibts keine Musik für ihn. Ihm ist beim Couplet das Sprechen so sehr die Hauptsache, daß er es auch nur allein, nie mit andern zusammen singen will, weil man sonst nicht deutlich mehr verstehen würde, was gesprochen wird. Auch im Kontretanze stehen sich die Tänzer meistens einzeln gegenüber; jeder macht für sich, was er zu machen hat, und Umschlingungen des Paares finden nur statt, wenn der Charakter des Tanzes überhaupt es gar nicht anders mehr zuläßt. So steht im französischen Vaudeville alles zum musikalischen Apparate Gehörige einzeln, und nur durch die geschwätzige Prosa vermittelt, nebeneinander da, und wo das Couplet von mehreren zugleich gesungen wird, geschieht dies im peinlichsten musikalischen Einklange von der Welt. Die französische Oper ist das erweiterte Vaudeville; aller breitere musikalische Apparat in ihr ist für die Form der sogenannten dramatischen Oper, für den Inhalt aber demjenigen virtuosen Elemente entnommen, das durch Rossini seine üppigste Bedeutung erhielt.
Die eigentümliche Blüte dieser Oper ist und bleibt immer das mehr gesprochene als gesungene Couplet, und dessen musikalische Essenz die rhythmische Melodie des Kontretanzes. Auf dieses nationale Produkt, das immer nur als Nebenläufer der dramatischen Absicht, nie aber zu ihrer wirklichen Aufnahme in sich verwendet worden war, gingen französische Opernkomponisten mit erwogener Absichtlichkeit zurück, als sie auf der einen Seite des Todes der Spontinischen Oper innewurden, auf der andern Seite aber die weltberauschende Wirkung Rossinis wie namentlich auch den herzbewegenden Einfluß der Melodie Webers gewahrten. Der lebendige Inhalt jenes französischen Nationalproduktes war aber bereits verschwunden; so lange hatte Vaudeville und komische Oper an ihm gesogen, daß sein Quell in trockenster Dürre nicht mehr zu fließen vermochte. Wo die naturbedürftigsten Kunstmusiker nach dem ersehnten Rauschen des Baches hinhorchten, konnten sie es vor dem prosaischen Klippklapp der Mühle nicht mehr vernehmen, deren Rad sie selbst mit dem Wasser trieben, das sie aus seinem natürlichen Bette im bretternen Kanale zu ihm hingeleitet hatten. Wo sie das Volk singen hören wollten, tönten ihnen nur ihre ekelhaft wohlbekannten Vaudeville-Maschinen-Fabrikate entgegen.
Nun ging die große Jagd auf Volksmelodien in fremder Herren Länder los. Bereits hatte Weber selbst, dem die heimische Blume welkte, in Forkels Schilderungen der arabischen Musik fleißig geblättert und ihnen einen Marsch für Haremswächter entnommen. Unsre Franzosen waren flinker auf den Beinen; sie blätterten nur im Reisehandbuche für Touristen, und machten sich dabei selbst auf, ganz in der Nähe zu hören und zu sehen, wo irgend noch ein Stück Volksnaivetät vorhanden wäre, wie es aussähe und wie es klänge. Unsere greise Zivilisation ward wieder kindisch, und kindische Greise sterben bald! –
Dort im schönen, vielbesudelten Lande Italien, dessen musikalisches Fett Rossini so vornehm behaglich für die vermagerte Kunstwelt abgeschöpft hatte, saß der sorglos üppige Meister und sah mit verwundertem Lächeln dem Herumkrappeln der galanten Pariser Volksmelodien-Jäger zu. Einer von diesen war ein guter Reiter, und wenn er nach hastigem Ritte vom Pferde stieg, wußte man, daß er eine gute Melodie gefunden hatte, die ihm vieles Geld einbringen würde. Dieser ritt jetzt wie besessen durch allen Fisch- und Gemüsekram des Marktes von Neapel hindurch, daß alles rings umherflog, Geschnatter und Gefluche ihm nachfolgte und drohende Fäuste sich gegen ihn erhoben – so daß ihm mit Blitzesschnelle der Instinkt von einer prachtvollen Fischer- und Gemüsehändler-Revolution in die Nase fuhr. Aber hiervon war noch mehr zu profitieren! Hinaus nach Portici jagt der Pariser Reiter, zu den Barken und Netzen jener naiven Fischer, die da singen und Fische fangen, schlafen und wüten, mit Weib und Kind spielen und Messer werfen, sich totschlagen und immer dabei singen. Meister Auber, gesteh, das war ein guter Ritt und besser als auf dem Hippogryphen, der immer nur in die Lüfte schreitet – aus denen doch eigentlich gar nichts zu holen ist als Schnupfen und Erkältung! – Der Reiter ritt heim, stieg vom Roß, machte Rossini ein ungemein verbindliches Kompliment (er ,wußte wohl, warum?), nahm Extrapost nach Paris, und was er im Handumdrehen dort fertigte, war nichts anders als die »Stumme von Portici«.
– Diese Stumme war die nun sprachlos gewordene Muse des Dramas, die zwischen singenden und tobenden Massen einsam traurig, mit gebrochenem Herzen dahinwandelte, um vor Lebensüberdruß sich und ihren unlösbaren Schmerz endlich im künstlichen Wüten des Theatervulkanes zu ersticken! –
Rossini schaute dem prächtigen Spektakel aus der Ferne zu, und als er nach Paris reiste, hielt er es für gut, unter den schneeigen Alpen der Schweiz ein wenig zu rasten, und wohl darauf hinzuhorchen, wie die gesunden, kecken Burschen dort mit ihren Bergen und Kühen sich musikalisch zu unterhalten pflegten. In Paris angelangt, machte er Auber sein verbindlichstes Kompliment (er wußte wohl, warum?), und stellte der Welt mit vieler Vaterfreude sein jüngstes Kind vor, das er mit glücklicher Eingebung »Wilhelm Tell« getauft hatte.
Die »Stumme von Portici« und »Wilhelm Tell« wurden nun die beiden Achsen, um die sich fortan die ganze spekulative Opernmusikwelt bewegte. Ein neues Geheimnis, den halbverwesten Leib der Oper zu galvanisieren, war gefunden, und so lange konnte die Oper nun wieder leben, als man irgend noch nationale Besonderheiten zur Ausbeutung vorfand. Alle Länder der Kontinente wurden durchforscht, jede Provinz ausgeplündert, jeder Volksstamm bis auf den letzten Tropfen seines musikalischen Blutes ausgezogen und der gewonnene Spiritus zum Gaudium der Herren und Schächer der großen Opernwelt in blitzenden Feuerwerken verpraßt. Die deutsche Kunstkritik aber erkannte eine bedeutungsvolle Annäherung der Oper an ihr Ziel; denn nun habe sie die »nationale«, ja – wenn man will – sogar die »historische« Richtung eingeschlagen. Wenn die ganze Welt verrückt wird, fühlen sich die Deutschen am seligsten dabei; denn desto mehr haben sie zu deuten, zu erraten, zu sinnen und endlich – damit ihnen ganz wohl werde – zu klassifizieren! –
Betrachten wir, worin die Einwirkung des Nationalen auf die Melodie, und durch sie auf die Oper bestand.
Das Volkstümliche ist von jeher der befruchtende Quell aller Kunst gewesen, solange als es – frei von aller Reflexion – in natürlich aufsteigendem Wachstum sich bis zum Kunstwerke erheben konnte. In der Gesellschaft, wie in der Kunst, haben wir nur vom Volke gezehrt, ohne daß wir es wußten. In weitester Entfernung vom Volke hielten wir die Frucht, von der wir lebten, für Manna, das uns Privilegierten und Auserlesenen Gottes, Reichen und Genies, ganz nach himmlischer Willkür aus der Luft herab in das Maul fiel. Als wir das Manna aber verpraßt hatten, sahen wir uns nun hungrig nach den Fruchtbäumen auf Erden um und raubten diesen nun, als Räuber von Gottes Gnaden, mit keckem, räuberischem Bewußtsein ihre Früchte, unbekümmert darum, ob wir sie gepflanzt oder gepflegt hatten; ja, wir hieben die Bäume selbst um – bis auf die Wurzeln, um zu sehen, ob nicht auch diese durch künstliche Zubereitung schmackhaft oder doch wenigstens verschlingbar gemacht werden könnten. So räudeten wir den ganzen schönen Naturwald des Volkes aus, daß wir mit ihm nun als nackte, hungerleidige Bettler dastehen.
So hat denn auch die Opernmusik, da sie ihrer gänzlichen Zeugungsunfähigkeit und des Vertrocknens aller ihrer Säfte bewußt wurde, sich auf das Volkslied gestürzt, bis auf seine Wurzeln es ausgesogen, und sie wirft nun den faserigen Rest der Frucht in ekelhaften Opernmelodien dem beraubten Volke als elende und gesundheitsschädliche Nahrung hin. Aber auch sie, die Opernmelodie, ist nun ohne Aussicht auf alle neue Nahrung geworden; sie hat alles verschlungen, was sie verschlingen konnte; ohne mögliche frische Befruchtung geht sie unfruchtbar zugrunde: sie kaut nun mit der Todesangst eines sterbenden Gefräßigen an sich selber herum, und dieses widerliche Herumknaupeln an sich selbst nennen deutsche Kunstkritiker »Streben nach höherer Charakteristik«, nachdem sie zuvor das Umschlagen jener ausgeplünderten Volksfruchtbäume »Emanzipation der Massen« getauft hat! –
Das wahrhaft Volkstümliche vermochte der Opernkomponist nicht zu erfassen; um dies zu können, hätte er selbst aus dem Geiste und den Anschauungen des Volkes schaffen, d. h. im Grunde selbst Volk sein müssen. Nur das Sonderliche konnte er fassen, in welchem sich ihm die Besonderheit des Volkstümlichen kundgibt, und dies ist das Nationale. Die Färbung des Nationalen, in den höheren Ständen bereits gänzlich verwischt, lebte nur noch in den Teilen des Volkes, die an die Scholle des Feldes, des Ufers oder des Bergtales geheftet, von allem befruchtenden Austausch ihrer Eigentümlichkeiten zurückgehalten worden waren. Nur ein starr und stereotyp Gewordenes fiel daher jenen Ausbeutern in die Hände, und in diesen Händen, die – um es nach luxuriöser Willkür verwenden zu können – ihm erst noch die letzten Fasern seiner Zeugungsorgane ausziehen mußten, konnte es nur zum modischen Kuriosum werden. Wie man in der Kleidermode jede beliebige Einzelnheit fremder, bisher unbeachteter Volkstrachten zu unnatürlichem Ausputze verwendete, so wurden in der Oper einzelne, vom Leben verborgener Nationalitäten losgelöste Züge in Melodie und Rhythmus auf das scheckige Gerüste überlebter, inhaltsloser Formen gesetzt.
Einen nicht unwesentlichen Einfluß mußte dieses Verfahren jedoch auf das Gebaren dieser Oper ausüben, den wir jetzt näher zu betrachten haben: nämlich die Veränderung in dem Verhältnisse der darstellenden Faktoren der Oper zueinander, die, wie erwähnt, als »Emanzipation der Massen« aufgefaßt worden ist.
[ IV ]
Jede Kunstrichtung nähert sich ganz in dem Grade ihrer Blüte, als sie das Vermögen zu dichter, deutlicher und sicherer Gestaltung gewinnt. Das Volk, das im Anfange sein Staunen über die weithin wirkenden Wunder der Natur in den Ausrüfen lyrischer Ergriffenheit äußert, verdichtet, um den staunenerregenden Gegenstand zu bewältigen, die weitverzweigte Naturerscheinung zum Gott, und den Gott endlich zum Helden. In diesem Helden, als dem gedrängten Bilde seines eigenen Wesens, erkennt es sich selbst, und seine Taten feiert es im Epos, im Drama aber stellt es selbst sie dar. Der tragische Held der Griechen schritt aus dem Chor heraus und sprach zu ihm zurückgewandt: »Seht, so tut und handelt ein Mensch; was ihr in Meinungen und Sprüchen feiertet, das stelle ich euch als unwiderleglich wahr und notwendig dar.« – Die griechische Tragödie faßte in Chor und Helden das Publikum und das Kunstwerk zusammen: dieses gab sich in ihr mit dem Urteile über sich – als gedichtete Anschauung – zugleich dem Volke, und genau in dem Grade reifte das Drama als Kunstwerk, als das verdeutlichende Urteil des Chores in den Handlungen der Helden selbst sich so unwiderleglich ausdrückte, daß der Chor von der Szene ab ganz in das Volk zurücktreten und dafür als belebender und verwirklichender Teilnehmer der Handlung – als solcher – selbst behilflich werden konnte. Shakespeares Tragödie steht insofern unbedingt über der griechischen, als sie für die künstlerische Technik die Notwendigkeit des Chores vollkommen überwunden hatte. Bei Shakespeare ist der Chor in lauter an der Handlung persönlich beteiligte Individuen aufgelöst, welche für sich ganz nach derselben individuellen Notwendigkeit ihrer Meinung und Stellung handeln, wie der Hauptheld, und selbst ihre scheinbare Unterordnung im künstlerischen Rahmen ergibt sich nur aus den ferneren Berührungspunkten, in denen sie mit dem Haupthelden stehen, keineswegs aber aus einer etwa prinzipiellen technischen Verachtung der Nebenpersonen; denn überall da, wo die selbst untergeordnetste Person zur Teilnahme an der Haupthandlung zu gelangen hat, äußert sie sich ganz nach persönlich charakteristischem, freiem Ermessen.
Wenn die sicher und fest gezeichneten Persönlichkeiten Shakespeares im weiteren Verlaufe der modernen dramatischen Kunst immer mehr von ihrer plastischen Individualität verloren und bis zur bloßen stabilen Charaktermaske ohne alle Individualität herabsanken, so ist dies dem Einflusse des ständisch uniformierenden Staates zuzuschreiben, der das Recht der freien Persönlichkeit mit immer tödlicherer Gewalt unterdrückte. Das Schattenspiel solcher innerlich hohlen, aller Individualität baren Charaktermasken ward die dramatische Grundlage der Oper. Je inhaltsloser die Persönlichkeiten unter diesen Masken waren, desto geeigneter erachtete man sie zum Singen der Opernarie. »Prinz und Prinzessin« – das ist die ganze dramatische Achse, um die sich die Oper drehte, und – bei Licht besehen – jetzt noch dreht. Alles Individuelle konnte diesen Opernmasken nur durch den äußeren Anstrich kommen, und endlich mußte die Besonderheit der Lokalität des Schauplatzes ihnen das ersetzen, was ihnen innerlich ein für allemal abging. Als die Komponisten alle melodische Produktivität ihrer Kunst erschöpft hatten und vom Volke sich die Lokalmelodie erborgen mußten, griff man endlich auch zum ganzen Lokale selbst: Dekorationen, Kostüme und das, was diese auszufüllen hatte, die bewegungsfähige Umgebung – der Opernchor, ward endlich die Hauptsache, die Oper selbst, welche von allen Seiten ihr flimmerndes Licht auf »Prinz und Prinzessin« werfen mußte, um die armen Unglücklichen am kolorierten Sängerleben zu erhalten.
So war denn der Kreislauf des Dramas zu seiner tödlichen Schmach erfüllt: die individuellen Persönlichkeiten, zu denen einst der Chor des Volkes sich verdichtet hatte, verschwammen in buntscheckige, massenhafte Umgebung ohne Mittelpunkt. Als diese Umgebung gilt uns in der Oper der ganze ungeheure szenische Apparat, der durch Maschinen, gemalte Leinwand und bunte Kleider uns als Stimme des Chores zuschreit: »Ich bin Ich, und keine Oper ist außer mir!«
Wohl hatten schon früher edle Künstler des Schmuckes des Nationalen sich bedient; nur da aber vermochte es einen reizenden Zauber auszuüben, wo es eben nur als gelegentlich erforderlicher Schmuck einem durch charakteristische Handlung belebten, dramatischen Stoffe beigegeben und ohne alle Ostentation eingefügt war. Wie trefflich wußte Mozart seinem »Osmin« und seinem »Figaro« ein nationales Kolorit zu geben, ohne in der Türkei und in Spanien, oder gar in Büchern nach der Farbe zu suchen. Jener »Osmin« und jener »Figaro« waren aber wirkliche, von einem Dichter glücklich entworfene, vom Musiker mit wahrem Ausdrucke ausgestattete und vom gesunden Darsteller gar nicht zu verfehlende, individuelle Charaktere. Die nationale Zutat unserer modernen Opernkomponisten wird aber nicht auf solche Individualitäten verwandt, sondern sie soll dem an sich ganz Charakterlosen eine irgendwie charakteristische Unterlage, zu Belebung und Rechtfertigung einer an und für sich ganz gleichgültigen und farblosen Existenz, erst geben. Die Spitze, auf die alles gesunde Volkstümliche ausläuft, das rein menschlich Charakteristische, ist in unserer Oper von vornherein als farblose, nichtsbedeutende Ariensänger-Maske verbraucht, und diese Maske soll nun durch den Widerschein der umgebenden Farbe nur künstlich belebt werden, weshalb denn auch diese Farbe der Umgebung in den allergrellsten und schreiendsten Klecksen aufgetragen wird.
Um die öde Szene um den Ariensänger herum zu beleben, hat man das Volk, dem man seine Melodie abgenommen hatte, selbst endlich auf die Bühne gebracht; aber natürlich konnte das nicht das Volk sein, das jene Weise erfand, sondern die gelehrig abgerichtete Masse, die nun nach dem Takte der Opernarie hin- und hermarschierte. Nicht das Volk brauchte man, sondern die Masse, d. h. den materiellen Überrest von dem Volke, dem man den Lebensgeist ausgesaugt hatte. Der massenhafte Chor unserer modernen Oper ist nichts anderes als die zum Gehen und Singen gebrachte Dekorationsmaschinerie des Theaters, der stumme Prunk der Kulissen in bewegungsvollen Lärmen umgesetzt. »Prinz und Prinzessin« hatten mit dem besten Willen nichts mehr zu sagen als ihre tausendmal gehörten Schnörkelarien: man suchte das Thema endlich dadurch zu variieren, daß das ganze Theater von der Kulisse bis zum verhundertfachten Choristen diese Arie mitsang, und zwar – je höher die Wirkung steigen soll – gar nicht einmal mehr vielstimmig, sondern im wirklichen tobenden Einklange. In dem heutzutage so berühmt gewordenen »Unisono« enthüllt sich ganz ersichtlich der eigentliche Kern der Absicht der Massenanwendung, und im Sinne der Oper hören wir ganz richtig die Massen »emanzipiert«, wenn wir sie, wie in den berühmtesten Stellen der berühmtesten modernen Opern, die alte, abgedroschene Arie im hundertstimmigen Einklange vortragen hören. So hat unser heutiger Staat die Masse ebenfalls emanzipiert, wenn er sie in Soldatenuniform bataillonsweise aufmarschieren, links und rechts schwenken, schultern und präsentieren läßt: wenn die Meyerbeerschen »Hugenotten« sich zu ihrer höchsten Spitze erheben, hören wir an ihnen, was wir an einem preußischen Gardebataillon sehen. Deutsche Kritiker nennens – wie gesagt – Emanzipation der Massen. –
Die so »emanzipierte« Umgebung war im Grunde genommen aber wieder auch nur eine Maske. Wenn wirklich charakteristisches Leben in den Hauptpersonen der Oper nicht vorhanden war, so konnte dies wahrlich dem massenhaften Apparate noch weniger eingegossen werden. Der Widerschein, der von diesem Apparate aus belebend auf die Hauptpersonen fallen sollte, konnte daher von irgendwelcher ergiebigen Wirkung nur dann sein, wenn auch die Maske der Umgebung von außen woher einen Anstrich erhielt, der über ihre innere Hohlheit täuschte. Diesen Anstrich gewann man aus dem historischen Kostüm, das das nationale Kolorit noch prägnanter machen mußte.
Man sollte annehmen, hier, beim Einmischen des historischen Motives, habe nun dem Dichter die Aufgabe zugeteilt werden müssen, entscheidend in die Gestaltung der Oper einzugreifen. Leicht dürfen wir aber unseren Irrtum einsehen, wenn wir bedenken, welchen Gang bisher die Fortbildung der Oper genommen hatte, wie sie alle Phasen ihrer Entwickelung nur dem verzweifelten Streben des Musikers, sein Werk am künstlichen Dasein zu erhalten, verdanken mußte, und selbst zur Verwendung historischer Motive nicht durch ein als notwendig empfundenes Verlangen, sich an den Dichter zu ergeben, sondern durch den Drang rein musikalischer Umstände hingewiesen ward – durch einen Drang, der wiederum nur aus der ganzen unnatürlichen Aufgabe des Musikers, im Drama Absicht und Ausdruck zugleich geben zu sollen, hervorging. Wir werden später auf die Stellung des Dichters zu unserer modernsten Oper noch zurückkommen; für jetzt verfolgen wir ungestört vom Standpunkte des wirklichen Faktors der Oper, des Musikers, aus, bis wohin sein irriges Streben ihn führen mußte.
Der Musiker, der – mochte er sich gebärden, wie er wollte – nur Ausdruck und nichts als Ausdruck geben konnte, mußte ganz in dem Maße auch das wirkliche Vermögen zu gesundem und wahrem Ausdrucke verlieren, als er den Gegenstand seines Ausdruckes, in seinem verkehrten Eifer, diesen Gegenstand selbst zu zeichnen, selbst zu dichten, zum grundsätzlich matten und inhaltslosen Schema herabwürdigte. Hatte er nicht vom Dichter den Menschen verlangt, sondern vom Mechaniker den Gliedermann, den er mit seinen Gewändern nach Belieben drapierte, um durch den Farbenreiz und die Anordnung dieser Gewänder allein zu entzücken, so mußte er nun, da er das warme Pulsieren des menschlichen Leibes an dem Gliedermanne unmöglich darstellen konnte, bei somit immer größerer Verarmung seiner Ausdrucksmittel endlich nur noch auf unerhört mannigfaltige Variation in den Farben und Falten seiner Gewänder bedacht sein. Das historische Gewand der Oper – das ergiebigste, weil es nach Klima und Zeitalter auf das bunteste zu wechseln imstande war – ist aber eigentlich doch nur das Werk des Dekorationsmalers und Theaterschneiders, wie diese beiden Faktoren denn in Wahrheit die allerwichtigsten Bundesgenossen des modernen Opernkomponisten geworden sind. Allein auch der Musiker unterließ es nicht, seine Tonfarbenpalette für das historische Kostüm herzurichten; wie hätte er, der Schöpfer der Oper, der sich den Dichter zum Bedienten gemacht hatte, den Maler und Schneider nicht auch ausstechen sollen? Hatte er das ganze Drama, mit Handlung und Charakteren, in Musik aufgelöst, wie sollte es ihm unmöglich bleiben, auch die Zeichnungen und Farben des Malers und Schneiders musikalisch zu Wasser zu machen? Er vermochte es, alle Dämme niederzureißen, alle Schleußen zu öffnen, die das Meer vom Lande trennen, und so in der Sündflut seiner Musik das Drama mit Mann und Maus, mit Pinsel und Schere zu ersäufen!
Der Musiker mußte aber auch die ihm prädestinierte Aufgabe erfüllen, der deutschen Kritik, für die Gottes allgütige Fürsorge bekanntlich die Kunst geschaffen hat, die Freude des Geschenkes einer »historischen Musik« zu machen. Sein hoher Ruf begeisterte ihn, gar bald das Richtige zu finden.
Wie mußte eine »historische« Musik sich anhören, wenn sie die Wirkung einer solchen machen sollte? Jedenfalls anders als eine nicht historische Musik. Worin lag hier aber der Unterschied? Offenbar darin, daß die »historische« Musik von der gegenwärtig gewöhnten so verschieden sei als das Kostüm einer früheren Zeit von dem der Gegenwart. War es nicht das Klügste, genau so, wie man das Kostüm dem betreffenden Zeitalter getreu nachahmte, auch die Musik diesem Zeitalter zu entnehmen? Leider ging dies nicht so leicht, denn in jenen, im Kostüm so pikanten Zeitaltern, gab es barbarischerweise noch keine Opern: eine allgemeine Opernsprache war ihnen daher nicht zu entnehmen. Dagegen sang man damals in den Kirchen, und diese Kirchengesänge haben in der Tat, wenn man sie heute plötzlich singen läßt, unserer Musik gegenübergehalten, etwas schlagend Fremdartiges. Vortrefflich! Kirchengesänge her! Die Religion muß aufs Theater wandern! – So ward die musikalisch historische Kostümnot zur christlich religiösen Operntugend. Für das Verbrechen des Raubes der Volksmelodie verschaffte man sich römisch-katholische und evangelisch-protestantische Kirchenabsolution, und zwar gegen die Wohltat, die man der Kirche dadurch erwies, daß, wie zuvor die Massen, nun auch die Religion – um im Ausdrucke der deutschen Kritik konsequent zu bleiben – durch die Oper »emanzipiert« wurde.
So ward der Opernkomponist vollständig zum Erlöser der Welt, und in dem tiefbegeisterten, von selbstzerfleischendem Schwärmereifer unwiderstehlich hingerissenen Meyerbeer haben wir jedenfalls den modernen Heiland, das weltsündentragende Lamm Gottes zu erkennen.
Dennoch konnte diese entsündigende »Emanzipation der Kirche« nur bedingungsweise vom Musiker vollzogen werden. Wollte die Religion durch die Oper beseligt sein, so mußte sie sich gefallen lassen, nur einen gewissen, vernünftigerweise ihr zugehörigen Platz unter den übrigen Emanzipierten einzunehmen. Die Oper, als Befreierin der Welt, mußte die Religion beherrschen, nicht die Religion die Oper; sollte die Oper zur Kirche werden, so war die Religion ja nicht von der Oper, sondern diese von ihr emanzipiert. Für die Reinheit des musikalisch-historischen Kostümes hätte es der Oper allerdings erwünscht sein können, nur noch mit der Religion zu tun zu haben, denn die einzig verwendbare historische Musik fand sich nur in der Kirchenmusik vor. Nur mit Mönchen und Pfaffen zu tun zu haben hätte aber der Heiterkeit der Oper empfindlich schaden müssen: denn das, was durch die Emanzipation der Religion nur verherrlicht werden sollte, war ja eigentlich nur die Opernarie, dieser üppig entfaltete Urkeim alles Opernwesens, der keineswegs im Verlangen nach andächtiger Sammlung, sondern nach unterhaltender Zerstreuung wurzelte. Genaugenommen war die Religion nur als Beischmack zu verwenden, ganz wie im wohlgeordneten Staatsleben: das Hauptgewürz mußte »Prinz und Prinzessin«, nebst gehöriger Zutat von Spitzbuben, Hofchor und Volkschor, Kulissen und Kleidern bleiben.
Wie war nur auch dies ganze hochwürdige Opernkollegium in historische Musik umzusetzen? –
Hier eröffnete sich dem Musiker das unabsehbar graue Nebelfeld reiner, absoluter Erfindung: die Aufforderung zum Erschaffen aus Nichts. Sieh da, wie schnell er mit sich einig wurde! Er hatte nur dafür zu sorgen, daß die Musik immer ein wenig anders klinge, als man der Gewohnheit nach annehmen müsse, daß sie zu klingen hätte, so klang jedenfalls seine Musik fremdartig, und ein richtiger Schnitt des Theaterschneiders genügte, um sie vollständig »historisch« zu machen.
Die Musik, als reichstes Vermögen des Ausdruckes, erhielt nun eine ganz neue, ungemein pikante Aufgabe, nämlich: den Ausdruck, den sie überhaupt schon zum Gegenstande des Ausdruckes gemacht hatte, wiederum durch sich selbst zu widerlegen; der Ausdruck, der ohne ausdruckswerten Gegenstand an und für sich nichtig war, wurde, im Streben dieser Gegenstand für sich selbst zu sein, wiederum verneint, so daß das Resultat unserer Welterschaffungstheorien, nach denen aus zwei Verneinungen das Etwas entstanden ist, von dem Opernkomponisten vollständig erreicht werden mußte. Wir empfehlen der deutschen Kritik den hieraus entstandenen Opernstil als »emanzipierte Metaphysik«.
Betrachten wir dies Verfahren etwas näher. –
Wollte der Komponist einen unmittelbar entsprechenden nackten Ausdruck geben, so konnte er dies mit dem besten Willen nicht anders als in der musikalischen Sprechweise, die uns heute eben als verständlicher musikalischer Ausdruck gilt; beabsichtigte er nun, diesem ein historisches Kolorit zu verleihen, und konnte er dies im Grunde nur dadurch für erreichbar halten, daß er ihm einen überhaupt fremdartigen, ungewohnten Beiklang gab, so stand ihm zunächst allerdings die Ausdrucksweise einer früheren musikalischen Epoche zu Gebote, die er nach Belieben nachahmen und von der er nach willkürlichem Ermessen entnehmen konnte. Auf diese Weise hat sich denn auch der Komponist aus allen irgend schmackhaften Stileigentümlichkeiten verschiedener Zeiten einen scheckigen Sprachjargon zusammengesetzt, der an und für sich seinem Streben nach Fremdartigkeit und Ungewohntheit nicht übel entsprechen konnte. Die musikalische Sprache, sobald sie sich vom ausdruckswerten Gegenstande loslöst und ohne Inhalt nach opernarienhafter Willkür ganz allein sprechen, d. h. eben nur singend und pfeifend plaudern will, ist für ihr Wesen aber so ganz und gar der bloßen Mode unterworfen, daß sie entweder nur dieser Mode sich unterordnen, oder im glücklichen Falle sie nur beherrschen, d. h. die neueste Mode ihr zuführen kann. Der Jargon, den somit der Komponist erfand, um – der historischen Absicht zulieb – fremdartig zu sprechen, wird, wenn er Glück macht, augenblicklich wiederum zur Mode, die, einmal angenommen, plötzlich gar nicht mehr fremdartig erscheint, sondern das Kleid ist, welches wir alle tragen, die Sprache, die wir alle sprechen. Der Komponist muß verzweifeln, sich durch seine eigenen Erfindungen somit immer wieder in dem Bestreben, fremdartig zu erscheinen, behindert zu sehen, und er muß notgedrungen daher auf ein Mittel verfallen, ein für allemal fremdartig zu erscheinen, sobald er seinen Beruf zur »historischen« Musik erfüllen will. Er muß daher ein für allemal darauf bedacht sein, selbst den entstelltesten Ausdruck – weil er einmal durch ihn zur modischen Gewohnheit gemacht worden ist – in sich wiederum zu entstellen: er muß sich vornehmen, genaugenommen, da »Nein« zu sagen, wo er eigentlich »Ja« sagen will, da sich freudig zu gebärden, wo er Schmerz ausdrücken soll, da jammernd zu wimmern, wo er sich behaglicher Lust hinzugeben hätte. Wahrlich, so und nicht anders ist es ihm möglich, in allen Fällen fremdartig, sonderbar, wie von Gottweißwoher kommend, zu erscheinen; er muß sich geradewegs verrückt stellen, um »historisch-charakteristisch« zu erscheinen. Hiermit ist denn auch in Wirklichkeit ein ganz neues Element gewonnen: der Drang zum »Historischen« hat zur hysterischen Verrücktheit geführt, und diese Verrücktheit ist zu unserer Freude bei Licht besehen gar nichts anderes als – wie nennen wir es gleich? – Neuromantik.
[ V ]
Der Verdrehung aller Wahrheit und Natur, wie wir sie für den musikalischen Ausdruck von den französischen sogenannten Neuromantikern ausüben sehen, war aus einem Gebiete der Tonkunst, das von der Oper vollkommen abseits lag, eine scheinbare Rechtfertigung, vor allem aber ein nährender Stoff zugeführt worden, die zusammen wir unter der Bezeichnung des Mißverständnisses Beethovens leicht begreifen können.
Sehr wichtig ist es, zu beachten, daß alles, was auf die Gestaltung der Oper bis in die neuesten Zeiten einen wirklichen und entscheidenden Einfluß ausübte, lediglich aus dem Gebiete der absoluten Musik, keineswegs aber aus dem der Dichtkunst, oder aus einem gesunden Zusammenwirken beider Künste, sich herleitete. Wie wir finden mußten, daß von Rossini an die Geschichte der Oper mit Bestimmtheit nur noch in die Geschichte der Opern melodie auslaufe, so sehen wir auch in der neuesten Zeit alle Einwirkung auf das immer historisch-dramatischere Gebaren der Oper nur von dem Komponisten ausgehen, der im notgedrungenen Streben, die Opernmelodie zu variieren, von Folge zu Folge dahin getrieben wurde, in diese seine Melodie das Vorgeben selbst historischer Charakteristik aufzunehmen, und dadurch dem Dichter bezeichnete, was er dem Musiker, um dessen Vornehmen zu entsprechen, liefern müsse. War nun diese Melodie bisher als Gesangsmelodie künstlich fortgepflanzt worden – als Melodie, die von der bedingenden dichterischen Unterlage abgelöst, dennoch im Munde oder in der Kehle des Sängers neue Bedingungen zu weiterer Kulturentwickelung erhielt – und gewann sie diese Bedingungen namentlich auch aus einem erneueten Ablauschen der ursprünglichen Naturmelodie vom Munde des Volkes – so wandte sich nun ihr heißhungriges Hinhorchen endlich dahin, wo die Melodie vom Munde des Sängers wiederum abgelöst, aus der Mechanik des Instrumentes fernere Lebensbedingungen gewonnen hatte. Die Instrumentalmelodie, in die Operngesangsmelodie übersetzt, ward so zum Faktor des vorgegebenen Dramas: – in der Tat, so weit mußte es mit dem unnatürlichen Genre der Oper kommen! –
Während die Opernmelodie, ohne wirkliche Befruchtung durch die Dichtkunst, nur von Gewaltsamkeit zu Gewaltsamkeit fortschreitend, sich ein mühseliges, zeugungsunfähiges Leben erhalten konnte, hatte die Instrumentalmusik sich das Vermögen gewonnen, die harmonische Tanz- und Liedweise durch Zerlegung in kleinere und kleinste Teile, durch neues und mannigfaltig verschiedenartiges Aneinanderfügen, Ausdehnen oder Verkürzen dieser Teile, zu einer besonderen Sprache auszubilden, die so lange im höheren künstlerischen Sinne willkürlich und für das Reinmenschliche ausdrucksunfähig war, als in ihr das Verlangen nach klarem und verständlichem Wiedergeben bestimmter, individueller menschlicher Empfindungen sich nicht als einzig maßgebende Notwendigkeit für Gestaltung jener melodischen Sprachteile kundtat. Daß der Ausdruck eines ganz bestimmten, klarverständlichen individuellen Inhaltes in dieser, einer Empfindung nur nach ihrer Allgemeinheit gewachsenen Sprache in Wahrheit unmöglich war, hat erst derjenige Instrumentalkomponist aufzudecken vermocht, bei welchem das Verlangen, einen solchen Inhalt auszusprechen, zum verzehrend glühenden Lebenstriebe alles künstlerischen Gestaltens wurde.
Die Geschichte der Instrumentalmusik ist von da an, wo jenes Verlangen sich in ihr kundgab, die Geschichte eines künstlerischen Irrtumes, der aber nicht, wie der des Operngenres, mit Darlegung einer Unfähigkeit der Musik, sondern mit der Kundgebung eines unbegrenzten inneren Vermögens derselben endete. Der Irrtum Beethovens war der des Kolumbus , der nur einen neuen Weg nach dem alten, bereits bekannten Indien aufsuchen wollte, dafür aber eine neue Welt selbst entdeckte; auch Kolumbus nahm seinen Irrtum mit sich in das Grab: er ließ seine Genossen durch einen Schwur bekräftigen, daß sie die neue Welt für das alte Indien hielten. So, immer noch im vollsten Irrtume befangen, löste dennoch seine Tat der Welt die Binde vom Gesicht, und lehrte sie auf das Unwiderleglichste die wirkliche Gestalt der Erde und die ungeahnte Fülle ihres Reichtumes erkennen. – Uns ist jetzt das unerschöpfliche Vermögen der Musik durch den urkräftigen Irrtum Beethovens erschlossen. Durch sein unerschrocken kühnstes Bemühen, das künstlerisch Notwendige in einem künstlerisch Unmöglichen zu erreichen, ist uns die unbegrenzteste Fähigkeit der Musik aufgewiesen zur Lösung jeder denkbaren Aufgabe, sobald sie eben nur das ganz und allein zu sein braucht, was sie wirklich ist – Kunst des Ausdruckes.
Des Irrtumes Beethovens und des Gewinnes seiner künstlerischen Tat konnten wir aber erst innewerden, als wir seine Werke im vollen Zusammenhange zu überblicken vermochten, als er uns mit seinen Werken zu einer abgeschlossenen Erscheinung geworden war, und an den künstlerischen Erfolgen seiner Nachkommen, die den Irrtum des Meisters – als einen ihnen selbst nicht eigenen und ohne die riesige Kraft jenes seines Verlangens – in ihr Kunstschaffen aufnahmen, der Irrtum selbst uns klar werden mußte. Die Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger Beethovens gewahrten in dessen einzelnen Werken jedoch gerade nur das, was ihnen, je nach der Kraft ihrer Empfänglichkeit und Auffassungsfähigkeit, bald aus dem hinreißenden Eindrucke des Ganzen oder aus der eigentümlichen Gestaltung des Einzelnen auffallend erkennbar war. Solange Beethoven, im Einklange mit dem Geiste seiner musikalischen Zeitumgebung, eben nur die Blüte dieses Geistes in seinen Werken niederlegte, konnte der Reflex seines Kunstschaffens auf seine Umgebung nur ein wohltätiger sein. Von da an jedoch, wo, im genauen Zusammenhange mit schmerzlich ergreifenden Lebenseindrücken, in dem Künstler das Verlangen nach deutlichem Ausdrucke besonderer, charakteristisch individueller Empfindungen – wie zur verständlichen Kundgebung an die Teilnahme der Menschen – zu immer drängenderer Kraft erwuchs – also von da an, wo es ihm immer weniger mehr darauf ankam, überhaupt Musik zu machen und in dieser Musik sich gefällig, fesselnd oder beteuernd allgemeinhin auszudrücken, sondern als ihn sein inneres Wesen mit Notwendigkeit drängte, einen bestimmten, seine Gefühle und Anschauungen erfüllenden Inhalt sicher und genau faßlich durch seine Kunst zum Ausdruck zu bringen – von da an beginnt die große, schmerzliche Leidensperiode des tieferregten Menschen und notwendig irrenden Künstlers, der in den gewaltigen Zuckungen schmerzlich wonnigen Stammelns einer pythischen Begeisterung dem neugierigen Zuhörer, der ihn nicht verstand, weil der Begeisterte sich ihm eben nicht verständlich machen konnte, den Eindruck eines genialen Wahnsinnigen machen mußte.
In den Werken aus der zweiten Hälfte seines Künstlerlebens ist Beethoven meist gerade da unverständlich – oder vielmehr mißverständlich –, wo er einen besondern individuellen Inhalt am verständlichsten aussprechen will. Er geht über das, nach unwillkürlicher Konvention als faßlich anerkannte, absolut Musikalische, d. h. in irgendwelchen Erkennbarkeit der Tanz- und Liedweise – dem Ausdrucke und der Form nach – Ähnliche hinaus, um in einer Sprache zu reden, die oft als willkürliche Auslassung der Laune erscheint, und, einem rein musikalischen Zusammenhange unangehörig, nur durch das Band einer dichterischen Absicht verbunden ist, die mit dichterischer Deutlichkeit in der Musik aber eben nicht ausgesprochen werden konnte. Als unwillkürliche Versuche, sich eine Sprache für sein Verlangen zu bilden, müssen die meisten Werke Beethovens aus jener Epoche angesehen werden, so daß sie oft wie Skizzen zu einem Gemälde erscheinen, über dessen Gegenstand wohl, nicht aber über dessen verständliche Anordnung der Meister mit sich einig war. Das Gemälde selbst konnte er aber nicht eher ausführen, als bis er den Gegenstand selbst nach seinem Ausdrucksvermögen gestimmt, d. h. ihn nach seiner allgemeineren Bedeutung erfaßt, und das Individuelle in ihm in die eigentümlichen Farben der Tonkunst selbst zurückverlegt, somit den Gegenstand selbst gewissermaßen musikalisiert hatte. Wären nur diese eigentlichen fertigen Gemälde, in denen sich Beethoven mit entzückend wohltuender Klarheit und Faßlichkeit aussprach, vor die Welt gelangt, so hätte das Mißverständnis, das der Meister von sich verbreitete, jedenfalls weniger verwirrend und berückend einwirken müssen. Bereits war aber der musikalische Ausdruck, in seiner Losgetrenntheit von den Bedingungen des Ausdruckes, mit unerbittlicher Notwendigkeit dem bloßen modischen Belieben, und somit allen Bedingungen der Mode selbst, verfallen; gewisse melodische, harmonische oder rhythmische Züge schmeichelten heute dem Ohre so verführerisch, daß man sich bis zum Übermaß ihrer bediente, verfielen aber nach einer kurzen Zeit durch Abnutzung dem Ekel in dem Grade, daß sie dem Geschmacke oft plötzlich unausstehlich oder lächerlich erschienen. Wem es nun eben daran lag, Musik für das öffentliche Gefallen zu machen, dem mußte nichts wichtiger dünken, als in den soeben charakterisierten Zügen des absolut melodischen Ausdruckes so auffallend neu wie möglich zu erscheinen, und da die Nahrung solcher Neuheit immer nur aus dem musikalischen Kunstgebiete selber kommen, nirgends aber den wechselnden Erscheinungen des Lebens entnommen werden konnte, so mußte jener Musiker mit Recht eine ergiebigste Ausbeute grade in den Werken Beethovens ersehen, die wir als Skizzen zu seinen großen Gemälden bezeichneten, und in denen das Ringen nach Auffindung eines neuen musikalischen Sprachvermögens nach allen Richtungen hin in oft krampfhaften Zügen sich kundtat, die dem unverständnisvoll Hinhorchenden wohl sonderbar, originell, bizarr und jedenfalls ganz neu vorkommen mußten. Das jäh abspringende, schnell und heftig sich Durchkreuzende, namentlich aber das oft fast gleichzeitige Ertönen dicht ineinander verwobener Akzente des Schmerzes und der Freude, des Entzückens und des Entsetzens, wie es der unwillkürlich suchende Meister in den seltsamsten harmonischen Melismen und Rhythmen zu neuen Ausdruckslauten mischte, um durch sie zum Ausspruche bestimmter individueller Empfindungsmomente zu gelangen – dies alles fiel, in seiner ganz formellen Äußerlichkeit erfaßt, zur bloß technischen Fortbildung jenen Komponisten zu, die in der Aufnahme und Verwendung dieser Beethovenschen Sonderlichkeiten ein üppig nährendes Element für ihr Allerweltsmusizieren erkannten. Während der größere Teil der älteren Musiker in Beethovens Werken nur das begreifen und gelten lassen konnte, was von des Meisters eigentümlichstem Wesen ablag und nur als die Blüte einer früheren, unbesorgteren musikalischen Kunstperiode erschien, haben jüngere Tonsetzer hauptsächlich das Äußerliche und Sonderbare der späteren Beethovenschen Manier nachgeahmt.
War hier aber nur eine Äußerlichkeit nachzuahmen, weil der Inhalt jener seltsamen Züge das in Wahrheit unausgesprochene Geheimnis des Meisters bleiben mußte, so mußte für sie mit gebieterischer Notwendigkeit auch irgendwelchen inhaltlicher Gegenstand gesucht werden, der trotz seiner, der Natur der Sache gemäße, Allgemeinheit Gelegenheit zur Verwendung jener, auf das Besondere, Individuelle hindeutenden Züge darbot. Dieser Gegenstand war natürlich nur außerhalb der Musik zu finden, und für die ungemischte Instrumentalmusik konnte dies wiederum nur in der Phantasie sein. Das Vorgeben der musikalischen Schilderung eines der Natur oder dem menschlichen Leben entnommenen Gegenstandes, wurde als Programm dem Zuhörer zu Händen gebracht, und der Einbildungskraft blieb es überlassen, der einmal gegebenen Hinweisung gemäß alle die musikalischen Sonderbarkeiten sich zu deuten, die nun in fesselloser Willkür bis zum buntesten chaotischen Gewirre losgelassen werden konnten.
Deutsche Musiker standen dem Geiste Beethovens nahe genug, um der abenteuerlichsten Richtung, die aus dem Mißverständnisse des Meisters hervorging, fernzubleiben. Sie suchten sich vor den Konsequenzen jener Ausdrucksmanier zu retten, indem sie ihre äußersten Spitzen abschliffen und durch Wiederaufnahme älterer Ausdrucksweisen und ihre Verwebung mit dieser neuesten sich einen, in seiner künstlichen Mischung allgemeinen, sozusagen abstrakten Musikstil bildeten, in welchem eine lange Zeit ganz anständig und ehrsam fortzumusizieren war, ohne daß von drastischen Individualitäten große Störungen in ihm zu befürchten standen. Wenn Beethoven auf uns meistens den Eindruck eines Menschen macht, der uns etwas zu sagen hat, was er aber nicht deutlich mitteilen kann, so erscheinen seine modernen Nachfolger dagegen wie Menschen, die uns auf eine oft reizend umständliche Weise mitteilen, daß sie uns nichts zu sagen haben. –
In jenem, alle Kunstrichtungen verzehrenden Paris aber war es, wo ein mit ungewöhnlicher musikalischer Intelligenz begabter Franzose auch die hier bezeichnete Richtung bis in ihr äußerstes Extrem hineinjagte. Hector Berlioz ist der unmittelbare und energischste Ausläufer Beethovens nach der Seite hin, von der dieser sich abwandte, sobald er – wie ich es zuvor bezeichnete – von der Skizze zum wirklichen Gemälde vorschritt. Die oft flüchtig hingeworfenen, kecken und grellen Federstriche, in denen Beethoven seine Versuche zum Auffinden neuen Ausdrucksvermögens schnell und ohne prüfende Wahl aufzeichnete, fielen als fast einzige Erbschaft des großen Künstlers in des begierigen Schülers Hände. War es eine Ahnung davon, daß Beethovens vollendetstes Gemälde, seine letzte Symphonie, auch das letzte Werk dieser Art überhaupt bleiben würde, die Berlioz, der nun auch große Werke schaffen wollte, nach eigensüchtigem Ermessen davon abzog, an jenen Gemälden des Meisters eigentlichen Drang zu erforschen – diesen Drang, der wahrlich ganz woanders hinging als nach Sättigung phantastischer Willkür und Laune? Gewiß ist, daß Berlioz künstlerische Begeisterung aus dem verliebten Hinstarren auf jene sonderbar krausen Federstriche sich erzeugte: Entsetzen und Entzücken faßte ihn beim Anblick dieser rätselhaften Zauberzeichen, in die der Meister Entzücken und Entsetzen zugleich gebannt hatte, um durch sie das Geheimnis kundzutun, das er nie in der Musik aussprechen konnte, und einzig doch nur in der Musik aussprechen zu können wähnte. Bei diesem Anblicke faßte den Hinstarrenden der Schwindel; wirr und bunt tanzte ein hexenhaftes Chaos vor den Augen, deren natürliche Sehkraft einer erblödeten Vielsichtigkeit wich, in welcher der Geblendete da farbige, fleischige Gestalten zu erblicken vermeinte, wo in Wahrheit nur gespenstische Knochen und Rippen ihren Spuk mit seiner Phantasie trieben. Dieser gespenstisch erregte Schwindel war aber wirklich nur Berlioz Begeisterung: erwachte er aus ihm, so gewahrte er, mit der Abspannung eines durch Opium Betäubten, eine frostige Leere um sich her, die nun zu beleben er sich mühte, indem er die Erhitzung seines Traumes sich künstlich zurückrief, was ihm nur durch peinlich mühsame Abrichtung und Verwendung seines musikalischen Hausrates gelingen wollte.
In dem Bestreben, die seltsamen Bilder seiner grausam erhitzten Phantasie aufzuzeichnen und der ungläubigen ledernen Welt seiner Pariser Umgebung genau und handgreiflich mitzuteilen, trieb Berlioz seine enorme musikalische Intelligenz bis zu einem dahin ungeahnten technischen Vermögen. Das, was er den Leuten zu sagen hatte, war so wunderlich, so ungewohnt, so gänzlich unnatürlich, daß er dies nicht so geradeheraus mit schlichten, einfachen Worten sagen konnte: er bedurfte dazu eines ungeheuren Apparates der kompliziertesten Maschinen, um mit Hülfe einer unendlich fein gegliederten und auf das mannigfaltigste zugerichteten Mechanik das kundzutun, was ein einfach menschliches Organ unmöglich aussprechen konnte: eben weil es etwas ganz Unmenschliches war. Wir kennen jetzt die übernatürlichen Wunder, mit denen einst die Priesterschaft kindliche Menschen der Art täuschte, daß sie glauben mußten, irgendein lieber Gott gebe sich ihnen kund: nichts als die Mechanik hat von je diese täuschenden Wunder gewirkt. So wird auch heutzutage das Übernatürliche, eben weil es das Unnatürliche ist, dem verblüfften Publikum nur durch die Wunder der Mechanik vorgeführt, und ein solches Wunder ist in Wahrheit das Berliozsche Orchester. Jede Höhe und Tiefe der Fähigkeit dieses Mechanismus hat Berlioz bis zur Entwickelung einer wahrhaft staunenswürdigen Kenntnis ausgeforscht, und wollen wir die Erfinder unserer heutigen industriellen Mechanik als Wohltäter der modernen Staatsmenschheit anerkennen, so müssen wir Berlioz als den wahren Heiland unserer absoluten Musikwelt feiern; denn er hat es den Musikern möglich gemacht, den allerunkünstlerischsten und nichtigsten Inhalt des Musikmachens durch unerhört mannigfaltige Verwendung bloßer mechanischer Mittel zur verwunderlichsten Wirkung zu bringen.
Berlioz selbst reizte beim Beginn seiner künstlerischen Laufbahn gewiß nicht der Ruhm eines bloß mechanischen Erfinders: in ihm lebte wirklich künstlerischer Drang, und dieser Drang war brennender, verzehrender Natur. Daß er, um diesen Drang zu befriedigen, durch das Ungesunde, Unmenschliche in der zuvor näher besprochenen Richtung bis auf den Punkt getrieben wurde, wo er als Künstler in der Mechanik untergehen, als übernatürlicher phantastischer Schwärmer in einen allverschlingenden Materialismus versinken mußte, das macht ihn – außer zum warnenden Beispiele – um so mehr zu einer tief bedauernswürdigen Erscheinung, als er noch heute von wahrhaft künstlerischem Sehnen verzehrt wird, wo er doch bereits rettungslos unter dem Wuste seiner Maschinen begraben liegt.
Er ist das tragische Opfer einer Richtung, deren Erfolge von einer anderen Seite her mit der allerschmerzlosesten Unverschämtheit und dem gleichgültigsten Behagen von der Welt ausgebeutet wurden. Die Oper, zu der wir uns nun wieder zurückwenden, verschluckte auch die Berliozsche Neuromantik als feiste, wohlschmeckende Auster, deren Genuß ihr von neuem ein glattes, grundbehagliches Ansehen gab.
Der Oper war aus dem Gebiete der absoluten Musik ein ungeheurer Zuwachs an Mitteln des mannigfaltigsten Ausdruckes durch das moderne Orchester zugeführt worden, das – im Sinne des Opernkomponisten – nun selbst sich »dramatisch« zu gebärden abgerichtet war. Zuvor war das Orchester nie etwas anderes als der harmonische und rhythmische Träger der Opernmelodie gewesen: mochte es in dieser Stellung noch so reich und üppig ausgestattet worden sein, immer blieb es dieser Melodie untergeordnet, und wo es zur unmittelbaren Teilnahme an dieser Melodie, zu ihrem Vortrage selbst gelangte, diente es doch gerade immer nur eben dazu, diese Melodie, als unbedingte Herrscherin, durch gleichsam prachtvollste Ausstattung ihres Hofstaates desto glänzender und stolzer erscheinen zu lassen. Alles, was zur notwendigen Begleitung der dramatischen Handlung gehörte, wurde für das Orchester dem Gebiete des Ballets und der Pantomime entnommen, auf welchem sich der melodische Ausdruck ganz nach den gleichen Gesetzen aus der Volkstanzweise entwickelt hatte wie die Opernarie aus der Volksliedweise. Wie diese Weise dem willkürlichen Belieben des Sängers und endlich des erfindungssüchtigen Komponisten, so hatte jene dem des Tänzers und Pantomimikers ihre Verzierung und Ausbildung zu verdanken gehabt: in beiden war aber unmöglich die Wurzel ihres Wesens anzutasten gewesen, weil diese außerhalb des Opernkunstbodens, den Faktoren der Oper unerkenntlich und unzugänglich stand, und dieses Wesen sprach sich in der scharf gezeichneten melismatischen und rhythmischen Form aus, deren Äußerlichkeit die Komponisten wohl variieren, deren Linien sie aber nie verwischen durften, ohne gänzlich anhaltslos im allerunbestimmtesten Ausdruckschaos dahinzuschwimmen. So war die Pantomime selbst von der Tanzmelodie beherrscht worden; der Pantomimiker konnte nichts durch Gebärden für ausdrucksmöglich halten, als was die an strenge rhythmische und melismatische Konvenienzen gefesselte Tanzmelodie irgendwie entsprechend zu begleiten imstande war: er blieb streng gebunden, seine Bewegungen und Gebärden, und somit das durch sie Auszudrückende, nur nach dem Vermögen der Musik abzumessen, sich und sein eigenes Vermögen nach diesem zu modeln und stereotypisch festzusetzen – ganz wie in der Oper der singende Darsteller sein eigenes dramatisches Vermögen nach dem Vermögen des stereotypen Arienausdruckes temperieren, und sein eigenes, nach der Natur der Sache in Wahrheit eigentlich zum Gesetzgeben berechtigtes Vermögen unentwickelt lassen mußte.
In der naturwidrigen Stellung der künstlerischen Faktoren zueinander war denn in Oper wie in Pantomime der musikalische Ausdruck an starrem Formalismus haften geblieben, und namentlich hatte auch das Orchester als Begleiter des Tanzes und der Pantomime nicht die Fähigkeit des Ausdruckes gewinnen können, die es hätte erreichen müssen, wenn der Gegenstand der Orchesterbegleitung, die dramatische Pantomime, sich nach ihrem eigenen unerschöpflichen inneren Vermögen entwickeln und so an sich dem Orchester den Stoff zu wirklicher Erfindung zuweisen hätte dürfen. Nichts anderes als jener unfreie, banale, rhythmisch-melodische Ausdruck in der Begleitung pantomimischer Aktionen war bisher dem Orchester auch in der Oper möglich gewesen: einzig durch Üppigkeit und Glanz im äußerlichsten Kolorit hatte man ihn zu variieren versucht.
In der selbständigen Instrumentalmusik war nun dieser starre Ausdruck gebrochen worden, und zwar dadurch, daß seine melodische und rhythmische Form wirklich in Stücken zerschlagen ward, die nun nach rein musikalischem Ermessen zu neuen, unendlich mannigfaltigen Formen verschmolzen wurden. Mozart begann in seinen symphonischen Werken noch mit der ganzen Melodie, die er, wie zum Spiele, kontrapunktisch in immer kleinere Teile zerlegte; Beethovens eigentümlichstes Schaffen begann mit diesen zerlegten Stücken, aus denen er vor unseren Augen immer reichere und stolzere Gebäude errichtet; Berlioz aber erfreute sich an der krausen Verwirrung, zu der er jene Stücke immer bunter durcheinanderschüttelte, und die ungeheuer komplizierte Maschine, den Kaleidoskop, worin er die bunten Steine nach Belieben durcheinanderrüttelte, reichte er dem modernen Opernkomponisten im Orchester dar.
Diese zerschnittene, zerhackte und in Atome zersetzte Melodie, deren Stücke er nach Belieben, je widerspruchsvoller und ungereimter, desto auffallender und absonderlicher, aneinanderfügen konnte, nahm nun der Opernkomponist vom Orchester in den Gesang selbst auf. Mochte diese Art melodischen Verfahrens, in Orchesterstücken allein angewandt, phantastisch launenhaft erscheinen, so war hier doch alles zu entschuldigen; die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, sich in der Musik allein mit voller Bestimmtheit auszusprechen, hatte selbst die ernstesten Meister schon zu dieser phantastischen Launenhaftigkeit verführt. In der Oper aber, wo mit dem scharfen Worte der Dichtkunst dem Musiker der ganz natürliche Anhalt zu sicherem, unfehlbarem Ausdrucke gegeben war, ist diese freche Verwirrung jedes Ausdruckes, diese absichtliche raffinierte Verstümmelung jedes irgend noch gesunden Organes dieses Ausdrucks, wie es sich in der fratzenhaften Aneinanderreihung der unter sich fremdartigsten und grundverschiedensten melodischen Elemente in der modernsten Opernweise kundgibt, nur dem vollständig eingetretenen Wahnsinne des Komponisten zuzuschreiben, der in dem hochmütigen Vorgeben, das Drama aus absolut musikalischem Vermögen für sich allein, mit nur dienender Hülfe des Dichters, zu erschaffen, notwendig bis dahin kommen mußte, wo wir ihn zum Gelächter jedes Vernünftigen heutzutage angekommen sehen.
Vermöge des ungeheuer angewachsenen musikalischen Apparates glaubte sich der Komponist, der sich seit Rossini nur nach der frivolen Seite hin entwickelt und nur von der absoluten Opernmelodie gelebt hatte, nun auch berufen, vom Standpunkte der melodischen Frivolität aus zur dramatischen »Charakteristik« kühn und keck vorschreiten zu dürfen. Als solcher »Charakteristiker« wird nicht nur vom Publikum, das längst zu seinem tief kompromittierten Mitverbrecher an der Wahrheit der Musik gemacht worden war, sondern auch von der Kunstkritik der berühmteste moderne Opernkomponist gefeiert. Im Hinblick auf größere melodische Reinheit früherer Epochen, und im Vergleich mit dieser, wird die Meyerbeersche Melodie zwar als frivol und gehaltlos von der Kritik verworfen; in Rücksicht auf die ganz neuen Wunder im Gebiete der »Charakteristik«, die seiner Musik entblüht seien, wird diesem Komponisten aber Sündenablaß erteilt – wobei denn das Geständnis mit unterläuft, daß man musikalisch-dramatische Charakteristik am Ende nur bei frivoler, gehaltloser Melodik für möglich halte, was schließlich einzig wieder den Ästhetiker mit bedenklichem Mißtrauen gegen den Operngenre überhaupt erfüllt. –
Stellen wir uns übersichtlich das Wesen dieser modernen »Charakteristik« in der Oper dar. –
[ VI ]
Die moderne »Charakteristik« in der Oper unterscheidet sich sehr wesentlich von dem, was vor Rossini in der Gluckschen oder der Mozartschen Richtung uns für Charakteristik gelten muß.
Gluck war wissentlich bemüht, im deklamierten Rezitativ wie in der gesungenen Arie, bei voller Beibehaltung dieser Formen und neben der instinktmäßigen Hauptsorge, den gewohnten Forderungen an ihren rein musikalischen Inhalt zu entsprechen, die in der Textunterlage bezeichnete Empfindung so getreu wie möglich durch den musikalischen Ausdruck wiederzugeben, vor allem aber auch den rein deklamatorischen Akzent des Verses nie zugunsten dieses musikalischen Ausdruckes zu entstellen. Er gab sich Mühe, in der Musik richtig und verständlich zu sprechen.
Mozart konnte seiner kerngesunden Natur nach gar nicht anders als richtig sprechen. Er sprach mit derselben Deutlichkeit den rhetorischen Zopf wie den wirklich dramatischen Akzent aus: bei ihm blieb Grau grau, Rot rot; nur daß dieses Grau wie dieses Rot, in den erfrischenden Tau seiner Musik getaucht, in alle Nuancen der ursprünglichen Farbe sich auflöste, und so als mannigfaltigstes Grau wie als mannigfaltigstes Rot sich darbot. Unwillkürlich adelte seine Musik alle nach theatralischer Konvenienz ihm hingeworfenen Charaktere dadurch, daß sie gleichsam den rohen Stein schliff, ihn nach allen Seiten dem Lichte zuwandte und in der Richtung endlich festhielt, in welcher das Licht die glänzendsten Farbenstrahlen aus ihm zog. Auf diese Weise vermochte er die Charaktere des »Don Juan« z. B. zu einer solchen Fülle des Ausdruckes zu erheben, daß es einem Hoffmann beikommen durfte, die tiefsten, geheimnisvollsten Beziehungen zwischen ihnen zu erkennen, von denen weder Dichter noch Komponist ein wirkliches Bewußtsein hatten. Gewiß ist aber, daß Mozart durch seine Musik allein unmöglich in dieser Art hätte charakteristisch sein können, wenn die Charaktere selbst im Werke des Dichters nicht vorhanden gewesen wären. Je mehr wir durch die glühende Farbe der Mozartschen Musik auf den Grund zu blicken vermögen, mit desto größerer Sicherheit erkennen wir die scharfe und bestimmte Federzeichnung des Dichters, die durch ihre Linien und Striche die Farbe des Musikers erst bedang, und ohne die jene wundervolle Musik geradesweges unmöglich war.
Die in Mozarts Hauptwerke von uns angetroffene, so überraschend glückliche Beziehung zwischen Dichter und Komponisten sehen wir aber im ferneren Verlaufe der Entwickelung der Oper gänzlich wieder verschwinden, bis, wie wir sahen, Rossini sie gänzlich aufhob und die absolute Melodie zum einzig berechtigten Faktor der Oper machte, dem alles übrige Interesse, und vor allem die Beteiligung des Dichters, sich vollkommen unterzuordnen hatte. Wir sahen ferner, daß der Einspruch Webers gegen Rossini nur gegen die Seichtigkeit und Charakterlosigkeit dieser Melodie, keineswegs aber gegen die unnatürliche Stellung des Musikers zum Drama selbst gerichtet war. Im Gegenteile verstärkte Weber das Unnatürliche dieser Stellung nur noch dadurch, daß er durch charakteristische Veredelung seiner Melodie sich eine noch erhöhte Stellung gegen den Dichter zuteilte, und zwar gerade um so viel erhöht, als seine Melodie die Rossinische eben an charakteristischem Adel übertraf. Zu Rossini gesellte sich der Dichter als lustiger Schmarotzer, den der Komponist als vornehmer, aber leutseliger Mann mit Austern und Champagner nach Herzenslust traktierte, so daß der folgsame Poet bei keinem Herrn der Welt sich besser befand als bei dem famosen Maestro. Weber dagegen, erfüllt von unbeugsamem Glauben an die charakteristische Reinheit seiner einen und unteilbaren Melodie, knechtete sich den Dichter mit dogmatischer Grausamkeit und zwang ihn, den Scheiterhaufen selbst aufzurichten, auf dem der Unglückliche, zur Nahrung des Feuers der Weberschen Melodie, sich zu Asche verbrennen lassen sollte. Der Dichter des »Freischützen« war noch ganz ohne es zu wissen zu diesem Selbstmorde gekommen: aus seiner eigenen Asche heraus protestierte er, als die Wärme des Weberschen Feuers noch die Luft erfüllte, und behauptete, diese Wärme rühre von ihm her – er irrte sich gründlich; seine hölzernen Scheite gaben nur Wärme, als sie vernichtet – verbrannt waren: einzig ihre Asche, den prosaischen Dialog, konnte er nach dem Brande noch als sein Eigentum ausgeben.
Weber suchte sich nach dem »Freischützen« einen gefügigeren Dichterknecht und nahm zu einer neuen Oper eine Frau in Sold, von deren unbedingterer Unterordnung er sogar verlangte, daß sie nach dem Brande des Scheiterhaufens nicht einmal die Asche ihrer Prosa nachlassen sollte: sie sollte sich mit Haut und Haar in der Glut seiner Melodie verbrennen lassen. Uns ist aus der Korrespondenz Webers mit Frau von Chezy während der Anfertigung des Euryanthetextes bekannt geworden, mit welch peinlicher Sorgfalt er sich genötigt fühlte, wiederum seinen dichterischen Helfer bis auf das Blut zu quälen; wie er verwirft und vorschreibt, und wieder vorschreibt und verwirft; hier streicht, dort hinzuverlangt; hier verlängert, dort verkürzt haben will – ja seine Anordnungen bis auf die Charaktere selbst, ihre Motive und Handlungen erstreckt. War er hierin etwa ein krankhafter Eigensinniger, oder ein übermütiger Parvenü, der durch den Erfolg seines Freischützen eitel gemacht, jetzt als Despot befehlen wollte, wo er naturgemäß zu gehorchen gehabt hätte? O nein! Aus ihm sprach mit leidenschaftlichster Erregtheit nur die ehrliche künstlerische Sorge des Musikers, der, durch den Drang der Umstände verführt, es übernommen hatte, das Drama selbst aus der absoluten Melodie zu konstruieren. Weber war hierbei in einem tiefen Irrtume, aber in einem Irrtume, der ihm mit Notwendigkeit hatte ankommen müssen. Er hatte die Melodie zu ihrem schönsten, gefühlvollsten Adel erhoben, er wollte sie nun als Muse des Dramas selbst krönen, und durch ihre starke Hand all das lüderliche Gezücht von der Bühne jagen lassen, das diese entweihte. Hatte er im Freischützen alle lyrischen Züge der Operndichtung in diese Melodie hingeleitet, so wollte er nun aus den Lichtstrahlen seines melodischen Sternes das Drama selbst ausgießen. Man könnte sagen, seine Melodie zur »Euryanthe« sei eher fertig gewesen als die Dichtung; um diese zu liefern, brauchte er nur jemand, der seine Melodie vollkommen im Ohre und im Herzen hatte, und ihr bloß nachdichtete; da praktisch dies aber nicht möglich war, so geriet er mit seiner Dichterin in ein ärgerlich theoretisches Hin- und Herzanken, in welchem weder von der einen, noch der andern Seite her eine klare Verständigung möglich wurde – so daß wir gerade an diesem Falle bei ruhiger Prüfung recht deutlich zu ersehen haben, bis zu welcher peinlichen Unsicherheit Männer von Webers Geiste und künstlerischer Wahrheitsliebe durch das Festhalten eines künstlerischen Grundirrtumes verleitet werden können.
Das Unmögliche mußte endlich auch Weber unmöglich bleiben. Er konnte durch all seine Andeutungen und Verhaltungsbefehle an den Dichter keine dramatische Unterlage zustande bekommen, die er vollständig in seine Melodie hätte auflösen können, und zwar gerade deswegen, weil er ein wirkliches Drama zutage fördern wollte, nicht nur ein mit lyrischen Momenten erfülltes Schauspiel, von dem er – wie im »Freischützen« – eben nichts als bloß diese Momente für seine Musik zu verwenden gehabt hätte. In dem Texte der »Euryanthe« blieb neben dem dramatisch-lyrischen Elemente, für das – wie ich mich ausdrückte – die Melodie im voraus fertig war, doch so viel, der absoluten Musik fremdartige Beigabe übrig, daß Weber es mit seiner eigentlichen Melodie nicht zu beherrschen vermochte. Wäre dieser Text das Werk eines wirklichen Dichters gewesen, der den Musiker so nur zu seiner Hülfe herbeigerufen hätte, wie jetzt es dem Dichter vom Musiker geschehen war, so würde dieser Musiker in der Liebe zu dem vorliegenden Drama nicht einen Augenblick in Verlegenheit geraten sein: er würde da, wo er für seinen breiteren musikalischen Ausdruck keinen nährenden oder rechtfertigenden Stoff erkannte, sich nur nach seinem geringeren Vermögen, dem einer untergeordneten, dem Ganzen dennoch aber immer hülfreichen Begleitung, beteiligt, und nur da, wo der vollste musikalische Ausdruck notwendig und aus dem Stoffe bedungen war, auch nach seinem vollsten Vermögen eingewirkt haben. Der Text der »Euryanthe« war jedoch aus dem umgekehrten Verhältnisse zwischen Musiker und Dichter hervorgegangen, und der eigentlich dichtende Komponist vermochte überall da, wo er naturgemäß abzustehen oder zurückzutreten gehabt hätte, jetzt nur eine doppelt gesteigerte Aufgabe für sich zu ersehen, nämlich die Aufgabe, einem musikalisch völlig spröden Stoffe dennoch ein vollkommen musikalisches Gepräge aufzudecken. Dies hätte Weber nur gelingen können, wenn er sich in die frivole Richtung der Musik schlug; wenn er, von aller Wahrheit gänzlich absehend, dem epikureischen Elemente der Musik die Zügel schießen ließ, und à la Rossini Tod und Teufel in amüsante Melodien umgesetzt hätte. Allein gerade hiergegen erhob ja Weber seinen kräftigsten künstlerischen Einspruch: seine Melodie sollte überall charaktervoll, d. h. wahr und der gegenständlichen Empfindung entsprechend sein. Er mußte also zu einem anderen Verfahren schreiten.
Überall da, wo seine in langen Zügen sich kundgebende, meist im voraus fertige und auf den Text, gleich einem glänzenden Gewande dahingebreitete Melodie diesem Texte einen zu erkennbaren Zwang hätte antun müssen, brach er diese Melodie selbst in Stücke, und die einzelnen Teile seines melodischen Gebäudes fügte er dann, je nach der deklamatorischen Erfordernis der Textworte, zu einem künstlichen Mosaik zusammen, das er wieder mit einem feinen melodischen Firnis überzog, um so dem ganzen Gefüge für den äußeren Anblick immer noch den Anschein der absoluten, möglichst selbst von den Textworten loszulösenden, Melodie zu bewahren. Die beabsichtigte Täuschung gelang ihm aber nicht.
Nicht nur Rossini, sondern Weber selbst auch, hatte die absolute Melodie so entschieden zum Hauptinhalt der Oper erhoben, daß diese, aus dem dramatischen Zusammenhange herausgerissen und selbst der Textworte entkleidet, in ihrer nacktesten Gestalt Eigentum des Publikums geworden war. Eine Melodie mußte gegeigt und geblasen, oder auf dem Klaviere gehämmert werden können, ohne dadurch im mindesten etwas von ihrer eigentlichen Essenz zu verlieren, wenn sie eine wirkliche Publikumsmelodie werden wollte. Auch in Webers Opern ging das Publikum nur, um möglichst viele solcher Melodien zu hören, und sehr hatte der Meister sich geirrt, wenn er sich schmeichelte, auch jenes überfirnißte deklamatorische Mosaik von diesem Publikum für Melodie angenommen zu sehen, worauf es grundsätzlich dem Komponisten doch wiederum ankam. Konnte dieses Mosaik in den Augen Webers selbst nur durch den Worttext gerechtfertigt erscheinen, so war auf der einen Seite das Publikum – und zwar hier mit vollem Rechte – durchaus gleichgültig gegen die Textworte; auf der andern Seite aber mußte es sich wieder herausstellen, daß dieser Text doch nicht einmal vollkommen entsprechend in der Musik wiedergegeben war. Grade diese unzeitige, halbe Melodie wandte die Aufmerksamkeit des Zuhörers vom Worttexte ab und der Spannung auf die Bildung einer Melodie zu, die in Wahrheit aber nicht zustande kam – so daß dem Zuhörer das Verlangen nach Darlegung eines dichterischen Gedankens im voraus erstickt, der Genuß einer Melodie aber um so empfindlicher geschmälert wurde, als das Verlangen nach ihr erweckt, nicht aber erfüllt worden war. Außer da, wo in der »Euryanthe« der Tonsetzer nach künstlerischem Ermessen seine volle natürliche Melodie für gerechtfertigt halten durfte, sehen wir in demselben Werke zugleich nur da sein höheres künstlerisches Streben mit wirklichem und schönem Erfolge gekrönt, wo er – der Wahrheit zuliebe – der absoluten Melodie gänzlich entsagt, und – wie in der Anfangsszene des ersten Aktes – durch den edelsten und treuesten musikalischen Ausdruck die gefühlvolle dramatische Rede, als solche, selbst wiedergibt; wo er somit die Absicht seines eigenen künstlerischen Schaffens nicht mehr in die Musik, sondern in die Dichtung setzt, und die Musik nur zur Förderung dieser Absicht verwendet, welche in solcher Fülle und überzeugender Wahrheit wiederum nur durch die Musik zu ermöglichen war.
Die »Euryanthe« ist von der Kritik nicht in dem Maße beachtet worden, als sie es ihres ungemein lehrreichen Inhaltes wegen verdient. Das Publikum sprach sich unentschieden, halb angeregt, halb verstimmt aus: die Kritik, die, im Grunde genommen, immer nur nach der Stimme des Publikums horcht, um – je nach ihrer vorgefaßten Meinung – sich entweder ganz nach ihr und dem äußeren Erfolge zu richten, oder auch sie blindlings zu bekämpfen, hat es nie vermocht, die grundverschiedenen Elemente, die sich in diesem Werke auf das widerspruchsvollste berühren, klar zu sichten und aus dem Streben des Komponisten, sie zu einem harmonischen Ganzen zu vereinigen, seine Erfolglosigkeit zu rechtfertigen. Nie ist aber, solange es Opern gibt, ein Werk verfaßt worden, in welchem die inneren Widersprüche des ganzen Genres von einem gleich begabten, tief empfindenden und wahrheitliebenden Tonsetzer, bei edelstem Streben, das Beste zu erreichen, konsequenter durchgeführt und offener dargelegt worden sind. Diese Widersprüche sind: absolute, ganz für sich allein genügende Melodie, und – durchgehends wahrer dramatischer Ausdruck. Hier mußte notwendig eines geopfert werden – die Melodie oder das Drama. Rossini opferte das Drama; der edle Weber wollte es durch die Kraft seiner sinnigeren Melodie wieder herstellen. Er mußte erfahren, daß dies unmöglich sei. Müde und erschöpft von der qualvollen Mühe seiner »Euryanthe«, versenkte er sich in die weichen Polster eines orientalischen Märchentraumes; durch das Wunderhorn Oberons stieß er seinen letzten Lebenshauch aus.
Was dieser edle, liebenswürdige Weber, durchglüht von dem heiligen Glauben an die Allmacht seiner reinen, dem schönsten Volksgeiste abgewonnenen Melodie, erfolglos erstrebt hatte, das unternahm nun ein Jugendfreund Webers, Jakob Meyerbeer, vom Standpunkte der Rossinischen Melodie aus zu bewerkstelligen.
Meyerbeer machte alle Phasen der Entwickelung dieser Melodie mit durch, und zwar nicht aus abstrakter Ferne, sondern in ganz realer Nähe, immer an Ort und Stelle. Als Jude hatte er keine Muttersprache, die mit dem Nerve seines innersten Wesens untrennbar verwachsen gewesen wäre: er sprach mit demselben Interesse in jeder beliebigen modernen Sprache und setzte sie ebenso in Musik, ohne alle andere Sympathie für ihre Eigentümlichkeiten als die für ihre Fähigkeit, der absoluten Musik nach Belieben untergeordnet zu werden. Diese Eigenschaft Meyerbeers hat ihn mit Gluck vergleichen lassen; auch dieser komponierte als Deutscher italienische und französische Operntexte. In der Tat hat Gluck nicht aus dem Instinkte der Sprache (die in solchem Falle immer nur die Muttersprache sein kann), heraus seine Musik geschaffen; worauf es ihm bei seiner Stellung als Musiker zur Sprache ankam, war die Rede, wie sie als Äußerung des Sprachorganismus auf der Oberfläche dieser tausende von Organen schwebt; nicht aus der zeugenden Kraft dieser Organe stieg sein Produktionsvermögen durch die Rede zum musikalischen Ausdruck hinauf, sondern vom losgelösten musikalischen Ausdruck ging er zur Rede erst zurück, nur um diesen Ausdruck in seiner Unbegründetheit irgendwie zu rechtfertigen. So konnte Gluck jede Sprache gleichgültig sein, weil es ihm eben nur auf die Rede ankam: hätte die Musik in dieser transzendenten Richtung durch die Rede auch bis auf den Organismus der Sprache selbst durchdringen können, so hätte sie allerdings sich vollkommen umgestalten müssen. – Ich muß, um den Gang meiner Darstellung hier nicht zu unterbrechen, diesen äußerst wichtigen Gegenstand zu einer gründlichen Erörterung am geeigneten Orte meiner Schrift aufbewahren; für hier genüge es, den Umstand der Beachtung zu empfehlen, daß Gluck es auf die lebendige Rede überhaupt – gleichviel in welcher Sprache – ankam, da er in ihr allein eine Rechtfertigung für die Melodie fand; seit Rossini war diese Rede aber gänzlich durch die absolute Melodie aufgezehrt, nur ihr materiellstes Gerüst diente in Vokalen und Konsonanten als Anhaltestoff des musikalischen Tones. Meyerbeer war durch seine Gleichgültigkeit gegen den Geist jeder Sprache und durch sein hierauf begründetes Vermögen, ihr Äußerliches mit leichter Mühe sich zu eigen zu machen (eine Fähigkeit, die durch unsre moderne Bildung dem Wohlstande überhaupt zugeführt ist), ganz darauf hingewiesen, es nur mit der absoluten, von allem sprachlichen Zusammenhange losgelösten Musik zu tun zu haben. Außerdem war er dadurch fähig, überall an Ort und Stelle den Erscheinungen in dem bezeichneten Entwickelungsgange der Opernmusik zuzusehen: er folgte immer und überallhin seinen Schritten. Beachtenswert ist es vor allem, daß er diesem Gange eben nur folgte, nie aber mit ihm, geschweige denn ihm irgendwie vorausging. Er glich dem Stare, der dem Pflugschare auf dem Felde folgt und aus der soeben aufgewühlten Ackerfurche lustig die an die Luft gesetzten Regenwürmer aufpickt. Nicht eine Richtung ist ihm eigentümlich, sondern jede hat er nur seinem Vorgänger abgelauscht und mit ungeheurer Ostentation ausgebeutet, und zwar mit so erstaunlicher Schnelligkeit, daß der Vormann, dem er lauschte, kaum ein Wort ausgesprochen hatte, als er auch die ganze Phrase auf dieses Wort bereits ausschrie, unbekümmert, ob er den Sinn dieses Wortes richtig verstanden hatte, woher es denn gemeiniglich kam, daß er eigentlich doch immer etwas anderes sagte, als was der Vormann hatte aussprechen wollen; der Lärmen, den die Meyerbeersche Phrase machte, war aber so betäubend, daß der Vormann gar nicht mehr zum Kundgeben des eigentlichen Sinnes seiner Worte kam: mochte er wollen oder nicht, er mußte endlich, um nur auch mitreden zu dürfen, in jene Phrase selbst miteinstimmen.
In Deutschland einzig gelang es Meyerbeer nicht, eine Jugendphrase aufzufinden, die irgendwie auf das Webersche Wort gepaßt hätte: was Weber in melodischer Lebensfülle kundgab, konnte sich in Meyerbeers angelerntem, trockenem Formalismus nicht nachsprechen lassen. Er lauschte, der unergiebigen Mühe überdrüssig, freundes-verräterisch endlich nur noch den Rossinischen Sirenenklängen, und zog in das Land, wo diese Rosinen gewachsen waren. So wurde er zur Wetterfahne des europäischen Opernmusikwetters, die sich immer beim Windwechsel erst eine Zeitlang unschlüssig um und um dreht, bis sie, erst nach dem Feststehen der Windrichtung, auch selbst still haftet. So komponierte Meyerbeer in Italien grade auch nur so lange Opern à la Rossini, bis in Paris der große Wind sich zu drehen anfing und Auber und Rossini mit »Stumme« und »Tell« den neuen Wind bis zum Sturm anbliesen! Wie schnell war Meyerbeer in Paris! Dort aber fand er in dem französisch aufgegriffenen Weber (man denke an »Robin des bois«) und dem verberliozten Beethoven Momente vor, die weder Auber noch Rossini, als ihnen zu fern abliegend, beachtet hatten, die aber Meyerbeer vermöge seiner Allerweltskapazität sehr richtig zu würdigen verstand. Er faßte alles, was sich ihm so darbot, in eine ungeheuer buntgemischte Phrase zusammen, vor deren grellem Aufschrei plötzlich Auber und Rossini nicht mehr gehört wurden: der grimmige Teufel »Robert« holte sie alle miteinander.
– Es hat etwas so tief Betrübendes, beim Überblicke unsrer Operngeschichte nur von den Toten Gutes reden zu können, die Lebenden aber mit schonungsloser Bitterkeit verfolgen zu müssen! – Wollen wir aufrichtig sein, weil wir es müssen, so haben wir zu erkennen, daß nur die abgeschiedenen Meister dieser Kunst die Glorie des Märtyrertumes verdienen, weil, wenn sie in einem Wahne befangen waren, dieser Wahn sich in ihnen so edel und schön zeigte, und sie selbst so ernst und heilig an seine Wahrheit glaubten, daß sie ihr künstlerisches Leben mit schmerzvollem und doch freudigem Opfer für ihn ließen. Kein lebender und schaffender Tonsetzer ringt aus innerem Drange mehr nach solchem Märtyrertume; der Wahn ist soweit aufgedeckt, daß niemand mehr mit starkem Glauben in ihm befangen ist. Ohne Glauben, ja ohne Freude, ist die Opernkunst ihren modernen Meistern zu einem bloßen Artikel für die Spekulation herabgesunken. Selbst das Rossinische wollüstige Lächeln ist jetzt nicht mehr wahrzunehmen; überall nur das Gähnen der Langeweile oder das Grinsen des Wahnsinnes! Fast zieht uns der Anblick des Wahnsinns noch am meisten an; in ihm finden wir doch noch den letzten Atemzug jenes Wahnes, dem einst so edle Opfer entblühten. Nicht jener gaunerischen Seite in der ekelhaften Ausbeutung unsrer Operntheaterzustände wollen wir daher jetzt gedenken, wo wir den letzten lebenden und noch schaffenden Opernkompositionshelden in seinem Wirken uns darstellen müssen: dieser Anblick könnte uns nur mit einem Unwillen erfüllen, in welchem wir vielleicht zu unmenschlicher Härte gegen eine Persönlichkeit hingerissen würden, wenn wir dieser die garstige Verderbtheit von Zuständen allein zur Last legen wollten, die auch diese Persönlichkeit gewiß um so mehr gefangen halten, als sie uns auf der schwindelndsten Spitze derselben, wie mit Krone und Szepter angetan erscheint. Wissen wir nicht, daß Könige und Fürsten, gerade in ihrem willkürlichsten Handeln, jetzt die Allerunfreiesten sind? – Nein, betrachten wir in diesem Opernmusikkönige nur die Züge des Wahnsinnes, durch die er uns bedauernswürdig und abmahnend, nicht aber verachtungswert erscheint! Um der ewigen Kunst willen müssen wir aber die Natur dieses Wahnsinnes genau kennenlernen, weil wir aus seinen Verzerrungen am deutlichsten den Wahn zu erforschen vermögen, der einem Kunstgenre sein Dasein gab, über dessen irrtümliche Grundlage wir klar werden müssen, wenn wir mit gesundem jugendlichen Mute die Kunst selbst wieder verjüngen wollen.
Auch zu dieser Erforschung können wir jetzt in kurzen, raschen Schritten vorwärtsschreiten, da wir dem Wesen nach den Wahnsinn schon dargetan haben, den wir daher jetzt nur noch in einigen kenntlichsten Zügen beobachten dürfen, um über ihn ganz sicher zu sein. –
Wir sahen die frivole – d. h. die von jedem wirklichen Zusammenhange mit den dichterischen Textworten abgelöste Opernmelodie, durch Aufnahme der Nationalliedweise geschwängert, bis zum Vorgeben historischer Charakteristik sich anlassen. Wir beobachteten ferner, wie, bei immer mehr schwindender charakteristischer Individualität der handelnden Hauptpersonen des musikalischen Dramas, der Charakter der Handlung den umgebenden – »emanzipierten« – Massen zugeteilt wurde, von denen dieser Charakter als Reflex erst auf die handelnden Hauptpersonen wieder zurückfallen sollte. Wir bemerkten, daß der umgebenden Masse nur durch das historische Kostüm ein unterscheidender, irgend erkennbarer Charakter aufgeprägt werden konnte, und sahen den Komponisten – um seine Suprematie zu behaupten – gedrängt, den Dekorationsmaler und Theaterschneider, denen das Verdienst der Herstellung historischer Charakteristik eigentlich zufiel, durch die ungewöhnlichste Verwendung seiner rein musikalischen Hülfsmittel wiederum auszustechen. Wir sahen endlich, wie dem Komponisten aus der verzweifeltsten Richtung der Instrumentalmusik eine absonderliche Art von Mosaikmelodie zugeführt wurde, welche durch ihre willkürlichsten Zusammensetzungen ihm das Mittel bot, jeden Augenblick – sooft ihn darnach verlangte – fremdartig und seltsam zu erscheinen – ein Verfahren, dem er durch die wunderlichste, auf rein materielles Auffallen berechnete, Verwendung des Orchesters das Gepräge speziellster Charakteristik aufdrücken zu können glaubte.
Wir dürfen nun nicht aus den Augen lassen, daß alles dies am Ende doch ohne Mitwirkung des Dichters unmöglich war, und wenden uns daher nun für einen Augenblick zur Prüfung des modernsten Verhältnisses zwischen Musiker und Dichter.
Die neue Opernrichtung ging durch Rossini entschieden von Italien aus: dort war der Dichter zur völligen Null herabgesunken. Mit der Übersiedelung der Rossinischen Richtung nach Paris änderte sich auch die Stellung des Dichters. Wir bezeichneten bereits die Eigentümlichkeit der französischen Oper, und erkannten, daß der unterhaltende Wortsinn des Couplets der Kern derselben war. In der französischen komischen Oper hatte der Dichter vordem dem Komponisten nur ein bestimmtes Feld angewiesen, das er für sich zu bebauen hatte, während dem Dichter der eigentliche Besitz des Grundstückes verblieb. War nun auch jenes Musikterrain, der Natur der Sache nach, allmählich so angeschwollen, daß es mit der Zeit das ganze Grundstück einnahm, so blieb doch dem Dichter immer noch der Titel des Besitzes, und der Musiker galt als der Lehnsmann, der zwar das ganze Lehn als erbliches Eigentum betrachtete, dennoch aber – wie weiland im römisch-deutschen Reich – dem Kaiser als seinem Lehnherrn huldigte. Der Dichter verlieh und der Musiker genoß. In dieser Stellung ist immer noch das Gesündeste zutage gekommen, was der Oper als dramatischem Genre entsprießen konnte. Der Dichter bemühte sich wirklich, Situationen und Charaktere zu erfinden, ein unterhaltendes und spannendes Stück zu liefern, das er erst bei der Ausführung für den Musiker und dessen Formen zurichtete, so daß die eigentliche Schwäche dieser französischen Operndichtungen mehr darin lag, daß sie ihrem Inhalte nach die Musik meist gar nicht als notwendig bedangen, als darin, daß sie von vornherein vor der Musik verschwommen wären. Auf dem Theater der »Opéra comique« war dieser unterhaltende, oft liebenswürdige und geistvolle Genre heimisch, in welchem gerade dann immer das Beste geleistet wurde, wenn die Musik mit ungezwungener Natürlichkeit in die Dichtung eintreten konnte. – Diesen Genre übersetzten nun Scribe und Auber in die pomphaftere Sprache der sogenannten »großen Oper«. In der »Stummen von Portici« können wir noch deutlich ein gut angelegtes Theaterstück erkennen, in welchem noch nirgends mit auffallender Absichtlichkeit das dramatische Interesse einem rein musikalischen untergeordnet ist: nur ist in dieser Dichtung die dramatische Handlung bereits sehr wesentlich in die Beteiligung der umgebenden Massen verlegt, so daß die Hauptpersonen fast mehr nur redende Repräsentanten der Masse als wirkliche, aus individueller Notwendigkeit handelnde Personen abgeben. So schlaff ließ bereits der Dichter, vor dem imponierenden Chaos der großen Oper angelangt, den Pferden des Opernwagens die Zügel schießen, bis er diese Zügel bald ganz aus der Hand verlieren sollte! Hatte dieser Dichter in der »Stummen« und im »Tell« die Zügel noch in der Hand, weil weder Auber noch Rossini etwas anderes beikam, als in der prächtigen Opernkutsche es sich eben recht musikalisch bequem und melodiös behaglich zu machen – unbekümmert darum, wie und wohin der wohlgeübte Kutscher den Wagen lenkte – so trieb es nun aber Meyerbeer, dem jenes üppige melodische Behagen nicht zu eigen war, dem Kutscher selbst in die Zügel zu fallen, um durch das Zickzack der Fahrt das nötige Aufsehen zu erregen, das ihm nicht auf sich zu ziehen gelingen wollte, sobald er mit nichts anderem als seiner musikalischen Persönlichkeit allein in der Kutsche saß. –
Nur in einzelnen Anekdoten ist es uns zu Ohren gekommen, mit welch peinigender Quälerei Meyerbeer auf seinen Dichter, Scribe, beim Entwurfe seiner Opernsujets einwirkte. Wollten wir aber diese Anekdoten auch nicht beachten, und wüßten wir gar nichts von dem Geheimnisse der Opernberatungen zwischen Scribe und Meyerbeer, so müßten wir doch an den zustandegekommenen Dichtungen selbst klar sehen, welcher belästigende und verwirrende Zwang auf den sonst so schnell fertigen, so leicht, geschickt und verständlich arbeitenden Scribe gedrückt haben muß, als er die bombastisch barocken Texte für Meyerbeer zusammensetzte. Während Scribe fortfuhr, für andere Opernkomponisten leicht fließende, oft interessant entworfene, jedenfalls mit vielem natürlichen Geschick ausgeführte, dramatische Dichtungen zu verfassen, die mindestens immer eine bestimmte Handlung zum Grunde hatten, und dieser Handlung entsprechende, leicht verständliche Situationen enthielten – verfertigte derselbe ungemein routinierte Dichter für Meyerbeer den ungesundesten Schwulst, den verkrüppeltsten Galimathias, Aktionen ohne Handlung, Situationen von der unsinnigsten Verwirrung, Charaktere von der lächerlichsten Fratzenhaftigkeit. Dies konnte nicht mit natürlichen Dingen zugehen: so leicht gibt sich ein nüchterner Verstand wie der Scribes nicht zu Experimenten der Verrücktheit her. Scribe mußte selbst erst verdreht gemacht werden, ehe er einen »Robert der Teufel« zutage förderte; er mußte erst allen gesunden Sinnes für dramatische Handlung beraubt werden, ehe er in den »Hugenotten« sich zum bloßen Kompilator dekorativer Nuancen und Kontraste hergab; er mußte gewaltsam in die Mysterien historischer Spitzbubenschaft eingeweiht werden, ehe er sich zu einem »Propheten« der Gauner bestimmen ließ. –
Wir erkennen hier einen ähnlichen bestimmenden Einfluß des Komponisten auf den Dichter, wie ihn Weber bei seiner »Euryanthe« auf deren Dichterin ausübte: aber aus welch grundverschiedenen Motiven! Weber wollte ein Drama hergestellt haben, das überall, mit jeder szenischen Nuance in seine edle, seelenvolle Melodie aufzugehen vermochte – Meyerbeer wollte dagegen ein ungeheuer buntscheckiges, historisch-romantisches, teuflisch-religiöses, bigott-wollüstiges, frivol-heiliges, geheimnisvoll-freches, sentimental-gaunerisches, dramatisches Allerlei haben, um an ihm erst Stoff zum Auffinden einer ungeheuer kuriosen Musik zu gewinnen – was ihm wegen des unbesieglichen Leders seines eigentlichen musikalischen Naturelles wiederum nie wirklich recht gelingen wollte. Er fühlte, daß aus all dem aufgespeicherten Vorrate musikalischer Effektmittel etwas noch gar nicht Dagewesenes zustande zu bringen war, wenn er aus allen Winkeln zusammengekehrt, auf einen Haufen in krauser Verwirrung geschichtet, mit theatralischem Pulver und Kolophonium versetzt, und nun mit ungeheurem Knall in die Luft gesprengt würde. Was er daher von seinem Dichter verlangte, war gewissermaßen eine Inszenesetzung des Berliozschen Orchesters, nur – wohlgemerkt! – mit demütigendster Herabstimmung desselben zur seichten Basis Rossinischer Gesangstriller und Fermaten – der »dramatischen« Oper wegen. Alle vorrätigen musikalischen Wirkungselemente durch das Drama etwa zu einem harmonischen Einklange zu bringen hätte ihm für seine Absicht höchst fehlerhaft erscheinen müssen; denn Meyerbeer war kein idealistischer Schwärmer, sondern mit klugem, praktischem Blicke auf das moderne Opernpublikum übersah er, daß er durch harmonischen Einklang niemand für sich gewonnen haben würde, dagegen durch ein zerstreutes Allerlei eben auch alle befriedigen müßte, nämlich jeden auf seine Weise. Nichts war ihm daher wichtiger als wirre Buntheit und buntes Durcheinander, und der lustige Scribe mußte blutschwitzend ihm den dramatischen Wirrwarr auf das Allerberechnetste zusammenstellen, vor dem nun der Musiker mit kaltblütiger Sorge stand, ruhig überlegend, auf welches Stück Unnatur irgendein Fetzen aus seiner musikalischen Vorratskammer so auffallend und schreiend wie möglich passen dürfte, um ganz ungemein seltsam und daher – »charakteristisch« – zu erscheinen.
So entwickelte er in den Augen unserer Kunstkritik das Vermögen der Musik zu historischer Charakteristik, und brachte es bis dahin, daß ihm als feinste Schmeichelei gesagt wurde, die Texte seiner Opern seien sehr schlecht und erbärmlich, aber was verstünde dagegen seine Musik aus diesem elenden Zeuge zu machen! – So war der vollste Triumph der Musik erreicht: der Komponist hatte den Dichter in Grund und Boden ruiniert, und auf den Trümmern der Operndichtkunst ward der Musiker als eigentlicher wirklicher Dichter gekrönt! –
Das Geheimnis der Meyerbeerschen Opernmusik ist – der Effekt. Wollen wir uns erklären, was wir unter diesem »Effekte« zu verstehen haben, so ist es wichtig, zu beachten, daß wir uns gemeinhin des näherliegenden Wortes »Wirkung« hierbei nicht bedienen. Unser natürliches Gefühl stellt sich den Begriff »Wirkung« immer nur im Zusammenhange mit der vorhergehenden Ursache vor: wo wir nun, wie im vorliegenden Falle, unwillkürlich zweifelhaft darüber sind, ob ein solcher Zusammenhang bestehe, oder wenn wir sogar darüber belehrt sind, daß ein solcher Zusammenhang gar nicht vorhanden sei, so sehen wir in der Verlegenheit uns nach einem Worte um, das den Eindruck, den wir z. B. von Meyerbeerschen Musikstücken erhalten zu haben vermeinen, doch irgendwie bezeichne, und so wenden wir ein ausländisches, unserem natürlichen Gefühle nicht unmittelbar nahestehendes Wort, wie eben dieses »Effekt«, an. Wollen wir daher genau das bezeichnen, was wir unter diesem Worte verstehen, so dürfen wir »Effekt« übersetzen durch »Wirkung ohne Ursache«.
In der Tat bringt die Meyerbeersche Musik auf diejenigen, die sich an ihr zu erbauen vermögen, eine Wirkung ohne Ursache hervor. Dies Wunder war nur der äußersten Musik möglich, d. h. einem Ausdrucksvermögen, das sich (in der Oper) von jeher von allem Ausdruckswerten immer unabhängiger zu machen suchte, und seine vollständig erreichte Unabhängigkeit von ihm dadurch kundgab, daß es den Gegenstand des Ausdruckes, der diesem Ausdrucke allein Dasein, Maß und Rechtfertigung geben sollte, zu sittlicher wie künstlerischer Nichtigkeit in dem Grade herabdrückte, daß er nun Dasein, Maß und Rechtfertigung allein erst aus einem Akte musikalischen Beliebens gewinnen konnte, der somit selbst alles wirklichen Ausdruckes bar geworden war. Dieser Akt selbst konnte aber wiederum nur in Verbindung mit anderen Momenten absoluter Wirkung ermöglicht werden. In der extremsten Instrumentalmusik war an die rechtfertigende Kraft der Phantasie appelliert, welcher durch ein Programm oder auch nur durch einen Titel ein Stoff zum außermusikalischen Anhalt gegeben wurde: in der Oper aber sollte dieser Anhaltestoff verwirklicht, d. h. der Phantasie jede peinliche Mühe erspart werden. Was dort aus Momenten des natürlichen oder menschlichen Erscheinungslebens programmatisch herbeigezogen war, sollte hier in materiellster Realität wirklich vorgeführt werden, um eine phantastische Wirkung so ohne alle Mitwirkung der Phantasie selbst hervorzubringen. Diesen materiellen Anhaltestoff entnahm der Komponist nun der szenischen Mechanik selbst, indem er die Wirkungen, die sie hervorzubringen vermochte, ebenfalls rein für sich nahm, d. h. sie von dem Gegenstande loslöste, der, außerhalb des Gebietes der Mechanik, auf dem Boden der lebendarstellenden Dichtkunst stehend, sie hätte bedingen und rechtfertigen können. – Machen wir uns an einem Beispiele, welches die Meyerbeersche Kunst überhaupt auf das erschöpfendste charakterisiert, hierüber vollkommen klar.
Nehmen wir an, ein Dichter sei von einem Helden begeistert, von einem Streiter für Licht und Freiheit, in dessen Brust eine mächtige Liebe für seine entwürdigten und in ihren heiligsten Rechten gekränkten Brüder flamme. Er will diesen Helden darstellen auf dem Höhepunkte seiner Laufbahn, mitten im Lichte seiner tatenvollen Glorie, und wählt hierzu folgenden entscheidenden Geschichtsmoment. Mit den Volksscharen, die seinem begeisternden Rufe gefolgt sind, die Haus und Hof, Weib und Kind verließen, um im Kampfe gegen mächtige Unterdrücker zu siegen oder zu sterben, ist der Held vor einer festen Stadt angelangt, die von den kriegsungeübten Haufen in blutigem Sturme erobert werden muß, wenn das Befreiungswerk einen siegreichen Fortgang haben soll. Durch vorangegangene Unfälle ist Entmutigung eingetreten; schlechte Leidenschaften, Zwiespalt und Verwirrung wüten im Heere: Alles ist verloren, wenn heute nicht noch alles gewonnen ist. Das ist die Lage, in der Helden zu ihrer vollsten Größe wachsen. Der Dichter läßt den Helden, der sich so eben in nächtlicher Einsamkeit mit dem Gotte in sich, dem Geiste reinster Menschenliebe, beraten und durch seinen Hauch sich geweiht hat, im Grauen der Morgendämmerung heraustreten unter die Scharen, die bereits uneinig unter sich geworden sind, ob sie feige Bestien oder göttliche Helden sein sollen. Auf seine mächtige Stimme sammelt sich das Volk, und diese Stimme dringt bis auf das innerste Mark der Menschen, die jetzt des Gottes in sich auch innewerden: sie fühlen sich gehoben und veredelt, und ihre Begeisterung hebt der Held wieder höher empor, denn aus der Begeisterung drängt er nun zur Tat. Er ergreift die Fahne und schwingt sie hoch nach den furchtbaren Mauern dieser Stadt hin, dem festen Walle der Feinde, die, solange sie hinter Wällen sicher sind, eine bessere Zukunft der Menschen unmöglich machen. »Auf denn! Sterben oder Siegen! Diese Stadt muß unser sein!« – Der Dichter hat sich jetzt erschöpft: er will auf der Bühne den einen Augenblick nun ausgedrückt sehen, wo plötzlich die hocherregte Stimmung wie in überzeugendster Wirklichkeit vor uns hintritt; die Szene muß uns zum Weltschauplatze werden, die Natur muß sich im Bunde mit unserem Hochgefühle erklären, sie darf uns nicht mehr eine kalte, zufällige Umgebung bleiben. Siehe da! die heilige Not drängt den Dichter: – er zerteilt die Morgennebel, und auf sein Geheiß steigt leuchtend die Sonne über die Stadt herauf, die nun dem Siege der Begeisterten geweiht ist.
Hier ist die Blüte der allmächtigen Kunst, und diese Wunder schafft nur die dramatische Kunst.
Allein nach solchem Wunder, das nur der Begeisterung des dramatischen Dichters entblühen und durch eine liebevoll aus dem Leben selbst aufgenommene Erscheinung ihm ermöglicht werden kann, verlangt es den Opernkomponisten nicht: er will die Wirkung, nicht aber die Ursache, die eben nicht in seiner Macht liegt. In einer Hauptszene des »Propheten« von Meyerbeer, die im Äußerlichen der soeben geschilderten gleich ist, erhalten wir die rein sinnliche Wirkung einer dem Volksgesange abgelauschten, zu rauschender Fülle gesteigerten, hymnenartigen Melodie für das Ohr, und für das Auge die einer Sonne, in der wir ganz und gar nichts anderes als ein Meisterstück der Mechanik zu erkennen haben. Der Gegenstand, der von jener Melodie nur erwärmt, von dieser Sonne nur beschienen werden sollte, der hochbegeisterte Held, der sich aus innerster Entzückung in jene Melodie ergießen mußte und nach dem Gebote der drängenden Notwendigkeit seiner Situation das Erscheinen dieser Sonne hervorrief – der rechtfertigende, bedingende Kern der ganzen üppigen dramatischen Frucht – ist gar nicht vorhanden; statt seiner fungiert ein. charakteristisch kostümierter Tenorsänger, dem Meyerbeer durch seinen dichterischen Privatsekretär, Scribe, aufgegeben hat, so schön wie möglich zu singen und dabei etwas kommunistisch zu gebaren, damit die Leute zugleich auch etwas Pikantes zu denken hätten. Der Held, von dem wir vorhin sprachen, ist ein armer Teufel, der aus Schwachheit die Rolle eines Betrügers übernommen hat und schließlich auf das kläglichste – nicht etwa einen Irrtum, eine fanatische Verblendung, der zur Not noch eine Sonne hätte scheinen können, sondern – seine Schwäche und Lügenhaftigkeit bereut.
Welche Rücksichten zusammengewirkt haben, um solch unwürdigen Gegenstand unter dem Titel eines »Propheten« zur Welt zu fördern, wollen wir hier ununtersucht lassen; es genüge uns, das Ergebnis zu betrachten, das wahrlich lehrreich genug ist. Zunächst ersehen wir in diesem Beispiele die vollkommene sittliche und künstlerische Verunehrlichung des Dichters, an dem, wer es mit dem Komponisten am besten meint, kein gutes Haar mehr finden darf: also – die dichterische Absicht soll uns nicht im mindesten mehr einnehmen, im Gegenteil, sie soll uns anwidern. Der Darsteller soll uns ganz nur noch als kostümierter Sänger interessieren, und dies kann er in der genannten Szene nur durch das Singen jener bezeichneten Melodie, die demnach ganz für sich – als Melodie – Wirkung macht. Die Sonne kann und soll daher ebenfalls nur ganz für sich wirken, nämlich als auf dem Theater ermöglichte Nachahmung der wirklichen Sonne: der Grund ihrer Wirkung fällt somit nicht in das Drama, sondern in die reine Mechanik zurück, die im Momente der Erscheinung der Sonne einzig zu denken gibt: denn wie würde der Komponist erschrecken, wollte man diese Erscheinung etwa gar als eine beabsichtigte Verklärung des Helden, als Streiters für die Menschheit, auffassen! Im Gegenteil, ihm und seinem Publikum muß alles daran liegen, von solchen Gedanken abzulenken und alle Aufmerksamkeit allein auf das Meisterstück der Mechanik selbst hinzuweisen. So ist in dieser einzigen, von dem Publikum so gefeierten Szene, alle Kunst in ihre mechanischen Bestandteile aufgelöst: die Äußerlichkeiten der Kunst sind zu ihrem Wesen gemacht; und als dieses Wesen erkennen wir – den Effekt, den absoluten Effekt, d. h. den Reiz eines künstlich entlockten Liebeskitzels, ohne die Tätigkeit eines wirklichen Liebesgenusses.
Ich habe mir nicht vorgenommen, eine Kritik der Meyerbeerschen Opern zu geben, sondern an ihnen nur das Wesen der modernsten Oper, in ihrem Zusammenhange mit dem ganzen Genre überhaupt, darzustellen. War ich durch die Natur des Gegenstandes gezwungen, meiner Darstellung oft den Charakter einer historischen zu geben, so durfte ich mich dennoch nicht verleitet fühlen, dem eigentlichen historischen Detaillieren mich hinzugeben. Hätte ich im Besonderen die Fähigkeit und den Beruf Meyerbeers zur dramatischen Komposition zu charakterisieren, so würde ich zur Feier der Wahrheit, die ich vollständig aufzudecken mich bemühe, eine merkwürdige Erscheinung in seinen Werken am stärksten hervorheben. – In der Meyerbeerschen Musik gibt sich eine so erschreckende Hohlheit, Seichtigkeit und künstlerische Nichtigkeit kund, daß wir seine spezifisch musikalische Befähigung – namentlich auch zusammengehalten mit der der bei weitem größeren Mehrzahl seiner komponierenden Zeitgenossen – vollkommen auf Null zu setzen versucht sind. Nicht, daß er dennoch zu so großen Erfolgen vor dem Opernpublikum Europas gelangt ist, soll uns hier aber mit Verwunderung erfüllen, denn dies Wunder erklärt sich durch einen Hinblick auf dieses Publikum sehr leicht – sondern eine rein künstlerische Beobachtung soll uns fesseln und belehren. Wir beobachten nämlich, daß bei der ausgesprochensten Unfähigkeit des berühmten Komponisten, aus eigenem musikalischen Vermögen das geringste künstlerische Lebenszeichen von sich zu geben, er nichtsdestoweniger an einigen Stellen seiner Opernmusik sich zu der Höhe des allerunbestreitbarsten, größten künstlerischen Vermögens erhebt. Diese Stellen sind Erzeugnisse wirklicher Begeisterung, und prüfen wir näher, so erkennen wir auch, woher diese Begeisterung angeregt war – nämlich aus der wirklich dichterischen Situation. Da, wo der Dichter seiner zwingenden Rücksicht für den Musiker vergaß, wo er bei seinem dramatisch kompilatorischen Verfahren unwillkürlich auf einen Moment getroffen war, in dem er die freie, erfrischende menschliche Lebensluft einatmen und wieder aushauchen durfte – führt er plötzlich auch dem Musiker diesen Atemzug als begeisternden Hauch zu, und der Komponist, der bei Erschöpfung alles Vermögens seiner musikalischen Vorgängerschaft nicht einen einzigen Zug wirklicher Erfindung von sich geben konnte, vermag jetzt mit einem Male den reichsten, edelsten und seelenergreifendsten musikalischen Ausdruck zu finden. Ich erinnere hier namentlich an einzelne Züge in der bekannten schmerzlichen Liebesszene des vierten Aktes der »Hugenotten«, und vor allem an die Erfindung der wunderbar ergreifenden Melodie in Ges-Dur, der, wie sie als duftigste Blüte einer alle Fasern des menschlichen Herzens mit wonnigem Schmerze ergeifenden Situation entsproßt ist, nur sehr weniges, und gewiß nur das Vollendetste aus Werken der Musik an die Seite gestellt werden kann. Ich hebe dies mit aufrichtigster Freude und in wahrer Begeisterung hervor, weil gerade in dieser Erscheinung das wirkliche Wesen der Kunst auf eine so klare und unwiderlegliche Weise dargetan wird, daß wir mit Entzücken ersehen müssen, wie die Fähigkeit zu wahrhaftem Kunstschaffen auch dem allerverdorbensten Musikmacher ankommen muß, sobald er das Gebiet einer Notwendigkeit betritt, die stärker ist als seine eigensüchtige Willkür, und sein verkehrtes Streben plötzlich zu seinem eigenen Heile in die wahre Bahn echter Kunst lenkt.
Aber daß hier eben nur einzelner Züge zu erwähnen ist, nicht aber eines einzigen ganzen, großen Zuges, nicht z. B. der ganzen Liebesszene, deren ich gedachte, sondern nur vereinzelter Momente in ihr, das zwingt uns vor allem nur über die grausame Natur jenes Wahnsinnes nachzudenken, der die Entwickelung der edelsten Fähigkeiten des Musikers im Keime erstickt, und seiner Muse das fade Lächeln einer widerlichen Gefallsucht oder das verzerrte Grinsen einer verrückten Herrschwut aufprägt. Dieser Wahnsinn ist der Eifer des Musikers, alles das für sich und aus seinem Vermögen bestreiten zu wollen, was er in sich und seinem Vermögen gar nicht besitzt, und an dessen gemeinsamer Herstellung er nur teilnehmen kann, wenn es ihm aus dem eigentümlichen Vermögen eines anderen zugeführt wird. Bei diesem unnatürlichen Eifer, mit dem der Musiker seine Eitelkeit befriedigen, nämlich sein Vermögen in dem glänzenden Lichte eines unermeßlichen Könnens darstellen wollte, hat er dieses Vermögen, das in Wahrheit ein überaus reiches ist, bis zu der bettelhaften Armut herabgebracht, in der uns jetzt die Meyerbeersche Opernmusik erscheint. Im eigensüchtigen Streben, ihre engen Formen als alleingültige dem Drama aufzudringen, hat diese Opernmusik die ärmliche und belästigende Steifheit und Unergiebigkeit jener Formen bis zur Unerträglichkeit herausgestellt. In der Sucht, reich und mannigfaltig zu erscheinen, ist sie als musikalische Kunst zur vollsten geistigen Dürftigkeit herabgesunken, und zum Borgen von der materiellsten Mechanik hingedrängt worden. In dem egoistischen Vorgeben erschöpfender dramatischer Charakteristik durch bloß musikalische Mittel hat sie aber vollends alles natürliche Ausdrucksvermögen verloren und sich dafür zur fratzenhaften Possenreißerin herabgewürdigt. –
Sagte ich nun zu Anfang, der Irrtum im Kunstgenre der Oper habe darin bestanden, »daß ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht war« – so müssen wir nun den Kern des Wahnes und endlich des Wahnsinnes, der den Kunstgenre der Oper in seiner vollsten Unnatürlichkeit, bis zur Lächerlichkeit dargetan hat, dahin bezeichnen,
daß jenes Mittel des Ausdruckes aus sich die Absicht des Dramas bedingen wollte.
[ VII ]
Wir sind zu Ende – denn wir haben das Vermögen der Musik in der Oper bis zur Kundgebung ihres gänzlichen Unvermögens verfolgt.
Wenn wir heutzutage von Opernmusik im eigentlichen Sinne reden, sprechen wir nicht mehr von einer Kunst, sondern von einer bloßen Modeerscheinung. Nur der Kritiker, der nichts von drängender künstlerischer Notwendigkeit in sich fühlt, vermag noch Hoffnungen oder Zweifel über die Zukunft der Oper auszusprechen; der Künstler selbst, sobald er sich nicht zum Spekulanten auf das Publikum herabwürdigt, bezeugt dadurch, daß er neben der Oper hin sich Auswege sucht und hierbei namentlich auf die nachzusuchende energische Teilnahme des Dichters verfällt, daß er die Oper selbst bereits für tot hält.
Hier aber, in dieser nachzusuchenden Teilnahme des Dichters, treffen wir auf den Punkt, über den wir zu voller, tagesheller, bewußter Klarheit gelangen müssen, wenn wir das Verhältnis zwischen Musiker und Dichter in seiner wirklichen gesunden Natürlichkeit erfassen und feststellen wollen. Dieses Verhältnis muß ein dem bisher gewohnten vollkommen entgegengesetztes sein, so gänzlich verändert, daß der Musiker zu seinem eigenen Gedeihen nur dann in ihm sich zurechtfinden wird, wenn er alle Erinnerung an die alte unnatürliche Verbindung aufgibt, deren letztes Band ihn immer wieder in den alten unfruchtbaren Wahnsinn zurückziehen müßte.
Um uns dies einzugehende gesunde und einzig gedeihliche Verhältnis vollkommen deutlich zu machen, müssen wir vor allem das Wesen unserer heutigen Musik uns nochmals, gedrängt aber bestimmt, vorführen. –
Wir werden am schnellsten zu einem klaren Überblicke gelangen, wenn wir das Wesen der Musik kurz und bündig in den Begriff der Melodie zusammenfassen.
Wie das Innere wohl der Grund und die Bedingung für das Äußere ist, in dem Äußeren sich aber erst das Innere deutlich und bestimmt kundgibt, so sind Harmonie und Rhythmos wohl die gestaltenden Organe, die Melodie aber ist erst die wirkliche Gestalt der Musik selbst. Harmonie und Rhythmos sind Blut, Fleisch, Nerven und Knochen mit all dem Eingeweide, das gleich jenen beim Anblicke des fertigen, lebendigen Menschen dem beschauenden Auge verschlossen bleibt; die Melodie dagegen ist dieser fertige Mensch selbst, wie er sich unserem Auge darstellt. Beim Anblicke dieses Menschen betrachten wir einzig die schlanke Gestalt, wie sie in der formgebenden Abgrenzung der äußeren Hauthülle sich uns ausdrückt; wir versenken uns in den Anblick der ausdrucksvollsten Äußerung dieser Gestalt in den Gesichtszügen, und haften endlich beim Auge, der lebenvollsten und mitteilungsfähigsten Äußerung des ganzen Menschen, der durch dieses Organ, das sein Mitteilungsvermögen wiederum nur aus der universellsten Fähigkeit, die Äußerungen der umgebenden Welt aufzunehmen, gewinnt, zugleich sein Innerstes am überzeugendsten uns kundgibt. So ist die Melodie der vollendetste Ausdruck des inneren Wesens der Musik, und jede wahre, durch dieses innerste Wesen bedingte Melodie spricht auch durch jenes Auge zu uns, das am ausdrucksvollsten dieses Innere uns mitteilt, aber immer so, daß wir eben nur den Strahl des Augsternes, nicht jenen inneren, an sich noch formlosen Organismus in seiner Nacktheit erblicken.
Wo das Volk Melodien erfand, verfuhr es, wie der leiblich natürliche Mensch, der durch den unwillkürlichen Akt geschlechtlicher Begattung den Menschen erzeugt und gebiert, und zwar den Menschen, der, wenn er an das Licht des Tages gelangt, fertig ist, sogleich durch seine äußere Gestalt, nicht aber etwa erst durch seinen aufgedeckten inneren Organismus sich kundgibt. Die griechische Kunst faßte diesen Menschen noch vollkommen nur nach seiner äußeren Gestalt auf, und bemühte sich, sie auf das getreueste und lebendigste – endlich in Stein und Erz – nachzubilden. Das Christentum dagegen verfuhr anatomisch: es wollte die Seele des Menschen auffinden, öffnete und zerschnitt den Leib und deckte all den formlosen inneren Organismus auf, der unsern Blick anwiderte, eben weil er nicht für das Auge da ist oder da sein soll. Im Aufsuchen der Seele hatten wir aber den Leib getötet; als wir auf den Quell des Lebens treffen wollten, vernichteten wir die Äußerung dieses Lebens, und gelangten so nur auf tote Innerlichkeiten, die eben nur bei vollkommen ununterbrochener Äußerungsmöglichkeit Bedingungen des Lebens sein konnten. Die aufgesuchte Seele ist aber in Wahrheit nichts anderes als das Leben: was der christlichen Anatomie zu betrachten übrig blieb, war daher nur – der Tod.
Das Christentum hatte die organische künstlerische Lebensregung des Volkes, seine natürliche Zeugungskraft erstickt: es hatte in sein Fleisch geschnitten, und mit dem dualistischen Seziermesser auch seinen künstlerischen Lebensorganismus zerstört. Die Gemeinsamkeit, in der sich allein die künstlerische Zeugungskraft des Volkes bis zum Vermögen vollendeter Kunstschöpfung erheben kann, gehörte dem Katholizismus: nur in der Einsamkeit, da, wo Volksbruchteile – abgelegen von der großen Heerstraße des gemeinsamen Lebens – mit sich und der Natur sich allein fanden, erhielt sich in kindlicher Einfalt und dürftiger Beschränktheit das mit der Dichtung untrennbar verwachsene Volkslied.
Sehen wir zunächst von diesem ab, so gewahren wir dagegen auf dem Gebiete der Kulturkunst die Musik einen unerhört neuen Entwickelungsgang nehmen: nämlich den aus ihrem anatomisch zerlegten, innerlich getöteten Organismus heraus zu neuer Lebensentfaltung durch Zusammenfügung und neues Verwachsenlassen der getrennten Organe. – Im christlichen Kirchengesange hatte sich die Harmonie selbständig ausgebildet. Ihr natürliches Lebensbedürfnis drängte sie mit Notwendigkeit zur Äußerung als Melodie; sie bedurfte zu dieser Äußerung aber unerläßlich des Anhaltes an das Form und Bewegung gebende Organ des Rhythmos, das sie als ein willkürliches, fast mehr eingebildetes als wirkliches Maß dem Tanze entnahm. Die neue Vereinigung konnte nur eine künstliche sein. Wie die Dichtkunst nach den Regeln, die Aristoteles von den Tragikern abstrahiert hatte, konstruiert wurde, so mußte die Musik nach wissenschaftlichen Annahmen und Normen hergerichtet werden. Es war dies in der Zeit, wo nach gelehrten Rezepten und aus chemischen Dekokten sogar Menschen gemacht werden sollten. Einen solchen Menschen suchte auch die gelehrte Musik zu konstruieren: der Mechanismus sollte den Organismus herstellen, oder doch ersetzen. Der rastlose Trieb all dieser mechanischen Erfindsamkeit ging in Wahrheit aber doch immer nur auf den wirklichen Menschen hinaus, auf den Menschen, der aus dem Begriffe wiederhergestellt, somit endlich zum wirklich organischen Leben wieder erwachen sollte. – Wir berühren hier den ganzen ungeheuren Entwickelungsgang der modernen Menschheit! –
Der Mensch, den die Musik herstellen wollte, war in Wirklichkeit aber nichts anderes als die Melodie, d. h. das Moment bestimmtester, überzeugendster Lebensäußerung des wirklich lebendigen, inneren Organismus der Musik. Je weiter sich die Musik in diesem notwendigen Verlangen nach Menschwerdung entwickelt, sehen wir mit immer größerer Entschiedenheit das Streben nach deutlicher melodischer Kundgebung sich bis zur schmerzlichsten Sehnsucht steigern und in den Werken keines Musikers sehen wir diese Sehnsucht zu solcher Macht und Gewalt erwachsen wie in den großen Instrumentalwerken Beethovens. In ihnen bewundern wir die ungeheuersten Anstrengungen des nach Menschwerdung verlangenden Mechanismus, die dahin gingen, alle seine Bestandteile in Blut und Nerven wirklich lebendigen Organismusses aufzulösen, um durch ihn zur unfehlbaren Äußerung als Melodie zu gelangen.
Hierin zeigt sich bei Beethoven der eigentümliche und entscheidende Gang unserer ganzen Kunstentwickelung bei weitem wahrhaftiger als bei unsern Opernkomponisten. Diese erfaßten die Melodie als etwas außerhalb ihres Kunstschaffens Liegendes, Fertiges; sie lösten die Melodie, an deren organischer Erzeugung sie gar keinen Teil genommen hatten, vom Munde des Volkes los, rissen sie somit aus ihrem Organismus heraus, und verwandten sie eben nur nach willkürlichem Gefallen, ohne diese Verwendung irgendwie anders als durch luxuriöses Belieben zu rechtfertigen. War jene Volksmelodie die äußere Gestalt des Menschen, so zogen die Opernkomponisten diesem Menschen gewissermaßen seine Haut ab, und bedeckten mit ihr einen Gliedermann, wie um ihm menschliches Ansehen zu geben: sie konnten hiermit höchstens nur die zivilisierten Wilden unseres halbhinschauenden Opernpublikums täuschen.
Bei Beethoven dagegen erkennen wir den natürlichen Lebensdrang, die Melodie aus dem inneren Organismus der Musik heraus zu gebären. In seinen wichtigsten Werken stellt er die Melodie keinesweges als etwas von vornherein Fertiges hin, sondern er läßt sie aus ihren Organen heraus gewissermaßen vor unseren Augen gebären; er weiht uns in diesen Gebärungsakt ein, indem er ihn uns nach seiner organischen Notwendigkeit vorführt. Das Entscheidendste, was der Meister in seinem Hauptwerke uns endlich aber kundtut, ist die von ihm als Musiker gefühlte Notwendigkeit, sich in die Arme des Dichters zu werfen, um den Akt der Zeugung der wahren, unfehlbar wirklichen und erlösenden Melodie zu vollbringen. Um Mensch zu werden, mußte Beethoven ein ganzer, d. h. gemeinsamer, den geschlechtlichen Bedingungen des Männlichen und Weiblichen unterworfener Mensch werden. – Welch ernstes, tiefes und sehnsüchtiges Sinnen entdeckte dem unendlich reichen Musiker endlich erst die schlichte Melodie, mit der er in die Worte des Dichters ausbrach: »Freude, schöner Götterfunken!« – Mit dieser Melodie ist uns aber auch das Geheimnis der Musik gelöst: wir wissen nun, und haben die Fähigkeit gewonnen, mit Bewußtsein organisch schaffende Künstler zu sein. –
Verweilen wir jetzt bei dem wichtigsten Punkte unserer Untersuchung, und lassen wir uns dabei von der »Freudemelodie« Beethovens leiten. –
Die Volksmelodie bot uns bei ihrer Wiederauffindung von seiten der Kulturmusiker ein zweifaches Interesse; das der Freude an ihrer natürlichen Schönheit, wo wir sie unentstellt im Volke selbst antrafen, und das der Forschung nach ihrem inneren Organismus. Die Freude an ihr mußte, genaugenommen, für unser Kunstschaffen unfruchtbar bleiben: wir hätten uns, dem Gehalt und der Form nach, streng nur in einer dem Volksliede selbst ähnlichen Kunstgattung bewegen müssen, um mit einigem Erfolge auch diese Melodie nachahmen zu können; ja, wir hätten selbst im genauesten Sinne Volkskünstler sein müssen, um die Fähigkeit dieser Nachahmung zu gewinnen; wir hätten sie eigentlich also gar nicht nachzuahmen, sondern als Volk selbst wieder zu erfinden haben müssen.
Wir konnten dagegen, in einem ganz anderen – von dem des Volkes himmelweit verschiedenen Kunstschaffen befangen, diese Melodie im gröbsten Sinne eben nur verwenden, und zwar in einer Umgebung und unter Bedingungen, die sie notwendig entstellen mußten. Die Geschichte der Opernmusik führt sich im Grunde einzig auf die Geschichte dieser Melodie zurück, in welcher nach gewissen, denen der Ebbe und Flut ähnlichen Gesetzen, die Perioden der Aufnahme und Wiederaufnahme der Volksmelodie mit denen ihrer eintretenden und immer wieder überhandnehmenden Entstellung und Entartung wechseln. – Diejenigen Musiker, die dieser üblen Eigenschaft der zur Opernarie gewordenen Volksmelodie am schmerzlichsten inne wurden, sahen sich daher auf die mehr oder weniger deutlich empfundene Notwendigkeit hingedrängt, auf die organische Zeugung der Melodie selbst bedacht zu sein. Der Opernkomponist stand der Auffindung des dazu nötigen Verfahrens am nächsten, und gerade ihm mußte sie doch nie glücken, weil er zu dem einzig der Befruchtung fähigen Elemente der Dichtkunst in einem grundfalschen Verhältnisse stand, weil er in seiner unnatürlichen und usurpatorischen Stellung dieses Element gewissermaßen der Zeugungsorgane beraubt hatte. In seiner verkehrten Stellung zum Dichter mochte der Komponist es anfangen, wie er wollte, überall da, wo das Gefühl sich auf die Höhe des melodischen Ergusses aufschwang, mußte er auch seine fertige Melodie mitbringen, weil der Dichter sich von vornherein der ganzen Form zu fügen hatte, in welcher jene Melodie sich kundgeben sollte: diese Form war aber von so gebieterischer Einwirkung auf die Gestaltung der Opernmelodie, daß sie in Wahrheit auch ihren wesenhaften Inhalt bestimmte.
Diese Form war von der Volksliedweise entnommen; ihre äußerlichste Gestaltung, der Wechsel und die Wiederkehr der Bewegung im rhythmischen Zeitmaße sogar der Tanzweise entlehnt – die allerdings mit der Liedweise ursprünglich eins war. In dieser Form war nur variiert worden, sie selbst aber blieb das unantastbare Gerüst der Opernarie bis auf die neuesten Zeiten. Nur in ihr blieb einzig ein melodischer Aufbau denkbar – natürlich blieb dies aber auch immer nur ein Aufbau, der durch dies Gerüst von vornherein bestimmt war. Der Musiker, der, sowie er in diese Form eintrat, nicht mehr erfinden, sondern nur noch variieren konnte, war somit von vornherein jedes Vermögens zur organischen Erzeugung der Melodie beraubt; denn die wahre Melodie ist, wie wir sahen, selbst Äußerung eines inneren Organismus; sie muß daher, wenn sie organisch entstanden sein soll, gerade eben auch ihre Form sich selbst gestalten, und zwar eine Form, wie sie ihrem inneren Wesen zur bestimmtesten Mitteilung entsprach. Die Melodie, die hingegen aus der Form konstruiert wurde, konnte nie etwas anderes als Nachahmung derjenigen Melodie sein, die sich eben in jener Form ursprünglich aussprach. Das Streben, diese Form zu brechen, wird uns daher auch bei vielen Opernkomponisten ersichtlich: mit künstlerischem Erfolge wäre sie doch aber nur dann überwunden worden, wenn entsprechende neue Formen gewonnen worden wären; die neue Form wäre eine wirkliche Kunstform doch aber nur dann gewesen, wenn sie als bestimmteste Äußerung eines besonderen musikalischen Organismus sich kundgegeben hätte: aller musikalische Organismus ist seiner Natur nach aber – ein weiblicher, er ist ein nur gebärender, nicht aber zeugender; die zeugende Kraft liegt außer ihm, und ohne Befruchtung von dieser Kraft vermag sie eben nicht zu gebären. – Hier liegt das ganze Geheimnis der Unfruchtbarkeit der modernen Musik! –
Wir bezeichneten Beethovens künstlerisches Verfahren in seinen wichtigsten Instrumentalsätzen als »Vorführung des Aktes der Gebärung der Melodie«. Beachten wir hierbei das Charakteristische, daß, wenn der Meister uns wohl erst im Verlaufe des Tonstückes die volle Melodie als fertig hinstellt, diese Melodie dennoch beim Künstler von Anfang herein schon als fertig vorauszusetzen ist: er zerbrach nur von vornherein die enge Form – eben die Form, gegen die der Opernkomponist vergebens ankämpfte –, er zersprengte sie in ihre Bestandteile, um diese durch organische Schöpfung zu einem neuen Ganzen zu verbinden, und zwar dadurch, daß er die Bestandteile verschiedener Melodien sich in wechselnde Berührung setzen ließ, wie um die organische Verwandtschaft der scheinbar unterschiedensten solcher Bestandteile, somit die Urverwandtschaft jener verschiedenen Melodien selbst darzutun. Beethoven deckt uns hierbei nur den inneren Organismus der absoluten Musik auf: es lag ihm gewissermaßen daran, diesen Organismus aus der Mechanik herzustellen, ihm sein inneres Leben zu vindizieren, und ihn uns am lebendigsten eben im Akte der Gebärung zu zeigen. Das, womit er diesen Organismus befruchtete, war aber immer nur noch die absolute Melodie; er belebte somit diesen Organismus nur dadurch, daß er ihn – sozusagen – im Gebären übte, und zwar indem er ihn die bereits fertige Melodie wiedergebären ließ. Gerade durch dieses Verfahren fand er sich aber dazu hingedrängt, dem nun bis zur gebärenden Kraft neu belebten Organismus der Musik auch den befruchtenden Samen zuzuführen, und diesen entnahm er der zeugenden Kraft des Dichters. Fern von allem ästhetischen Experimentieren, konnte Beethoven, der hier unbewußt den Geist unsres künstlerischen Entwickelungsganges in sich aufnahm, doch nicht anders, als in gewissem Sinne spekulativ zu Werke gehen. Er selbst war keinesweges durch den zeugenden Gedanken eines Dichters zum unwillkürlichen Schaffen angeregt, sondern er sah sich in musikalischer Gebärungslust nach dem Dichter um. So erscheint selbst seine Freude-Melodie noch nicht auf oder durch die Verse des Dichters erfunden, sondern nur im Hinblick auf Schillers Gedicht, in der Anregung durch seinen allgemeinen Inhalt, verfaßt. Erst wo Beethoven von dem Inhalte dieses Gedichtes im Verlaufe bis zur dramatischen Unmittelbarkeit gesteigert wird, sehen wir seine melodischen Kombinationen immer bestimmter auch aus dem Wortverse des Gedichtes hervorwachsen, so daß der unerhört mannigfaltigste Ausdruck seiner Musik gerade nur dem, allerdings höchsten Sinne des Gedichtes und Wortlautes in solcher Unmittelbarkeit entspricht, daß die Musik von dem Gedichte getrennt uns plötzlich gar nicht mehr denkbar und begreiflich erscheinen kann. Und hier ist der Punkt, wo wir das Resultat der ästhetischen Forschung über den Organismus des Volksliedes mit erhellendster Deutlichkeit durch einen künstlerischen Akt selbst bestätigt sehen. Wie die lebendige Volksmelodie untrennbar vom lebendigen Volksgedichte ist, abgetrennt von diesem aber organisch getötet wird, so vermag der Organismus der Musik die wahre, lebendige Melodie nur zu gebären, wenn er vom Gedanken des Dichters befruchtet wird. Die Musik ist die Gebärerin, der Dichter der Erzeuger; und auf dem Gipfel des Wahnsinnes war die Musik daher angelangt, als sie nicht nur gebären, sondern auch zeugen wollte.
Die Musik ist ein Weib.
Die Natur des Weibes ist die Liebe: aber diese Liebe ist die empfangende und in der Empfängnis rückhaltlos sich hingebende.
Das Weib erhält volle Individualität erst im Momente der Hingebung. Es ist das Wellenmädchen, das seelenlos durch die Wogen seines Elementes dahinrauscht, bis es durch die Liebe eines Mannes erst die Seele empfängt. Der Blick der Unschuld im Auge des Weibes ist der endlos klare Spiegel, in welchem der Mann so lange eben nur die allgemeine Fähigkeit zur Liebe erkennt, bis er sein eigenes Bild in ihm zu erblicken vermag: hat er sich darin erkannt, so ist auch die Allfähigkeit des Weibes zu der einen drängenden Notwendigkeit verdichtet, ihn mit der Allgewalt vollsten Hingebungseifers zu lieben.
Das wahre Weib liebt unbedingt, weil es lieben muß. Es hat keine Wahl, außer da, wo es nicht liebt. Wo es aber lieben muß, da empfindet es einen ungeheuren Zwang, der zum erstenmal auch seinen Willen entwickelt. Dieser Wille, der sich gegen den Zwang auflehnt, ist die erste und mächtigste Regung der Individualität des geliebten Gegenstandes, die durch das Empfängnis in das Weib gedrungen, es selbst mit Individualität und Willen begabt hat. Dies ist der Stolz des Weibes, der ihm nur aus der Kraft der Individualität erwächst, die es eingenommen hat und mit der Not der Liebe zwingt. So kämpft es um des geliebten Empfängnisses willen gegen den Zwang der Liebe selbst, bis es unter der Allgewalt dieses Zwanges inne wird, daß er, wie sein Stolz, nur die Kraftausübung der empfangenen Individualität selbst ist, daß die Liebe und der geliebte Gegenstand eins sind, daß es ohne diese weder Kraft noch Willen hat, daß es von dem Augenblicke an, wo es Stolz empfand, bereits vernichtet war. Das offene Bekenntnis dieser Vernichtung ist dann das tätige Opfer der letzten Hingebung des Weibes: sein Stolz geht so mit Bewußtsein in das einzige auf, was es zu empfinden vermag, was es fühlen und denken kann, ja, was es selbst ist – in die Liebe zu diesem Manne. –
Ein Weib, das nicht mit diesem Stolze der Hingebung liebt, liebt in Wahrheit gar nicht. Ein Weib, das gar nicht liebt, ist aber die unwürdigste und widerlichste Erscheinung der Welt. Führen wir uns die charakteristischen Typen solcher Frauen vor!
Man hat die italienische Opernmusik sehr treffend eine Lustdirne genannt. Eine Buhlerin kann sich rühmen, immer sie selbst zu bleiben; sie gerät nie außer sich, sie opfert sich nie, außer wenn sie selbst Lust empfinden oder einen Vorteil gewinnen will, und für diesen Fall bietet sie nur den Teil ihres Wesens fremdem Genusse dar, über den sie mit Leichtigkeit verfügen kann, weil er ihr ein Gegenstand ihrer Willkür geworden ist. Bei der Liebesumarmung der Buhlerin ist nicht das Weib gegenwärtig, sondern nur ein Teil seines sinnlichen Organismus: sie empfängt in der Liebe nicht Individualität, sondern sie gibt sich ganz generell wiederum an das Generelle hin. So ist die Buhlerin ein unentwickeltes, verwahrlostes Weib – aber sie übt doch wenigstens sinnliche Funktionen des weiblichen Geschlechtes aus, an denen wir das Weib noch – wenn auch mit Bedauern – zu erkennen vermögen.
Die französische Opernmusik gilt mit Recht als Kokette. Die Kokette reizt es, bewundert, ja gar geliebt zu werden: die ihr eigentümliche Freude am Bewundert- und Geliebtsein kann sie aber nur genießen, wenn sie selbst weder in Bewunderung noch gar in Liebe für den Gegenstand, dem sie beides einflößt, befangen ist. Der Gewinn, den sie sucht, ist die Freude über sich selbst, die Befriedigung der Eitelkeit: daß sie bewundert und geliebt wird, ist der Genuß ihres Lebens, der augenblicklich ihr getrübt wäre, sobald sie selbst Bewunderung oder Liebe empfände. Liebte sie selbst, so wäre sie ihres Selbstgenusses beraubt, denn in der Liebe muß sie notwendig sich selbst vergessen, und dem schmerzlichen, oft selbstmörderischen Genusse des anderen sich hingeben. Vor nichts hütet sich daher die Kokette so sehr als vor der Liebe, um das einzige, was sie liebt, unberührt zu erhalten, nämlich sich selbst, d. h. das Wesen, das seine verführerische Kraft, seine angeübte Individualität, doch erst der Liebesannäherung des Mannes entnimmt, dem sie – die Kokette – sein Eigentum somit zurückhält. Die Kokette lebt daher vom diebischen Egoismus, und ihre Lebenskraft ist frostige Kälte. In ihr ist die Natur des Weibes zu ihrem widerlichen Gegenteile verkehrt und von ihrem kalten Lächeln, das uns nur unser verzerrtes Bild zurückspiegelt, wenden wir uns wohl in Verzweiflung zur italienischen Lustdirne hin.
Aber noch einen Typus entarteter Frauen gibt es, der uns gar mit widerwärtigem Grauen erfüllt: das ist die Prüde, als welche uns die sogenannte »deutsche« Opernmusik gelten muß. – Der Buhlerin mag es begegnen, daß in ihr für den umarmenden Jüngling plötzlich die Opferglut der Liebe aufschlägt – gedenken wir des Gottes und der Bajadere! –; der Kokette mag es sich ereignen, daß sie, die immer mit der Liebe spielt, in diesem Spiele sich eng verstrickt und trotz aller Gegenwehr der Eitelkeit sich von dem Netze gefangen sieht, in dem sie nun weinend den Verlust ihres Willens beklagt. Nie aber wird dem Weibe dieses schöne Menschliche begegnen, das ihre Unbeflecktheit mit orthodoxem Glaubensfanatismus bewacht – dem Weibe, dessen Tugend grundsätzlich in der Lieblosigkeit besteht. Die Prüde ist nach den Regeln des Anstandes erzogen, und hat das Wort »Liebe« von Jugend auf nur mit scheuer Verlegenheit aussprechen gehört. Sie tritt, das Herz voll Dogma, in die Welt, blickt scheu um sich, gewahrt die Buhlerin und die Kokette, schlägt an die fromme Brust und ruft: »ich danke dir, Herr, daß ich nicht bin wie diese!« – Ihre Lebenskraft ist der Anstand, ihr einziger Wille die Verneinung der Liebe, die sie nicht anders kennt als in dem Wesen der Buhlerin und Kokette. Ihre Tugend ist die Vermeidung des Lasters, ihr Wirken die Unfruchtbarkeit, ihre Seele impertinenter Hochmut. – Und wie nahe ist gerade dieses Weib dem allerekelhaftesten Falle! In ihrem bigotten Herzen regt sich nie die Liebe, in ihrem sorgsam versteckten Fleische wohl aber gemeine Sinnenlust. Wir kennen die Konventikel der Frommen und die ehrenwerten Städte, in denen die Blume der Muckerei erblühte! Wir haben die Prüde in jedes Laster der französischen und italienischen Schwester verfallen sehen, nur noch mit dem Laster der Heuchelei befleckt und leider ohne alle Originalität! –
Wenden wir uns ab von diesem abscheulichen Anblicke und fragen wir nun, was für ein Weib soll die wahre Musik sein?
Ein Weib, das wirklich liebt, seine Tugend in seinen Stolz, seinen Stolz aber in sein Opfer setzt, in das Opfer, mit dem es nicht einen Teil seines Wesens, sondern sein ganzes Wesen in der reichsten Fülle seiner Fähigkeit hingibt, wenn es empfängt. Das Empfangene aber froh und freudig zu gebären, das ist die Tat des Weibes – und um Taten zu wirken, braucht daher das Weib nur ganz das zu sein, was es ist, durchaus aber nicht etwas zu wollen: denn es kann nur Eines wollen – Weib sein! Das Weib ist dem Manne daher das ewig klare und erkenntliche Maß der natürlichen Untrüglichkeit, denn es ist das Vollkommenste, wenn es nie aus dem Kreise der schönen Unwillkürlichkeit heraustritt, in den es durch das, was sein Wesen einzig zu beseligen vermag, durch die Notwendigkeit der Liebe, gebannt ist.
Und hier zeige ich euch nochmals den herrlichen Musiker, in welchem die Musik ganz das war, was sie im Menschen zu sein vermag, wenn sie eben ganz nach der Fülle ihrer Wesenheit Musik und nichts anderes als Musik ist. Blickt auf Mozart! – War er etwa ein geringerer Musiker, weil er nur ganz und gar Musiker war, weil er nichts anderes sein konnte und wollte als Musiker? Seht seinen »Don Juan«! Wo hat je die Musik so unendlich reiche Individualität gewonnen, so sicher und bestimmt in reichster, überschwenglichster Fülle zu charakterisieren vermocht als hier, wo der Musiker der Natur seiner Kunst nach nicht im mindesten etwas anderes war als unbedingt liebendes Weib? –
– Doch, halten wir an, und zwar gerade hier, um uns gründlich zu befragen, wer denn der Mann sein müsse, den dieses Weib so unbedingt lieben soll? Erwägen wir wohl, ehe wir die Liebe dieses Weibes preisgeben, ob die Gegenliebe des Mannes etwa eine zu erbettelnde, oder eine auch ihm notwendige und erlösende sein müsse?
Betrachten wir genau den Dichter!
Ende des ersten Teiles
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