Richard Wagner
Oper und Drama
Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst
eingestellt: 6.7.2007
Als Lessing in seinem »Laokoon« sich bemühte, die Grenzen der Dichtkunst und Malerei aufzusuchen und zu bezeichnen, hatte er die Dichtkunst im Auge, die selbst bereits nur noch Schilderei war. Er geht von Vergleichs- und Grenzlinien aus, die er zwischen dem plastischen Bildwerke, welches uns die Szene des Todeskampfes Laokoons darstellt, und der Schilderung zieht, welche Virgilius in seiner »Aeneis«, einem für die Lektüre geschriebenen Epos, von
derselben Szene entwirft. Berührt Lessing im Laufe seiner Untersuchung selbst den Sophokles, so hat er dabei wiederum nur den literarischen Sophokles im Sinne, wie er vor uns steht, oder wenn er das lebendig aufgeführte tragische Kunstwerk des Dichters selbst in das Auge faßt, stellt er dies unwillkürlich auch außer allem Vergleich mit dem Werke der Bildhauerei oder Malerei, weil nicht das lebendige tragische Kunstwerk diesen bildenden Künsten gegenüber begrenzt ist, sondern
diese ihrer kümmerlichen Natur nach zu jenem gehalten, ihre notwendigen Schranken finden. Überall da, wo Lessing der Dichtkunst Grenzen und Schranken zuweist, meint er nicht das unmittelbar zur Anschauung gebrachte, sinnlich dargestellte dramatische Kunstwerk, das in sich alle Momente der bildenden Kunst nach höchster, nur in ihm erreichbarer Fülle vereinigt und aus sich erst dieser Kunst höhere künstlerische Lebensmöglichkeit zugeführt hat, sondern den dürftigen
Todesschatten dieses Kunstwerkes, das erzählende, schildernde, nicht an die Sinne, sondern an die Einbildungskraft sich kundgebende Literaturgedicht, in welchem diese Einbildungskraft zum eigentlichen darstellenden Faktor gemacht worden war, zu dem sich das Gedicht nur anregend verhielt. –
Eine solche künstliche Kunst erreicht irgendwelche Wirkung allerdings nur durch genaueste Beobachtung von Grenzen und Schranken, weil sie sorgsam darauf bedacht sein muß, durch
vorsichtigstes Verfahren die unbegrenzte Einbildungskraft, die statt ihrer die eigentliche Darstellerin zu sein hat, vor jeder ausschweifenden Verwirrung zu bewahren, um sie dagegen auf den einen gedrängten Punkt hinzuleiten, in welchem sie den beabsichtigten Gegenstand sich so deutlich und bestimmt wie möglich vorzustellen vermag. An die Einbildungskraft einzig wenden sich aber alle egoistisch vereinzelten Künste, und namentlich auch die bildende Kunst, die das wichtigste Moment der
Kunst, die Bewegung, nur durch den Appell an die Phantasie ermöglichen kann. Alle diese Künste deuten nur an; wirkliche Darstellung wäre ihnen aber nur durch Kundgebung an die Universalität der Kunstempfänglichkeit des Menschen, durch Mitteilung an seinen vollkommenen sinnlichen Organismus, nicht an seine Einbildungskraft möglich, denn das wirkliche Kunstwerk erzeugt sich eben nur durch den Fortschritt aus der Einbildung in die Wirklichkeit, das ist:
Sinnlichkeit.
Lessings redliches Bemühen, die Grenzen jener getrennten Kunstarten, die eben nicht mehr unmittelbar darstellen, sondern nur noch schildern konnten, zu bezeichnen, wird nun heutzutage von denen auf das Geistloseste mißverstanden, denen der ungeheure Unterschied zwischen diesen Künsten und der eigentlich wirklichen Kunst unbegreiflich bleibt. Indem sie immer nur diese einzelnen, an sich für die unmittelbare Darstellung ohnmächtigen, Kunstarten
vor Augen haben, können sie natürlich die Aufgabe jeder derselben – und somit (wie sie wähnen müssen) der Kunst überhaupt – nur darein setzen, daß so ungestört wie möglich die Schwierigkeit überwunden werde, der Einbildungskraft durch Schilderung einen festen Anhaltepunkt zu geben; die Mittel zu dieser Schilderung häufen kann sehr richtig die Schilderung nur verwirren, und die Phantasie, indem sie durch Vorführung ungleicher Schilderungsmittel
beängstigt oder zerstreut wird, von der Erfassung des Gegenstandes nur ablenken.
Reinheit der Kunstart wird daher das erste Erfordernis für ihre Verständlichkeit, wogegen Mischung der Kunstarten diese Verständlichkeit nur trüben kann. In der Tat kann uns nichts Verwirrenderes vorkommen, als wenn z. B. der Maler seinen Gegenstand in einer Bewegung darstellen wollte, deren Schilderung nur dem Dichter möglich ist; vollkommen widerwärtig erscheint uns aber gar erst ein
Gemälde, in welchem die Verse des Dichters einer Person in den Mund geschrieben sind. Wenn der Musiker – d. h. der absolute Musiker – zu malen versucht, so bringt er weder Musik noch ein Gemälde zustande; wollte er aber die Anschauung eines wirklichen Gemäldes durch seine Musik begleiten, so dürfte er sicher sein, daß man weder das Gemälde noch seine Musik verstehen würde. Wer sich die Vereinigung aller Künste zum Kunstwerke nur so vorstellen kann, als ob darunter gemeint sei, daß
z. B. in einer Gemäldegalerie und zwischen aufgestellten Statuen ein Goethescher Roman vorgelesen und dazu noch eine Beethovensche Symphonie vorgespielt würde, der hat allerdings recht, wenn er auf Trennung der Künste besteht und es jeder einzelnen zugewiesen lassen will, wie sie sich zu möglichst deutlicher Schilderung ihres Gegenstandes verhelfe. Daß aber von unsern modernen Staatsästhetikern auch das Drama in die Kategorie einer Kunst art gestellt, und als
solche dem Dichter als besonderes Eigentum in dem Sinne zugesprochen wird, daß die Einmischung einer anderen Kunst, wie der Musik, in dasselbe der Entschuldigung bedürfe, keinesweges aber als gerechtfertigt anzusehen sei, das heißt aus der Lessingschen Definition eine Konsequenz ziehen, von deren Berechtigung in dieser nicht eine Spur vorhanden ist. Diese Leute sehen aber im Drama nichts anderes als einen Literaturzweig, eine Gattung der Dichtkunst wie Roman oder Lehrgedicht,
nur mit dem Unterschiede, daß jenes, anstatt bloß gelesen, von verschiedenen Personen auswendig gelernt, deklamiert, mit Gesten begleitet und von Theaterlampen beleuchtet werden soll. Zu einem auf der Bühne dargestellten Literaturdrama würde sich eine Musik allerdings fast ebenso verhalten, als ob sie zu einem aufgestellten Gemälde vorgetragen würde, und mit Recht ist daher das sogenannte Melodrama als ein Genre von unerquicklichster Gemischtheit verworfen worden. Dieses Drama, das unsere
Literaten einzig im Sinne haben, ist aber ebensowenig ein wahres Drama als ein Klavier ein Orchester, oder gar ein Sängerpersonale ist. Die Entstehung des Literaturdramas verdankt sich ganz demselben egoistischen Geiste unserer allgemeinen Kunstentwickelung wie das Klavier, und an ihm will ich diesen Gang in Kürze recht deutlich machen.
Das älteste, echteste und schönste Organ der Musik, das Organ, dem unsere Musik allein ihr Dasein verdankt, ist die menschliche
Stimme; am natürlichsten wurde sie durch das Blasinstrument, dieses wieder durch das Saiteninstrument nachgeahmt: der symphonische Zusammenklang eines Orchesters von Blas- und Streichinstrumenten ward wieder von der Orgel nachgeahmt; die unbehülfliche Orgel aber endlich durch das leicht handhabbare Klavier ersetzt. Wir bemerken hierbei zunächst, daß das ursprüngliche Organ der Musik von der menschlichen Stimme bis zum Klavier zu immer größerer
Ausdruckslosigkeit herabsank. Die Instrumente des Orchesters, die den Sprachlaut der Stimme bereits verloren hatten, vermochten den menschlichen Ton, in seinem unendlich mannigfaltigen und lebhaft wechselnden Ausdrucksvermögen, noch am genügendsten nachzuahmen; die Pfeifen der Orgel konnten diesen Ton nur noch nach seiner Zeitdauer, nicht aber mehr nach seinem wechselnden Ausdrucke festhalten, bis endlich das Klavier selbst diesen Ton nur noch andeutete, seinen wirklichen Körper aber der
Gehörphantasie sich zu denken überließ. So haben wir im Klavier ein Instrument, welches die Musik nur noch schildert. Wie kam es aber, daß der Musiker sich endlich mit einem tonlosen Instrumente begnügte? Aus keinem anderen Grunde, als um allein, ganz für sich, ohne gemeinsames Zusammenwirken mit anderen, sich Musik machen zu können. Die menschliche Stimme, die an und für sich nur in Verbindung mit der Sprache sich melodisch kundzugeben vermag, ist ein Individuum; nur das
übereinstimmende Zusammenwirken mehrerer solcher Individuen bringt die symphonische Harmonie hervor. Die Blas- und Streichinstrumente standen der menschlichen Stimme auch darin noch nahe, daß auch ihnen dieser individuelle Charakter zu eigen blieb, durch den jedes von ihnen eine bestimmte, wenn auch noch so reich zu modulierende Klangfarbe besaß, und zur Hervorbringung harmonischer Wirkungen zum ebenfalls gemeinsamen Zusammenwirken genötigt war. In der christlichen Orgel waren bereits alle diese
lebendigen Individualitäten in tote Pfeifenregister gereiht, die auf den befehlenden Tastentritt des einen und unteilbaren Spielers ihre mechanisch hervorgetriebenen Stimmen zur Ehre Gottes erhoben. Auf dem Klaviere endlich konnte der Virtuos ohne die Beihülfe irgendeines anderen (der Orgelspieler hatte noch des Balgentreters bedurft) eine Unzahl von klopfenden Hämmern zu seiner eigenen Ehre in Bewegung setzen, denn dem Zuhörenden, der an einer tönenden Musik sich nicht mehr zu erfreuen hatte,
blieb nur noch die Bewunderung der Fertigkeit des Tastenschlägers als Amüsement übrig. – Wahrlich, unsere ganze moderne Kunst gleicht dem Klaviere: in ihr verrichtet jeder einzelne das Werk einer Gemeinsamkeit, aber leider eben nur in abstracto und mit vollster Tonlosigkeit! Hämmer – aber keine Menschen! –
Wir wollen nun das Literaturdrama, in das unsere Staatsästhetiker mit so puritanistischem Hochmute der herrlich atmenden Musik den Eintritt versperren, vom
Standpunkte des Klavieres aus rückwärts bis auf den Ursprung dieses Klaviers verfolgen, und was gilt es? Wir treffen endlich auf den lebendigen menschlichen Sprachton, der mit dem Gesangtone ein und dasselbe ist, und ohne den wir weder Klavier noch Literaturdrama kennen würden. –
[ I ]
Das moderne Drama hat zweierlei Ursprung: einen natürlichen, unserer geschichtlichen Entwickelung eigentümlichen, den Roman – und einen fremdartigen, unserer Entwickelung durch Reflexion aufgepfropften, das, nach den mißverstandenen Regeln des Aristoteles aufgefaßte griechische Drama.
Der eigentliche Kern unserer Poesie liegt im Roman; im Streben, diesen Kein so schmackhaft wie möglich zu machen, sind unsere Dichter wiederholt auf fernere oder nähere Nachahmung des griechischen Dramas verfallen. –
Die höchste Blüte des dem Roman unmittelbar entsprungenen Dramas haben wir in den Schauspielen des Shakespeare; in weitester Entfernung von diesem Drama treffen wir auf dessen vollkommensten Gegensatz in der »Tragédie« des Racine. Zwischen beiden Endpunkten schwebt unsere ganze übrige dramatische Literatur unentschieden und schwankend hin und her. Um den Charakter dieses unentschiedenen Schwankens genau zu erkennen, müssen wir uns etwas näher nach dem natürlichen Ursprunge unseres Dramas umsehen.
Wenn wir seit dem Erlöschen der griechischen Kunst uns im Gange der Weltgeschichte nach einer Kunstperiode umsehen, der wir uns mit Stolz erfreuen können wollen, so ist dies die Periode der sogenannten »Renaissance«, mit der wir den Ausgang des Mittelalters und den Beginn der neueren Zeit bezeichnen. Hier strebt mit wahrer Riesenkraft der innere Mensch sich zu äußern. Der ganze Gärungsstoff der wunderbaren Mischung germanisch individuellen Heroentumes mit dem Geiste des römisch-katholizisierenden Christentumes drängte sich von innen nach außen, gleichsam um in der Äußerung seines Wesens den unlösbaren inneren Skrupel loszuwerden. Überall äußerte sich dieser Drang nur als Lust zur Schilderung, denn unbedingt ganz und gar sich selbst geben kann nur der Mensch, der im Inneren ganz mit sich einig ist: das war aber der Künstler der Renaissance nicht; dieser erfaßte das Äußere nur in der Begierde, vor dem inneren Zwiespalte zu fliehen. Sprach sich dieser Trieb am Erkenntlichsten nach der Richtung der bildenden Künste hin aus, so ist er in der Dichtung nicht minder ersichtlich. Nur ist zu beachten, daß, wie die Malerei sich zu treuester Schilderung des lebendigen Menschen angelassen hatte, die Dichtkunst sich von der Schilderung bereits schon zur Darstellung wandte, und zwar indem sie vom Roman zum Drama vorschritt.
Die Poesie des Mittelalters hatte bereits das erzählende Gedicht hervorgebracht und bis zur höchsten Blüte entwickelt. Dieses Gedicht schilderte menschliche Handlungen und Vorgänge, und deren bewegungsvollen Zusammenhang, in der Weise, wie ähnlich der Maler sich bemüht, die charakteristischen Momente solcher Handlungen uns vorzuführen. Das Vermögen des Dichters, der von der unmittelbaren, lebendigen Darstellung der Handlung durch wirkliche Menschen absah, war aber so unbegrenzt als die Einbildungskraft des Lesers oder Zuhörers, an die er sich einzig wandte. Dieses Vermögen fühlte sich zu den ausschweifendsten Kombinationen von Vorfällen und Lokalitäten um so mehr veranlaßt, als sein Gesichtskreis sich über ein immer anschwellenderes Meer außen vorgehender Handlungen verbreitete, wie sie eben aus dem Gebaren jener abenteuersüchtigen Zeit hervorgingen. Der Mensch, der in sich uneinig mit sich selbst war, und im Kunstschaffen dem Zwiespalte seines Innern entfliehen wollte – wie er zuvor vergeblich sich gemüht hatte, diesen Zwiespalt selbst künstlerisch zu bewältigen –, fühlte nicht den Drang, ein bestimmtes Etwas seines Inneren auszusprechen, sondern dieses Etwas vielmehr erst in der Außenwelt zu suchen: er zerstreute sich gewissermaßen nach innen durch willigstes Erfassen alles von der Außenwelt ihm Vorgeführten, und je mannigfaltiger und bunter er diese Erscheinungen zu mischen verstand, desto sicherer durfte er eben den unwillkürlichen Zweck innerer Zerstreuung zu erreichen hoffen. Der Meister dieser liebenswürdigen, aber aller Innerlichkeit, alles Haftes der Seele entbehrenden Kunst, war Ariosto.
Je weniger aber, nach ungeheuren Ausschweifungen, diese schimmernden Gemälde der Phantasie den inneren Menschen wiederum zu zerstreuen vermochten, je mehr dieser Mensch unter dem Drucke politischer und religiöser Gewaltsamkeiten zur Kraftanstrengung eines Gegendruckes aus seinem inneren Wesen selbst gedrängt wurde, desto deutlicher erkennen wir auch in der vorliegenden Dichtungsart das Streben ausgesprochen, der Masse des vielartigen Stoffes von innen heraus Herr zu werden, seiner Gestaltung einen festen Mittelpunkt zu geben, und diesen Mittelpunkt als Achse des Kunstwerkes aus der eigenen Anschauung, aus dem festen Wollen eines Etwas, in dem sich das innere Wesen ausspricht, zu entnehmen. Dieses Etwas ist der Gebärungsstoff der neueren Zeit, die Verdichtung des individuellen Wesens zu einem bestimmten künstlerischen Wollen. Aus der ungeheuer Masse der äußeren Erscheinungen, wie sie vorher dem Dichter sich nicht bunt und vielartig genug darstellen konnten, werden nun die unter sich verwandten Bestandteile gesondert, die Mannigfaltigkeit der Momente zur bestimmten Zeichnung des Charakters der Handelnden verdichtet. Wie unendlich wichtig für alle Untersuchung des Wesens der Kunst ist es nun, daß dieser innerliche Drang des Dichters, wie wir es deutlich vor uns sehen, sich endlich nur dadurch zu befriedigen vermochte, daß er auch zur bestimmtesten Äußerung durch die unmittelbare Darstellung an die Sinne gelangte, mit einem Worte, daß der Roman zum Drama wurde! Die Bewältigung des äußeren Stoffes zur Kundgebung der inneren Anschauung von dem Wesen dieses Stoffes konnte nur dann gelingen, wenn der Gegenstand selbst in überzeugendster Wirklichkeit den Sinnen vorgeführt wurde, und dies war eben nur im Drama zu ermöglichen.
Das Drama des Shakespeare ist mit vollster Notwendigkeit aus dem Leben und unserer geschichtlichen Entwickelung hervorgegangen: seine Schöpfung war so aus der Natur unserer Dichtkunst bedingt, wie das Drama der Zukunft ganz naturgemäß aus der Befriedigung der Bedürfnisse geboren werden wird, die das Shakespearesche Drama angeregt, noch nicht aber gestillt hat.
Shakespeare, den wir uns hier immer im Vereine mit seinen Vorgängern und nur als deren Haupt denken müssen, verdichtete den erzählenden Roman zum Drama, indem er ihn gewissermaßen für die Darstellung auf der Schaubühne übersetzte. Die vorher von der redend erzählenden Poesie nur geschilderten menschlichen Handlungen ließ er nun von wirklich redenden Menschen, die für die Dauer der Darstellung in Aussehen und Gebärde mit den darzustellenden Personen des Romanes sich identifizierten, Auge und Ohr zugleich vorführen. Er fand hierzu eine Schaubühne und Schauspieler vor, die bis dahin als unterirdisch verborgene, heimlich aber immer noch fortrieselnde Quellader des wirklichen Volkskunstwerkes dem Auge des Dichters sich entzogen hatten, von seinem sehnsüchtig suchenden Blicke aber schnell entdeckt wurden, als die Not ihn zu ihrer Auffindung trieb. Das Charakteristische dieser Volksschaubühne war aber, daß die Schauspieler, die daher sich auch vorzugsweise so nannten, auf ihr dem Auge, und absichtlich gerade fast nur dem Auge sich mitteilten. Ihre Darstellungen auf freiem Platze vor der weithin ausgedehnten Menge konnten lediglich fast nur durch die Gebärde wirken, und in der Gebärde sprechen sich deutlich eben nur Handlungen, nicht aber – sobald die Sprache fehlt – die inneren Motive dieser Handlungen aus, so daß das Spiel dieser Darsteller seiner Natur nach ebenso von grotesker, massenhaft gehäufter Handlung strotzte als der Roman, dessen zerstreute Vielstoffigkeit der Dichter eben zusammenzudrängen sich bemühte. Der Dichter, der diesem Volksschauspiele zusah, mußte finden, daß aus Mangel einer verständlichen Sprache dieses zu eben der ungeheuerlichen Vielhandligkeit gedrängt sei wie der erzählende Romandichter durch die Unfähigkeit, seine geschilderten Personen und Vorgänge wirklich darzustellen. Er mußte den Schauspielern zurufen: »Gebt mir eure Bühne, ich gebe euch meine Rede, so ist uns beiden geholfen!«
Wir sehen nun vom Dichter zugunsten des Dramas die Volksschaubühne zum Theater verengen. Ganz so wie die Handlung selbst durch deutliche Darlegung der Beweggründe, die sie hervorrufen, zu bestimmten wichtigsten Momenten derselben zusammengedrängt werden mußte, stellte sich die Notwendigkeit heraus, auch den Schauplatz zusammenzudrängen, und zwar namentlich aus Rücksicht für den Zuschauer, der nun nicht mehr bloß schauen, sondern auch deutlich hören sollte. Wie auf den Raum hatte sich diese Beschränkung auch auf die Zeitdauer des dramatischen Spieles auszudehnen. Die Mysterienbühne des Mittelalters, auf weitem Anger oder auf freien Plätzen und Straßen der Städte aufgeschlagen, bot der versammelten Volksmenge ein tagelang, ja – wie wir noch heute es erfahren – mehrere Tage lang dauerndes Schauspiel dar: ganze Historien, vollständige Lebensgeschichten wurden aufgeführt, aus welchen die ab- und zuwogende Zuschauermasse nach Belieben für ihre Schaulust sich auswählen konnte, was ihr das Sehenswerteste erschien. Solch eine Aufführung war das vollständig entsprechende Seitenstück der ungeheuer bunten und vielstoffigen Historien des Mittelalters selbst: gerade so larvenhaft charakterlos, ohne alle individuelle Lebensregung, hölzern und grob zugeschnitten waren die vielhandelnden Personen dieser gelesenen Historien, wie die Darsteller jener zur Schau gebrachten. Aus denselben Gründen, die den Dichter bestimmten, die Handlung und den Schauplatz zu verengen, hatte er somit auch die Zeitdauer der Aufführung zusammenzudrängen, weil er seinen Zuschauern nicht mehr Bruchstücke, sondern ein in sich abgeschlossenes Ganzes vorführen wollte, so daß er die Kraft der Fähigkeit des Zuschauers, einem vorgeführten fesselnden Gegenstande seine ungeteilte Aufmerksamkeit fortgesetzt zuzuwenden, zu seinem Maßstab für die Zeitdauer dieser Aufführung machte. Das Kunstwerk, das nur an die Phantasie appelliert, wie der gelesene Roman, kann in seiner Mitteilung sich leicht unterbrechen, weil die Phantasie so willkürlicher Natur ist, daß sie keinen anderen Gesetzen als der Laune des Zufalls gehorcht: was aber vor die Sinne tritt, und diesen mit überzeugender, unfehlbarer Bestimmtheit sich mitteilen will, hat nicht nur nach der Eigenschaft, Fähigkeit und natürlich begrenzten Kraft dieser Sinne sich zu richten, sondern sich ihnen auch vollständig, von Kopf bis zu Fuß, von Anfang bis Ende, vorzuführen, wenn es nicht, durch plötzliche Unterbrechung oder Unvollständigkeit seiner Vorführung, zur notwendigen Ergänzung eben nur wieder an die Phantasie, aus der es sich gerade an die Sinne wandte, appellieren will.
Nur eines blieb auf dieser verengten Bühne noch gänzlich nur der Phantasie überlassen – die Darstellung der Szene selbst, in welcher die Darsteller den lokalen Erfordernissen der Handlung gemäß auftraten. Teppiche umhingen die Bühne; die Inschrift einer leicht zu wechselnden Tafel zeigte dem Zuschauer den Ort, ob Palast, Straße, Wald oder Feld, an, der als Szene gedacht werden sollte. Durch diesen einen, der damaligen Bühnenkunst noch unumgänglich nötigen Appell an die Phantasie blieb im Drama dem buntstoffigen Romane und der vielhandligen Historie noch Tor und Tür offen. Fühlte der Dichter, dem es bis jetzt immer nur noch um die leiblich redende Darstellung des Romanes zu tun war, die Notwendigkeit einer naturgetreuen Darstellung auch der umgebenden Szene noch nicht, so konnte er die Notwendigkeit, die darzustellende Handlung in noch immer bestimmtere Begrenzung der wichtigsten Momente derselben zusammenzudrängen, auch nicht empfinden. Wir sehen hieran mit ersichtlichsten Deutlichkeit, wie zur vollendetsten Gestaltung des Kunstwerkes einzig die entscheidende Notwendigkeit hindrängt, die dem Wesen der Kunst gemäß den Künstler bestimmt, aus der Phantasie sich an die Sinne zu wenden, die Phantasie aus ihrer unbestimmten Tätigkeit durch die Sinne zu einer festen, verständnisvollen Wirksamkeit zu vermögen. Diese, alle Kunst gestaltende, das Streben des Künstlers einzig befriedigende Notwendigkeit erwächst uns nur aus der Bestimmtheit einer universell sinnlichen Anschauung: sind wir all ihren Anforderungen vollkommen gerecht, so treibt auch sie uns zum vollkommensten Kunstschaffen. Shakespeare, der die eine Notwendigkeit der naturgetreuen Darstellung der umgebenden Szene noch nicht empfand, und daher die Vielstoffigkeit des von ihm dramatisch behandelten Romanes gerade nur so weit sichtete und zusammendrängte, als die von ihm empfundene Notwendigkeit eines verengten Schauplatzes und einer begrenzten Zeitdauer der von wirklichen Menschen dargestellten Handlung es erheischte – Shakespeare, der innerhalb dieser Grenzen Historie und Roman zu so überzeugend charakteristischer Wahrheit belebte, daß er zum ersten Male Menschen von so mannigfaltiger und drastischer Individualität darstellte, wie noch kein Dichter vor ihm es vermocht hatte – dieser Shakespeare ist nichtsdestoweniger in seinen, durch die eine bezeichnete Notwendigkeit noch nicht gestalteten, Dramen der Grund und der Ausgangspunkt einer beispiellosen Verwirrung in der dramatischen Kunst über zwei Jahrhunderte hindurch, bis auf unsere Tage, geworden.
Dem Romane und dem losen Gefüge der Historie war im Shakespeareschen Drama, wie ich mich ausdrückte, eine Türe offengelassen worden, durch die sie nach Belieben aus- und eingehen konnten: diese Türe war die der Phantasie überlassene Darstellung der Szene. Wir werden nun sehen, daß die hieraus entstehende Verwirrung ganz in dem Grade vorwärtsschritt, als diese Türe von anderer Seite her auf das rücksichtsloseste zugeschlagen ward, und die gefühlte Mangelhaftigkeit der Szene wiederum zu willkürlichen Gewaltsamkeiten gegen das lebendige Drama selbst trieb.
Bei den sogenannten romanischen Nationen Europas, unter denen die schrankenlose Abenteuerlichkeit des – alle germanischen und romanischen Elemente bunt durcheinanderwerfenden – Romanes am tollsten gewütet hatte, war auch dieser Roman am unfähigsten zur Dramatisierung geworden. Der Drang, aus der konzentrierten Innerlichkeit des menschlichen Wesens heraus die bunten Äußerungen der früheren phantastischen Laune zu bestimmten, deutlichen Erscheinungen zu gestalten, gab sich vorzüglich nur bei den germanischen Nationen kund, die den innerlichen Krieg des Gewissens gegen marternde äußere Satzungen zur protestantischen Tat machten. Die romanischen Nationen, die äußerlich unter dem Joche des Katholizismus verblieben, erhielten sich fortwährend in der Richtung, nach welcher sie vor dem inneren unlösbaren Zwiespalte nach außen hin flohen, um von außen her – wie ich mich zuvor ausdrückte – nach innen sich zu zerstreuen. Die bildende Kunst, und eine Dichtkunst, die – als schildernde – der bildenden dem Wesen, wenn auch nicht der Äußerung nach, gleichkam, sind die eigentümlichen, von außen her zerstreuenden, fesselnden und ergötzenden Künste dieser Nationen.
Von seinem heimischen Volksschauspiele wandte sich der gebildete Italiener und Franzose ab; in seiner rohen Einfalt und Formlosigkeit erinnerte es ihn an den ganzen Wust des Mittelalters, den er eben wie einen schweren, beängstigenden Traum von sich abzuschütteln bemüht war. Dagegen ging er auf die historische Wurzel seiner Sprache zurück und wählte zunächst aus römischen Dichtern, den literarischen Nachahmern der Griechen, sich Muster auch für das Drama, das er zur Unterhaltung der fein erzogenen vornehmen Welt als Ersatz für das, nur noch den Pöbel ergötzende, Volksschauspiel vorführte. Malerei und Architektur, die Hauptkünste der romanischen Renaissance, hatten das Auge dieser vornehmen Welt so geschmackvoll und zu solchen Ansprüchen ausgebildet, daß das rohe, mit Teppichen verhängte Brettgerüst der britischen Schaubühne ihm nicht behagen konnte. Als Schauplatz ward in den Palästen der Fürsten den Schauspielern der prachtvolle Saal angewiesen, in welchem sie mit geringen Modifikationen ihre Szene herzustellen hatten. Stabilität der Szene ward als maßgebendes Haupterfordernis für das ganze Drama festgestellt, und hierin begegnete sich die angenommene Geschmacksrichtung der vornehmen Welt mit dem modernen Ursprunge des ihr vorgeführten Dramas, den Regeln des Aristoteles. Der fürstliche Zuschauer, dessen Auge durch die bildende Kunst zu seinem vornehmsten Organe positiven Genußsinnes gemacht worden war, liebte es nicht, gerade diesen Sinn binden zu sollen, um der Phantasie, der gesichtslosen, ihn unterzuordnen, und zwar um so weniger, als er grundsätzlich der Erregung der unbestimmten, mittelalterlich gestaltenden Phantasie auswich. Es hätte ihm die Möglichkeit geboten werden müssen, die Szene, bei jeder Veranlassung des Dramas zum Wechsel derselben, dem Gegenstande getreu mit malerischer und plastischer Genauigkeit dargestellt zu sehen, um diesen Wechsel selbst gestatten zu können. Was später bei der Mischung der dramatischen Richtungen ermöglicht wurde, war hier aber gar nicht zu verlangen nötig, weil andererseits die Aristotelischen Regeln, nach denen dieses fingierte Drama konstruiert wurde, auch die Einheit der Szene zu einer wichtigen Bedingung desselben machten. Gerade das also, was der Brite bei seinem organischen Schaffen des Dramas aus innen als äußeres Moment noch unbeachtet ließ, ward zur, von außen her gestaltenden, Norm für das französische Drama, das so aus dem Mechanismus heraus sich in das Leben hinein zu konstruieren suchte.
Wichtig ist es nun, genau zu beachten, wie diese äußerliche Einheit der Szene die ganze Haltung des französischen Dramas dahin bedang, daß die Darstellung der Handlung fast ganz von dieser Szene ausgeschlossen und dafür nur der Vortrag der Rede in ihr zugelassen wurde. Somit mußte auch grundsätzlich der von Handlung strotzende Roman, das poetische Grundelement des mittelalterlichen und neueren Lebens, von der Darstellung auf dieser Szene ausgeschlossen bleiben, da die Vorführung seines vielgliederigen Stoffes ohne häufige Verwandelung der Szene geradesweges unmöglich war. Also nicht nur die äußerliche Form, sondern auch der ganze Zuschnitt der Handlung, und mit ihm endlich der Gegenstand der Handlung selbst, mußte den Mustern entnommen werden, die für die Form den französischen Schauspieldichter bestimmt hatten. Er mußte Handlungen wählen, die nicht erst von ihm zu einem gedrängten Maße dramatischer Darstellungsfähigkeit verdichtet zu werden brauchten, sondern solche, die bereits zu einem solchen Maße verdichtet ihm vorlagen.
Aus ihrer heimischen Sage hatten die griechischen Tragiker sich solche Stoffe, als höchste künstlerische Blüte dieser Sage, verdichtet: der moderne Dramatiker, der von den äußerlichen Regeln ausging, die jenen Dichtungen entnommen worden waren, konnte das poetische Lebenselement seiner Zeit, das nur in der geradezu umgekehrten Weise Shakespeares zu bewältigen war, nicht zu der Dichtigkeit zusammendrängen, daß es dem äußerlich aufgelegten Maße entsprochen hätte, und nichts als die – natürlich entstellende – Nachahmung und Wiederholung jener schon fertigen Dramen blieb ihm daher übrig. In Racines »Tragédie« haben wir somit auf der Szene die Rede, hinter der Szene die Handlung; Beweggründe mit davon abgelöster und außerhalb verlegter Bewegung, Wollen ohne Können. Alle Kunst warf sich daher auch nur auf die Äußerlichkeit der Rede, die ganz folgerichtig in Italien (von woher der neue Kunstgenre ausgegangen war) auch alsbald sich in jenen musikalischen Vortrag verlor, den wir bereits umständlicher als den eigentlichen Inhalt des Opernwesens kennengelernt haben. Auch die französische Tragödie ging mit Notwendigkeit in die Oper über: Gluck sprach den wirklichen Inhalt dieses Tragödienwesens aus. Die Oper war somit die vorzeitige Blüte einer unreifen Frucht, auf unnatürlichem, künstlichem Boden gewachsen. Womit das italienische und französische Drama begann, mit der äußeren Form, dazu soll das neuere Drama durch organische Entwickelung aus sich heraus, auf dem Wege des Shakespeareschen Dramas, erst gelangen, und dann auch erst wird die natürliche Frucht des musikalischen Dramas reifen.
Zwischen diesen zwei äußersten Gegensätzen, dem Shakespeareschen und dem Racineschen Drama, erwuchs nun aber zunächst das moderne Drama zu seiner zwitterhaften, unnatürlichen Gestalt und Deutschland war der Boden, von dem sich diese Frucht nährte.
Hier bestand der romanische Katholizismus in gleicher Stärke neben dem germanischen Protestantismus fort: nur wurden beide in einen so heftigen Konflikt miteinander verwickelt, daß, unentschieden wie er trotzdem blieb, eine natürliche Kunstblüte sich nicht aus ihm entfaltete. Der innerliche Drang, der sich bei dem Briten auf die dramatische Darstellung der Historie und des Romanes warf, blieb beim deutschen Protestanten im hartnäckigen Bemühen, den innerlichen Zwiespalt selbst innerlich zu schlichten, haften. Wir haben einen Luther, der sich in der Kunst wohl bis zur religiösen Lyrik erhob, aber keinen Shakespeare. Der römisch-katholische Süden konnte jedoch nie zu dem genial leichtsinnigen Vergessen des innerlichen Zwiespaltes sich aufschwingen, in welchem die romanischen Nationen sich zur bildenden Kunst anließen: mit finsterem Ernste bewachte er seinen religiösen Wahn. Während ganz Europa sich auf die Kunst warf, blieb Deutschland ein sinnender Barbar. Nur was sich draußen bereits überlebt hatte, flüchtete sich nach Deutschland, um in seinem Boden noch zu einem Nachsommer zu erblühen. Englische Komödianten, denen die Darsteller der Shakespeareschen Dramen daheim ihr Brot entzogen hatten, kamen nach Deutschland, um dem Volke ihre grotesk pantomimischen Taschenspielereien vorzumachen: erst lange darauf, als auch es in England verblüht war, folgte das Shakespearesche Drama selbst nach; deutsche Schauspieler, die vor der Zucht ihrer langweiligen dramatischen Schulmeister flohen, bemächtigten sich desselben, um es für ihre Praxis herzurichten.
Vom Süden her war dagegen die Oper, dieser Ausgang des romanischen Dramas, hereingedrungen. Ihr vornehmer Ursprung aus den Palästen der Fürsten empfahl sie wiederum den deutschen Fürsten, so daß diese Fürsten die Oper in Deutschland einführten, während – wohlgemerkt! – das Shakespearesche Schauspiel von dem Volke eingeholt ward. – In der Oper stellte sich der szenischen Mangelhaftigkeit der Shakespeareschen Bühne als vollster Gegensatz die üppigste und gesuchteste Ausstattung dieser Szene entgegen. Das musikalische Drama war recht eigentlich ein Schauspiel geworden, während das Schauspiel ein Hörspiel geblieben war. Wir haben hier nicht mehr nötig, den Grund der szenisch-dekorativen Ausschweifung im Operngenre zu untersuchen: dies lose Drama war von außen konstruiert, und von außen her, durch Luxus und Pracht, konnte es auch nur am Leben erhalten werden. Nur ist es wichtig, zu beobachten, wie dieser szenische Prunk mit dem unerhört buntesten, ausgesucht mannigfaltigsten Wechsel szenischer Vorführungen an das Auge, aus der dramatischen Richtung hervorging, in der ursprünglich die Einheit der Szene als Norm aufgestellt worden war. Nicht der Dichter, der, indem er den Roman zum Drama zusammendrängte, insoweit seine Vielstoffigkeit noch unbeschränkt ließ, als er die Szene zu ihren Gunsten durch den Appell an die Phantasie häufig und schnell zu wechseln vermochte – nicht der Dichter hat, um etwa von diesem Appell an die Phantasie sich an die Bestätigung der Sinne zu wenden, jenen raffinierten Mechanismus zur Verwandlung wirklich dargestellter Szenen erfunden, sondern das Verlangen nach äußerlicher Unterhaltung und deren Wechsel, die bloße Augenbegierde, hat ihn hervorgebracht. Hätte diesen Apparat der Dichter erfunden, so müßten wir auch annehmen, er habe die Notwendigkeit des häufigen Szenenwechsels aus einer Notwendigkeit der Vielstoffigkeit des Dramas selbst als Bedürfnis gefühlt: da der Dichter, wie wir sahen, von innen heraus organisch konstruierte, würde bei jener Annahme somit bewiesen sein, daß die historielle und romanhafte Vielstoffigkeit ein notwendiges Bedingnis des Dramas sei; denn nur die unbeugsame Notwendigkeit dieses Bedingnisses hätte ihn dazu treiben können, dem Bedürfnisse der Vielstoffigkeit durch Erfindung eines szenischen Apparates zu entsprechen, durch welchen die Vielstoffigkeit auch als bunte, zerstreuende Vielszenigkeit sich äußern mußte. Gerade umgekehrt war es aber der Fall. Shakespeare fühlte sich von der Notwendigkeit der dramatischen Darstellung der Historie und des Romanes gedrängt; in dem frischen Eifer, diesem Drange zu entsprechen, kam in ihm das Gefühl von der Notwendigkeit auch einer naturgetreuen Darstellung der Szene noch nicht auf – hätte er noch diese Notwendigkeit für die vollkommen überzeugende Darstellung einer dramatischen Handlung empfunden, so würde er ihr durch ein noch bei weitem genaueres Sichten und dichteres Zusammendrängen der Vielstoffigkeit des Romanes zu entsprechen gesucht haben, und zwar ganz in der Weise, wie er bereits den Schauplatz und die Zeitdauer der Darstellung, und ihretwegen die Vielstoffigkeit selbst, zusammengedrängt hatte. Die Unmöglichkeit, den Roman noch enger zu verdichten, auf die er hierbei unfehlbar gestoßen wäre, müßte dann ihn aber über die Natur des Romanes dahin aufgeklärt haben, daß diese mit der des Dramas in Wahrheit nicht übereinstimme, eine Entdeckung, die wir erst machen konnten, als uns die undramatische Vielstoffigkeit der Historie aus der Verwirklichung der Szene zu Gefühl kam, die durch den Umstand, daß sie nur angedeutet zu werden brauchte, Shakespeare den dramatischen Roman einzig ermöglichte. –
Die Notwendigkeit einer dem Orte der Handlung entsprechenden Darstellung der Szene konnte nun mit der Zeit nicht ungefühlt bleiben; die mittelalterliche Bühne mußte verschwinden und der modernen Platz machen. In Deutschland wurde sie durch den Charakter der Volksschauspielkunst bestimmt, die ihre dramatische Grundlage, seit dem Ersterben der Passions- und Mysterienspiele, ebenfalls der Historie und dem Romane entnahm. Zur Zeit des Aufschwunges der deutschen Schauspielkunst – um die Mitte des vorigen Jahrhunderts – bildete diese Grundlage der, dem damaligen Volksgeiste entsprechende, bürgerliche Roman. Er war unendlich gefügiger und namentlich bei weitem weniger reich an Stoff als der historische oder sagenhafte Roman, der Shakespeare vorlag: eine ihm entsprechende Darstellung der lokalen Szene konnte somit auch mit viel wenigerem Aufwande hergestellt werden, als es für die Shakespearesche Dramatisierung des Romanes erforderlich gewesen wäre. Die von diesen Schauspielern aufgenommenen Shakespeareschen Stücke mußten sich nach jeder Seite hin, um von ihnen darstellbar zu werden, die beschränkendste Umarbeitung gefallen lassen. Ich übergehe hier alle für diese Umarbeitung maßgebenden Gründe und hebe nur den einen, den des rein szenischen Erfordernisses, heraus, weil er für den Zweck meiner Untersuchung für jetzt der wichtigste ist. Jene Schauspieler, die ersten Übersiedler des Shakespeare auf das deutsche Theater, verfuhren so redlich im Geiste ihrer Kunst, daß es ihnen nicht einfiel, seine Stücke etwa dadurch aufführbar zu machen, daß sie entweder den häufigen Szenenwechsel in ihnen durch bunte Verwandlung ihrer theatralischen Szene selbst begleitet, oder gar ihm zuliebe der wirklichen Darstellung der Szene überhaupt entsagt hätten und zu der szenenlosen mittelalterlichen Bühne zurückgekehrt wären, sondern sie behielten den einmal eingenommenen Standpunkt ihrer Kunst bei und ordneten ihm die Shakespearesche Vielszenigkeit insoweit unter, als sie unwichtig dünkende Szenen geradesweges ausließen, wichtigere Szenen aber zusammenfügten. Erst vom Standpunkte der Literatur aus gewahrte man, was bei diesem Verfahren vom Shakespeareschen Kunstwerke verlorenging, und drang auf Wiederherstellung der ursprünglichen Gestaltung der Stücke auch für die Darstellung, für welche man zwei entgegengesetzte Vorschläge machte. Der eine, nicht ausgeführte Vorschlag, ist der Tiecksche: Tieck, das Wesen des Shakespeareschen Dramas vollkommen erkennend, verlangte die Wiederherstellung der Shakespeareschen Bühne mit dem Appell an die Phantasie für die Szene. Dieses Verlangen war durchaus folgerichtig und ging auf den Geist des Shakespeareschen Dramas hin. Ist ein halber Restaurationsversuch in der Geschichte aber stets unfruchtbar geblieben, so hat sich ein radikaler dagegen von je als unmöglich erwiesen. Tieck war ein radikaler Restaurator, als solcher ehrenwert, aber ohne Einfluß. – Der zweite Vorschlag ging dahin, den ungeheuren Apparat der Opernszene zur Darstellung des Shakespeareschen Dramas auch durch getreue Herstellung der von ihm ursprünglich nur angedeuteten, häufig wechselnden Szene abzurichten. Auf der neueren englischen Bühne übersetzte man die Shakespearesche Szene in allerrealste Wirklichkeit: die Mechanik erfand Wunder für die schnelle Verwandlung der umständlichst ausgeführtesten Bühnendekorationen: Truppenmärsche und Schlachten wurden mit überraschendster Genauigkeit dargestellt. Auf großen deutschen Theatern ward dies Verfahren nachgeahmt.
Vor diesem Schauspiel stand nun prüfend und verwirrt der moderne Dichter. Das Shakespearesche Drama hatte als Literaturstück auf ihn den erhebenden Eindruck der vollendetsten dichterischen Einheit gemacht; solange es nur an seine Phantasie sich gewendet hatte, war diese vermögend gewesen, aus ihm ein harmonisch abgeschlossenes Bild sich zu entnehmen, das er nun, bei Erfüllung des wiederum notwendig erwachten Verlangens, dieses Bild durch vollständige Darstellung an die Sinne verwirklicht zu sehen, plötzlich vor seinen Augen gänzlich sich verwischen sah. Das verwirklichte Bild der Phantasie hatte ihm nur eine unübersehbare Masse von Realitäten und Aktionen gezeigt, aus denen das verwirrte Auge das Gemälde der Einbildungskraft durchaus nicht wieder zurückzukonstruieren vermochte. Zwei Hauptwirkungen äußerte diese Erscheinung auf ihn, die sich beide in der Enttäuschung über die Shakespearesche Tragödie kundgaben. Der Dichter entsagte von nun an entweder dem Wunsche, seine Dramen auf der Bühne dargestellt zu sehen, um das dem Shakespeareschen Drama entnommene Phantasiebild ungestört nach seiner geistigen Absicht wiederum nachzubilden, d. h., er schrieb Literaturdramen für die stumme Lektüre – oder er wandte sich, um auf der Bühne sein Phantasiebild praktisch zu verwirklichen, mehr oder weniger unwillkürlich der reflektierten Gestaltung des Dramas zu, dessen modernen Ursprung wir in dem nach den Aristotelischen Einheitsregeln konstruierten, antiquisierenden Drama zu erkennen hatten.
Beide Wirkungen und Richtungen sind die gestaltenden Motive in den Werken der zwei bedeutendsten dramatischen Dichter der neueren Zeit, Goethes und Schillers, deren ich, soweit es für den Zweck meiner Untersuchung erforderlich ist, hier näher gedenken muß.
Goethes Laufbahn als dramatischer Dichter begann mit der Dramatisierung eines vollblutig germanischen Ritterromanes, des »Götz von Berlichingen«. Das Shakespearesche Verfahren war hier ganz getreu befolgt, der Roman mit allen seinen ausführlichen Zügen so weit für die Bühne übersetzt, als die Verengung derselben und die Zusammendrängung der Zeitdauer der dramatischen Aufführung es gestatteten. Goethe traf aber bereits auf die Bühne, auf der das Lokal der Handlung nach den Erfordernissen derselben, wenn auch roh und dürftig, dennoch mit bestimmter Absicht zur Darstellung gebracht wurde. Dieser Umstand veranlaßte den Dichter, sein mehr vom literarisch-, als szenisch-dramatischen Standpunkte aus verfaßtes Gedicht nachträglich für die wirkliche Darstellung auf der Bühne umzuarbeiten: durch die letzte Gestalt, die ihm aus Rücksicht auf die Erfordernisse der Szene gegeben wurde, hat das Gedicht die Frische des Romanes verloren, ohne dafür die volle Kraft des Dramas zu gewinnen.
Goethe wählte nun für seine Dramen zunächst bürgerliche Romanstoffe. Das Charakteristische des bürgerlichen Romanes besteht darin, daß die ihm zugrundeliegende Handlung von einem umfassenderen Zusammenhange historischer Handlungen und Beziehungen sich vollständig lostrennt, nur den sozialen Niederschlag dieser geschichtlichen Ereignisse als bedingende Umgebung festhält, und innerhalb dieser Umgebung, die im Grunde doch nur die zur Farblosigkeit herabgedämpfte Rückwirkung jener historischen Begebenheiten ist, mehr nach gebieterisch von dieser Umgebung auferlegten Stimmungen als nach inneren, zu vollkommen gestaltender Äußerung befähigten Beweggründen sich entwickelt. Diese Handlung ist ebenso beschränkt und arm als die Stimmungen, durch die sie hervorgerufen wird, ohne Freiheit und selbständige Innerlichkeit sind. Ihre Dramatisierung entsprach aber sowohl dem geistigen Gesichtspunkte des Publikums als namentlich auch der äußeren Möglichkeit der szenischen Darstellung, und zwar dies insoweit, als aus dieser ärmlichen Handlung nirgends Notwendigkeiten für die praktische Szenierung hervorgingen, denen diese nicht von vornherein zu entsprechen vermocht hätte. Was ein Geist, wie Goethe, unter solchen Beschränkungen dichtete, müssen wir fast nur aus der von ihm gefühlten Notwendigkeit der Unterordnung unter gewisse beschränkende Maximen zur Ermöglichung des Dramas überhaupt, gewiß aber weniger als aus einer freiwilligen Unterordnung unter den beschränkten Geist der Handlung des bürgerlichen Romanes und die Stimmung des Publikums, die ihn begünstigte, selbst hervorgegangen ansehen. Aus dieser Beschränkung erlöste sich Goethe aber zu fessellosester Freiheit durch gänzliches Aufgeben des wirklichen Bühnendramas. Bei seinem Entwurfe des »Faust« hielt er nur die Vorteile einer dramatischen Darlegung für das Literaturgedicht fest, die Möglichkeit einer szenischen Aufführung mit Absicht gänzlich außer acht lassend. In diesem Gedicht schlug Goethe zum ersten Male mit vollem Bewußtsein den Grundton des eigentlichen poetischen Elementes der Gegenwart an, das Drängen des Gedankens in die Wirklichkeit, den er künstlerisch aber noch nicht in die Wirklichkeit des Dramas erlösen konnte. Hier ist der Scheidepunkt des mittelalterlichen, bis zur Seichtigkeit des bürgerlichen verflachten Romanes und des wirklich dramatischen Stoffes der Zukunft. Wir müssen es uns vorbehalten, auf die Charakteristik dieses Scheidepunktes näher einzugehen: für jetzt gelte uns die Erfahrung für wichtig, daß Goethe, auf diesem Scheidepunkte angelangt, weder einen wirklichen Roman noch ein wirkliches Drama zu geben vermochte, sondern eben nur ein Gedicht, das der Vorteile beider Gattungen nach abstrahiertem künstlerischem Maße genoß.
Von diesem Gedichte, das wie eine immer lebendig rieselnde Quellader sich durch das ganze Künstlerleben des Dichters mit gestaltender Anregung dahinzieht, sehen wir hier ab und verfolgen Goethes Kunstschaffen immer wieder da, wo er mit erneueten Versuchen sich dem szenischen Drama zuwandte.
Von dem dramatisierten bürgerlichen Romane, den er im »Egmont« durch Ausdehnung der Umgebung bis zum Zusammenhange weitverzweigter historischer Momente von innen heraus zu seiner höchsten Höhe zu steigern versuchte, war Goethe mit dem Entwurfe zum »Faust« entschieden abgegangen: reizte ihn nun noch das Drama als vollendetste Gattung der Dichtkunst, so geschah dies namentlich durch Betrachtung desselben in seiner vollendetsten künstlerischen Form. Diese Form, die den Italienern und Franzosen, dem Grade ihrer Kenntnis des Antiken gemäß, nur als äußere zwingende Norm verständlich war, ging dem geläuterteren Blicke deutscher Forscher als ein wesentliches Moment der Äußerung griechischen Lebens auf: die Wärme jener Form vermochte sie zu begeistern, als sie die Wärme dieses Lebens aus seinen Monumenten selbst herausgefühlt hatten. Der deutsche Dichter begriff, daß die einheitliche Form der griechischen Tragödie dem Drama nicht von außen aufgelegt, sondern durch den einheitlichen Inhalt von innen heraus neu belebt werden müsse. Der Inhalt des modernen Lebens, der sich immer nur noch im Romane verständlich zu äußern vermochte, war unmöglich zu so plastischer Einheit zusammenzudrängen, daß er bei verständlicher dramatischer Behandlung sich in der Form des griechischen Dramas hätte aussprechen, diese Form aus sich rechtfertigen oder gar notwendig erzeugen können. Der Dichter, dem es hier um absolute künstlerische Gestaltung zu tun war, konnte auch jetzt immer nur noch zu dem Verfahren der Franzosen – wenigstens äußerlich – zurückkehren; er mußte, um die Form des griechischen Dramas für sein Kunstwerk zu rechtfertigen, auch den fertigen Stoff des griechischen Mythos dazu verwenden. Wenn Goethe zu dem fertigen Stoffe der »Iphigenia in Tauris« griff, verfuhr er aber ähnlich wie Beethoven in seinen wichtigsten symphonischen Sätzen: wie Beethoven sich der fertigen absoluten Melodie bemächtigte, sie gewissermaßen auflöste, zerbrach und ihre Glieder durch neue organische Belebung zusammenfügte, um den Organismus der Musik selbst zum Gebären der Melodie fähig zu machen – so ergriff Goethe den fertigen Stoff der »Iphigenia«, zersetzte ihn in seine Bestandteile und fügte diese durch organisch belebende dichterische Gestaltung von neuem zusammen, um so den Organismus des Dramas selbst zur Zeugung der vollendeten dramatischen Kunstform zu befähigen. Aber nur mit diesem, im voraus bereits fertigen Stoffe konnte Goethe dies Verfahren gelingen: an keinem dem modernen Leben oder dem Romane entnommenen durfte der Dichter zu gleichem Erfolge gelangen; bereits im »Tasso« verkühlte sich dieser Stoff merklich unter seinen einheitlich gestaltenden Händen – in der »Eugenie« erstarrte er endlich zu Eis. Wir werden auf den Grund dieser Erscheinung zurückkommen: für jetzt genügt es, aus dem Überblicke des Goetheschen Kunstschaffens zu bestätigen, daß der Dichter auch von diesem Versuche des Dramas sich wieder abwandte, sobald es ihm nicht um absolutes Kunstschaffen, sondern um die Darstellung des Lebens selbst zu tun war. Dieses Leben in seiner vielgliederigen Verzweigung und von nah und fern willenlos beeinflußten äußeren Gestaltung konnte auch Goethe nur im Romane zu verständlicher Darlegung bewältigen. Die eigentliche Blüte seiner modernen Weltanschauung konnte der Dichter nur in der Schilderung, im Appell an die Phantasie, nicht in der unmittelbaren dramatischen Darstellung uns mitteilen – so daß Goethes einflußreichstes Kunstschaffen sich wieder in den Roman verlieren mußte, aus dem er im Beginn seiner dichterischen Laufbahn mit Shakespeareschem Drange sich zum Drama gewendet hatte. –
Schiller begann, wie Goethe, mit dem dramatisierten Romane unter dem Einflusse des Shakespeareschen Dramas. Der bürgerliche und politische Roman beschäftigte seinen dramatischen Gestaltungstrieb so lange, bis er an den modernen Quell dieses Romanes, die nackte Geschichte selbst, gelangte und aus dieser das Drama unmittelbar zu konstruieren sich bemühte. Hier zeigte sich die Sprödigkeit des geschichtlichen Stoffes und seine Unfähigkeit zur Darstellung in dramatischer Form. – Shakespeare übersetzte die trockene, aber redliche historische Chronik in die lebenvolle Sprache des Dramas; diese Chronik zeichnete mit genauer Treue und Schritt für Schritt den Gang der historischen Ereignisse und die Taten der in ihnen handelnden Personen auf: sie verfuhr ohne Kritik und individuelle Anschauung, und gab somit das Daguerreotyp der geschichtlichen Tatsachen. Shakespeare hatte dieses Daguerreotyp nur zum farbigen Ölgemälde zu beleben; er hatte den Tatsachen die notwendig aus ihrem Zusammenhange erratenen Motive zu entnehmen und diese dem Blut und Fleische der handelnden Personen einzuprägen. Im übrigen blieb das Gerüst der Geschichte von ihm völlig unangetastet: seine Bühne erlaubte ihm das, wie wir sahen. – Der modernen Szene gegenüber erkannte der Dichter aber bald die Unmöglichkeit, die Geschichte mit der chronistischen Treue Shakespeares für das Schauspiel herzurichten: er begriff, daß nur dem – für seine Länge oder Kürze ganz unbesorgten – Romane es möglich gewesen war, die Chronik mit lebendiger Schilderung der Charaktere auszustatten, und daß nur die Bühne Shakespeares wiederum es erlaubt hatte, diesen Roman zu dem Drama zusammenzudrängen. Suchte er nun den Stoff zum Drama in der Geschichte selbst, so geschah dies mit dem Wunsche und dem Streben, den historischen Gegenstand durch unmittelbar dichterische Auffassung von vornherein so zu bewältigen, daß er in der nur in möglichster Einheit verständlich sich kundgebenden Form des Dramas vorgeführt werden konnte. Gerade in diesem Wunsche und Streben liegt aber der Grund der Nichtigkeit unseres historischen Dramas. Geschichte ist nur dadurch Geschichte, daß sich in ihr mit unbedingtester Wahrhaftigkeit die nackten Handlungen der Menschen uns darstellen: sie gibt uns nicht die inneren Gesinnungen der Menschen, sondern läßt uns aus ihren Handlungen erst auf diese Gesinnungen schließen. Glauben wir nun diese Gesinnungen richtig erkannt zu haben, und wollen wir die Geschichte nun als aus diesen Gesinnungen gerechtfertigt darstellen, so vermögen wir dies eben nur in der reinen Geschichtsschreibung, oder – mit erreichbarster künstlerischer Wärme – im historischen Romane, d. h. in einer Kunstform, in der wir durch keinen äußerlichen Zwang genötigt sind, den Tatbestand der nackten Geschichte durch willkürliche Sichtung oder Zusammendrängung zu entstellen. Wir können die aus ihren Handlungen erkannten Gesinnungen geschichtlicher Personen auf keine Weise entsprechend uns verständlichen als durch getreue Darstellung derselben Handlungen, aus denen wir jene Gesinnungen erkannt haben. Wollen wir aber, um die inneren Beweggründe zu Handlungen uns zu verdeutlichen, die Handlungen, die aus ihnen hervorgingen, dem Zwecke ihrer Darstellung zulieb, in irgend etwas verändern oder entstehen, so kann dies notwendig wieder nur durch die Entstellung der Gesinnungen, sonach mit der gänzlichen Verneinung der Geschichte selbst geschehen. Der Dichter, der es versuchte, mit Umgehung der chronistischen Genauigkeit geschichtliche Stoffe für die dramatische Szene zu verarbeiten, und zu diesem Zwecke über den Tatbestand der Geschichte nach willkürlichem, künstlerisch-formellem Ermessen verfügte, konnte weder Geschichte noch aber auch ein Drama zustande bringen.
Halten wir, zur Verdeutlichung des Gesagten, Shakespeares historische Dramen mit Schillers »Wallenstein« zusammen, so müssen wir beim ersten Blicke erkennen, wie hier mit Umgehung der äußerlichen geschichtlichen Treue zugleich auch der Inhalt der Geschichte entstellt wird, während dort bei chronistischer Genauigkeit der charakteristische Inhalt der Geschichte auf das Überzeugendste wahrhaftig zutage tritt. Ohne Zweifel war aber Schiller ein größerer Geschichtsforscher als Shakespeare, und in seinen rein historischen Arbeiten entschuldigt er sich völlig für seine Auffassung der Geschichte als dramatischer Dichter. Worauf es uns jetzt hierbei aber ankommt, ist die faktische Bestätigung dessen, daß wohl für Shakespeare, auf dessen Bühne für die Szene an die Phantasie appelliert wurde, nicht aber für uns, die wir auch die Szene überzeugend an die Sinne dargestellt haben wollen, der Historie der Stoff zum Drama zu entnehmen ist. Selbst Schiller war es aber auch nicht möglich, den noch so absichtlich von ihm zugerichteten historischen Stoff zu der von ihm ins Auge gefaßten dramatischen Einheit zusammenzudrängen: Alles, was der Geschichte erst ihr eigentliches Leben gibt, die weithin sich erstreckende und wiederum nach dem Mittelpunkte bedingend hinwirkende Umgebung mußte er, da er ihre Schilderung doch als unerläßlich fühlte, außerhalb des Dramas, in ein ganz selbständig abgeschlossenes Sonderstück verlegen und das Drama selbst in zwei Dramen auflösen, was bei den mehrteiligen historischen Dramen Shakespeares eine ganz andere Bedeutung hat, da in ihnen ganze Lebensläufe von Personen, die zu einem historischen Mittelpunkte dienen, nach ihren wichtigsten Perioden abgeteilt sind, während im Wallenstein nur eine solche, an Stoff verhältnismäßig gar nicht überreiche, Periode, bloß wegen der Umständlichkeit der Motivierung eines zur Unklarheit getrübten historischen Momentes, mehrteilig gegeben wird. Shakespeare würde auf seiner Bühne den ganzen Dreißigjährigen Krieg in drei Stücken gegeben haben.
Dieses »dramatische Gedicht« – wie Schiller selbst es nennt – war dennoch der redlichste Versuch, der Geschichte als solcher Stoff für das Drama abzugewinnen.
In der weiteren Entwickelung des Dramas sehen wir von nun an von Schiller die Rücksicht auf die Historie immer mehr fallen lassen, einerseits um die Historie selbst nur als Verkleidung eines besonderen, dem allgemeinen Bildungsgange des Dichters eigenen, gedankenhaften Motives zu verwenden – andererseits um dieses Motiv immer bestimmter in einer Form des Dramas zu geben, die der Natur der Sache nach, und namentlich auch seit Goethes vielseitigen Versuchen, zum Gegenstände künstlerischer Spekulation geworden war. Schiller geriet bei dieser zwecklichen Unterordnung und willkürlichen Bestimmung des Stoffes immer tiefer in den notwendigen Fehler der bloß reflektierenden und rhetorisch sich gebarenden Darstellung des Gegenstandes, bis er diesen endlich ganz nur noch nach der Form bestimmte, die er als rein künstlerisch zweckmäßigste der griechischen Tragödie entnahm. In seiner »Braut von Messina« verfuhr er für die Nachahmung der griechischen Form noch bestimmter als Goethe in der »Iphigenia«: Goethe konstruierte sich diese Form nur soweit zurück, als in ihr die plastische Einheit einer Handlung sich kundgeben sollte; Schiller suchte aus dieser Form selbst den Stoff des Dramas zu gestalten. Hierin näherte er sich dem Verfahren der französischen Tragödiendichter; nur unterschied er sich von ihnen wesentlich dadurch, daß er die griechische Form vollständiger herstellte, als sie diesen mitgeteilt worden war, und daß er den Geist dieser Form, von dem diese gar nichts wußten, zu beleben und dem Stoffe selbst einzuprägen suchte. Er nahm hierzu von der griechischen Tragödie das »Fatum« – allerdings nur nach dem ihm möglichen Verständnisse von ihm – auf und konstruierte aus diesem Fatum eine Handlung, die nach ihrem mittelalterlichen Kostüm den lebendigen Vermittelungspunkt zwischen der Antike und dem modernen Verständnisse bieten sollte. Nie ist vom rein kunsthistorischen Standpunkte aus so absichtlich geschaffen worden, als in dieser »Braut von Messina«: was Goethe in der Vermählung des Faust mit der Helena andeutete, sollte hier durch künstlerische Spekulation verwirklicht werden. Diese Verwirklichung glückte aber entschieden nicht: Stoff und Form wurden gleichmäßig getrübt, so daß weder der mittelalterliche, gewaltsam gedeutete Roman zur Wirkung noch auch die antike Form zur klaren Anschauung kam. Wer möchte aus diesem fruchtlosen Versuche Schillers nicht gründliche Belehrung ziehen? – Verzweifelnd wandte auch Schiller von dieser Form sich wieder ab und suchte in seinem letzten dramatischen Gedichte, »Wilhelm Tell«, durch Wiederaufnahme der dramatischen Romanform wenigstens seine dichterische Frische zu retten, die unter seinem ästhetischen Experimentieren merklich erschlafft war.
Auch Schillers dramatisches Kunstschaffen sehen wir also im Schwanken zwischen Historie und Roman, dem eigentlichen poetischen Lebenselemente unserer Zeit, einerseits und der vollendeten Form des griechischen Dramas andererseits, befangen: mit allen Fasern seiner dichterischen Lebenskraft haftete er an jenem, während sein höherer künstlerischer Gestaltungsdrang ihn nach dieser hintrieb.
Was Schiller besonders charakterisiert, ist, daß in ihm der Drang zur antiken, reinen Kunstform zum Drange nach dem Idealen überhaupt sich gestaltete. Er war so schmerzlich betrübt, diese Form nicht mit dem Inhalte unseres Lebenselementes künstlerisch erfüllen zu können, daß ihm endlich von der Ausbeutung dieses Elementes durch künstlerische Darstellung selbst ekelte. Goethes praktischer Sinn versöhnte sich mit unserem Lebenselemente durch Aufgeben der vollendeten Kunstform und Weiterbildung der einzigen, in der dieses Leben sich verständlich aussprechen konnte. Schiller kehrte nie zum eigentlichen Romane wieder zurück; das Ideal seiner höheren Kunstanschauung, wie es ihm in der antiken Kunstform aufgegangen war, machte er zum Wesen der wahren Kunst selbst: dies Ideal sah er aber nur vom Standpunkte der poetischen Unfähigkeit unseres Lebens aus, und unsere Lebenszustände mit dem menschlichen Leben überhaupt verwechselnd, konnte er sich endlich die Kunst nur als ein vom Leben Getrenntes, die höchste Kunstfülle als ein Gedachtes, nur annäherungsweise aber Erreichbares vorstellen. –
So blieb Schiller zwischen Himmel und Erde in der Luft schweben, und in dieser Schwebe hängt nach ihm unsere ganze dramatische Dichtkunst. Jener Himmel ist in Wahrheit aber nichts anderes als die antike Kunstform und jene Erde der praktische Roman unserer Zeit. Die neueste dramatische Dichtkunst, die als Kunst nur von den zu literarischen Denkmälern gewordenen Versuchen Goethes und Schillers lebt, hat das Schwanken zwischen den bezeichneten entgegengesetzten Richtungen bis zum Taumeln fortgesetzt. Wo sie aus der bloßen literarischen Dramatik sich zur Darstellung des Lebens anließ, ist sie, um szenisch wirkungsvoll und verständlich zu sein, immer in die Plattheit des dramatisierten bürgerlichen Romanes zurückgefallen, oder, wollte sie einen höheren Lebensgehalt aussprechen, so sah sie sich genötigt, das falsche dramatische Federgewand allmählich immer wieder vollständig von sich abzustreifen und als nackter sechs- oder neunbändiger Roman der bloßen Lektüre sich vorzustellen. –
Um unser ganzes kunstliterarisches Schaffen für einen schnellen Überblick zusammenzufassen, reihen wir die aus ihm hervorgehenden Erscheinungen in folgende Ordnung.
Am verständlichsten vermag unser Lebenselement künstlerisch nur der Roman darzustellen. Im Streben nach wirkungsvollerer, unmittelbarerer Darstellung seines Stoffes wird der Roman dramatisiert. Bei erkannter und von jedem Dichter neu erfahrener Unmöglichkeit dieses Beginnens wird der in seiner Vielhandlichkeit störende Stoff zur, erst unwahren, dann vollständig inhaltslosen Unterlage des modernen Bühnenstückes, d. h. des Schauspieles, welches wiederum nur dem modernen Theatervirtuosen zur Unterlage dient, herabgedrückt. Von diesem Schauspiel wendet sich der Dichter, sobald er seines Versinkens in die Kulissenroutine gewahr wird, zur ungestörten Darstellung des Stoffes im Romane zurück; die vergebens von ihm erstrebte vollendete dramatische Form läßt er sich aber als etwas gänzlich Fremdes durch die tatsächliche Aufführung des wirklichen griechischen Dramas vorführen. In der Literatur- Lyrik bekämpft, verspottet – beklagt und beweint er aber endlich den Widerspruch unserer Lebenszustände, der ihm für die Kunst als Widerspruch zwischen Stoff und Form, für das Leben als Widerspruch zwischen Mensch und Natur erscheint.
Merkwürdig ist es, daß die neueste Zeit diesen tiefen, unversöhnbaren Widerspruch kunstgeschichtlich mit einer Augenfälligkeit dargetan hat, daß eine Forterhaltung des Irrtumes in bezug auf ihn jedem nur Halbhellblickenden unmöglich erscheinen muß. Während der Roman überall, und namentlich bei den Franzosen, nach letztem phantastischen Ausmalen der Historie sich auf die nackteste Darstellung des Lebens der Gegenwart warf, dieses Leben bei seiner lasterhaftesten sozialen Grundlage erfaßte und, bei vollendeter Unschönheit als Kunstwerk, das literarische Kunstwerk des Romanes selbst zur revolutionären Waffe gegen diese soziale Grundlage schuf – während der Roman, sage ich, zum Aufruf an die revolutionäre Kraft des Volkes wurde, die diese Lebensgrundlage zerstören soll –, vermochte ein geistvoller Dichter, der als schaffender Künstler nie die Fähigkeit gefunden hatte, irgendwelchen Stoff für das wirkliche Drama zu bewältigen, einen absoluten Fürsten zu dem Befehl an seinen Theaterintendanten, ihm eine wirkliche griechische Tragödie mit antiquarischer Treue aufführen zu lassen, wozu ein berühmter Komponist die nötige Musik anfertigen mußte. Dieses Sophokleische Drama erwies sich unserem Leben gegenüber als eine grobe künstlerische Notlüge: als eine Lüge, welche die künstlerische Not hervorbrachte, um die Unwahrheit unseres ganzen Kunstwesens zu bemänteln; als eine Lüge, welche die wahre Not unserer Zeit unter allerhand künstlerischem Vorwande hinwegzuleugnen suchte. Aber eine bestimmte Wahrheit mußte uns diese Tragödie enthüllen, nämlich die: daß wir kein Drama haben und kein Drama haben können; daß unser Literatur-Drama vom wirklichen Drama gerade so weit entfernt steht als das Klavier vom symphonischen Gesang menschlicher Stimmen; daß wir im modernen Drama nur durch die ausgedachteste Vermittelung literarischer Mechanik zur Hervorbringung von Dichtkunst wie auf dem Klaviere durch komplizierteste Vermittelung der technischen Mechanik zur Hervorbringung von Musik gelangen können – das heißt aber – einer seelenlosen Dichtkunst, einer tonlosen Musik. –
Mit diesem Drama hat allerdings die wahre Musik, das liebende Weib, nichts zu schaffen. Die Kokette kann sich diesem spröden Manne nahen, um ihn in die Netze ihrer Gefallsucht zu verstricken; die Prüde kann sich an den Impotenten anschließen, um sich mit ihm in Gottseligkeit zu ergehen; die Buhlerin läßt sich von ihm bezahlen und verlacht ihn: das wahrhaft liebessehnsüchtige Weib wendet sich aber ungerührt von ihm ab! –
Wollen wir nun näher erforschen, was dieses Drama impotent machte, so haben wir den Stoff genau zu ergründen, von dem es sich ernährte. Dieser Stoff war, wie wir ersahen, der Roman, und auf das Wesen des Romanes müssen wir daher nun bestimmter eingehen.
[ II ]
Der Mensch ist auf zwiefache Weise Dichter: in der Anschauung und in der Mitteilung.
Die natürliche Dichtungsgabe ist die Fähigkeit, die seinen Sinnen von außen sich kundgebenden Erscheinungen zu einem inneren Bilde von ihnen sich zu verdichten; die künstlerische, dieses Bild nach außen wieder mitzuteilen.
Wie das Auge die entfernter liegenden Gegenstände nur in immer verengtem Maßstabe aufzunehmen vermag, kann auch das Gehirn des Menschen, der Ausgangspunkt des Auges nach innen, an dessen durch den ganzen inneren Lebensorganismus bedingte Tätigkeit dieses die aufgenommenen äußeren Erscheinungen mitteilt, zunächst sie nur nach dem verjüngten Maße der menschlichen Individualität erfassen. In diesem Maße vermag aber die Tätigkeit des Gehirnes die ihm zugeführten, nun von ihrer Naturwirklichkeit losgelösten Erscheinungen zu den umfassendsten neuen Bildern zu gestalten, wie sie aus dem doppelten Bemühen, sie zu sichten oder im Zusammenhange sich vorzuführen, entstehen, und diese Tätigkeit des Gehirnes nennen wir Phantasie.
Das unbewußte Streben der Phantasie geht nun dahin, des wirklichen Maßes der Erscheinungen innezuwerden, und dies treibt sie zur Mitteilung ihres Bildes wieder nach außen, indem sie ihr Bild, um es der Wirklichkeit zu vergleichen, dieser gewissermaßen anzupassen sucht. Die Mitteilung nach außen vermag aber nur auf künstlerisch vermitteltem Wege vor sich zu gehen; die Sinne, welche die äußeren Erscheinungen unwillkürlich aufnahmen, bedingen, zur Mitteilung des Phantasiebildes wiederum an sie, die Abrichtung und Verwendung des organischen Äußerungsvermögens des Menschen, der sich verständlich an diese Sinne mitteilen will. Vollkommen verständlich wird das Phantasiebild in seiner Äußerung nur, wenn es sich in eben dem Maße wieder an die Sinne mitteilt, in welchem diesen die Erscheinungen ursprünglich sich kundtaten, und an der seinem Verlangen endlich entsprechenden Wirkung seiner Mitteilung wird der Mensch erst des richtigen Maßes der Erscheinungen insoweit inne, als er dies als das Maß erkennt, in welchem die Erscheinungen dem Menschen überhaupt sich mitteilen. Niemand kann sich verständlich mitteilen als an die, welche die Erscheinungen in dem gleichen Maße mit ihm sehen: dieses Maß ist aber für die Mitteilung das verdichtete Bild der Erscheinungen selbst, in welchem diese sich den Menschen erkenntlich darstellen. Dieses Maß muß daher auf einer gemeinsamen Anschauung beruhen, denn nur was dieser gemeinsamen Anschauung erkenntlich ist, läßt sich ihr künstlerisch wiederum mitteilen: ein Mensch, dessen Anschauung nicht die gemeinsame ist, kann sich auch nicht künstlerisch kundgeben. – Nur in einem beschränkten Maße innerer Anschauung vom Wesen der Erscheinungen hat sich seit Menschengedenken bisher der künstlerische Mitteilungstrieb bis zur Fähigkeit überzeugendster Darstellung an die Sinne ausbilden können: nur der griechischen Weltanschauung konnte bis heute noch das wirkliche Kunstwerk des Dramas entblühen. Der Stoff dieses Dramas war aber der Mythos, und aus seinem Wesen können wir allein das höchste griechische Kunstwerk und seine uns berückende Form begreifen.
Im Mythos erfaßt die gemeinsame Dichtungskraft des Volkes die Erscheinungen gerade nur noch so, wie sie das leibliche Auge zu sehen vermag, nicht wie sie an sich wirklich sind. Die große Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, deren wirklichen Zusammenhang der Mensch noch nicht zu fassen vermag, macht auf ihn zunächst den Eindruck der Unruhe: um diese Unruhe zu überwinden, sucht er nach einem Zusammenhange der Erscheinungen, den er als ihre Ursache zu begreifen vermöge: den wirklichen Zusammenhang findet aber nur der Verstand, der die Erscheinungen nach ihrer Wirklichkeit erfaßt; der Zusammenhang, den der Mensch auffindet, der die Erscheinungen nur noch nach den unmittelbarsten Eindrücken auf ihn zu erfassen vermag, kann aber bloß das Werk der Phantasie und die ihnen untergelegte Ursache eine Geburt der dichterischen Einbildungskraft sein. Gott und Götter sind die ersten Schöpfungen der menschlichen Dichtungskraft: in ihnen stellt sich der Mensch das Wesen der natürlichen Erscheinungen als von einer Ursache hergeleitet dar; als diese Ursache begreift er aber unwillkürlich nichts anderes als sein eigenes menschliches Wesen, in welchem diese gedichtete Ursache auch einzig nur begründet ist. Geht nun der Drang des Menschen, der die innere Unruhe vor der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen bewältigen will, dahin, die gedichtete Ursache derselben sich so deutlich wie möglich darzustellen – da er Beruhigung nur durch dieselben Sinne wiederum zu gewinnen vermag, durch die auf sein Inneres beunruhigend gewirkt wurde –, so muß er den Gott sich auch in derjenigen Gestalt vorführen, die nicht nur dem Wesen seiner rein menschlichen Anschauung am bestimmtesten entspricht, sondern auch als äußerliche Gestalt ihm die verständlichste ist. Alles Verständnis kommt uns nur durch die Liebe, und am unwillkürlichsten wird der Mensch zu den Wesen seiner eigenen Gattung gedrängt. Wie ihm die menschliche Gestalt die begreiflichste ist, so wird ihm auch das Wesen der natürlichen Erscheinungen, die er nach ihrer Wirklichkeit noch nicht erkennt, nur durch Verdichtung zur menschlichen Gestalt begreiflich. Aller Gestaltungstrieb des Volkes geht im Mythos somit dahin, den weitesten Zusammenhang der mannigfaltigsten Erscheinungen in gedrängtester Gestalt sich zu versinnlichen: diese zunächst nur von der Phantasie gebildete Gestalt gebart sich, je deutlicher sie werden soll, ganz nach menschlicher Eigenschaft, trotzdem ihr Inhalt in Wahrheit ein übermenschlicher und übernatürlicher ist, nämlich diejenige zusammenwirkende vielmenschliche oder allnatürliche Kraft und Fähigkeit, die, als nur im Zusammenhange des Wirkens menschlicher und natürlicher Kräfte im Allgemeinen gefaßt, allerdings menschlich und natürlich ist, gerade aber dadurch übermenschlich und übernatürlich erscheint, daß sie der eingebildeten Gestalt eines menschlich dargestellten Individuums zugeschrieben wird. Durch die Fähigkeit, so durch seine Einbildungskraft alle nur denkbaren Realitäten und Wirklichkeiten nach weitestem Umfange in gedrängter, deutlicher plastischer Gestaltung sich vorzuführen, wird das Volk im Mythos daher zum Schöpfer der Kunst; denn künstlerischen Gehalt und Form müssen notwendig diese Gestalten gewinnen, wenn, wie es wiederum ihre Eigentümlichkeit ist, sie nur dem Verlangen nach faßbarer Darstellung der Erscheinungen, somit dem sehnsüchtigen Wunsche, sich und sein eigenstes Wesen – dieses gottschöpferische Wesen – selbst in dem dargestellten Gegenstande wiederzuerkennen, ja überhaupt erst zu erkennen, entsprungen sind. Die Kunst ist ihrer Bedeutung nach nichts anderes als die Erfüllung des Verlangens, in einem dargestellten bewunderten oder geliebten Gegenstande sich selbst zu erkennen, sich in den durch ihre Darstellung bewältigten Erscheinungen der Außenwelt wiederzufinden. Der Künstler sagt sich in dem von ihm dargestellten Gegenstande: »So bist du, so fühlst und denkst du, und so würdest du handeln, wenn du, frei von der zwingenden Unwillkür der äußeren Lebenseindrücke, nach der Wahl deines Wunsches handeln könntest.« So stellte das Volk im Mythos sich Gott, so den Helden und so endlich den Menschen dar. –
Die griechische Tragödie ist die künstlerische Verwirklichung des Inhaltes und des Geistes des griechischen Mythos. Wie in diesem Mythos der weitverzweigteste Umfang der Erscheinungen zu immer dichterer Gestalt zusammengedrängt wurde, so führte das Drama diese Gestalt wieder in dichtester, gedrängtester Form vor. Die gemeinsame Anschauung vom Wesen der Erscheinungen, die im Mythos sich aus der Natur-Anschauung zur menschlich-sittlichen verdichtete, tritt hier, in bestimmtester, verdeutlichendster Form an die universellste Empfängniskraft des Menschen sich kundgebend, als Kunstwerk aus der Phantasie in die Wirklichkeit ein. Wie im Drama die zuvor im Mythos immer nur noch gedachten Gestalten in wirklich leiblicher Darstellung durch Menschen vorgeführt wurden, so drängte auch die wirklich dargestellte Handlung, ganz dem Wesen des Mythos entsprechend, sich zu plastischer Dichtheit zusammen. Wird die Gesinnung eines Menschen nur in seiner Handlung uns überzeugend offenbar, und besteht der Charakter eines Menschen eben in der vollkommenen Übereinstimmung seiner Gesinnung mit seiner Handlung, so wird diese Handlung, und somit die ihr zugrundeliegende Gesinnung – ganz im Sinne des Mythos auch – erst dadurch bedeutungsvoll und einem umfangreichen Inhalte entsprechend, daß auch sie in vollster Gedrängtheit sich kundgibt. Eine Handlung, die aus vielen Teilen besteht, ist entweder, wenn alle diese Teile von inhaltsvoller, entscheidender Wichtigkeit sind, eine übertriebene, ausschweifende und unverständliche oder, wenn diese Teile nur Anfänge und Absätze von Handlungen enthalten, eine kleinliche, willkürliche und inhaltslose. Der Inhalt einer Handlung ist die ihr zugrundeliegende Gesinnung; soll diese Gesinnung eine große, umfangreiche, das Wesen des Menschen nach irgendeiner bestimmten Richtung hin erschöpfende sein, so bedingt sie auch die Handlung als eine entscheidende, einzige und unteilbare, denn nur in einer solchen Handlung wird eine große Gesinnung uns offenbar. Der Inhalt des griechischen Mythos war seiner Natur nach von dieser umfangreichen, aber dichtgedrängten Beschaffenheit, und in der Tragödie äußerte sich dieser mit vollster Bestimmtheit auch als diese eine, notwendige und entscheidende Handlung. Diese eine Handlung in ihrer wichtigsten Bedeutung aus der Gesinnung der Handelnden vollkommen gerechtfertigt hervorgehen zu lassen, das war die Aufgabe des tragischen Dichters; die Notwendigkeit der Handlung aus der dargelegten Wahrheit der Gesinnung zum Verständnisse zu bringen, darin bestand die Lösung seiner Aufgabe. Die einheitvolle Form seines Kunstwerkes war ihm aber in dem Gerüste des Mythos vorgezeichnet, das er zum lebenvollen Baue nur auszuführen, keinesweges aber um eines willkürlich erdachten künstlerischen Baues willen zu zerbröckeln und neu zusammenzufügen hatte. Der tragische Dichter teilte den Inhalt und das Wesen des Mythos nur am überzeugendsten und verständlichsten mit, und die Tragödie ist nichts anderes als die künstlerische Vollendung des Mythos selbst, der Mythos aber das Gedicht einer gemeinsamen Lebensanschauung.
Suchen wir uns nun deutlich zu machen, welches die Lebensanschauung der modernen Welt ist, die im Roman ihren künstlerischen Ausdruck gefunden hat. –
Sobald der reflektierende Verstand von der eingebildeten Gestalt absah und nach der Wirklichkeit der Erscheinungen forschte, die in ihr zusammengefaßt waren, gewahrte er zunächst da, wo die dichterische Anschauung ein Ganzes sah, eine immer wachsende Vielheit von Einzelnheiten. Die anatomische Wissenschaft begann ihr Werk und verfolgte den ganz entgegengesetzten Weg der Volksdichtung: wo diese unwillkürlich verband, trennte jene absichtlich; wo diese den Zusammenhang sich darstellen wollte, trachtete jene nur nach genauestem Erkennen der Teile; und so mußte Schritt für Schritt jede Volksanschauung vernichtet, als abergläubisch überwunden, als kindisch verlacht werden. Die Naturanschauung des Volkes ist in Physik und Chemie, seine Religion in Theologie und Philosophie, sein Gemeindestaat in Politik und Diplomatie, seine Kunst in Wissenschaft und Ästhetik, sein Mythos aber in die geschichtliche Chronik aufgegangen. –
Auch die neue Welt gewann ihre gestaltende Kraft aus dem Mythos; aus der Begegnung und Mischung zweier Hauptmythenkreise, die nie sich vollständig durchdringen und zu plastischer Einheit sich erheben konnten, ging der mittelalterliche Roman hervor.
Im christlichen Mythos war das, worauf der Grieche alle äußeren Erscheinungen bezog und was er daher zum sicher gestalteten Vereinigungspunkt aller Natur- und Weltanschauungen gemacht hatte – der Mensch, das von vornherein Unbegreifliche, sich selbst Fremde geworden. Der Grieche war von außen, durch den Vergleich der äußeren Erscheinungen mit dem Menschen, zum Menschen gekommen: in seiner Gestalt, in seinen unwillkürlich gebildeten sittlichen Begriffen, fand er, vom Schweifen in den Weiten der Natur zurückkehrend, Maß und Beruhigung. Dieses Maß war aber ein eingebildetes und nur künstlerisch verwirklichtes: mit dem Versuche, im Staate es absichtlich zu realisieren, deckte sich der Widerspruch jenes eingebildeten Maßes mit der Wirklichkeit der realen menschlichen Unwillkür insoweit auf, als Staat und Individuum sich nur durch offenbarste Übertretung jenes eingebildeten Maßes zu erhalten suchen mußten. Als die natürliche Sitte zum willkürlich vertragenen Gesetz, die Stammesgemeinschaft zum willkürlich konstruierten politischen Staate geworden waren, lehnte nun gegen Gesetz und Staat sich wieder der unwillkürliche Lebenstrieb des Menschen mit dem vollen Anscheine der egoistischen Willkür auf. In dem Zwiespalte zwischen dem, was der Mensch für gut und recht erkannte, wie Gesetz und Staat, und dem, wozu sein Glückseligkeitstrieb ihn drängte – der individuellen Freiheit, mußte der Mensch sich endlich unbegreiflich vorkommen, und dieses Irresein an sich war der Ausgangspunkt des christlichen Mythos. In diesem schritt der, der Aussöhnung mit sich bedürftige, individuelle Mensch bis zur ersehnten, im Glauben aber verwirklicht gedachten Erlösung in einem außerweltlichen Wesen vor, in welchem Gesetz und Staat insoweit vernichtet waren, als sie in seinem unerforschlichen Willen mit inbegriffen gedacht wurden. Die Natur, aus welcher der Grieche bis zum deutlichen Erfassen des Menschen gelangt war, hatte der Christ gänzlich zu übersehen: galt ihm als ihre höchste Spitze der in sich uneinige, erlösungsbedürftige Mensch, so konnte sie ihm nur noch uneiniger und an sich verdammungswürdiger erscheinen. Die Wissenschaft, welche die Natur in ihre Teile zerlegte, ohne das wirkliche Band dieser Teile noch zu finden, konnte die christliche Ansicht von der Natur nur unterstützen.
Körperliche Gestalt gewann der christliche Mythos aber an einem persönlichen Menschen, der um des Verbrechens an Gesetz und Staat willen den Martertod erlitt, in der Unterwerfung unter die Strafe Gesetz und Staat als äußerliche Notwendigkeiten rechtfertigte, durch seinen freiwilligen Tod zugleich aber auch Gesetz und Staat zugunsten einer inneren Notwendigkeit, der Befreiung des Individuums durch Erlösung in Gott aufhob. Die hinreißende Gewalt des christlichen Mythos auf das Gemüt besteht in der von ihm dargestellten Verklärung durch den Tod. Der gebrochene, todesberauschte Blick eines geliebten Sterbenden, der, zur Erkennung der Wirklichkeit bereits unvermögend, uns mit dem letzten Leuchten seines Glanzes noch einmal berührt, übt einen Eindruck der herzbewältigendsten Wehmut auf uns aus; dieser Blick ist aber begleitet von dem Lächeln der bleichen Wangen und Lippen, das, an sich nur dem Wohlgefühle des endlich überstandenen Todesschmerzes im Augenblicke der eintretenden vollständigen Auflösung entsprungen, auf uns den Eindruck vorausempfundener überirdischer Seligkeit macht, die eben nur durch Ersterben des leiblichen Menschen gewonnen werden könne. So, wie wir ihn in seinem Verscheiden sahen, steht der Hingeschiedene nun vor dem Blicke unserer Erinnerung: alle Willkürlichkeit und Unbestimmtheit seiner sinnlichen Lebensäußerung nimmt unser Gedenken von seinem Bilde fort; den nur noch Gedachten sieht unser geistiges Auge, der Blick der gedenkenden Minne, in dem sanftdämmernden Scheine leidenloser, süßruhiger Glückseligkeit. So gilt uns der Augenblick des Todes als der der wirklichen Erlösung in Gott, denn durch sein Sterben ist der Geliebte, in unserem Gedenken an ihn, von der Empfindung des Lebens geschieden, deren Wonnen wir, in der Sehnsucht nach eingebildeten größeren Wonnen, uneingedenk sind, deren Schmerzen wir aber, namentlich aber auch in dem Verlangen nach dem verklärten Seligen, einzig als das Wesen der Empfindung des Lebens festhalten.
Dieses Sterben, und die Sehnsucht nach ihm, ist der einzige wahre Inhalt der aus dem christlichen Mythos hervorgegangenen Kunst: er äußert sich als Scheu, Ekel und Flucht vor dem wirklichen Leben, und als Verlangen nach dem Tode. Der Tod galt dem Griechen nicht nur als eine natürliche, sondern auch sittliche Notwendigkeit, aber nur dem Leben gegenüber, welches an sich der wirkliche Gegenstand auch aller Kunstanschauung war. Das Leben bedang aus sich, aus seiner Wirklichkeit und unwillkürlichen Notwendigkeit, den tragischen Tod, der an sich nichts anderes war als der Abschluß eines durch Entwickelung vollster Individualität erfüllten, für die Geltendmachung dieser Individualität aufgewendeten Lebens. Dem Christen war aber der Tod an sich der Gegenstand – das Leben erhielt für ihn nur Weihe und Rechtfertigung als Vorbereitung auf den Tod, als Verlangen nach dem Sterben. Die bewußte, mit aller Kraft des Willens ausgeführte Abstreifung des sinnlichen Leibes, die absichtliche Vernichtung des wirklichen Daseins, war der Gegenstand der christlichen Kunst, der somit stets nur geschildert, beschrieben, nie aber, und am allerwenigsten im Drama, dargestellt werden konnte. Das entscheidende Element des Dramas ist die künstlerisch verwirklichte Bewegung eines scharf bestimmten Inhaltes: eine Bewegung kann unsere Teilnahme aber nur fesseln, wenn sie zunimmt; eine abnehmende Bewegung schwächt und zerstreut unsere Teilnahme – außer da, wo sich in ihr eine notwendige Beruhigung vorübergehend ausdrückt. Im griechischen Drama wächst die Bewegung vom Beginne an zu immer beschleunigterem Laufe, bis zum erhabenen Sturme der Katastrophe; das ungemischte, wahrhaftige christliche Drama müßte mit dem Sturme des Lebens beginnen, um die Bewegung zum schwärmerischen Ersterben abzuschwächen. Die Passionsspiele des Mittelalters stellten die Leidensgeschichte Jesus in der Form wechselnder, leidlich ausgeführter Bilder dar: das wichtigste und ergreifendste dieser Bilder führte Jesus am Kreuze hängend vor: Hymnen und Psalmen wurden während dieser Ausstellung gesungen. – Die Legende, dieser christliche Roman, vermochte einzig den christlichen Stoff zur anziehenden Darstellung zu bringen, weil sie – wie es bei diesem Stoffe einzig möglich war – nur an die Phantasie, nicht aber an die sinnliche Anschauung sich wandte. Nur der Musik war es vorbehalten, diesen Stoff auch durch äußere, sinnlich wahrnehmbare Bewegung darzustellen, jedoch nur dadurch, daß sie ihn gänzlich zum bloßen Gefühlsmomente auflöste, zur Farbenmischung ohne Zeichnung, die in der farbigen Zerflossenheit der Harmonie so erlosch, wie der Sterbende aus der Wirklichkeit des Lebens zerfließt. –
Der zweite, dem christlichen Mythos entgegengesetzte, auf die Anschauung und die Kunstgestaltung der neuen Zeit entscheidend einwirkende Mythenkreis ist die heimische Sage der neueren europäischen, vor allem aber der deutschen Völker.
Der Mythos dieser Völker wuchs, wie der der hellenischen, aus der Naturanschauung zur Bildung von Göttern und Helden. In einer Sage – der Siegfriedssage – vermögen wir jetzt mit ziemlicher Deutlichkeit bis auf ihren ursprünglichen Keim zu blicken, der uns nicht wenig über das Wesen des Mythos überhaupt belehrt. Wir sehen hier natürliche Erscheinungen, wie die des Tages und der Nacht, des Auf- und Unterganges der Sonne, durch die Phantasie zu handelnden und um ihrer Tat willen verehrten oder gefürchteten Persönlichkeiten verdichtet, die aus menschlich gedachten Göttern endlich zu wirklich vermenschlichten Helden umgeschaffen wurden, die einst wirklich gelebt haben sollten, und von denen die lebenden Geschlechter und Stämme sich leiblich entsprossen rühmten. Der Mythos reichte so, maßgebend und gestaltend, Ansprüche rechtfertigend und zu Taten beteuernd, in das wirkliche Leben hinein, wo er als religiöser Glaube nicht nur gepflegt wurde, sondern als betätigte Religion selbst sich kundgab. Ein unermeßlicher Reichtum verehrter Vorfälle und Handlungen füllte diesen, zur Heldensage gestalteten, religiösen Mythos an: so mannigfaltig diese gedichteten und besungenen Handlungen aber auch sich geben mochten, so erschienen sie doch alle nur als Variationen eines gewissen, sehr bestimmten Typus von Begebenheiten, den wir bei gründlicher Forschung auf eine einfache religiöse Vorstellung zurückzuführen vermögen. In dieser religiösen, der Naturanschauung entnommenen Vorstellung hatten, bei ungetrübter Entwickelung des eigentümlichen Mythos, die buntesten Äußerungen. der unendlich verzweigten Sage ihren immer nährenden Ausgangsquell: mochten die Gestaltungen der Sage bei den vielfachen Geschlechtern und Stämmen sich aus wirklichen Erlebnissen immer neu bereichern, so geschah die dichterische Gestaltung des neu Erlebten doch unwillkürlich immer nur in der Weise, wie sie der dichterischen Anschauung einmal zu eigen war, und diese wurzelte tief in derselben religiösen Naturanschauung, die einst den Urmythos erzeugt hatte.
Die dichterisch gestaltende Kraft dieser Völker war also ebenfalls eine religiöse, unbewußt gemeinsame, in der Uranschauung vom Wesen der Dinge wurzelnde. An diese Wurzel legte nun aber das Christentum die Hand: dem ungeheuren Reichtume der Zweige und Blätter des germanischen Volksbaumes vermochte der fromme Bekehrungseifer der Christen nicht beizukommen, aber die Wurzel suchte er auszurotten, mit der er in den Boden des Daseins gewachsen war. Den religiösen Glauben, die Grundanschauung vom Wesen der Natur, hob das Christentum auf und verdrängte ihn durch einen neuen Glauben, durch eine neue Anschauungsweise, die den alten schnurgerade entgegengesetzt waren. Vermochte es nun auch nie den alten Glauben vollständig auszurotten, so nahm es ihm doch wenigstens seine üppig zeugende künstlerische Kraft: was aber dieser Kraft bisher entwachsen war, die unermeßlich reich gestaltete Sage, dies blieb nun, als von dem Stamme und der Wurzel losgelöstes Geäst, die fortan aus ihrem Keime selbst ungenährte, das Volk selbst nur noch kümmerlich nährende Frucht. Wo zuvor in der religiösen Volksanschauung der einheitlich bindende Haft für alle noch so mannigfaltigen Gestaltungen der Sage gelegen hatte, konnte nun, nach Zertrümmerung dieses Haftes, nur noch ein loses Gewirr bunter Gestalten übrigbleiben, das halt- und bandlos in der nur noch unterhaltungssüchtigen, nicht mehr aber schöpferischen Phantasie herumschwirrte. Der zeugungsunfähig gewordene Mythos zersetzte sich in seine einzelnen, fertigen Bestandteile, seine Einheit in tausendfache Vielheit, der Kern seiner Handlung in ein Unmaß von Handlungen. Diese Handlungen, an sich nur Individualisierungen einer großen Urhandlung, gleichsam persönliche Variationen derselben, dem Wesen des Volkes als dessen Äußerung notwendigen, Handlung – wurden wiederum in der Weise zersplittert und entstellt, daß sie nach willkürlichem Belieben in ihren einzelnen Teilen wieder zusammengesetzt und verwendet werden konnten, um den rastlosen Trieb einer Phantasie zu nähren, die – innerlich gelähmt und der nach außen gestaltenden Fähigkeit beraubt – nur auch Äußerliches noch verschlingen, nicht Innerliches mehr von sich geben konnte. Die Zersplitterung und das Ersterben des deutschen Epos, wie es uns in den widerlichen Gestaltungen des »Heldenbuches« vorliegt, zeigt sich uns in einer ungeheuren Masse von Handlungen, die um so größer anschwillt, als jeder eigentliche Inhalt ihnen verlorengeht. –
Diesem Mythos, für den dem Volke durch die Annahme des Christentums alles wahre Verständnis seiner ursprünglichen, lebenvollen Beziehungen vollständig verlorenging, ward, als das Leben seines einheitvollen Leibes durch den Tod sich in das Vielleben von Myriaden märchenhafter Würmer aufgelöst hatte, die christlich-religiöse Anschauung wie zu neuer Belebung untergelegt. Diese Anschauung konnte nach ihrer innersten Eigentümlichkeit eigentlich nur diesen Tod des Mythos beleuchten und mit mystischer Verklärung ausschmücken: sie rechtfertigte seinen Tod gewissermaßen, indem sie all jene massenhaften und bunt sich durchkreuzenden Handlungen, die an sich nicht aus einer noch begriffenen und dem Volke eigenen Gesinnung erklärt und gerechtfertigt werden konnten, in ihrer launenhaften Willkür sich darstellte, und, da sie ihre rechtfertigenden Beweggründe nicht zu fassen vermochte, sie nach dem christlichen Tode, als dem erlösenden Ausgangspunkte hinleitete. Der christliche Ritterroman, der hierin den getreuen Ausdruck des mittelalterlichen Lebens gibt, beginnt mit dem viellebigen Leichenreste des alten Heldenmythos, mit einer Menge von Handlungen, deren wahre Gesinnung uns unbegreiflich und willkürlich erscheint, weil ihre Motive, die in einer ganz anderen als der christlichen Lebensanschauung beruhen, dem Dichter verlorengegangen sind: die Zwecklosigkeit und Unbefugtheit dieser Handlungen durch sich selbst darzustellen, und aus ihnen für das unwillkürliche Gefühl der Notwendigkeit des Unterganges der Handelnden – sei es durch aufrichtige Annahme der christlichen, zur Beschaulichkeit und Untätigkeit auffordernden Lebensregeln oder durch die äußerste Betätigung der christlichen Anschauung, den Märtyrertod selbst zu rechtfertigen –, dies war die natürliche Richtung und Aufgabe des geistlichen Rittergedichtes. –
Der ursprüngliche Handlungsstoff des heidnischen Mythos hatte sich aber bereits auch zur ausschweifendsten Mannigfaltigkeit durch die Mischung aller nationalen, ähnlich dem germanischen von ihrer Wurzel abgelösten, Sagenstoffe bereichert. Durch das Christentum waren alle Völker, die sich zu ihm bekannten, von dem Boden ihrer natürlichen Anschauungsweise losgerissen und die ihr entsprossenen Dichtungen zu Gaukelbildern für die fessellose Phantasie umgeschaffen worden. In den Kreuzzügen hatte Abend- und Morgenland bei massenhafter Berührung diese Stoffe ausgetauscht und ihre Vielartigkeit bis in das Ungeheure ausgedehnt. Begriff früher im Mythos das Volk nur das Heimische, so suchte es jetzt, wo ihm das Verständnis des Heimischen verlorengegangen war, Ersatz durch immer neues Fremdartiges. Mit Heißhunger verschlang es alles Ausländische und Ungewohnte: seine nahrungswütige Phantasie erschöpfte alle Möglichkeiten der menschlichen Einbildungskraft, um sie in unerhört bunten Abenteuern zu verprassen. – Diesen Trieb vermochte die christliche Anschauung endlich nicht mehr zu lenken, obschon sie ihn selbst im Grunde erzeugt hatte, da er ursprünglich nichts anderes war als der Drang, vor der unverstandenen Wirklichkeit zu fliehen, um in einer eingebildeten Welt sich zu befriedigen. Diese eingebildete Welt mußte, bei noch so großer Ausschweifung der Phantasie, ihr Urbild aber doch immer nur den Erscheinungen der wirklichen Welt entnehmen: die Einbildungskraft konnte endlich wieder nur wie im Mythos verfahren: sie drängte alle ihr begreiflichen Realitäten der wirklichen Welt zu gedichteten Bildern zusammen, in denen sie das Wesen von Totalitären individualisierte und dadurch sie zu ungeheuerlichen Wundern ausstattete. Auch dieser Drang der Phantasie ging in Wahrheit, wie im Mythos, wiederum nur zur Auffindung der Wirklichkeit, und zwar der Wirklichkeit einer ungeheuer ausgedehnten Außenwelt hin, und seine Betätigung in diesem Sinne blieb nicht aus. Der Drang nach Abenteuern, in denen man das Phantasiebild sich zu verwirklichen sehnte, verdichtete sich endlich zum Drange nach Unternehmungen, in denen, nach tausendfältig erfahrener Fruchtlosigkeit des Abenteuers, das ersehnte Ziel der Erkennung der Außenwelt, im Genusse der Frucht wirklicher Erfahrungen, mit ernstem, auf die bestimmte Erreichung gerichtetem Eifer aufgesucht wurde. Kühne, in bewußter Absicht unternommene Entdeckungsreisen und tiefe, auf ihre Ergebnisse begründete Forschungen der Wissenschaft enthüllten uns endlich die Welt, wie sie in Wirklichkeit ist. – Durch diese Erkenntnis ward der Roman des Mittelalters vernichtet, und der Schilderung eingebildeter Erscheinungen folgte die Schilderung ihrer Wirklichkeit.
Diese Wirklichkeit war aber nur in den, für unsere Tätigkeit unnahbaren, Erscheinungen der Natur eine von unseren Irrtümern unberührte, unentstellte geblieben. An der Wirklichkeit des menschlichen Lebens hafteten unsere Irrtümer aber mit dem entstellendsten Zwange. Auch sie zu überwinden, und das Leben des Menschen nach der Notwendigkeit seiner individuellen und sozialen Natur zu erkennen und endlich, weil es in unserer Macht steht, zu gestalten, das ist der Trieb der Menschheit seit der nach außen von ihr errungenen Fähigkeit, die Erscheinungen der Natur in ihrem Wesen zu erkennen; denn aus dieser Erkenntnis haben wir das Maß für die Erkenntnis auch des Wesens des Menschen gewonnen.
Die christliche Anschauung, die den Drang der Menschen nach außen unwillkürlich erzeugt hatte, aus sich aber ihn weder ernähren noch lenken konnte, hatte sich dieser Erscheinung gegenüber in sich selbst zum starren Dogma zusammengezogen, gleichsam um vor der ihr unbegreiflichen Erscheinung sich selbst zu retten. Hier bekundete sich nun die eigentliche Schwäche und widerspruchvolle Natur dieser Anschauung. Das wirkliche Leben und der Grund seiner Erscheinungen war ihr von je etwas Unbegreifliches gewesen. Den Zwiespalt zwischen dem Gesetzesstaat und der Unwillkür des individuellen Menschen hatte sie um so weniger überwinden können, als in ihm einzig ihr Ursprung und Wesen wurzelte: war der individuelle Mensch vollkommen mit der Gesellschaft versöhnt, ja – nahm er aus ihr die vollste Befriedigung seines Glückseligkeitstriebes, so war auch jede Notwendigkeit der christlichen Anschauung aufgehoben, das Christentum selbst praktisch vernichtet. Wie ursprünglich im menschlichen Gemüte aus diesem Zwiespalte aber diese Anschauung hervorgegangen war, so nährte das Christentum als Welterscheinung sich auch lediglich von diesem fortgesetzten Zwiespalte, und ihn absichtlich zu unterhalten mußte daher zur Lebensaufgabe der Kirche werden, sobald sie einmal ihres Lebensquelles sich vollkommen bewußt ward. –
Auch die christliche Kirche hatte nach Einheit gerungen: alle Kundgebungen des Lebens sollten in sie, als den Mittelpunkt des Lebens, auslaufen. Sie war aber nicht ein Mittelpunkt, sondern ein Endpunkt des Lebens, denn das Geheimnis des wahrsten christlichen Wesens war der Tod. Am anderen Endpunkte stand nun aber der natürliche Quell des Lebens selbst, dessen der Tod eben nur durch Vernichtung Herr zu werden vermag: die Gewalt, die dieses Leben aber ewig dem christlichen Tode zuführte, war keine andere als der Staat selbst. Der Staat war der eigentliche Lebensquell der christlichen Kirche; diese wütete gegen sich selbst, als sie gegen den Staat kämpfte. Was die Kirche im herrschsüchtigen, aber redlichen, mittelalterlichen Glaubenseifer bestritt, war der Rest von altheidnischer Gesinnung, der sich in der individuellen Selbstberechtigung der weltlichen Machthaber aussprach: sie drängte diese Machthaber dadurch, daß sie ihnen die Nachsuchung ihrer Berechtigung durch göttliche Bestätigung vermittelst der Kirche auferlegte, aber gewaltsam zur Konsolidierung des absoluten, niet- und nagelfesten Staates hin, wie als ob sie gefühlt hätte, solch ein Staat sei ihr zu ihrer eigenen Existenz nötig. So mußte die christliche Kirche ihren eigenen Gegensatz, den Staat, endlich selbst befestigen helfen, um in einer dualistischen Existenz ihre eigene zu ermöglichen: sie ward selbst zu einer politischen Macht, weil sie fühlte, daß sie nur in einer politischen Welt existieren könne. Die christliche Anschauung, die in ihrem innersten Bewußtsein eigentlich den Staat aufhob, ist, zur Kirche verdichtet, nicht nur zur Rechtfertigung des Staates geworden, sondern sie hat sein die freie Individualität zwingendes Bestehen erst zu solch drückender Fühlbarkeit gebracht, daß von nun an der nach außen geleitete Drang der Menschheit sich auf die Befreiung von Kirche und Staat zugleich gerichtet hat, wie zur letzten Verwirklichung der nach ihrem Wesen erschauten Natur der Dinge auch im menschlichen Leben selbst.
Zunächst aber war die Wirklichkeit des Lebens und seiner Erscheinungen selbst in der Weise aufzufinden, wie die Wirklichkeit der natürlichen Erscheinungen durch Entdeckungsreisen und wissenschaftliche Forschungen aufgefunden worden war. Der bis jetzt dahin nach außen gerichtete Drang der Menschen kehrte nun zur Wirklichkeit auch des sozialen Lebens zurück, und zwar mit um so größerem Eifer, als sie, nach äußerster Flucht in aller Welt Enden, des Zwanges dieser sozialen Zustände nie sich entledigen hatten können, sondern überall ihm unterworfen geblieben waren. Das, vor dem man unwillkürlich geflohen war, und dem man in Wahrheit doch nie entfliehen konnte, mußte endlich als in unseren eigenen Herzen und in unserer unwillkürlichen Anschauung vom Wesen der menschlichen Dinge so tief begründet erkannt werden, daß vor ihm eine bloße Flucht nach außen unmöglich war. Aus den unendlichen Räumen der Natur zurückkommend, wo wir die Einbildungen unserer Phantasie vom Wesen der Dinge widerlegt gefunden hatten, suchten wir notgedrungen in einer klaren und deutlichen Beschauung auch der menschlichen Zustände dieselbe Widerlegung für eine eingebildete, unrichtige Ansicht von ihnen, aus der heraus wir selbst sie so genährt und gestaltet haben mußten, als wir zuvor die Erscheinungen der Natur aus unserer irrtümlichen Ansicht uns gestaltet hatten. Der erste und wichtigste Schritt zur Erkenntnis bestand daher darin, die Erscheinungen des Lebens nach ihrer Wirklichkeit zu erfassen, und zwar zunächst ohne alle Beurteilung, sondern mit dem Bemühen, ihren Tatbestand und Zusammenhang uns so ersichtlich und der Wahrheit entsprechend wie möglich vorzuführen. Solange Seefahrer nach vorgefaßten Meinungen die zu entdeckenden Gegenstände sich vorgestellt hatten, mußten sie durch die endlich erkannte Wirklichkeit sich immer enttäuscht sehen; der Erforscher unserer Lebenszustände hielt sich daher zu immer größerer Vorurteilslosigkeit an, um ihrem wirklichen Wesen desto sicherer auf den Grund zu kommen. Die ungetrübteste Anschauungsweise der nackten, unentstellten Wirklichkeit wird von nun an die Richtschnur des Dichters: die Menschen und ihre Zustände wie sie sind, nicht wie man sie zuvor sich einbildete, zu begreifen und darzustellen ist fortan die Aufgabe nicht minder des Geschichtsschreibers als des Künstlers, der die Wirklichkeit des Lebens im gedrängten Bilde sich vorführen will – und Shakespeare war der unübertroffene Meister in dieser Kunst, die ihn die Gestalt seines Dramas erfinden ließ. –
Aber nicht im wirklichen Drama war, wie wir sahen, diese Wirklichkeit des Lebens künstlerisch darzustellen, sondern nur im schildernden, beschreibenden Romane, und zwar aus Gründen, über die uns diese Wirklichkeit einzig selbst belehren kann.
Der Mensch kann nur im Zusammenhange mit den Menschen überhaupt, mit seiner Umgebung, begriffen werden: losgelöst aus diesem mußte gerade der moderne Mensch als das Allerunbegreiflichste erscheinen. Der rastlose innere Zwiespalt dieses Menschen, der zwischen Wollen und Können sich ein Chaos von marternden Vorstellungen geschaffen hatte, die ihn zum Kampfe gegen sich selbst, zur Selbstzernagung und zum leiblosen Aufgehen in den christlichen Tod getrieben hatten – war nicht sowohl, wie das Christentum es versucht hatte, aus der Natur des individuellen Menschen selbst, als aus der Verirrung dieser Natur, in welche sie eine unverständnisvolle Anschauung des Wesens der Gesellschaft gebracht hatte, zu erklären. Jene peinigenden Vorstellungen, welche diese Anschauung trübten, mußten auf die ihnen zugrundeliegende Wirklichkeit zurückgeführt werden, und als diese Wirklichkeit hatte der Forscher den wahren Zustand der menschlichen Gesellschaft zu erkennen. Aber auch dieser Zustand, in welchem tausendfache Berechtigungen durch millionenfache Rechtlosigkeiten sich ernährten und der Mensch vom Menschen durch eingebildete, und nach der Einbildung verwirklichte, unübersteigbare Schranken getrennt war, konnte nicht aus sich selbst begriffen werden; er mußte aus den zu Rechten gewordenen Überlieferungen der Geschichte, aus dem tatsächlichen Inhalte und endlich aus dem Geiste der geschichtlichen Vorfälle, aus den Gesinnungen, die sie hervorriefen, erklärt werden.
Als solche geschichtliche Tatsachen häuften sich vor dem menschensuchenden Blicke des Forschers eine so ungeheure Masse berichteter Vorgänge und Handlungen, daß die überreiche Stoffülle des mittelalterlichen Romanes sich dagegen als nackte Armut darstellte. Und dennoch war diese Masse, die bei näherer Betrachtung sich zu immer vielgliedrigerer Verzweigung ausdehnte, von dem Forscher nach der Wirklichkeit der menschlichen Zustände bis in die weitesten Fernen zu durchdringen, um aus ihrem erdrückenden Wuste das Einzige, um das es sich solcher Mühe verlohnte, den wirklichen unentstellten Menschen nach der Wahrheit seiner Natur zu entdecken. Vor der unübersehbaren Fülle geschichtlicher Realitäten mußte der Einzelne für seinen Forschungseifer sich Grenzen stecken: er mußte aus einem größeren Zusammenhange, den er nur noch andeuten durfte, Momente losreißen, um an ihnen mit größerer Genauigkeit einen engeren Zusammenhang nachzuweisen, ohne welche jede geschichtliche Darstellung überhaupt unverständlich bleibt. Aber auch in den engsten Grenzen ist dieser Zusammenhang, aus dem eine geschichtliche Handlung einzig begreiflich ist, nur durch die umständlichste Vorführung einer Umgebung zu ermöglichen, für die wir irgendwelche Teilnahme wiederum nur empfinden können, wenn sie uns durch belebteste Schilderung zur Anschauung gebracht wird. Der Forscher mußte durch die gefühlte Notwendigkeit dieser Schilderung wieder zum Dichter werden: sein Verfahren konnte aber nur ein dem des dramatischen Dichters geradezu entgegengesetztes sein. Der dramatische Dichter drängt die Umgebung der handelnden Person zur leicht übersehbaren Darstellung zusammen, um die Handlung dieser Person, die er ihrem Inhalte wie ihrer Äußerung nach wiederum zu einer umfassenden Haupthandlung zusammendrängt, aus der wesenhaften Gesinnung des Individuums hervorgehen, in ihr diese Individualität sich zum Abschluß bringen zu lassen, und an ihr das Wesen des Menschen nach einer bestimmten Richtung hin überhaupt darzustellen.
Der Romandichter hingegen hat die Handlung der geschichtlichen Hauptperson aus der äußeren Notwendigkeit der Umgebung begreiflich zu machen: er hat, um den Eindruck geschichtlicher Wahrhaftigkeit auf uns zu bewirken, vor allem den Charakter dieser Umgebung zum Verständnisse zu bringen, weil in ihr alle die Anforderungen begründet liegen, die das Individuum bestimmen, so und gerade nicht anders zu handeln. Im geschichtlichen Roman suchen wir uns den Menschen begreiflich zu machen, den wir vom reinmenschlichen Standpunkte aus eben nicht verstehen können. Wenn wir uns die Handlung eines geschichtlichen Menschen nackt und bloß als rein menschliche vorstellen wollen, so muß sie uns höchst willkürlich, ungereimt und jedenfalls unnatürlich erscheinen, eben weil wir die Gesinnung dieser Handlung nicht aus der rein menschlichen Natur zu rechtfertigen vermögen. Die Gesinnung einer geschichtlichen Person ist die Gesinnung dieses Individuums aber nur insoweit, als sie aus einer gemeingültigen Ansicht vom Wesen der Dinge sich auf ihn überträgt; diese gemeingültige Ansicht, die eine reinmenschliche, jederzeit und an jedem Orte gültige nicht ist, findet ihre Erklärung aber nur wieder in einem rein geschichtlichen Verhältnisse, das sich im Laufe der Zeiten ändert und zu keiner Zeit dasselbe ist. Dieses Verhältnis und seinen Wechsel können wir uns aber wiederum nur erklären, wenn wir die ganze Kette geschichtlicher Vorfälle verfolgen, die in ihrem vielgliederigen Zusammenhange auf ein einfacheres Geschichtsverhältnis so wirkten, daß es gerade diese Gestalt annahm und gerade diese Gesinnung in ihr als gemeingültige Ansicht sich kundgab. Das Individuum, in dessen Handlung diese Gesinnung sich nun äußern soll, muß daher, um seine Gesinnung und Handlung uns begreiflich zu machen, auf das allermindeste Maß individueller Freiheit herabgedrückt werden: seine Gesinnung, soll sie erklärt werden, ist nur aus der Gesinnung seiner Umgebung zu rechtfertigen, und diese wiederum kann sich uns nur in Handlungen deutlich machen, die um so mehr den vollen Raum der künstlerischen Darstellung zu erfüllen haben, als auch die Umgebung nur in vielgliedrigster Verzweigung und Ausdehnung uns verständlich wird.
So kann der Romandichter sich fast lediglich nur mit der Schilderung der Umgebung beschäftigen, und um verständlich zu werden, muß er umständlich sein. Was der Dramatiker für das Verständnis der Umgebung voraussetzt, darauf hat der Romandichter sein ganzes Darstellungsvermögen zu verwenden; die gemeingültige Anschauung, auf die der Dramatiker von vornherein fußt, hat der Romandichter im Laufe seiner Darstellung erst künstlich zu entwickeln und festzustellen. Das Drama geht daher von innen nach außen, der Roman von außen nach innen. Aus einer einfachen, allverständlichen Umgebung erhebt sich der Dramatiker zur immer reicheren Entwickelung der Individualität; aus einer vielfachen, mühsam verständlichten Umgebung sinkt der Romandichter erschöpft zur Schilderung des Individuums herab, das, an sich ärmlich, nur durch jene Umgebung individuell auszustatten war. Im Drama bereichert eine vollständig aus sich entwickelte kernige Individualität die Umgebung; im Roman ernährt die Umgebung den Heißhunger einer leeren Individualität. So deckt uns das Drama den Organismus der Menschheit auf, indem die Individualität sich als Wesen der Gattung darstellt; der Roman aber stellt den Mechanismus der Geschichte dar, nach welchem die Gattung zum Wesen der Individualität gemacht wird. Und so ist auch das Kunstschaffen im Drama ein organisches, im Roman ein mechanisches; denn das Drama gibt uns den Menschen, der Roman erklärt uns den Staatsbürger; jenes zeigt uns die Fülle der menschlichen Natur, dieser entschuldigt ihre Dürftigkeit aus dem Staat: das Drama gestaltet sonach aus innerer Notwendigkeit, der Roman aus äußerlichem Zwange. –
Aber der Roman war kein willkürliches, sondern ein notwendiges Erzeugnis unseres modernen Entwickelungsganges: er gab den redlichen künstlerischen Ausdruck von Lebenszuständen, die künstlerisch nur durch ihn, nicht durch das Drama darzustellen waren. Der Roman ging auf Darstellung der Wirklichkeit aus, und sein Bemühen war so echt, daß er vor dieser Wirklichkeit sich als Kunstwerk endlich selbst vernichtete.
Seine höchste Blüte als Kunstform erreichte der Roman, als er vom Standpunkte rein künstlerischer Notwendigkeit aus das Verfahren des Mythos in der Bildung von Typen sich zu eigen machte. Wie der mittelalterliche Roman mannigfaltige Erscheinungen fremder Völker, Länder und Klimaten zu verdichteten, wunderhaften Gestalten zusammendrängte, so suchte der neuere historische Roman die mannigfaltigsten Äußerungen des Geistes ganzer Geschichtsperioden als Kundgebungen des Wesens eines besonderen geschichtlichen Individuums darzustellen. Hierin konnte den Romandichter die übliche Art der Geschichtsanschauung nur unterstützen. Um das Übermaß geschichtlicher Tatsachen vor unserem Blicke übersichtlich zu ordnen, pflegen wir gemeinhin nur die hervorragendsten Persönlichkeiten zu beachten, und in ihnen den Geist einer Periode als verkörpert anzusehen. Als solche Persönlichkeiten hat uns die chronistische Geschichtskunde meist nur die Herrscher überliefert, sie, aus deren Willen und Anordnung geschichtliche Unternehmungen und staatliche Einrichtungen hervorgingen. Die unklare Gesinnung und widerspruchvolle Handlungsweise dieser Häupter, vor allem aber auch der Umstand, daß sie ihre angestrebten Zwecke in Wirklichkeit nie erreichten, hat uns zunächst den Geist der Geschichte dahin mißverstehen lassen, daß wir die Willkür in den Handlungen der Herrschenden aus höheren, unerforschlichen, den Gang und das Ziel der Geschichte lenkenden und vorausbestimmenden Einflüssen erklären zu müssen glaubten. Jene Faktoren der Geschichte schienen uns willenlose, oder in ihrem Willen sich selbst widersprechende Werkzeuge in den Händen einer außermenschlichen, göttlichen Macht. Die endlichen Ergebnisse der Geschichte setzten wir für den Grund ihrer Bewegung, oder für das Ziel, dem ein höherer Geist in ihr vom Beginn herein mit Bewußtsein zugestrebt hätte. Aus dieser Ansicht glaubten die Ausleger und Darsteller der Geschichte sich nun auch berechtigt, die willkürlich erscheinenden Handlungen der herrschenden Hauptpersonen der Geschichte aus Gesinnungen, in denen sich das untergelegte Bewußtsein eines leitenden Weltgeistes spiegelte, herzuleiten: somit zerstörten sie die unbewußte Notwendigkeit ihrer Handlungsmotive, und als sie ihre Handlungen vollkommen gerechtfertigt wähnten, stellten sie sie erst als vollständig willkürlich dar. – Durch dieses Verfahren, bei welchem die geschichtlichen Handlungen durch willkürliche Kombination verändert und entstellt werden durften, gelang es dem Romane, einzig Typen zu erfinden und als Kunstwerk sich zu einer gewissen Höhe zu schwingen, auf welcher er von neuem zur Dramatisierung geeignet erscheinen mochte. Die neueste Zeit hat viel solcher historischen Dramen geliefert, und die Freude am Geschichtemachen zugunsten der dramatischen Form ist gegenwärtig noch so groß, daß unsere kunstfertigen historischen Theatertaschenspieler das Geheimnis der Geschichte selbst zum Vorteil der Bühnenstückmacherei sich erschlossen wähnen. Sie glauben sich um so gerechtfertigter in ihrem Verfahren, als sie es selbst ermöglicht haben, die vollendetste Einheit von Ort und Zeit der dramatischen Darstellung der Historie aufzulegen: sie sind in das Innerste des ganzen Geschichtsmechanismus eingedrungen, und haben als sein Herz das Vorzimmer des Fürsten aufgefunden, in welchem zwischen Lever und Souper Mensch und Staat sich gegenseitig in Ordnung bringen. Daß aber sowohl diese künstlerische Einheit wie diese Historie erlogen sind, etwas Unwahres aber auch nur von erlogener Wirkung sein kann, das hat sich am heutigen historischen Drama deutlich herausgestellt. Daß die wahre Geschichte kein Stoff für das Drama ist, das wissen wir nun aber auch, da dieses historische Drama uns deutlich gemacht hat, daß selbst der Roman nur durch Versündigung an der Wahrheit der Geschichte sich zu der ihm erreichbarsten Höhe als Kunstform aufschwingen konnte.
Von dieser Höhe ist nun der Roman wieder herabgestiegen, um, mit Aufgebung der von ihm erzielten Reinheit als Kunstwerk, zur treuen Darstellung des geschichtlichen Lebens sich anzulassen.
Die scheinbare Willkür in den Handlungen geschichtlicher Hauptpersonen konnte zur Ehre der Menschheit nur dadurch erklärt werden, daß der Boden aufgefunden wurde, aus dem auch sie als notwendig und unwillkürlich hervorwuchsen. Hatte man diese Notwendigkeit zuvor in der Höhe, über den geschichtlichen Hauptpersonen schwebend, und sie nach transzendenter Weisheit als Werkzeuge verbrauchend, sich vorstellen zu müssen geglaubt, und war man endlich von der künstlerischen wie wissenschaftlichen Unfruchtbarkeit dieser Anschauung überzeugt worden, so suchten Denker und Dichter nun diese erklärende Notwendigkeit in der Tiefe, in der Grundlage aller Geschichte, aufzufinden. Der Boden der Geschichte ist die soziale Natur des Menschen: aus dem Bedürfnisse des Individuums, sich mit den Wesen seiner Gattung zu vereinigen, um in der Gesellschaft seine Fähigkeiten zur höchsten Geltung zu bringen, erwächst die ganze Bewegung der Geschichte. Die geschichtlichen Erscheinungen sind die äußersten Äußerungen der inneren Bewegung, deren Kern die soziale Natur des Menschen ist. Die nährende Kraft dieser Natur ist aber das Individuum, das nur in der Befriedigung seines unwillkürlichen Liebesverlangens seinen Glückseligkeitstrieb stillen kann. Aus den Äußerungen dieser Natur nun auf ihren Kern zu schließen – aus dem Tode der vollendeten Tatsache auf das innere Leben des sozialen Triebes der Menschen, aus welchem jene als fertige, reife und sterbende Frucht hervorgewachsen war, zurückzugehen –, darin bekundete sich der Entwickelungsgang der neuen Zeit. – Was der Denker nach seinem Wesen erfaßt, sucht der Künstler in seiner Erscheinung darzustellen: die Erscheinungen der Gesellschaft, die auch er für den Boden der Geschichte erkannt hatte, strebte der Dichter sich in einem Zusammenhange vorzuführen, aus dem er sie zu erklären vermochte. Als den erkenntlichsten Zusammenhang der Erscheinungen der Gesellschaft erfaßte er die gewohnte Umgebung des bürgerlichen Lebens, um in der Schilderung seiner Zustände sich den Menschen zu erklären, der, von der Teilnahme an den Äußerungen der Geschichte entfernt, ihm doch diese Äußerungen zu bedingen schien. Diese bürgerliche Gesellschaft war aber – wie ich mich zuvor bereits ausdrückte – nur ein Niederschlag der von oben herab auf sie drückenden Geschichte, wenigstens ihrer äußeren Form nach. Seit der Konsolidierung des modernen Staates beginnt allerdings die neue Lebensregung der Welt von der bürgerlichen Gesellschaft auszugehen: die lebendige Energie der geschichtlichen Erscheinungen stumpft sich ganz in dem Grade ab, als die bürgerliche Gesellschaft im Staate ihre Forderungen zur Geltung zu bringen sucht. Gerade durch ihre innere Teilnahmlosigkeit an den geschichtlichen Erscheinungen, durch ihr träges, interesseloses Zuschauen, offenbart sie uns aber den Druck, mit dem sie auf ihr lasten, und gegen den sie sich eben mit ergebenem Widerwillen verhält. Unsere bürgerliche Gesellschaft ist insofern kein lebensvoller Organismus, als sie von oben herab, aus den rückwirkenden Äußerungen der Geschichte, in ihrer Gestaltung beeinflußt ist. Die Physiognomie der bürgerlichen Gesellschaft ist die abgestumpfte, entstellte, bis zur Ausdruckslosigkeit geschwächte Physiognomie der Geschichte: was diese durch lebendige Bewegung im Atem der Zeit ausdrückt, gibt jene durch träge Ausbreitung im Raume. Diese Physiognomie ist aber die Larve der bürgerlichen Gesellschaft, unter der sie dem menschensuchenden Blicke diesen Menschen eben noch verbirgt: der künstlerische Schilderer dieser Gesellschaft konnte nur noch die Züge dieser Larve, nicht aber die des wahren Menschen beschreiben; je getreuer diese Beschreibung war, desto mehr mußte das Kunstwerk an lebendiger Ausdruckskraft verlieren.
Ward nun auch diese Larve aufgehoben, um unter ihr nach den ungeschminkten Zügen der menschlichen Gesellschaft zu forschen, so mußte sich dem Auge zunächst ein Chaos von Unschönheit und Formlosigkeit darbieten. Nur im Gewande der Geschichte hatte der durch diese Geschichte erzogene, an seiner wahren gesunden Natur verdorbene und verkrüppelte Mensch ein für den Künstler erträgliches Aussehen erhalten. Dies Gewand von ihm abgezogen, ersahen wir zu unserem Entsetzen in ihm eine verschrumpfte, ekelerregende Gestalt, die in nichts dem wahren Menschen, wie wir aus der Fülle seines natürlichen Wesens ihn in Gedanken uns vorgestellt hatten, mehr ähnlich sah als in dem schmerzlichen Leidensblicke des sterbenden Kranken – diesem Blicke, aus dem das Christentum seine schwärmerische Begeisterung gesogen hatte. Von diesem Anblicke wandte sich der Kunstsehnsüchtige ab, um – wie Schiller – im Reiche des Gedankens sich Schönheit zu träumen, oder – wie Goethe – ihn mit dem Gewande künstlerischer Schönheit, so gut es auf ihn passen mochte, sich zu verhüllen. Sein Roman »Wilhelm Meister« war ein solches Gewand, durch das Goethe sich den Anblick der Wirklichkeit erträglich zu machen suchte: es entsprach der Wirklichkeit des nackten modernen Menschen insoweit, als dieser selbst als nach künstlerisch schöner Form strebend gedacht und dargestellt wurde.
Bis dahin war für das künstlerische Auge, wie nicht minder für den Blick des Geschichtsforschers, die menschliche Gestalt in die Tracht der Historie oder in die Uniform des Staates verhüllt gewesen: über diese Tracht hatte phantasiert, über diese Form disputiert werden können. Dichter und Denker hatten eine ungeheure Auswahl beliebiger Gestaltungen vor sich, unter denen sie je nach künstlerischem Verlangen oder willkürlicher Annahme den Menschen sich vorstellen konnten, den sie immer nur noch in jenem Gewande begriffen, das von außen her ihm umgelegt war. Noch die Philosophie hatte sich durch dieses Gewand über die wahre Natur des Menschen beirren lassen; der historische Romandichter war – in einem gewissen Sinne – aber eigentlich nur Kostümzeichner gewesen. Mit der Aufdeckung der wirklichen Gestalt der modernen Gesellschaft nahm nun der Roman eine praktischere Stellung an: Der Dichter konnte jetzt nicht mehr künstlerisch phantasieren, wo er die nackte Wirklichkeit vor sich enthüllt hatte, die den Beschauer mit Grauen, Mitleiden und Zorn erfüllte. Er brauchte aber nur diese Wirklichkeit darzustellen, ohne sich über sie belügen zu wollen – er durfte nur Mitleiden empfinden, so trat auch seine zürnende Kraft in das Leben. Er konnte noch dichten, als er die furchtbare Unsittlichkeit unserer Gesellschaft nur noch darzustellen bemüht war: der tiefe Unmut, der ihm aus seiner eigenen Darstellung erwachsen mußte, trieb ihn aber aus einem beschaulichen dichterischen Behagen, in dem er sich immer weniger mehr zu täuschen vermochte, heraus in die Wirklichkeit selbst, um in ihr für das erkannte wirkliche Bedürfnis der menschlichen Gesellschaft zu streiten. Auf ihrem Wege zur praktischen Wirklichkeit streifte auch die Romandichtung immer mehr ihr künstlerisches Gewand ab: die als Kunstform ihr mögliche Einheit mußte sich – um durch Verständlichkeit zu wirken – in die praktische Vielheit der Tageserscheinungen selbst zersetzen. Ein künstlerisches Band war da unmöglich, wo alles nach Auflösung rang, wo das zwingende Band des historischen Staates zerrissen werden sollte. Die Romandichtung ward Journalismus, ihr Inhalt zersprengte sich in politische Artikel; ihre Kunst ward zur Rhetorik der Tribüne, der Atem ihrer Rede zum Aufruf an das Volk.
So ist die Kunst des Dichters zur Politik geworden: Keiner kann dichten, ohne zu politisieren. Nie wird aber der Politiker Dichter werden, als wenn er eben aufhört, Politiker zu sein: in einer rein politischen Welt nicht Politiker zu sein heißt aber soviel, als gar nicht existieren; wer sich jetzt noch unter der Politik hinwegstiehlt, belügt sich nur um sein eigenes Dasein. Der Dichter kann nicht eher wieder vorhanden sein, als bis wir keine Politik mehr haben.
Die Politik ist aber das Geheimnis unserer Geschichte und der aus ihr hervorgegangenen Zustände. Napoleon sprach es aus. Er sagte zu Goethe: Die Stelle des Fatums in der antiken Welt vertrete seit der Herrschaft der Römer die Politik. – Verstehen wir den Ausspruch des Büßers von St. Helena wohl! In ihm faßt sich in Kürze die ganze Wahrheit dessen zusammen, was wir zu begreifen haben, um auch über Inhalt und Form des Dramas in das reine zu kommen.
[ III ]
Das Fatum der Griechen ist die innere Naturnotwendigkeit, aus der sich der Grieche – weil er sie nicht verstand – in den willkürlichen politischen Staat zu befreien suchte. Unser Fatum ist der willkürliche politische Staat, der sich uns als äußere Notwendigkeit für das Bestehen der Gesellschaft darstellt, und aus dem wir uns in die Naturnotwendigkeit zu befreien suchen, weil wir sie verstehen gelernt und als die Bedingung unseres Daseins und seiner Gestaltungen erkannt haben.
Die Naturnotwendigkeit äußert sich am stärksten und unüberwindlichsten im physischen Lebenstriebe des Individuums – unverständlicher und willkürlicher deutbar aber in der sittlichen Anschauung der Gesellschaft, aus welcher der unwillkürliche Trieb des Individuums im Staate endlich beeinflußt oder beurteilt wird. Der Lebenstrieb des Individuums äußert sich immer neu und unmittelbar, das Wesen der Gesellschaft ist aber die Gewohnheit und ihre Anschauung eine vermittelte. Die Anschauung der Gesellschaft, sobald sie das Wesen des Individuums und ihre Entstehung aus diesem Wesen noch nicht vollkommen begreift, ist daher eine beschränkende und hemmende, und ganz in dem Grade wird sie immer tyrannischer, als das belebende und neuernde Wesen des Individuums aus unwillkürlichem Drange gegen die Gewohnheit ankämpft. Diesen Drang mißverstand der Grieche, der ihn vom Standpunkte der sittlichen Gewohnheit aus als störend erkannte, nun dahin, daß er ihn aus einem Zusammenhange herleitete, in welchem das handelnde Individuum als unter einem Einflusse stehend gedacht wurde, welcher ihn seiner Freiheit im Handeln, nach der er das sittlich Gewohnte getan haben würde, beraubte. Da das Individuum durch seine gegen die sittliche Gewohnheit verübte Tat sich vor der Gesellschaft verdarb, mit dem Bewußtsein der Tat aber insoweit wieder in die Gesellschaft eintrat, als er sich aus ihrem Bewußtsein selbst verdammte, so erschien der Akt unbewußter Versündigung einzig aus einem Fluche erklärbar, der auf ihm ohne sein persönliches Verschulden ruhe. Dieser Fluch, der im Mythos als göttliche Strafe für eine Urfreveltat und auf dem besonderen Geschlechte bis zu dessen Untergange haftend dargestellt ward, ist in Wahrheit aber nichts anderes als die so versinnlichte Macht der Unwillkür im unbewußten, naturnotwendigen Handeln des Individuums, wogegen die Gesellschaft als das Bewußte, Willkürliche, in Wahrheit zu Erklärende und zu Entschuldigende erscheint. Erklärt und entschuldigt wird sie aber nur, wenn ihre Anschauung ebenfalls als eine unwillkürliche und ihr Bewußtsein als auf einer irrtümlichen Anschauung vom Wesen des Individuums begründet erkannt wird.
Machen wir uns dieses Verhältnis aus dem sonst so bezeichnungsvollen Mythos vom Oidipus klar.
Oidipus hatte einen Mann, der ihn durch eine Beleidigung gereizt und endlich zur Notwehr gedrängt, erschlagen. Hierin fand die öffentliche Meinung nichts Verdammungswürdiges, denn dergleichen Fälle trugen sich häufig zu und erklärten sich aus der allen begreiflichen Notwendigkeit der Abwehr eines Angriffes. Noch weniger beging Oidipus einen Frevel aber darin, daß er zum Lohne einer dem Lande erwiesenen Wohltat die verwitwete Königin desselben zum Weibe nahm.
Aber es entdeckte sich, daß der Erschlagene nicht nur der Gemahl dieser Königin, sondern auch der Vater – und somit sein hinterlassenes Weib die Mutter des Oidipus waren.
Kindliche Ehrfurcht vor dem Vater, Liebe zu ihm, und der Eifer der Liebe, im Alter ihn zu pflegen und zu schützen, waren dem Menschen so unwillkürliche Gefühle, und auf diese Gefühle begründete sich so ganz von selbst die wesentlichste Grundanschauung der gerade durch sie zur Gesellschaft verbundenen Menschen, daß eine Tat, welche diese Gefühle am empfindlichsten verletzte, ihnen unbegreiflich und verdammungswürdig vorkommen mußte. Diese Gefühle waren aber so stark und unüberwindlich, daß selbst die Rücksicht, wie jener Vater zuerst seinem Sohne nach dem Leben trachtete, sie nicht bewältigen konnte: in dem Tode des Laios ward wohl eine Strafe für dieses sein älteres Verbrechen erkannt, so daß wir in der Tat gegen seinen Untergang selbst unempfindlich sind; aber dieses Verhältnis war dennoch nicht vermögend, uns irgendwie über die Tat des Oidipus zu beruhigen, die sich schließlich immer nur als ein Vatermord kundgab.
Noch heftiger steigerte sich aber der öffentliche Widerwille gegen den Umstand, daß Oidipus seiner eigenen Mutter sich vermählt und Kinder mit ihr gezeugt hatte. – Im Familienleben, der natürlichsten – aber beschränktesten Grundlage der Gesellschaft, hatte es sich ganz von selbst herausgestellt, daß zwischen Eltern und Kindern, sowie zwischen den Geschwistern selbst, eine ganz andere Zuneigung sich entwickelt, als sie in der heftigen, plötzlichen Erregung der Geschlechtsliebe sich kundgibt. In der Familie werden die natürlichen Banden zwischen Erzeugern und Erzeugten zu den Banden der Gewohnheit, und nur aus der Gewohnheit entwickelt sich wiederum eine natürliche Neigung der Geschwister zueinander. Der erste Reiz der Geschlechtsliebe wird der Jugend aber aus einer ungewohnten, fertig aus dem Leben ihr entgegentretenden Erscheinung zugeführt; das Überwältigende dieses Reizes ist so groß, daß er das Familienglied eben aus der gewohnten Umgebung der Familie, in der dieser Reiz sich nie ihm darbot, herauszieht und zum Umgange mit dem Ungewohnten fortreißt. Die Geschlechtsliebe ist die Aufwieglerin, welche die engen Schranken der Familie durchbricht, um sie selbst zur größeren menschlichen Gesellschaft zu erweitern. Die Anschauung vom Wesen der Familienliebe und dem ihm entgegengesetzten der Geschlechtsliebe ist daher eine unwillkürliche, der Natur der Sache selbst entnommene: sie beruht auf der Erfahrung und der Gewohnheit und ist daher eine starke, mit unüberwindlichen Gefühlen uns einnehmende.
Oidipus, der seine Mutter ehelichte und mit ihr Kinder zeugte, ist eine Erscheinung, die uns mit Grauen und Abscheu erfüllt, weil sie unsere gewohnten Beziehungen zu unserer Mutter und die durch sie gebildeten Ansichten unversöhnlich verletzt. –
Waren nun diese zu sittlichen Begriffen erwachsenen Ansichten nur deshalb von so großer Stärke, weil sie unwillkürlich aus dem Gefühle der menschlichen Natur hervorgingen, so fragen wir nun: Verging sich Oidipus gegen die menschliche Natur, als er seiner Mutter sich vermählte? – Ganz gewiß nicht. Die verletzte Natur hätte sich sonst dadurch offenbaren müssen, daß sie aus dieser Ehe keine Kinder entstehen ließ; gerade die Natur zeigte sich aber ganz willig: Jokaste und Oidipus, die sich als zwei ungewohnte Erscheinungen begegneten, liebten sich, und fanden sich erst von dem Augenblicke an in ihrer Liebe gestört, als ihnen von außen bekanntgemacht wurde, daß sie Mutter und Sohn seien. Oidipus und Jokaste wußten nicht, in welcher sozialen Beziehung sie zueinander standen: sie hatten unbewußt nach der natürlichen Unwillkür des reinmenschlichen Individuums gehandelt; ihrer Verbindung war eine Bereicherung der menschlichen Gesellschaft in zwei kräftigen Söhnen und zwei edlen Töchtern entsprossen, auf welchen nun, wie auf den Eltern, der unabwendbare Fluch dieser Gesellschaft lastete. Das betroffene Paar, das mit seinem Bewußtsein innerhalb der sittlichen Gesellschaft stand, verurteilte sich selbst, als es seines unbewußten Frevels gegen die Sittlichkeit inne ward: dadurch, daß es sich um seiner Büßung willen vernichtete, bewies es die Stärke des sozialen Ekels gegen seine Handlung, der ihm schon vor der Handlung durch Gewohnheit zu eigen war; dadurch, daß es die Handlung dennoch trotz des sozialen Bewußtseins ausübte, bezeugte es aber die noch bei weitem größere und unwiderstehlichere Gewalt der unbewußten individuellen menschlichen Natur.
Wie bedeutsam ist es nun, daß gerade dieser Oidipus das Rätsel der Sphinx gelöst hatte! Er sprach im voraus seine Rechtfertigung und seine Verdammung zugleich selbst aus, da er als den Kern dieses Rätsels den Menschen bezeichnete. Aus dem halbtierischen Leibe der Sphinx trat ihm zunächst das menschliche Individuum nach seiner Naturunterworfenheit entgegen: als das Halbtier aus seiner öden Felseneinsamkeit sich selbstzerschmetternd in den Abgrund gestürzt hatte, wandte sich der kluge Rätsellöser zu den Städten der Menschen, um den ganzen, den sozialen Menschen, aus seinem eigenen Untergange erraten zu lassen. Als er sich die leuchtenden Augen ausstach, die einem despotischen Beleidiger Zorn zugeflammt und einem edlen Weibe Liebe zugestrahlt hatten, ohne zu ersehen, daß jener sein Vater und diese seine Mutter war, da stürzte er sich zu der zerschmetterten Sphinx hinab, deren Rätsel er nun als noch ungelöst erkennen mußte. – Erst wir haben dieses Rätsel zu lösen, und zwar dadurch, daß wir die Unwillkür des Individuums aus der Gesellschaft, deren höchster, immer erneuernder und belebender Reichtum sie ist, selbst rechtfertigen. –
Zunächst laßt uns aber noch den weiteren Verlauf der Oidipus-Sage berühren und sehen, wie sich die Gesellschaft gebarte, und wohin sich ihr sittliches Bewußtsein verirrte! –
Aus den Zerwürfnissen der Söhne des Oidipus erwuchs Kreon, dem Bruder der Jokaste, die Herrschaft über Theben. Als Herr befahl er, der Leichnam des einen der Söhne, Polyneikes, der mit dem andern, Eteokles, zugleich im Brüderzweikampfe gefallen war, solle unbegraben den Winden und Vögeln preisgegeben sein, während der des Eteokles in feierlichen Ehren bestattet wurde: wer dem Gebote zuwiderhandle, solle selbst lebendig begraben werden. Antigone, beider Brüder Schwester – sie, die den blinden Vater in das Elend begleitet hatte – trotzte mit vollem Bewußtsein dem Gebote, bestattete des geächteten Bruders Leichnam und erlitt die vorausbestimmte Strafe. – Hier sehen wir den Staat, der unmerklich aus der Gesellschaft hervorgewachsen war, aus der Gewohnheit ihrer Anschauung sich genährt hatte und zum Vertreter dieser Gewohnheit insofern wurde, daß er eben nur sie, die abstrakte Gewohnheit, deren Kern die Furcht und der Widerwille vor dem Ungewohnten ist, vertrat. Mit der Kraft dieser Gewohnheit ausgestattet, wendet der Staat sich nun vernichtend gegen die Gesellschaft selbst zurück, indem er die natürliche Nahrung ihres Daseins in den unwillkürlichen und heiligsten sozialen Gefühlen ihr verwehrt. Der vorliegende Mythos zeigt uns genau, wie sich dies zutrug: betrachten wir ihn nur näher.
Welchen Vorteil hatte wohl Kreon von dem Erlasse des grausamen Gebotes? Und was vermochte ihn, es für möglich zu halten, daß ein solches Gebot nicht durch die allgemeine Entrüstung zurückgewiesen werden müßte? – Eteokles und Polyneikes hatten nach dem Untergange des Vaters beschlossen, ihr Erbe, die Herrschaft über Theben, so unter sich zu teilen, daß sie abwechselnd es verwalteten. Eteokles, der das Erbe zuerst genoß, verweigerte, als Polyneikes aus freiwilliger Verbannung zur festgesetzten Zeit zurückkam, um nun auch für seine Frist das Erbe zu genießen, seinem Bruder die Übergabe. Somit war er eidbrüchig. Bestrafte ihn dafür die eidheiligende Gesellschaft? Nein; sie unterstützte ihn in seinem Vorhaben, das sich auf einen Eidbruch gründete. Hatte man die Scheu vor der Heiligkeit des Eides bereits verloren? Nein; im Gegenteile: man klagte zu den Göttern um des Übels des Eidbruches, denn man fürchtete, er würde gerächt werden. Trotz des bösen Gewissens ließen sich aber die Bürger Thebens Eteokles Verfahren gefallen, weil der Gegenstand des Eides, der von den Brüdern beschworene Vertrag, ihnen für jetzt bei weitem lästiger schien als die Folgen eines Eidbruches, die durch Opfer und Spenden an die Götter vielleicht beseitigt werden konnten. Was ihnen nicht gefiel, war der Wechsel der Herrschaft, die beständige Neuerung, weil die Gewohnheit bereits zur wirklichen Gesetzgeberin geworden war. Auch beurkundete sich in dieser Parteinahme der Bürger für Eteokles ein praktischer Instinkt vom Wesen des Eigentumes, das jeder gern allein genießen, mit einem andern aber nicht teilen wollte: jeder Bürger, der im Eigentume die Gewährleistung gewohnter Ruhe erkannte, war ganz von selbst der Mitschuldige der unbrüderlichen Tat des obersten Eigentümers Eteokles. Die Macht der eigennützigen Gewohnheit unterstützte also Eteokles, und gegen sie kämpfte nun der verratene Polyneikes mit jugendlicher Hitze an. In ihm lebte nur das Gefühl einer rächenswürdigen Kränkung: er sammelte ein Heer gleichfühlender, heldenhafter Genossen, zog vor die eidbruchschützende Stadt und bedrängte sie, um den erbräuberischen Bruder aus ihr zu verjagen. Diese von einem durchaus gerechtfertigten Unwillen eingegebene Handlungsweise erschien den Bürgern Thebens nun wieder als ein ungeheurer Frevel; denn Polyneikes, als er seine Vaterstadt bekriegte, war unbedingt ein sehr schlechter Patriot. Die Freunde des Polyneikes waren aus allen Volksstämmen zusammengetreten: sie machte ein rein menschliches Interesse der Sache des Polyneikes geneigt, und sie vertraten somit das Reinmenschliche, die Gesellschaft in ihrem weitesten und natürlichsten Sinne, gegenüber einer beschränkten, engherzigen, eigensüchtigen Gesellschaft, die unvermerkt vor ihrem Andrängen zum knöchernen Staate zusammenschrumpfte. – Um den langen Krieg zu enden, forderten sich die Brüder zum Zweikampf: Beide fielen auf der Walstatt. –
Der kluge Kreon überschaute nun den Zusammenhang der Vorfälle und erkannte aus ihm das Wesen der öffentlichen Meinung, als deren Kern er die Gewohnheit, die Sorge und den Widerwillen vor der Neuerung erfaßte. Die sittliche Ansicht vom Wesen der Gesellschaft, die in dem großherzigen Oidipus noch so stark war, daß er sich, aus Ekel vor seinem unbewußten Frevel gegen sie, selbst vernichtet hatte, verlor ihre Kraft ganz in dem Grade, als das sie bedingende Reinmenschliche in Widerstreit mit dem stärksten Interesse der Gesellschaft, der absoluten Gewohnheit, d. h. dem gemeinsamen Eigennutz, kam. Dieses sittliche Bewußtsein trennte sich überall da, wo es mit der Praxis der Gesellschaft in Widerstreit geriet, von dieser ab und setzte sich als Religion fest, wogegen sich die praktische Gesellschaft zum Staate gestaltete. In der Religion blieb die Sittlichkeit, die vorher in der Gesellschaft etwas Warmes, Lebendiges gewesen war, nur noch etwas Gedachtes, Gewünschtes, aber nicht mehr Ausführbares: im Staate handelte man dagegen nach praktischem Ermessen des Nutzens, und wurde hierbei das sittliche Gewissen verletzt, so beschwichtigte man dies durch staatsunschädliche Religionsübungen. Der große Vorteil war hierbei, daß man in der Religion wie im Staate, jemand gewann, auf den man seine Sünden abwälzen konnte: die Verbrechen des Staates mußte der Fürst ausbaden, die Verstöße gegen die religiöse Sittlichkeit hatten aber die Götter zu verantworten. – Eteokles war der praktische Sündenbock des neuen Staates gewesen: die Folgen seines Eidbruches hatten die gütigen Götter auf ihn zu leiten gehabt; die Stabilität des Staates aber sollten (so hofften sie wenigstens, wenn es leider auch nie geschah!) die wackern Bürger Thebens für sich schmecken. Wer sich wieder zu solchem Sündenbocke hergeben wollte, war ihnen daher willkommen; und das war der kluge Kreon, der mit den Göttern sich wohl abzufinden wußte, nicht aber der hitzige Polyneikes, der um eines einfachen Eidbruches willen so wild an die Tore der guten Stadt klopfte.
Kreon erkannte aber auch aus der eigentlichen Ursache des tragischen Schicksals der Laiden, wie grundnachsichtig die Thebäer gegen wirkliche Frevel seien, wenn diese nur die ruhige bürgerliche Gewohnheit nicht störten. Dem Vater Laios war von der Pythia verkündigt worden, ein ihm zu gebärender Sohn würde ihn dereinst umbringen. Nur um kein öffentliches Ärgernis zu bereiten, gab der ehrwürdige Vater heimlich den Befehl, das neugeborene Knäblein in irgendwelchen Waldecke zu töten, und bewies sich hierin höchst rücksichtsvoll gegen das Sittlichkeitsgefühl der Bürger Thebens, die, wäre der Mordbefehl öffentlich vor ihren Augen ausgeführt worden, nur den Ärger dieses Skandals und die Aufgabe, ungewöhnlich viel zu den Göttern zu beten, keinesweges aber den nötigen Abscheu empfunden haben würden, der ihnen die praktische Verhinderung der Tat und die Strafe des bewußten Sohnesmörders eingegeben hätte; denn die Kraft des Abscheus wäre ihnen sogleich durch die Rücksicht erstickt worden, daß durch diese Tat ja die Ruhe im Orte gewährleistet war, die ein – in Zukunft jedenfalls ungeratener – Sohn gestört haben müßte. Kreon hatte bemerkt, daß bei Entdeckung der unmenschlichen Tat des Laios diese Tat selbst eigentlich keine rechte Entrüstung hervorgebracht hatte, ja, daß es allen gewiß lieber gewesen wäre, wenn der Mord wirklich vollzogen worden, denn dann wäre ja alles gut gewesen, und in Theben hätte es keinen so schrecklichen Skandal gegeben, der die Bürger auf lange Jahre in so große Beunruhigung stürzte. Ruhe und Ordnung, selbst um den Preis des niederträchtigsten Verbrechens gegen die menschliche Natur und selbst die gewohnte Sittlichkeit – um den Preis des bewußten, absichtlichen, von der unväterlichsten Eigensucht eingegebenen Mordes eines Kindes durch seinen Vater –, waren jedenfalls berücksichtigungswerter als die natürlichste menschliche Empfindung, die dem Vater sagt, daß er sich seinen Kindern, nicht aber diese sich aufzuopfern habe. – Was war nun diese Gesellschaft, deren natürliches Sittlichkeitsgefühl ihre Grundlage gewesen war, geworden? Der schnurgerade Gegensatz ihrer eigenen Grundlage: die Vertreterin der Unsittlichkeit und Heuchelei. Das Gift, das sie verdarb, war aber – die Gewohnheit. Der Hang zur Gewohnheit, zur unbedingten Ruhe, verleitete sie, den Quell zu verstopfen, aus dem sie sich ewig frisch und gesund hätte erhalten können; und dieser Quell war das freie, aus seinem Wesen sich selbst bestimmende Individuum. In ihrer höchsten Verderbtheit ist der Gesellschaft die Sittlichkeit, d. h. das wahrhaft Menschliche, auch nur durch das Individuum wieder zugeführt worden, das nach dem unwillkürlichen Drange der Naturnotwendigkeit ihr gegenüber handelte und sie moralisch verneinte. Auch diese schöne Rechtfertigung der wirklichen menschlichen Natur enthält noch in deutlichsten Zügen der weltgeschichtliche Mythos, den wir vor uns haben.
Kreon war Herrscher geworden: in ihm erkannte das Volk den richtigen Nachfolger des Laios und Eteokles, und er bestätigte dies vor den Augen der Bürger, als er den Leichnam des unpatriotischen Polyneikes zur entsetzlichen Schmach der Unbeerdigung, seine Seele somit zu ewiger Ruhelosigkeit verurteilte. Dies war ein Gebot von höchster politischer Weisheit: dadurch befestigte Kreon seine Macht, indem er den Eteokles, der durch seinen Eidbruch die Ruhe der Bürger gewährleistet hatte, rechtfertigte und somit deutlich zu verstehen gab, daß auch er gewillt sei, durch jedes auf sich allein zu nehmende Verbrechen gegen die wahrhafte menschliche Sittlichkeit das Bestehen des Staates in Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. Durch sein Gebot gab er sogleich den bestimmtesten und kräftigsten Beweis seiner staatsfreundlichen Gesinnung: er schlug der Menschlichkeit ins Angesicht und rief – es lebe der Staat! – In diesem Staate gab es nur ein einsam trauerndes Herz, in das sich die Menschlichkeit noch geflüchtet hatte – das war das Herz einer süßen Jungfrau, aus dessen Grunde die Blume der Liebe zu allgewaltiger Schönheit erwuchs.
Antigone verstand nichts von der Politik – sie liebte. – Suchte sie den Polyneikes zu verteidigen? Forschte sie nach Rücksichten, Beziehungen, Rechtsstandpunkten, die seine Handlungsweise erklären, entschuldigen oder rechtfertigen konnten? – Nein – sie liebte ihn. – Liebte sie ihn, weil er ihr Bruder war? – War nicht Eteokles auch ihr Bruder – waren nicht Oidipus und Jokaste ihre Eltern? Konnte sie nach den furchtbaren Erlebnissen anders als mit Entsetzen an ihre Familienbande denken? Sollte sie aus ihnen, den gräßlich zerrissenen Banden der nächsten Natur, Kraft zur Liebe gewinnen können? – Nein, sie liebte Polyneikes, weil er unglücklich war und nur die höchste Kraft der Liebe ihn von seinem Fluche befreien konnte. Was nun war diese Liebe, die nicht Geschlechtsliebe, nicht Eltern- und Kindesliebe, nicht Geschwisterliebe war? – Sie war die höchste Blüte von allen. Aus den Trümmern der Geschlechts-, Eltern- und Geschwisterliebe, die die Gesellschaft verleugnet und der Staat verneint hatte, wuchs, von den unvertilgbaren Keimen aller jener Liebe genährt, die reichste Blume reiner Menschenliebe hervor.
Antigones Liebe war eine vollbewußte. Sie wußte, was sie tat – sie wußte aber auch, daß sie es tun mußte, daß sie keine Wahl hatte und nach der Notwendigkeit der Liebe handeln mußte; sie wußte, daß sie dieser unbewußten zwingenden Notwendigkeit der Selbstvernichtung aus Sympathie zu gehorchen hatte; und in diesem Bewußtsein des Unbewußten war sie der vollendete Mensch, die Liebe in ihrer höchsten Fülle und Allmacht. – Antigone sagte den gottseligen Bürgern von Theben: Ihr habt mir Vater und Mutter verdammt, weil sie unbewußt sich liebten; ihr habt den bewußten Sohnesmörder Laios aber nicht verdammt und den Bruderfeind Eteokles beschützt: nun verdammt mich, die ich aus reiner Menschenliebe handle – so ist das Maß eurer Frevel voll! – – Und siehe! – der Liebesfluch Antigones vernichtete den Staat! – Keine Hand rührte sich für sie, als sie zum Tode geführt ward. Die Staatsbürger weinten und beteten zu den Göttern, daß sie die Pein des Mitleidens für die Unglückliche von ihnen nehmen möchten; sie geleiteten sie, und trösteten sie damit, daß es nun doch einmal nicht anders sein könnte: die staatliche Ruhe und Ordnung forderten nun leider das Opfer der Menschlichkeit! – Aber da, wo alle Liebe geboren wird, ward auch der Rächer der Liebe geboren. Ein Jüngling entbrannte in Liebe für Antigone; er entdeckte sich seinem Vater und forderte von seiner Vaterliebe Gnade für die Verdammte: hart ward er zurückgewiesen. Da erstürmte der Jüngling das Grab der Geliebten, das sie lebend empfangen hatte: er fand sie tot, und mit dem Schwerte durchbohrte er selbst sein liebendes Herz. Dies war aber der Sohn des Kreon, des personifizierten Staates: vor dem Anblicke der Leiche des Sohnes, der aus Liebe seinem Vater hatte fluchen müssen, ward der Herrscher wieder Vater. Das Liebesschwert des Sohnes drang furchtbar schneidend in sein Herz: tief im Innersten verwundet stürzte der Staat zusammen, um im Tode Mensch zu werden. –
Heilige Antigone! Dich rufe ich nun an! Laß Deine Fahne wehen, daß wir unter ihr vernichten und erlösen! – –
Wunderbar! Als der moderne Roman zur Politik, die Politik aber zum blutigen Schlachtfelde geworden und der Dichter dagegen, im sehnenden Verlangen nach dem Anblicke der vollendeten Kunstform, einen Herrscher zum Befehl der Aufführung einer griechischen Tragödie vermochte, diese Tragödie gerade keine andere sein mußte als unsere »Antigone«. Man suchte nach dem Werke, in welchem sich die Kunstform am reinsten aussprach, und – siehe da! – es war genau dasselbe, dessen Inhalt die reinste Menschlichkeit, die Vernichterin des Staates war! – Wie freueten sich die gelehrten alten Kinder über diese »Antigone« im Hoftheater zu Potsdam! Sie ließen aus der Höhe sich die Rosen streuen, die die erlösende Engelschar »Fausts« als Liebesflammen auf die beschwänzten »Dick- und Dünnteufel vom kurzen graden und langen krummen Horne« herabflattern läßt: leider erweckten sie ihnen aber nur das widerliche Gelüste, das Mephistopheles unter ihrem Brennen empfand – nicht Liebe! – Das »ewig Weibliche zog« sie nicht »hinan«, sondern das ewig Weibische brachte sie vollends nur herunter! –
Das Unvergleichliche des Mythos ist, daß er jederzeit wahr und sein Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist. Die Aufgabe des Dichters war es nur, ihn zu deuten. Nicht überall stand schon der griechische Tragiker mit voller Unbefangenheit vor dem von ihm zu deutenden Mythos: der Mythos selbst war meist gerechter gegen das Wesen der Individualität als der deutende Dichter. Den Geist dieses Mythos hatte der Tragiker aber insoweit vollkommen in sich aufgenommen, als er das Wesen der Individualität zum unverrückbaren Mittelpunkte des Kunstwerkes machte, aus welchem dieses nach allen Richtungen hin sich ernährte und erfrischte. So unentstellt stand dieses urzeugende Wesen der Individualität vor der Seele des Dichters, daß ihr ein Sophokleischer Aias und Philoktetes entsprießen konnten – Helden, die keine Rücksicht der allerklügsten Weltmeinung aus der selbstvernichtenden Wahrheit und Notwendigkeit ihrer Natur herauslocken konnte zum Verschwimmen in den seichten Gewässern der Politik, auf denen der windkundige Odysseus so meisterlich hin- und herzuschiffen verstand.
Den Oidipusmythos brauchen wir auch heute nur seinem innersten Wesen nach getreu zu deuten, so gewinnen wir an ihm ein verständliches Bild der ganzen Geschichte der Menschheit vom Anfange der Gesellschaft bis zum notwendigen Untergange des Staates. Die Notwendigkeit dieses Unterganges ist im Mythos vorausempfunden; an der wirklichen Geschichte ist es, ihn auszuführen.
Seit dem Bestehen des politischen Staates geschieht kein Schritt in der Geschichte, der, möge er selbst mit noch so entschiedener Absicht auf seine Befestigung gerichtet sein, nicht zu seinem Untergange hinleite. Der Staat, als Abstraktum, ist von je immer im Untergange begriffen gewesen, oder richtiger, er ist nie erst in die Wirklichkeit getreten; nur die Staaten »in Konkreto« haben in beständigem Wechsel, als immer neu auftauchende Variationen des unausführbaren Themas ein gewaltsames und dennoch stets unterbrochenes und bestrittenes Bestehen gefunden. Der Staat, als Abstraktum, ist die fixe Idee wohlmeinender, aber irrender Denker – als Konkretum die Ausbeute für die Willkür gewaltsamer oder ränkevoller Individuen gewesen, die den Raum unserer Geschichte mit dem Inhalte ihrer Taten erfüllen. Mit diesem konkreten Staate – als dessen Inhalt Ludwig XIV. mit Recht sich bezeichnete – wollen wir uns hier nicht weiter mehr befassen; auch sein Kern geht uns aus der Oidipussage auf: als den Keim aller Verbrechen erkennen wir die Herrschaft des Laios, um deren ungeschmälerten Besitzes willen dieser zum unnatürlichen Vater ward. Aus diesem zum Eigentum gewordenen Besitze, der wunderbarerweise als die Grundlage jeder guten Ordnung angesehen wird, rühren alle Frevel des Mythos und der Geschichte her. – Fassen wir nur noch den abstrakten Staat ins Auge. Die Denker dieses Staates wollten die Unvollkommenheiten der wirklichen Gesellschaft nach einer gedachten Norm ebenen und ausgleichen: daß sie diese Unvollkommenheiten aber selbst als das Gegebene, der »Gebrechlichkeit« der menschlichen Natur einzig Entsprechende, festhielten, und nie auf den wirklichen Menschen selbst zurückgingen, der aus ersten unwillkürlichen, endlich aber irrtümlichen Anschauungen jene Ungleichheiten ebenso hervorgerufen hatte, als er durch Erfahrung und daraus entsprießende Berichtigung der Irrtümer auch ganz von selbst die vollkommene – d. h. den wirklichen Bedürfnissen der Menschen entsprechende – Gesellschaft herbeiführen muß – das war der große Irrtum, aus dem der politische Staat sich bis zu der unnatürlichen Höhe entwickelte, von welcher herab er die menschliche Natur leiten wollte, die er gar nicht verstand und um so weniger verstehen konnte, je mehr er sie leiten wollte.
Der politische Staat lebt einzig von den Lastern der Gesellschaft, deren Tugenden ihr einzig von der menschlichen Individualität zugeführt werden. Vor den Lastern der Gesellschaft, die er einzig erblicken kann, vermag er ihre Tugenden, die sie von jener Individualität gewinnt, nicht zu erkennen. In dieser Stellung drückt er auf der Gesellschaft in dem Grade, daß sie ihre lasterhafte Seite auch auf die Individualität hinkehrt, und somit sich endlich jeden Nahrungsquell verstopfen müßte, wenn die Notwendigkeit der individuellen Unwillkür nicht stärkerer Natur wäre als die willkürlichen Vorstellungen des Politikers. – Die Griechen mißverstanden im Fatum die Natur der Individualität, weil sie die sittliche Gewohnheit der Gesellschaft störte: um dies Fatum zu bekämpfen, waffneten sie sich mit dem politischen Staat. Unser Fatum ist nun der politische Staat, in welchem die freie Individualität ihr verneinendes Schicksal erkennt. Das Wesen des politischen Staates ist aber Willkür, während das der freien Individualität Notwendigkeit [ist]. Aus dieser Individualität, die wir in tausendjährigen Kämpfen gegen den politischen Staat als das Berechtigte erkannt haben, die Gesellschaft zu organisieren, ist die uns zum Bewußtsein gekommene Aufgabe der Zukunft. Die Gesellschaft in diesem Sinne organisieren heißt aber, sie auf die freie Selbstbestimmung des Individuums als auf ihren ewig unerschöpflichen Quell gründen. Das Unbewußte der menschlichen Natur in der Gesellschaft zum Bewußtsein bringen, und in diesem Bewußtsein nichts anderes zu wissen als eben die allen Gliedern der Gesellschaft gemeinsame Notwendigkeit der freien Selbstbestimmung des Individuums, heißt aber soviel, als – den Staat vernichten; denn der Staat schritt durch die Gesellschaft zur Verneinung der freien Selbstbestimmung des Individuums vor – von ihrem Tode lebte er.
[ IV ]
Für die Kunst, um die es bei dieser Untersuchung uns einzig zu tun war, liegt in der Vernichtung des Staates nun folgendes, über alles wichtige Moment.
Die Darstellung des Kampfes, in welchem sich das Individuum vom politischen Staate oder vom religiösen Dogma zu befreien suchte, mußte um so notwendiger die Aufgabe des Dichters werden, als das politische Leben, von dem entfernt der Dichter endlich nur noch ein geträumtes Leben führen konnte, von den Wechselfällen dieses Kampfes selbst, als von seinem wirklichen Inhalte, mit immer vollerem Bewußtsein erfüllt war. Lassen wir den religiösen Staatsdichter beiseite, der auch als Künstler den Menschen mit grausamem Behagen seinem Götzen opferte, so haben wir nur den Dichter vor uns, der, von wahrhaftem schmerzlichem Mitgefühle für die Leiden des Individuums erfüllt, als solches selbst und durch die Darstellung seines Kampfes, sich gegen den Staat, gegen die Politik wendete. Die Individualität, welche der Dichter in den Kampf gegen den Staat führte, war aber der Natur der Sache nach keine rein menschliche, sondern eine durch den Staat selbst bedingte. Sie war von gleicher Gattung wie der Staat und nur der innerhalb des Staates liegende Gegensatz von dessen äußerster Spitze. Bewußte Individualität, d. h. eine Individualität, die uns bestimmt, in diesem einen Falle so und nicht anders zu handeln, gewinnen wir nur in der Gesellschaft, welche uns erst den Fall vorführt, in dem wir uns zu entscheiden haben. Das Individuum ohne Gesellschaft ist uns als Individualität vollkommen undenkbar; denn erst im Verkehr mit anderen Individuen zeigt sich das, worin wir unterschieden von ihnen und an uns besonders sind. War nun die Gesellschaft zum politischen Staate geworden, so bedang dieser die Besonderheit der Individualität aus seinem Wesen ebenso, und als Staat – im Gegensatze zur freien Gesellschaft – natürlich nur bei weitem strenger und kategorischer als die Gesellschaft. Eine Individualität kann niemand schildern ohne ihre Umgebung, die sie als solche bedingt: war die Umgebung eine natürliche, der Entwickelung der Individualität Luft und Raum gebende, frei nach innerer Unwillkür an der Berührung mit dieser Individualität soeben sich elastisch neu gestaltende, so konnte diese Umgebung in den einfachsten Zügen treffend und wahr bezeichnet werden; denn nur durch die Darstellung der Individualität hatte die Umgebung selbst erst zu charakteristischer Eigentümlichkeit zu gelangen. Der Staat ist aber keine solche elastisch biegsame Umgebung, sondern eine dogmatisch starre, fesselnde, gebieterische Macht, die dem Individuum vorausbestimmt – so sollst du denken und handeln! Der Staat hat sich zum Erzieher der Individualität aufgeworfen; er bemächtigt sich ihrer im Mutterleibe durch Vorausbestimmung eines ungleichen Anteiles an den Mitteln zu sozialer Selbständigkeit; er nimmt ihr durch Aufnötigung seiner Moral ihre Unwillkürlichkeit der Anschauung, und weist ihr, als seinem Eigentume, die Stellung an, die sie zu der Umgebung einnehmen soll. Seine Individualität verdankt der Staatsbürger dem Staate; sie heißt aber nichts anderes als seine vorausbestimmte Stellung zu ihm, in welcher seine reinmenschliche Individualität für sein Handeln vernichtet und nur höchstens auf das beschränkt ist, was er ganz still vor sich hin denkt.
Den gefährlichen Winkel des menschlichen Hirnes, in welchen sich die ganze Individualität geflüchtet hatte, suchte der Staat mit Hülfe des religiösen Dogmas wohl ebenfalls auszufegen; hier mußte er aber machtlos bleiben, indem er sich nur Heuchler erziehen konnte, d. h. Staatsbürger, die anders handeln, als sie denken. Aus dem Denken erzeugte sich aber zuerst auch die Kraft des Widerstandes gegen den Staat. Die erste reinmenschliche Freiheitsregung bekundete sich in der Abwehr des religiösen Dogmas, und Denkfreiheit ward notgedrungen endlich vom Staate gestattet. Wie äußert sich aber nun diese bloß denkende Individualität im Handeln? – Solange der Staat vorhanden ist, wird sie nur als Staatsbürger, d. h. als Individualität, deren Handlungsweise nicht die ihrer Denkungsweise entsprechende ist, handeln können. Der Staatsbürger ist nicht vermögend, einen Schritt zu tun, der ihm nicht im voraus als Pflicht oder als Verbrechen vorgezeichnet ist: der Charakter seiner Pflicht und seines Verbrechens ist nicht der seiner Individualität eigene; er mag beginnen, was er will, um aus seinem noch so freien Denken zu handeln, er kann nicht aus dem Staate herausschreiten, dem auch sein Verbrechen angehört. Er kann nur durch den Tod aufhören, Staatsbürger zu sein, also da, wo er auch aufhört, Mensch zu sein.
Der Dichter, der nun den Kampf der Individualität gegen den Staat darzustellen hatte, konnte daher nur den Staat darstellen, die freie Individualität aber bloß dem Gedanken andeuten. Der Staat war das Wirkliche, fest und farbig Vorhandene, die Individualität dagegen das Gedachte, gestalt- und farblos Unvorhandene. Alle die Züge, Umrisse und Farben, die der Individualität ihre feste, bestimmte und erkennbare künstlerische Gestalt verleihen, hatte der Dichter der politisch gesonderten und staatlich zusammengepreßten Gesellschaft zu entnehmen, nicht aber der Individualität selbst, die in der Berührung mit anderen Individualitäten sich selbst zeichnet und färbt. Die somit nur gedachte, nicht dargestellte Individualität konnte daher auch nur an den Gedanken, nicht an das unmittelbar erfassende Gefühl dargestellt werden. Unser Drama war daher ein Appell an den Verstand, nicht an das Gefühl. Es nahm somit die Stelle des Lehrgedichtes ein, welches einen dem Leben entnommenen Stoff nur so weit darstellt, als es der Absicht entspricht, einen Gedanken dem Verstande zur Mitteilung zu bringen. Zur Mitteilung eines Gedankens an den Verstand hat der Dichter aber ebenso umständlich zu verfahren, als er gerade höchst einfach und schlicht zu Werke gehen muß, wenn er sich an das unmittelbar empfangende Gefühl wendet. Das Gefühl erfaßt nur das Wirkliche, sinnlich Betätigte und Wahrnehmbare: an das Gefühl teilt sich nur das Vollendete, Abgeschlossene, das, was so eben ganz das ist, was es jetzt sein kann, mit. Nur das mit sich Einige ist ihm verständlich; das mit sich Uneinige, noch nicht wirklich und bestimmt sich Kundgebende, verwirrt das Gefühl und nötigt es zum Denken, also zu einem kombinierenden Akte, der das Gefühl aufhebt.
Der Dichter, der sich an das Gefühl wendet, muß, um sich ihm überzeugend kundzugeben, im Denken bereits so einig mit sich sein, daß er aller Hülfe des logischen Mechanismus sich begeben und mit vollem Bewußtsein sich an das untrügliche Empfängnis des unbewußten, reinmenschlichen Gefühles mitteilen kann. Er hat bei dieser Mitteilung daher so schlicht und (vor der sinnlichen Wahrnehmung) unbedingt zu verfahren, wie dem Gefühle gegenüber die wirkliche Erscheinung – wie Luft, Wärme, Blume, Tier, Mensch – sich kundgibt. Um das höchste Mitteilbare und zugleich überzeugend Verständlichste – die rein menschliche Individualität – durch seine Darstellung mitzuteilen, hat aber der moderne dramatische Dichter, wie ich zeigte, gerade entgegengesetzt zu verfahren. Aus der ungeheuren Masse ihrer wirklichen Umgebung, im ersichtlich Maß, Form und Farbe gebenden Staate und der zum Staate erstarrten Geschichte, hat er diese Individualität erst unendlich mühsam herauszukonstruieren, um sie endlich, wie wir sahen, immer nur dem Gedanken darzustellen. Das, was unser Gefühl von vornherein unwillkürlich erfaßt, ist einzig die Form und Farbe des Staates. Von unseren ersten Jugendeindrücken an sehen wir den Menschen nur in der Gestalt und dem Charakter, die ihm der Staat gibt; die durch den Staat ihm anerzogene Individualität gilt unserem unwillkürlichen Gefühle als sein wirkliches Wesen; wir können ihn nicht anders fassen als nach den unterscheidenden Qualitäten, die in Wahrheit nicht seine eigenen, sondern die durch den Staat ihm verliehenen sind. Das Volk kann heutzutage den Menschen nicht anders fassen als in der Standesuniform, in der es ihn sinnlich und leibhaftig von Jugend auf vor sich sieht, und dem Volke teilt sich der »Volksschauspieldichter« auch nur verständlich mit, wenn er es nicht einen Augenblick aus dieser staatsbürgerlichen Illusion reißt, die sein unbewußtes Gefühl dermaßen befangen hält, daß es in die höchste Verwirrung gesetzt werden müßte, wenn man ihm unter dieser sinnlichen Erscheinung den wirklichen Menschen hervorkonstruieren wollte. Um die reinmenschliche Individualität darzustellen, hat der moderne Dichter sich daher nicht an das Gefühl, sondern an den Verstand zu wenden, wie sie für ihn selbst ja auch nur eine gedachte ist. Hierzu muß sein Verfahren ein ungeheuer umständliches sein: er muß alles das, was das moderne Gefühl als das Begreiflichste faßt, sozusagen vor den Augen dieses Gefühles langsam und höchst vorsichtig seiner Hülle, seiner Form und Farbe entkleiden, um während dieser Entkleidung, nach systematischer Berechnung, das Gefühl nach und nach zum Denken zu bringen, da die von ihm gewollte Individualität endlich nur eine gedachte sein kann. So muß der Dichter aus dem Gefühle sich an den Verstand wenden: das Gefühl ist für ihn das Hinderliche; erst wenn er es mit höchster Behutsamkeit überwunden hat, kommt er zu seinem eigentlichen Vorhaben, der Darlegung eines Gedankens an den Verstand. –
Der Verstand ist somit von vornherein die menschliche Fähigkeit, an die der moderne Dichter sich mitteilen will, und zu ihm kann er einzig durch das Organ des kombinierenden, zersetzenden, teilenden und trennenden Verstandes die von dem Gefühle abstrahierte, die Eindrücke und Empfängnisse des Gefühles nur noch schildernde, vermittelnde und bedingte Wortsprache reden. Wäre unser Staat selbst ein würdiger Gegenstand des Gefühles, so würde der Dichter, um sein Vorhaben zu erreichen, im Drama gewissermaßen von der Musik zur Wortsprache überzugehen haben: in der griechischen Tragödie war es fast ähnlich der Fall, aber aus umgekehrten Gründen. Ihre Grundlage war die Lyrik, aus der sie so zur Wortsprache vorschritt, wie die Gesellschaft aus dem natürlichen, sittlich religiösen Gefühlsverbande zum politischen Staate vorschritt. Die Rückkehr aus dem Verstande zum Gefühle wird insoweit der Gang des Dramas der Zukunft sein, als wir aus der gedachten Individualität zur wirklichen vorschreiten werden. Der moderne Dichter hat aber auch vom Beginn herein eine Umgebung, den Staat, darzustellen, die jedes reinmenschlichen Gefühlsmomentes bar und im höchsten Gefühlsausdruck unmittelbar ist. Sein ganzes Vorhaben kann er daher nur durch das Mitteilungsorgan des kombinierenden Verstandes, durch die ungefühlvolle moderne Sprache erreichen; und mit Recht dünkt es dem heutigen Schauspieldichter ungeeignet, verwirrend und störend, wenn er die Musik für einen Zweck mit verwenden sollte, der irgend verständlich nur als Gedanke an den Verstand, nicht aber an das Gefühl als Affekt auszusprechen ist.
Welche Gestaltung des Dramas würde in dem bezeichneten Sinne nun aber den Untergang des Staates, die gesunde organische Gesellschaft hervorrufen?
Der Untergang des Staates kann vernünftigerweise nichts anderes heißen, als das sich verwirklichende religiöse Bewußtsein der Gesellschaft vor ihrem rein menschlichen Wesen. Dieses Bewußtsein kann seiner Natur nach kein von außen eingeprägtes Dogma sein, d. h. nicht auf geschichtlicher Tradition beruhen, und nicht durch den Staat anerzogen werden. So lange irgendeine Lebenshandlung als äußere Pflicht von uns gefordert wird, so lange ist der Gegenstand dieser Handlung kein Gegenstand eines religiösen Bewußtseins; denn aus religiösem Bewußtsein handeln wir aus uns selbst, und zwar so, wie wir nicht anders handeln können. Religiöses Bewußtsein heißt aber allgemeinsames Bewußtsein, und allgemeinsam kann ein Bewußtsein nur sein, wenn es das Unbewußte, Unwillkürliche, Reinmenschliche als das einzig Wahre und Notwendige weiß, und aus seinem Wissen rechtfertigt. So lange das Reinmenschliche uns in irgendwelcher Trübung vorschwebt, wie es im gegenwärtigen Zustande unserer Gesellschaft uns gar nicht anders vorschweben kann, so lange werden wir auch in millionenfach verschiedener Ansicht darüber befangen sein müssen, wie der Mensch sein solle: so lange wir, im Irrtume über sein wahres Wesen, uns Vorstellungen davon bilden, wie dieses Wesen sich kundgeben möchte, werden wir auch nach willkürlichen Formen streben und suchen müssen, in welchen dieses eingebildete Wesen sich kundgeben solle. So lange werden wir aber auch Staaten und Religionen haben, bis wir nur eine Religion und gar keinen Staat mehr haben. Wenn diese Religion aber notwendig eine allgemeinsame sein muß, so kann sie nichts anderes sein als die durch das Bewußtsein gerechtfertigte wirkliche Natur des Menschen, und jeder Mensch muß fähig sein, diese unbewußt zu empfinden und unwillkürlich zu betätigen. Diese gemeinsame menschliche Natur wird am stärksten von dem Individuum als seine eigene und individuelle Natur empfunden, wie sie sich in ihm als Lebens- und Liebestrieb kundgibt: die Befriedigung dieses Triebes ist es, was den einzelnen zur Gesellschaft drängt, in welcher er eben dadurch, daß er ihn nur in der Gesellschaft befriedigen kann, ganz von selbst zu dem Bewußtsein gelangt, das als ein religiöses, d. h. gemeinsames, seine Natur rechtfertigt. In der freien Selbstbestimmung der Individualität liegt daher der Grund der gesellschaftlichen Religion der Zukunft, die nicht eher in das Leben getreten sein wird, als bis diese Individualität durch die Gesellschaft ihre förderndste Rechtfertigung erhält. –
Die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Beziehungen lebendiger Individualitäten zueinander, die unendliche Fülle stets neuer und in ihrem Wechsel immer genau der Eigentümlichkeit dieser lebenvollen Beziehungen entsprechender Formen, sind wir gar nicht imstande auch nur andeutungsweise uns vorzustellen, da wir bis jetzt alle menschlichen Beziehungen nur in der Gestalt geschichtlich überlieferter Berechtigungen und nach ihrer Vorausbestimmung durch die staatlich ständische Norm wahrnehmen können. Den unübersehbaren Reichtum lebendiger individueller Beziehungen vermögen wir aber zu ahnen, wenn wir sie als reinmenschliche, immer voll und ganz gegenwärtige fassen, d. h., wenn wir alles Außermenschliche oder Ungegenwärtige, was als Eigentum und geschichtliches Recht im Staate zwischen jene Beziehungen sich gestellt, das Band der Liebe zwischen ihnen zerrissen, sie entindividualisiert, ständisch uniformiert und staatlich stabilisiert hat, aus ihnen weit entfernt denken.
In höchster Einfachheit können wir uns jene Beziehungen aber wiederum vorstellen, wenn wir die unterscheidendsten Hauptmomente des individuellen menschlichen Lebens, welches aus sich auch das gemeinsame Leben bedingen muß, als charakteristische Unterscheidungen der Gesellschaft selbst zusammenfassen, und zwar als Jugend und Alter, Wachstum und Reife, Eifer und Ruhe, Tätigkeit und Beschaulichkeit, Unwillkür und Bewußtsein.
Das Moment der Gewohnheit, welches wir am naivsten im Festhalten sozial-sittlicher Begriffe, in seiner Verhärtung zur staatspolitischen Moral aber als vollständig der Entwickelung der Individualität feindselig und endlich als entsittlichend und das Reinmenschliche verneinend erkannten, ist als ein unwillkürlich menschliches dennoch wohlbegründet. Untersuchen wir aber näher, so fassen wir in ihm nur ein Moment der Vielseitigkeit der menschlichen Natur, die sich im Individuum nach seinem Lebensalter bestimmt. Ein Mensch ist nicht derselbe in der Jugend wie im Alter: in der Jugend sehnen wir uns nach Taten, im Alter nach Ruhe. Die Störung unserer Ruhe wird uns im Alter ebenso empfindlich als die Hemmung unserer Tätigkeit in der Jugend. Das Verlangen des Alters rechtfertigt sich von selbst aus der allmählichen Aufzehrung des Tätigkeitstriebes, deren Gewinn Erfahrung ist. Die Erfahrung ist an sich aber wohl genuß- und lehrreich für den Erfahrenen selbst; für den belehrten Unerfahrenen kann sie aber dann nur von bestimmendem Erfolge sein, wenn entweder dieser von leicht zu bewältigendem, schwachem Tätigkeitstriebe ist oder die Punkte der Erfahrung ihm als verpflichtende Richtschnur für sein Handeln zwangsweise auferlegt würden – nur durch diesen Zwang ist aber der natürliche Tätigkeitstrieb des Menschen überhaupt zu schwächen; diese Schwächung, die uns beim oberflächlichen Hinblick als eine absolute, in der menschlichen Natur an sich begründete erscheint, und aus der wir somit unsere zur Tätigkeit wiederum anhaltenden Gesetze zu rechtfertigen suchen, ist daher nur eine bedingte. –
Wie die menschliche Gesellschaft ihre ersten sittlichen Begriffe aus der Familie empfangen hat, trug sich in sie auch die Ehrfurcht vor dem Alter über: diese Ehrfurcht war in der Familie aber eine durch die Liebe hervorgerufene, vermittelte, bedingte und motivierte; der Vater liebte vor allem seinen Sohn, riet ihm aus Liebe, ließ ihn aus Liebe aber auch gewähren. In der Gesellschaft verlor sich diese motivierende Liebe aber ganz in dem Grade, als die Ehrfurcht von der Person ab sich auf Vorstellungen und außermenschliche Dinge bezog, die – an sich unwirklich – zu uns nicht in der lebendigen Wechselwirkung standen, in der die Liebe die Ehrfurcht zu erwidern, d. h. die Furcht von ihr zu nehmen, vermag. Der zum Gott gewordene Vater konnte uns nicht mehr lieben; der zum Gesetz gewordene Rat der Eltern konnte uns nicht mehr frei gewähren lassen; die zum Staat gewordene Familie konnte uns nicht mehr nach der Unwillkür der Billigung der Liebe, sondern nach den Satzungen kalter Sittlichkeitsverträge beurteilen. Der Staat dringt uns – nach seiner verständigsten Auffassung – die Erfahrungen der Geschichte als Richtschnur für unser Handeln auf: wahrhaftig handeln wir aber nur, wenn wir aus unwillkürlichem Handeln selbst zur Erfahrung gelangen; eine durch Mitteilung uns gelehrte Erfahrung wird für uns zu einer erfolgreichen erst, wenn wir durch unwillkürliches Handeln sie wiederum selbst machen. Die wahre vernünftige Liebe des Alters zur Jugend bestätigt sich also dadurch, daß es seine Erfahrungen nicht zu dem Maße für das Handeln der Jugend macht, sondern sie selbst auf Erfahrung anweist, und dadurch seine eigenen Erfahrungen bereichert; denn das Charakteristische und Überzeugende einer Erfahrung ist eben das Individuelle an ihr, das Besondere, Kenntliche, was sie dadurch erhält, daß sie aus dem unwillkürlichen Handeln dieses einen, besonderen Individuums in diesem einen und besonderen Falle gewonnen ward.
Der Untergang des Staates heißt daher so viel als der Hinwegfall der Schranke, welche durch die egoistische Eitelkeit der Erfahrung als Vorurteil gegen die Unwillkür des individuellen Handelns sich errichtet hat. Diese Schranke nimmt gegenwärtig die Stellung ein, die naturgemäß der Liebe gebührt, und sie ist nach ihrem Wesen die Lieblosigkeit, d. h. das Eingenommensein der Erfahrung von sich, und der endlich gewaltsam durchgesetzte Wille, nichts Weiteres mehr zu erfahren, die eigensüchtige Borniertheit der Gewöhnung, die grausame Trägheit der Ruhe. – Durch die Liebe weiß aber der Vater, daß er noch nicht genug erfahren hat, sondern daß er an den Erfahrungen seines Kindes, die er in der Liebe zu ihm zu seinen eigenen macht, sich unendlich zu bereichern vermag. In der Fähigkeit des Genusses der Taten anderer, deren Gehalt es durch die Liebe für sich zu einem genießenswürdigen und genußgebenden Gegenstand zu machen weiß, besteht die Schönheit der Ruhe des Alters. Diese Ruhe ist da, wo sie durch die Liebe naturgemäß vorhanden ist, keinesweges eine Hemmung des Tätigkeitstriebes der Jugend, sondern seine Förderung. Sie ist das Raumgeben an die Tätigkeit der Jugend in einem Elemente der Liebe, das an der Beschauung dieser Tätigkeit zu einer höchsten künstlerischen Beteiligung an ihr selbst, zum künstlerischen Lebenselemente überhaupt wird.
Das bereits erfahrene Alter ist vermögend, die Taten der Jugend, in welchen diese nach unwillkürlichem Drange und mit Unbewußtsein sich kundgibt, nach ihrem charakteristischen Gehalte zu fassen und in ihrem Zusammenhange zu überblicken: es vermag diese Taten also vollkommener zu rechtfertigen als die handelnde Jugend selbst, weil es sie sich zu erklären und mit Bewußtsein darzustellen weiß. In der Ruhe des Alters gewinnen wir somit das Moment höchster dichterischer Fähigkeit, und nur der jüngere Mann vermag sich diese schon anzueignen, der jene Ruhe gewinnt, d. h. jene Gerechtigkeit gegen die Erscheinungen des Lebens. –
Die Liebesermahnung des Erfahrenen an den Unerfahrenen, des Ruhigen an den Leidenschaftlichen, des Beschauenden an den Handelnden, gibt sich am überzeugendsten und erfolgereichsten durch getreue Vorführung des eigenen Wesens des unwillkürlich Tätigen an diesen mit. Der in unbewußtem Lebenseifer Befangene wird nicht durch allgemeine sittliche Ermahnung zur urteilfähigen Erkenntnis seines Wesens gebracht, sondern vollständig kann dies nur gelingen, wenn er in einem vorgeführten treuen Bilde sich selbst zu erblicken vermag; denn die richtige Erkenntnis ist Wiedererkennung, wie das richtige Bewußtsein Wissen von unserem Unbewußtsein. Der Ermahnende ist der Verstand, das bewußte Anschauungsvermögen des Erfahrenen: das zu Ermahnende ist das Gefühl, der unbewußte Tätigkeitstrieb des Erfahrenden. Der Verstand kann nichts anderes wissen als die Rechtfertigung des Gefühles, denn er selbst ist nur die Ruhe, welche der zeugenden Erregung des Gefühles folgt: er selbst rechtfertigt sich nur, wenn er aus dem unwillkürlichen Gefühle sich bedingt weiß, und der aus dem Gefühle gerechtfertigte, nicht mehr im Gefühle dieses einzelnen befangene, sondern gegen das Gefühl überhaupt gerechte Verstand ist die Vernunft. Der Verstand ist als Vernunft insofern dem Gefühle überlegen, als er die Tätigkeit des individuellen Gefühles in der Berührung mit seinem ebenfalls aus individuellem Gefühle tätigen Gegenstande und Gegensatze allgerecht zu beurteilen vermag: er ist die höchste soziale, durch die Gesellschaft einzig selbst bedingte Kraft, welche die Spezialität des Gefühles nach seiner Gattung zu erkennen, in ihr wiederzufinden und aus ihr sie wiederum zu rechtfertigen weiß. Er ist somit auch fähig, zur Äußerung durch das Gefühl sich anzulassen, wenn es ihm darum zu tun ist, dem nur Gefühlvollen sich mitzuteilen – und die Liebe leiht ihm dazu die Organe. Er weiß durch das Gefühl der Liebe, welches ihn zur Mitteilung drängt, daß dem leidenschaftlichen, im unwillkürlichen Handeln Begriffenen nur das verständlich ist, was sich an sein Gefühl wendet: wollte er sich an seinen Verstand wenden, so setzte er das bei ihm voraus, was er durch seine Mitteilung sich eben selbst erst gewinnen soll, und müßte unverständlich bleiben. Das Gefühl faßt aber nur das ihm Gleiche, wie der nackte Verstand – als solcher – sich auch nur dem Verstande mitteilen kann. Das Gefühl bleibt bei der Reflexion des Verstandes kalt: nur die Wirklichkeit der ihm verwandten Erscheinung kann es zur Teilnahme fesseln. Diese Erscheinung muß das sympathetisch wirkende Bild des eigenen Wesens des unwillkürlich Handelnden sein, und sympathetische Wirkung bringt es nur hervor, wenn es sich in einer Handlung ihm darstellt, die sich aus demselben Gefühle rechtfertigt, welches er aus dieser Handlung und Rechtfertigung als sein eigenes mitfühlt. Aus diesem Mitgefühle gelangt er ebenso unwillkürlich zum Verständnisse seines eigenen individuellen Wesens, wie er an den Gegenständen und Gegensätzen seines Fühlens und Handelns, an denen im Bilde sein eigenes Fühlen und Handeln sich entwickelte, auch das Wesen dieser Gegensätze erkennen lernte, und zwar dadurch, daß er, durch lebhafte Sympathie für sein eigenes Bild aus sich herausversetzt, zur unwillkürlichen Teilnahme an dem Fühlen und Handeln auch seiner Gegensätze hingerissen, zur Anerkennung und Gerechtigkeit gegen sie, die nicht mehr seiner Befangenheit im wirklichen Handeln gegenüberstehen, bestimmt wird.
Nur im vollendetsten Kunstwerke, im Drama, vermag sich daher die Anschauung des Erfahrenen vollkommen erfolgreich mitzuteilen, und zwar gerade deswegen, weil in ihm durch Verwendung aller künstlerischen Ausdrucksfähigkeiten des Menschen die Absicht des Dichters am vollständigsten aus dem Verstande an das Gefühl, nämlich künstlerisch an die unmittelbarsten Empfängnisorgane des Gefühles, die Sinne, mitgeteilt wird. Das Drama unterscheidet sich als vollendetstes Kunstwerk von allen übrigen Dichtungsarten eben dadurch, daß die Absicht in ihm durch ihre vollständigste Verwirklichung zur vollsten Unmerklichkeit aufgehoben wird. wo im Drama die Absicht, d. h. der Wille des Verstandes, noch merklich bleibt, da ist auch der Eindruck ein erkältender; denn wo wir den Dichter noch wollen sehen, fühlen wir, daß er noch nicht kann. Das Können des Dichters ist aber das vollkommene Aufgehen der Absicht in das Kunstwerk, die Gefühlswerdung des Verstandes. Nur dadurch erreicht er seine Absicht, daß er die Erscheinungen des Lebens nach ihrer vollsten Unwillkür vor unseren Augen versinnlicht, also das Leben selbst aus seiner Notwendigkeit rechtfertigt; denn nur diese Notwendigkeit vermag das Gefühl zu verstehen, an das er sich mitteilt.
Vor dem dargestellten dramatischen Kunstwerke darf nichts mehr dem kombinierenden Verstande aufzusuchen übrigbleiben: jede Erscheinung muß in ihm zu dem Abschlusse kommen, der unser Gefühl über sie beruhigt; denn in der Beruhigung des Gefühles, nach seiner höchsten Erregtheit im Mitgefühl, liegt die Ruhe selbst, die uns unwillkürlich das Verständnis des Lebens zuführt. Im Drama müssen wir Wissende werden durch das Gefühl. Der Verstand sagt uns: So ist es, erst wenn uns das Gefühl gesagt hat. So muß es sein. Dies Gefühl wird sich aber nur durch sich selbst verständlich: es versteht keine andere Sprache als seine eigene. Erscheinungen, die uns nur durch den unendlich vermittelnden Verstand erklärt werden können, bleiben dem Gefühle unbegreiflich und störend. Eine Handlung kann daher nur dann im Drama erklärt werden, wenn sie dem Gefühle vollkommen gerechtfertigt wird, und die Aufgabe des dramatischen Dichters ist es somit, nicht Handlungen zu erfinden, sondern eine Handlung aus der Notwendigkeit des Gefühles der Art zu verständlichen, daß wir der Hülfe des Verstandes zu ihrer Rechtfertigung gänzlich entbehren dürfen. Sein Hauptaugenmerk hat der Dichter daher auf die Wahl der Handlung zu richten, die er so wählen muß, daß sie, sowohl ihrem Charakter wie ihrem Umfange nach, ihre vollständige Rechtfertigung aus dem Gefühle ihm ermöglicht; denn in dieser Rechtfertigung beruht einzig die Erreichung seiner Absicht.
Eine Handlung, die nur aus historischen, ihrem Grunde nach ungegenwärtigen Beziehungen erklärt, vom Standpunkte des Staates aus gerechtfertigt oder durch Berücksichtigung religiöser, von außen eingeprägter, nicht gemeinsam innerlicher, Dogmen begriffen werden kann, ist – wie wir sahen – nur dem Verstande, nicht dem Gefühle darzustellen: am genügendsten konnte dies durch Erzählung und Schilderung, durch Appell an die Einbildungskraft des Verstandes, nicht durch unmittelbare Vorführung an das Gefühl und seine bestimmt erfassenden Organe, die Sinne, gelingen, weil eine solche Handlung für diese Sinne recht eigentlich unüberschaubar war und eine Masse von Beziehungen in ihr außerhalb aller Möglichkeit, sie zur sinnlichen Anschauung zu bringen, liegen und nur dem kombinierenden Denkorgane zum Verständnis überlassen bleiben mußten. In einem historisch politischen Drama kam es daher dem Dichter darauf an, seine Absicht – als solche – schließlich ganz nackt zu geben: das ganze Drama blieb unverständlich und eindruckslos, wenn nicht endlich diese Absicht, in Form einer menschlichen Moral, aus einem ungeheuern Wuste, zur bloßen Schilderung verwendeten, pragmatischer Motive, recht ersichtlich zum Vorschein kam. Man frug sich im Verlaufe eines solchen Stückes unwillkürlich: »Was will der Dichter damit sagen?«
Die Handlung nun, die vor dem Gefühle und durch das Gefühl gerechtfertigt werden soll, befaßt sich mit keiner Moral, sondern alle Moral beruht eben nur in der Rechtfertigung dieser Handlung aus dem unwillkürlichen menschlichen Gefühle. Sie ist sich selbst Zweck, insofern sie eben nur aus dem Gefühle, dem sie entwächst, gerechtfertigt werden soll. Diese Handlung kann daher nur eine solche sein, die aus den wahrsten, d. h. dem Gefühle begreiflichsten, den menschlichen Empfindungen naheliegendsten, somit einfachsten Beziehungen hervorgeht – aus Beziehungen, wie sie nur einer, dem Wesen nach mit sich einigen, von unwesenhaften Vorstellungen und ungegenwärtigen Berechtigungsgründen unbeeinflußten, nur sich selbst und keiner Vergangenheit angehörigen, menschlichen Gesellschaft entspringen können.
Keine Handlung des Lebens steht aber vereinzelt da: sie hat einen Zusammenhang mit den Handlungen anderer Menschen, durch die sie, gleichwie aus dem individuellen Gefühle des Handelnden selbst, bedingt wird. Den schwächsten Zusammenhang haben nur kleine, unbedeutende Handlungen, die weniger der Stärke eines notwendigen Gefühles als der Willkür der Laune zur Erklärung bedürfen. Je größer und entscheidender jedoch eine Handlung ist, je mehr sie nur aus der Stärke eines notwendigen Gefühles erklärt werden kann, in einem desto bestimmteren und weiteren Zusammenhange steht sie auch mit den Handlungen anderer. Eine große, das Wesen des Menschen nach einer Richtung hin am ersichtlichsten und erschöpfendsten darstellende Handlung geht nur aus der Reibung mannigfaltiger und starker Gegensätze hervor. Um diese Gegensätze selbst gerecht beurteilen und die in ihnen sich kundgebenden Handlungen aus den individuellen Gefühlen der Handelnden begreifen zu können, muß eine große Handlung aber in einem weiten Kreise von Beziehungen dargestellt werden, denn erst in diesem Kreise ist sie zu verstehen. Die erste und eigentümlichste Aufgabe des Dichters besteht demnach darin, daß er einen solchen Kreis von vornherein in das Auge faßt, seinen Umfang vollkommen ermißt, jede Einzelheit der in ihm liegenden Beziehungen genau nach ihrem Maße und ihrem Verhältnisse zur Haupthandlung erforscht, und nun das Maß seines Verständnisses von ihnen zu dem Maße ihrer Verständlichkeit als künstlerische Erscheinung macht, indem er ihren weiten Kreis nach seinem Mittelpunkte zu zusammendrängt und ihn so zur verständnisgebenden Peripherie des Helden verdichtet. Diese Verdichtung ist das eigentliche Werk des dichtenden Verstandes, und dieser Verstand ist der Mittel- und Höhepunkt des ganzen Menschen, der von ihm aus sich in den empfangenden und mitteilenden scheidet.
Wie die Erscheinung zunächst von dem nach außen gewendeten unwillkürlichen Gefühle erfaßt und der Einbildungskraft als erster Tätigkeit des Gehirnes zugeführt wird, so hat der Verstand, der nichts anderes als die nach dem wirklichen Maße der Erscheinung geordnete Einbildungskraft ist, für die Mitteilung des von ihm Erkannten durch die Einbildungskraft wiederum an das unwillkürliche Gefühl vorzuschreiten. Im Verstande spiegeln sich die Erscheinungen als das, was sie wirklich sind; diese abgespiegelte Wirklichkeit ist aber eben nur eine gedachte: um diese gedachte Wirklichkeit mitzuteilen, muß er sie dem Gefühle in einem ähnlichen Bilde darstellen, als wie das Gefühl sie ihm ursprünglich zugeführt hat, und dies Bild ist das Werk der Phantasie. Nur durch die Phantasie vermag der Verstand mit dem Gefühle zu verkehren. Der Verstand kann die volle Wirklichkeit der Erscheinung nur erfassen, wenn er das Bild, in welchem sie von der Phantasie ihm vorgeführt wird, zerbricht und sie in ihre einzelnsten Teile zerlegt; so wie er diese Teile sich wieder im Zusammenhange vorführen will, hat er sogleich wieder sich ein Bild von ihr zu entwerfen, das der Wirklichkeit der Erscheinung nicht mehr mit realer Genauigkeit, sondern nur in dem Maße entspricht, in welchem der Mensch sie zu erkennen vermag. So setzt auch die einfachste Handlung den Verstand, der sie unter dem anatomischen Mikroskope betrachten will, durch die ungeheure Vielgliedrigkeit ihres Zusammenhanges in Staunen und Verwirrung; und will er sie begreifen, so kann er nur durch Entfernung des Mikroskopes und durch Vorführung des Bildes von ihr, das sein menschliches Auge einzig zu erfassen vermag, zu einem Verständnisse gelangen, das schließlich nur durch das – vom Verstande gerechtfertigte – unwillkürliche Gefühl ermöglicht wird. Dieses Bild der Erscheinungen, in welchem das Gefühl einzig diese zu begreifen vermag, und welches der Verstand, um sich dem Gefühle verständlich zu machen, demjenigen nachbilden muß, welches ihm ursprünglich durch die Phantasie vom Gefühle zugeführt war, ist für die Absicht des Dichters, der auch die Erscheinungen des Lebens aus ihrer unübersehbaren Vielgliedrigkeit zu dichter, leicht überschaubarer Gestaltung zusammendrängen muß, nichts anderes als das Wunder.
[ V ]
Das Wunder im Dichterwerke unterscheidet sich von dem verrufenen Wunder im religiösen Dogma dadurch, daß es nicht, wie dieses, die Natur der Dinge aufhebt, sondern vielmehr sie dem Gefühle begreiflich macht.
Das jüdisch-christliche Wunder zerriß den Zusammenhang der natürlichen Erscheinungen, um den göttlichen Willen als über der Natur stehend erscheinen zu lassen. In ihm wurde keinesweges ein weiter Zusammenhang, zu dem Zwecke eines Verständnisses desselben durch das unwillkürliche Gefühl, verdichtet, sondern es wurde ganz um seiner selbst willen verwendet; man forderte es als Beweis einer übermenschlichen Macht von demjenigen, der sich für göttlich ausgab, und an den man nicht eher glauben wollte, als bis er vor den leibhaften Augen der Menschen sich als Herr der Natur, d. h. als beliebiger Verdreher der natürlichen Ordnung auswies. Dies Wunder ward demnach von dem verlangt, den man nicht an sich und aus seinen natürlichen Handlungen für wahrhaftig hielt, sondern dem man erst zu glauben sich vornahm, wenn er etwas Unglaubliches, Unverständliches ausführte. Die grundsätzliche Verneinung des Verstandes war also etwas, vom Wunderfordernden wie Wunderwirkenden gebieterisch Vorausgesetztes, wogegen der absolute Glaube das vom Wundertäter Geforderte und vom Wunderempfangenden Gewährte war.
Dem dichtenden Verstande liegt nun, für den Eindruck seiner Mitteilung, gar nichts am Glauben, sondern nur am Gefühlsverständnis. Er will einen großen Zusammenhang natürlicher Erscheinungen in einem schnell verständlichen Bilde darstellen, und dieses Bild muß daher ein den Erscheinungen in der Weise entsprechendes sein, daß das unwillkürliche Gefühl es ohne Widerstreben aufnimmt, nicht aber zur Deutung erst aufgefordert wird; wogegen das charakteristische des dogmatischen Wunders eben darin besteht, daß es den unwillkürlich nach seiner Erklärung suchenden Verstand, durch die dargetane Unmöglichkeit, es zu erklären, gebieterisch unterjocht und in dieser Unterjochung eben seine Wirkung sucht. Das dogmatische Wunder ist daher ebenso ungeeignet für die Kunst, als das gedichtete Wunder das höchste und notwendigste Erzeugnis des künstlerischen Anschauungs- und Darstellungsvermögens ist.
Stellen wir uns das Verfahren des Dichters in der Bildung seines Wunders deutlicher vor, so sehen wir zunächst, daß er, um einen großen Zusammenhang gegenseitig sich bedingender Handlungen zu verständlichem Überblicke darstellen zu können, diese Handlungen in sich selbst zu einem Maße zusammendrängen muß, in welchem sie bei leichtester Übersichtlichkeit dennoch nichts von der Fülle ihres Inhaltes verlieren. Ein bloßes Kürzen oder Ausscheiden geringerer Handlungsmomente würde an sich die beibehaltenen Momente nur entstellen, da diese stärkeren Momente der Handlung für das Gefühl einzig als Steigerung aus ihren geringeren Momenten gerechtfertigt werden können. Die um des dichterisch übersichtlichen Raumes wegen ausgeschiedenen Momente müssen daher in die beibehaltenen Hauptmomente selbst mit übertragen werden, d. h., sie müssen in ihnen auf irgendwelche, für das Gefühl kenntliche, Weise mitenthalten sein. Das Gefühl kann sie aber nur deshalb nicht vermissen, weil es zum Verständnis der Haupthandlung des Mitempfindens der Beweggründe bedarf, aus denen sie hervorging und die in jenen geringeren Handlungsmomenten sich kundtaten. Die Spitze einer Handlung ist an sich ein flüchtig vorübergehender Moment, der als reine Tatsache vollkommen bedeutungslos ist, sobald er nicht aus Gesinnungen motiviert erscheint, die an sich unser Mitgefühl in Anspruch nehmen: die Häufung solcher Momente muß den Dichter aller Fähigkeit berauben, sie an unser Gefühl zu rechtfertigen, denn diese Rechtfertigung, die Darlegung der Motive, ist es eben, was den Raum des Kunstwerkes einzunehmen hat, der vollkommen vergeudet wäre, wenn er von einer Masse unzurechtfertigender Handlungsmomente erfüllt würde.
Im Interesse der Verständlichkeit hat der Dichter daher die Momente der Handlung so zu beschränken, daß er den nötigen Raum für die volle Motivierung der beibehaltenen gewinne: alle die Motive, die in den ausgeschiedenen Momenten versteckt lagen, muß er den Motiven zur Haupthandlung in einer Weise einfügen, daß sie nicht als vereinzelt erscheinen, weil sie vereinzelt auch ihre besonderen Handlungsmomente – eben die ausgeschiedenen – bedingen würden; sie müssen dagegen in dem Hauptmotive so enthalten sein, daß sie dieses nicht zersplittern, sondern als ein Ganzes verstärken. Die Verstärkung des Motives bedingt aber notwendig auch wieder die Verstärkung des Handlungsmomentes selbst, der an sich nur die entsprechende Äußerung des Motives ist. Ein starkes Motiv kann sich nicht in einem schwachen Handlungsmomente äußern; Handlung und Motiv müßten dadurch unverständlich werden. – Um also das durch Aufnahme aller, im gewöhnlichen Leben nur in vielen Handlungsmomenten sich äußernder Motive, verstärkte Hauptmotiv verständlich kundzugeben, muß auch die aus ihm bedingte Handlung eine verstärkte, mächtige und in ihrer Einheit umfangreichere sein, als wie sie das gewöhnliche Leben hervorbringt, in welchem ganz dieselbe Handlung sich nur im Zusammenhange mit vielen Nebenhandlungen in einem ausgebreiteten Raume und in einer größeren Zeitausdehnung zutrug. Der Dichter, der sowohl diese Handlungen wie diese Raum- und Zeitausdehnung zugunsten eines übersichtlichen Verständnisses zusammendrängte, hatte dies alles nicht etwa nur zu beschneiden, sondern seinen ganzen wesentlichen Inhalt zu verdichten: die verdichtete Gestalt des wirklichen Lebens ist von diesem aber nur zu begreifen, wenn sie ihm – sich gegenübergehalten – vergrößert, verstärkt, ungewöhnlich erscheint. In seiner vielhandligen Zerstreutheit über Raum und Zeit vermag eben der Mensch seine eigene Lebenstätigkeit nicht zu verstehen; das für das Verständnis zusammengedrängte Bild dieser Tätigkeit gelangt ihm aber in der vom Dichter geschaffenen Gestalt zur Anschauung, in welchem diese Tätigkeit zu einem verstärktesten Momente verdichtet ist, der an sich allerdings ungewöhnlich und wunderhaft erscheint, seine Ungewöhnlichkeit und Wunderhaftigkeit aber in sich verschließt, und vom Beschauer keinesweges als Wunder aufgefaßt, sondern als verständlichste Darstellung der Wirklichkeit begriffen wird.
Vermöge dieses Wunders ist der Dichter aber fähig, die unermeßlichsten Zusammenhänge in allerverständlichster Einheit darzustellen. Je größer, je umfassender der Zusammenhang ist, den er begreiflich machen will, desto stärker hat er nur die Eigenschaften seiner Gestalten zu steigern; er wird Raum und Zeit, um sie der Bewegung dieser Gestalten entsprechend erscheinen zu lassen, aus umfangreichster Ausdehnung ebenfalls zu wunderbarer Gestaltung verdichten – die Eigenschaften unendlich zerstreuter Momente des Raumes und der Zeit ebenso zu dem Inhalte einer gesteigerten Eigenschaft machen, wie er die zerstreuten Motive zu einem Hauptmotive sammelte, und die Äußerung dieser Eigenschaft ebenso steigern, wie er die Handlung aus jenem Motive verstärkte. Selbst die ungewöhnlichsten Gestaltungen, die bei diesem Verfahren der Dichter vorzuführen hat, werden in Wahrheit nie unnatürliche sein, weil in ihnen nicht das Wesen der Natur entstellt, sondern nur ihre Äußerungen zu einem übersichtlichen, dem künstlerischen Menschen einzig verständlichen Bilde zusammengefaßt sind. Die dichterische Kühnheit, die die Äußerungen der Natur zu solchem Bilde zusammenfaßt, kann gerade erst uns mit Erfolge zu eigen sein, weil wir eben durch die Erfahrung über das Wesen der Natur aufgeklärt sind.
Solange die Erscheinungen der Natur den Menschen nur erst ein Objekt der Phantasie waren, mußte die menschliche Einbildungskraft ihnen auch unterworfen sein: ihr Scheinwesen beherrschte und bestimmte sie auch für die Anschauung der menschlichen Erscheinungswelt in der Weise, daß sie das Unerklärliche – nämlich: das Unerklärte – in ihr aus der willkürlichen Bestimmung einer außernatürlichen und außermenschlichen Macht herleiteten, die endlich im Mirakel Natur und Mensch zugleich aufhob. Als Reaktion gegen den Mirakelglauben machte sich dann selbst an den Dichter die rationell prosaische Forderung geltend, dem Wunder auch für die Dichtung entsagen zu sollen, und zwar geschah dies in den Zeiten, wo die bis dahin nur mit dem Auge der Phantasie betrachteten natürlichen Erscheinungen zum Gegenstande wissenschaftlicher Verstandesoperationen gemacht wurden. So lange war aber auch der wissenschaftliche Verstand über das Wesen dieser Erscheinungen nicht mit sich im reinen, als er nur in der anatomischen Aufdeckung all ihrer innerlichen Einzelnheiten sie als begreiflich sich darstellen zu können glaubte: erst von da an sind wir über sie im gewissen, wo wir die Natur als einen lebendigen Organismus, nicht als einen aus Absicht konstruierten Mechanismus, erkannt haben; wo wir darüber klar wurden, daß sie nicht geschaffen, sondern selbst das immer Werdende ist; daß sie das Zeugende und Gebärende als Männliches und Weibliches zugleich in sich schließt; daß Raum und Zeit, von denen wir sie umschlossen hielten, nur Abstraktionen von ihrer Wirklichkeit sind; daß wir ferner an diesem Wissen im allgemeinen uns genügen lassen können, weil wir zu seiner Bestätigung nicht mehr nötig haben, uns der weitesten Fernen durch mathematischen Kalkül zu versichern, da wir in allernächster Nähe und an der geringsten Erscheinung der Natur die Beweise für dasselbe finden können, was uns aus weitester Ferne nur zur Bestätigung unseres Wissens von der Natur zugeführt zu werden vermag. Seitdem wissen wir aber auch, daß wir zum Genusse der Natur da sind, weil wir sie genießen können, d. h. zu ihrem Genusse fähig sind. Der vernünftigste Genuß der Natur ist aber der, der unsere universelle Genußfähigkeit befriedigt: in der Universalität der menschlichen Empfängnisorgane, und in ihrer höchsten Steigerungsfähigkeit für den Genuß, liegt einzig das Maß. nach welchem der Mensch zu genießen hat, und der Künstler, der sich dieser höchsten Genußfähigkeit mitteilt, hat daher aus diesem Maße einzig auch das Maß der Erscheinungen zu nehmen, die er nach ihrem Zusammenhange ihm mitteilen will, und dieses braucht sich nur insofern nach den Äußerungen der Natur in ihren Erscheinungen zu richten, als sie ihrem inhaltlichen Wesen zu entsprechen haben, welches der Dichter durch Steigerung und Verstärkung nicht entstellt, sondern – eben in seiner Äußerung – nur zu dem Maße zusammendrängt, das dem Maße des erregtesten menschlichen Verlangens nach dem Verständnisse eines größesten Zusammenhanges entspricht. Gerade das vollste Verständnis des Wesens der Natur ermöglicht es erst dem Dichter, ihre Erscheinungen in wunderhafter Gestaltung uns vorzuführen, denn nur in dieser Gestaltung werden sie als Bedingungen gesteigerter menschlicher Handlungen uns verständlich.
Die Natur in ihrer realen Wirklichkeit sieht nur der Ver stand, der sie in ihre einzelnsten Teile zersetzt; will er diese Teile in ihrem lebenvollen organischen Zusammenhange sich darstellen, So wird die Ruhe der Betrachtung des Verstandes unwillkürlich durch eine höher und höher erregte Stimmung verdrängt, die endlich nur noch Gefühlsstimmung bleibt. In dieser Stimmung bezieht der Mensch die Natur unbewußt wiederum auf sich, denn sein individuell menschliches Gefühl gab ihm eben die Stimmung, in welcher er die Natur nach einem bestimmten Eindrucke empfand. In höchster Gefühlserregtheit ersieht der Mensch in der Natur ein teilnehmendes Wesen, wie sie denn in Wahrheit in dem Charakter ihrer Erscheinung auch den Charakter der menschlichen Stimmung ganz unausweichlich bestimmt. Nur bei voller egoistischer Kälte des Verstandes vermag er sich ihrer unmittelbaren Einwirkung zu entziehen – wiewohl er sich auch dann sagen muß, daß ihr mittelbarer Einfluß ihn doch immer bestimmt. – In großer Erregtheit gibt es für den Menschen aber auch keinen Zufall mehr in der Begegnung mit natürlichen Erscheinungen: die Äußerungen der Natur, die aus einem wohlbegründeten organischen Zusammenhange von Erscheinungen unser gewöhnliches Leben mit scheinbarer Willkür berühren, gelten uns bei gleichgültiger oder egoistisch befangener Stimmung, in der wir entweder nicht Lust oder nicht Zeit haben, über ihre Begründung in einem natürlichen Zusammenhange nachzudenken, als Zufall, den wir je nach der Absicht unseres menschlichen Vorhabens als günstig zu verwenden oder als ungünstig abzuwenden uns bemühen. Der Tieferregte, wenn er plötzlich aus seiner inneren Stimmung zu der umgebenden Natur sich wendet, findet, je nach ihrer Kundgebung, entweder eine steigernde Nahrung oder eine umwandelnde Anregung für seine Stimmung in ihr. Von wem er sich auf diese Weise beherrscht oder unterstützt fühlt, dem teilt er ganz in dem Maße eine große Macht zu, als er sich selbst in großer Stimmung befindet. Seinen eigenen empfundenen Zusammenhang mit der Natur fühlt er unwillkürlich auch in einem großen Zusammenhange der gegenwärtigen Naturerscheinungen mit sich, mit seiner Stimmung, ausgedrückt; seine durch sie genährte oder umgewandelte Stimmung erkennt er in der Natur wieder, die er somit in ihren mächtigsten Äußerungen so auf sich bezieht, wie er sich durch sie bestimmt fühlt. In dieser von ihm empfundenen großen Wechselwirkung – drängen sich vor seinem Gefühle die Erscheinungen der Natur zu einer bestimmten Gestalt zusammen, der er eine individuelle, ihrem Eindrucke auf ihn und seiner eigenen Stimmung entsprechende Empfindung, und endlich auch – ihm verständliche Organe, diese Empfindung auszusprechen, beilegt. Er spricht dann mit der Natur, und sie antwortet ihm. – Versteht er in diesem Gespräche die Natur nicht besser als der Betrachter derselben durch das Mikroskop? Was versteht dieser von der Natur als das, was er nicht zu verstehen braucht? Jener vernimmt aber das von ihr, was ihm in der höchsten Erregtheit seines Wesens notwendig ist, und worin er die Natur nach einem unendlich großen Umfange versteht, und zwar gerade so versteht, wie der umfassendste Verstand sie sich nicht vergegenwärtigen kann. Hier liebt der Mensch die Natur; er adelt sie und erhebt sie zur sympathetischen Teilnehmerin an der höchsten Stimmung des Menschen, dessen physisches Dasein sie unbewußt aus sich bedang.
Wollen wir nun das Werk des Dichters nach dessen höchstem denkbaren Vermögen genau bezeichnen, so müssen wir es
den aus dem klarsten menschlichen Bewußtsein gerechtfertigten, der Anschauung des immer gegenwärtigen Lebens entsprechend neu erfundenen und im Drama zur verständlichsten Darstellung gebrachten Mythos
nennen. –
Wir haben uns nur noch zu fragen, durch welche Ausdrucksmittel dieser Mythos am verständlichsten im Drama darzustellen ist, und müssen hierzu auf das Moment des ganzen Kunstwerkes zurückgehen, das es seinem Wesen
nach bedingt, und dies ist die notwendige Rechtfertigung der Handlung aus ihren Motiven, für die sich der dichtende Verstand an das unwillkürliche Gefühl wendet, um in dessen unerzwungener Mitempfindung das Verständnis für sie zu begründen. Wir sahen, daß die für das praktische Verständnis notwendige Verdichtung der mannigfaltigen und in der realen Wirklichkeit unermeßlich weit verzweigten Handlungsmomente aus dem Verlangen des Dichters bedingt war, einen großen Zusammenhang
von Erscheinungen des menschlichen Lebens darzustellen, aus welchem einzig die Notwendigkeit dieser Erscheinungen begriffen werden kann. Diese Verdichtung konnte er, um seinem Hauptzwecke zu entsprechen, nur dadurch ermöglichen, daß er in die Motive der für die wirkliche Darstellung bestimmten Momente der Handlung alle die Motive, die den ausgeschiedenen Handlungsmomenten zugrunde lagen, mit aufnahm und diese Aufnahme dadurch vor dem Gefühle rechtfertigte, daß er sie als eine Verstärkung der
Hauptmotive erscheinen ließ, die aus sich heraus wieder eine Verstärkung der ihnen entsprechenden Handlungsmomente bedangen. Wir sahen endlich, daß diese Verstärkung des Handlungsmomentes nur durch Erhöhung desselben über das gewöhnliche menschliche Maß, durch Dichtung des – der menschlichen Natur wohl vollkommen entsprechenden, ihre Fähigkeiten aber in erregtester, dem gewöhnlichen Leben unerreichbarer Potenz steigernden – Wunders erreicht werden konnte – des Wunders, welches
nicht außerhalb des Lebens stehen, sondern gerade aus ihm nur so hervorragen soll, daß es sich über dem gewöhnlichen Leben hin kenntlich macht –, und haben jetzt uns nur noch genau darüber zu verständigen, worin die Verstärkung der Motive bestehen soll, die jene Verstärkung der Handlungsmomente aus sich zu bedingen haben.
Was heißt in dem dargelegten Sinne »Verstärkung der Motive«?
Unmöglich kann hierunter – wie wir bereits sahen – eine Häufung
der Motive gemeint sein, weil diese, ohne mögliche Äußerung als Handlung, dem Gefühle unverständlich und selbst dem Verstande – wenn selbst erklärlich – doch ohne Rechtfertigung bleiben müßten. Viele Motive bei gedrängter Handlung können nur klein, launenhaft und unwürdig erscheinen und unmöglich anders als in der Karikatur zu einer großen Handlung verwendet werden. Die Verstärkung eines Motives kann daher nicht in einer bloßen Hinzufügung kleinerer Motive zu ihm bestehen, sondern in
dem vollkommenen Aufgehen vieler Motive in dieses eine. Das verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen eigene und je nach diesen Verschiedenheiten sich besonders gestaltende Interesse soll – sobald diese Menschen, Zeiten und Umstände im Grunde von typischer Ähnlichkeit sind und an sich eine Wesenheit der menschlichen Natur dem beschauenden Bewußtsein deutlich machen – zu dem Interesse eines Menschen zu einer
bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen gemacht werden. Alles äußerlich Verschiedene soll in dem Interesse dieses Menschen zu einem Bestimmten erhoben werden, in welchem sich das Interesse aber nach seinem größten und erschöpfendsten Umfange kundgeben muß. Dies heißt aber nichts anderes, als diesem Interesse alles Partikularistische, Zufällige entnehmen und es in seiner vollen Wahrheit als notwendigen, reinmenschlichen Gefühlsausdruck geben. Eines solchen Gefühlsausdruckes ist
der Mensch unfähig, der über sein notwendiges Interesse mit sich noch nicht einig ist; dessen Empfindung noch nicht den Gegenstand gefunden hat, der sie zu einer bestimmten, notwendigen Äußerung drängt, sondern vor machtlosen, zufälligen, unsympathetischen äußeren Erscheinungen sich noch in sich selbst zersplittert. Tritt diese machtvolle Erscheinung aus der Außenwelt aber an ihn hinan, die ihn entweder so feindselig fremd berührt, daß er seine volle Individualität zu ihrem Abstoße von sich
zusammenballt, oder mit solcher Unwiderstehlichkeit anzieht, daß er sich mit seiner ganzen Individualität in sie aufzugehen sehnt – so wird auch sein Interesse bei vollster Bestimmtheit ein so umfangreiches, daß es alle seine sonstigen zersplitterten, unkräftigen Interessen in sich aufnimmt und vollständig verzehrt.
Das Moment dieser Verzehrung ist der Akt, den der Dichter vorzubereiten hat, um ein Motiv derart zu verstärken, daß aus ihm ein starker Handlungsmoment
hervorgehen kann; und diese Vorbereitung ist das letzte Werk seiner gesteigerten Tätigkeit. Bis hierher reicht sein Organ, das des dichtenden Verstandes, die Wortsprache aus; denn bis hierher hatte er Interessen darzulegen, an deren Deutung und Gestaltung ein notwendiges Gefühl noch keinen Anteil nahm, die aus gegebenen Umständen von außen her verschiedenartig beeinflußt wurden, ohne daß hieraus nach innen in einer Weise bestimmend eingewirkt ward, durch die das innere
Gefühl zu einer notwendigen, wiederum nach außen bestimmenden, wahllosen Tätigkeit gedrängt worden wäre. Hier ordnete noch der kombinierende, in Einzelnheiten zerlegende, oder diese und jene Einzelnheit auf diese oder jene Weise ineinander fügende, Verstand; hier hatte er nicht unmittelbar darzustellen, sondern zu schildern, Vergleichungen zu ziehen, Ähnliches durch Ähnliches begreiflich zu machen – und hierzu reichte nicht nur sein Organ der Wortsprache aus, sondern es war das
einzige, durch das er sich verständlich machen konnte. – Da, wo aber das von ihm Vorbereitete wirklich werden soll, wo er nicht mehr zu sondern und zu vergleichen, sondern das alle Wahl Verneinende und dagegen sich selbst bestimmt und unbedingt Gebende, das entscheidende und bis zur entscheidenden Kraft gestärkte Motiv in dem Ausdrucke eines notwendigen, gebieterischen Gefühles selbst sich kundgeben lassen will – da kann er mit der nur schildernden, deutenden Wortsprache
nicht mehr wirken, außer wenn er sie eben so steigert, wie er das Motiv gesteigert hat, und dies vermag er nur durch ihren Erguß in die Tonsprache.
[ VI ]
Die Tonsprache ist Anfang und Ende der Wortsprache, wie das Gefühl Anfang und Ende des Verstandes, der Mythos Anfang und Ende der Geschichte, die Lyrik Anfang und Ende der Dichtkunst ist. Die Vermittlerin zwischen Anfang und Mittelpunkt, wie zwischen diesem und dem Ausgangspunkte, ist die Phantasie.
Der Gang dieser Entwickelung ist aber ein solcher, daß er nicht eine Rückkehr, sondern ein Fortschritt bis zum Gewinn der höchsten menschlichen Fähigkeit ist und nicht nur von der Menschheit im allgemeinen, sondern von jedem sozialen Individuum dem Wesen nach durchschritten wird.
Wie im unbewußten Gefühle alle Keime zur Entwickelung des Verstandes, in diesem aber die Nötigung zur Rechtfertigung des unbewußten Gefühles liegt und erst der aus dem Verstande dieses Gefühl rechtfertigende Mensch der vernünftige Mensch ist; wie in dem durch die Geschichte, die auf gleiche Weise aus ihm entstand, gerechtfertigten Mythos erst das wirklich verständliche Bild des Lebens gewonnen wird: so enthält auch die Lyrik alle Keime der eigentlichen Dichtkunst, die endlich notwendig nur die Rechtfertigung der Lyrik aussprechen kann, und das Werk dieser Rechtfertigung ist eben das höchste menschliche Kunstwerk, das vollkommene Drama.
Das ursprünglichste Äußerungsorgan des innern Menschen ist aber die Tonsprache, als unwillkürlichster Ausdruck des von außen angeregten inneren Gefühles. Eine ähnliche Ausdrucksweise wie die, welche noch heute einzig den Tieren zu eigen ist, war jedenfalls auch die erste menschliche; und diese können wir uns jeden Augenblick ihrem Wesen nach vergegenwärtigen, sobald wir aus unserer Wortsprache die stummen Mitlauter ausscheiden und nur noch die tönenden Laute übriglassen. In diesen Vokalen, wenn wir sie uns von den Konsonanten entkleidet denken und in ihnen allein den mannigfaltigen und gesteigerten Wechsel innerer Gefühle nach ihrem verschiedenartigen, schmerzlichen oder freudvollen Inhalte kundgegeben vorstellen, erhalten wir ein Bild von der ersten Empfindungssprache der Menschen, in der sich das erregte und gesteigerte Gefühl gewiß nur in einer Fügung tönender Ausdruckslaute mitteilen konnte, die ganz von selbst als Melodie sich darstellen mußte. Diese Melodie, welche von entsprechenden Leibesgebärden in einer Weise begleitet wurde, daß sie selbst gleichzeitig wiederum nur als der entsprechende innere Ausdruck einer äußeren Kundgebung durch die Gebärde erschien, und deshalb auch von der wechselnden Bewegung dieser Gebärde ihr zeitliches Maß im Rhythmus – der Art entnahm, daß sie es dieser wieder als melodisch gerechtfertigtes Maß für ihre eigene Kundgebung zuführte –, diese rhythmische Melodie, die wir, im Betracht der unendlich größeren Vielseitigkeit des menschlichen Empfindungsvermögens gegenüber dem der Tiere, und namentlich auch deshalb, weil sie eben in der – keinem Tiere zu Gebote stehenden – Wechselwirkung zwischen dem inneren Ausdrucke der Stimme und dem äußeren der Gebärde sich undenklich zu steigern vermag, mit Unrecht nach ihrer Wirkung und Schönheit gering anschlagen würden – diese Melodie war ihrer Entstehung und Natur nach von sich aus so maßgebend für den Wortvers, daß dieser in einem Grade aus ihr bedingt erscheint, der ihn geradeweges ihr unterordnete – was uns heute noch aus der genauen Betrachtung jedes echten Volksliedes einleuchtet, in welchem wir den Wortvers deutlich aus der Melodie bedingt erkennen, und zwar so, daß er sich den ihr eigentümlichsten Anordnungen, auch für den Sinn, oft vollkommen zu fügen hat.
Diese Erscheinung zeigt uns sehr erklärlich die Entstehung der Sprache. Im Worte sucht sich der tönende Laut der reinen Gefühlssprache ebenso zur kenntlichen Unterscheidung zu bringen, als das innere Gefühl die auf die Empfindung einwirkenden äußeren Gegenstände zu unterscheiden, sich über sie mitzuteilen und endlich den inneren Drang zu dieser Mitteilung selbstverständlich zu machen sucht. In der reinen Tonsprache gab das Gefühl bei der Mitteilung des empfangenen Eindruckes nur sich selbst zu verstehen, und vermochte dies, unterstützt von der Gebärde, durch die mannigfaltigste Übung und Senkung, Ausdehnung und Kürzung, Steigerung und Abnahme der tönenden Laute: um aber die äußeren Gegenstände nach ihrer Unterscheidung selbst zu bezeichnen, mußte das Gefühl auf eine dem Eindrucke des Gegenstandes auf sich entsprechende, diesen Eindruck ihm vergegenwärtigende Weise den tönenden Laut in ein unterscheidendes Gewand kleiden, das es diesem Eindrucke und in ihm somit dem Gegenstande selbst entnahm. Dieses Gewand wob sie aus stummen Mitlautern, die es als An- oder Ablaut, oder auch aus beiden zusammen dem tönenden Laute so anfügte, daß er von ihnen in der Weise umschlossen und zu einer bestimmten, unterscheidbaren Kundgebung angehalten wurde, wie der unterschiedene Gegenstand sich selbst nach außen durch ein Gewand – das Tier durch sein Fell, der Baum durch seine Rinde u.s.w. – als ein besonderer abschloß und kundgab. Die so bekleideten und durch diese Bekleidung unterschiedenen Vokale bilden die Sprachwurzeln, aus deren Fügung und Zusammenstellung das ganze sinnliche Gebäude unserer unendlich verzweigten Wortsprache errichtet ist.
Beachten wir zunächst aber, mit welch großer instinktiver Vorsicht sich diese Sprache nur sehr allmählich von ihrer nährenden Mutterbrust, der Melodie, und ihrer Milch, dem tönenden Laute, entfernte. Dem Wesen einer ungekünstelten Anschauung der Natur und dem Verlangen nach Mitteilung der Eindrücke einer solchen Anschauung entsprechend, stellte die Sprache nur Verwandtes und Ähnliches zusammen, um in dieser Zusammenstellung nicht nur das Verwandte durch seine Ähnlichkeit deutlich zu machen und das Ähnliche durch seine Verwandtschaft zu erklären, sondern auch, um durch einen Ausdruck, der auf Ähnlichkeit und Verwandtschaft seiner eigenen Momente sich stützt, einen desto bestimmteren und verständlicheren Eindruck auf das Gefühl hervorzubringen. Hierin äußerte sich die sinnlich dichtende Kraft der Sprache: sie war zur Bildung unterschiedener Ausdrucksmomente in den Sprachwurzeln dadurch gelangt, daß sie den im bloßen subjektiven Gefühlsausdrucke auf einen Gegenstand – nach Maßgabe seines Eindruckes – verwendeten tönenden Laut in ein umgebendes Gewand stummer Laute gekleidet hatte, das dem Gefühle als objektiver Ausdruck des Gegenstandes nach einer ihm selbst entnommenen Eigenschaft galt. Wenn die Sprache nun solche Wurzeln nach ihrer Ähnlichkeit und Verwandtschaft zusammenstellte, so verdeutlichte sie dem Gefühle in gleichem Maße den Eindruck der Gegenstände, wie den ihm entsprechenden Ausdruck durch gesteigerte Verstärkung dieses Ausdruckes, durch welche sie den Gegenstand selbst wiederum als einen verstärkten, nämlich als einen an sich vielfachen, seinem Wesen nach durch Verwandtschaft und Ähnlichkeit aber einheitlichen bezeichnete. Dieses dichtende Moment der Sprache ist die Alliteration oder der Stabreim, in dem wir die urälteste Eigenschaft aller dichterischen Sprache erkennen.
Im Stabreime werden die verwandten Sprachwurzeln in der Weise zueinander gefügt, daß sie, wie sie sich dem sinnlichen Gehöre als ähnlich lautend darstellen, auch ähnliche Gegenstände zu einem Gesamtbilde von ihnen verbinden, in welchem das Gefühl sich zu einem Abschlusse über sie äußern will. Ihre sinnlich kenntliche Ähnlichkeit gewinnen sie entweder aus der Verwandtschaft der tönenden Laute, zumal wenn sie ohne konsonierenden Anlaut nach vorn offenstehen; oder aus der Gleichheit dieses Anlautes selbst, der sie eben als ein dem Gegenstande entsprechendes Besonderes charakterisiert; oder auch aus der Gleichheit des, die Wurzel nach hinten schließenden, Ablautes (als Assonanz), sobald in diesem Ablaute die individualisierende Kraft liegt. Die Verteilung und Anordnung dieser sich reimenden Wurzeln geschieht nach ähnlichen Gesetzen wie die, die uns nach jeder künstlerischen Richtung hin in der für das Verständnis notwendigen Wiederholung derjenigen Motive bestimmen, auf die wir ein Hauptgewicht legen, und die wir deshalb zwischen geringeren, von ihnen selbst wiederum bedingten Motiven so aufstellen, daß sie als die bedingenden und wesenhaften kenntlich erscheinen.
Da ich mir vorbehalten muß, zum Zweck der Darlegung der möglichen Einwirkung des Stabreimes auf unsere Musik, zu diesem Gegenstande selbst näher zurückzukehren, begnüge ich mich jetzt nur, darauf aufmerksam zu machen, in welchem bedingten Verhältnisse der Stabreim und der durch ihn abgeschlossene Wortvers zu jener Melodie stand, die wir als ursprünglichste Kundgebung eines mannigfaltigeren, in seiner Mannigfaltigkeit sich aber wieder zur Einheit abschließenden, menschlichen Gefühles zu verstehen haben. Wir haben nicht nur den Wortvers seiner Ausdehnung nach, sondern auch den seine Ausdehnung bestimmenden Stabreim seiner Stellung und überhaupt seiner Eigenschaft nach uns nur aus jener Melodie zu erklären, die in ihrer Kundgebung wiederum nach der natürlichen Fähigkeit des menschlichen Atems und nach der Möglichkeit des Hervorbringens stärkerer Betonungen in einem Atem bedingt war. Die Dauer einer Ausströmung des Atems durch das Singorgan bestimmte die Ausdehnung eines Abschnittes der Melodie, in welchem ein beziehungsvoller Teil desselben zum Abschlusse kommen mußte. Die Möglichkeit dieser Dauer bestimmte aber auch die Zahl der besonderen Betonungen in dem melodischen Abschnitte, die, waren die besonderen Betonungen von leidenschaftlicher Stärke, wegen des schnelleren Verzehrens des Atems durch sie, vermindert oder – erforderten diese Betonungen bei minderer Stärke einen schnelleren Atemverbrauch nicht, vermehrt wurde. Diese Betonungen, die mit der Gebärde zusammenfielen und durch sie sich zum rhythmischen Maße fügten, verdichteten sich sprachlich nun in die stabgereimten Wurzelwörter, deren Zahl und Stellung sie so bedangen, wie der durch den Atem bedingte melodische Abschnitt die Länge und Ausdehnung des Verses bestimmte. – Wie einfach ist die Erklärung und das Verständnis aller Metrik, wenn wir uns die vernünftige Mühe geben, auf die natürlichen Bedingungen alles menschlichen Kunstvermögens zurückzugehen, aus denen wir auch einzig wieder nur zu wirklicher Kunstproduktivität gelangen können! –
Verfolgen wir für jetzt aber nur den Entwickelungsverlauf der Wortsprache, und versparen wir es uns, auf die von ihr verlassene Melodie später zurückzukommen. –
Ganz in dem Grade, als das Dichten aus einer Tätigkeit des Gefühles zu einer Angelegenheit des Verstandes wurde, löste sich der in der Lyrik vereinigte ursprüngliche und schöpferische Bund der Gebärden-, Ton- und Wortsprache auf; die Wortsprache war das Kind, das Vater und Mutter verließ, um in der weiten Welt sich allein fortzuhelfen. – Wie sich vor dem Auge des heranwachsenden Menschen die Gegenstände und ihre Beziehungen zu seinem Gefühle vermehrten, so häuften sich die Worte und Wortverbindungen der Sprache, die den vermehrten Gegenständen und Beziehungen entsprechen sollten. So lange hierbei der Mensch die Natur noch im Auge behielt und mit dem Gefühle sie zu erfassen vermochte, so lange erfand er auch noch Sprachwurzeln, die den Gegenständen und ihren Beziehungen charakteristisch entsprachen. Als er diesem befruchtenden Quelle seines Sprachvermögens im Drange des Lebens aber endlich den Rücken kehrte, da verdorrte auch seine Erfindungskraft, und er hatte sich mit dem Vorrate, der ihm jetzt zum übermachten Erbe geworden, nicht aber mehr ein immer neu zu erwerbender Besitz war, in der Weise zu begnügen, daß er die ererbten Sprachwurzeln nach Bedürfnis für außernatürliche Gegenstände doppelt und dreifach zusammenfügte, um dieser Zusammenfügung willen sie wieder kürzte und zur Unkenntlichkeit namentlich auch dadurch entstellte, daß er den Wohllaut ihrer tönenden Vokale zum hastigen Sprachklange verflüchtigte, und durch Häufung der, für die Verbindung unverwandter Wurzeln nötigen, stummen Laute das lebendige Fleisch der Sprache empfindlich verdürrte. Als die Sprache so das nur durch das Gefühl zu ermöglichende, unwillkürliche Verständnis ihrer eigenen Wurzeln verlor, konnte sie in diesen natürlich auch nicht mehr den Betonungen jener nährenden Muttermelodie entsprechen. Sie begnügte sich, entweder da, wo – wie im griechischen Altertum – der Tanz ein unvermißlicher Teil der Lyrik blieb, so lebhaft wie möglich der Rhythmik der Melodie sich anzuschmiegen, oder sie suchte da, wo – wie bei den modernen Nationen – der Tanz sich immer vollständiger von der Lyrik ausschied, nach einem anderen Bande für ihre Verbindung mit den melodischen Atemabsätzen und verschaffte sich dies im Endreime.
Der Endreim, auf den wir wegen seiner Stellung zu unserer Musik ebenfalls zurückkommen müssen, stellte sich am Ausgange des melodischen Abschnittes auf, ohne den Betonungen der Melodie selbst mehr entsprechen zu können. Er knüpfte nicht mehr das natürliche Band der Ton- und Wortsprache, in welchem der Stabreim wurzelhafte Verwandtschaften zu den melodischen Betonungen für den äußeren und inneren Sinn verständlich vorführte, sondern er flatterte nur lose am Ende der Bänder der Melodie, zu welcher der Wortvers in eine immer willkürlichere und unfügsamere Stellung geriet. – Je verwickelter und vermittelnder aber endlich die Wortsprache verfahren mußte, um Gegenstände und Beziehungen zu bezeichnen, die nur der gesellschaftlichen Konvention, nicht aber der sich selbst bestimmenden Natur der Dinge angehörten; je mehr die Sprache bemüht sein mußte, Bezeichnungen für Begriffe zu finden, die, an sich von natürlichen Erscheinungen abgezogen, wieder zu Kombinationen dieser Abstraktionen verwandt werden sollten; je mehr sie hierzu die ursprüngliche Bedeutung der Wurzeln zu doppelt und dreifacher, künstlich ihnen untergelegter, nur noch zu denkender, nicht mehr zu fühlender, Bedeutung hinaufschrauben mußte, und je umständlicher sie sich den mechanischen Apparat herzustellen hatte, der diese Schrauben und Hebel bewegen und stützen sollte: desto widerspenstiger und fremder ward sie gegen jene Urmelodie, an die sie endlich selbst die entfernteste Erinnerung verlor, als sie sich atem- und tonlos in das graue Gewühl der Prosa stürzen mußte.
Der durch die Phantasie aus dem Gefühle verdichtete Verstand gewann in der prosaischen Wortsprache ein Organ, durch welches er allein, und zwar ganz in dem Grade sich verständlich machen konnte, in welchem sie dem Gefühle unverständlich ward. In der modernen Prosa sprechen wir eine Sprache, die wir mit dem Gefühle nicht verstehen, deren Zusammenhang mit den Gegenständen, die durch ihren Eindruck auf uns die Bildung der Sprachwurzeln nach unserem Vermögen bedang, uns unkenntlich geworden ist; die wir sprechen, wie sie uns von Jugend auf gelehrt wird, nicht aber wie wir sie bei erwachsender Selbständigkeit unseres Gefühles etwa aus uns und den Gegenständen selbst begreifen, nähren und bilden; deren Gebräuchen und auf die Logik des Verstandes begründeten Forderungen wir unbedingt gehorchen müssen, wenn wir uns mitteilen wollen. Diese Sprache beruht vor unserem Gefühle somit auf einer Konvention, die einen bestimmten Zweck hat, nämlich nach einer bestimmten Norm, in der wir denken und unser Gefühl beherrschen sollen, uns in der Weise verständlich zu machen, daß wir eine Absicht des Verstandes an den Verstand darlegen. Unser Gefühl, das sich in der ursprünglichen Sprache unbewußt ganz von selbst ausdrückte, können wir in dieser Sprache nur beschreiben, und zwar auf noch bei weitem umständlichere Weise als einen Gegenstand des Verstandes, weil wir aus unserer Verstandessprache auf eben die komplizierte Weise uns zu ihrem eigentlichen Quelle hinabschrauben müssen, wie wir zu ihr uns aus diesem Quelle hinaufgeschraubt haben. – Unsere Sprache beruht demnach auf einer religiös-staatlich-historischen Konvention, die unter der Herrschaft der personifizierten Konvention, unter Ludwig XIV., in Frankreich sehr folgerichtig von einer Akademie auf Befehl auch als gebotene Norm festgestellt ward. Auf einer stets lebendigen und gegenwärtigen, wirklich empfundenen Überzeugung beruht sie dagegen nicht, sondern sie ist das angelernte Gegenteil dieser Überzeugung. Wir können nach unserer innersten Empfindung in dieser Sprache gewissermaßen nicht mitsprechen, denn es ist uns unmöglich, nach dieser Empfindung in ihr zu erfinden; wir können unsere Empfindungen in ihr nur dem Verstande, nicht aber dem zuversichtlich verstehenden Gefühle mitteilen, und ganz folgerichtig suchte sich daher in unserer modernen Entwickelung das Gefühl aus der absoluten Verstandessprache in die absolute Tonsprache, unsere heutige Musik, zu flüchten.
In der modernen Sprache kann nicht gedichtet werden, d. h., eine dichterische Absicht kann in ihr nicht ver wirklicht, sondern eben nur als solche ausgesprochen werden.
Die dichterische Absicht ist nicht eher verwirklicht, als bis sie aus dem Verstande an das Gefühl mitgeteilt ist. Der Verstand, der nur eine Absicht mitteilen will, die in der Sprache des Verstandes vollständig mitzuteilen ist, läßt sich nicht zu einer dichterischen, d. h. verbindenden, Absicht an, sondern seine Absicht ist eine zersetzende, auflösende. Der Verstand dichtet nur, wenn er das Zerstreute nach seinem Zusammenhange erfaßt und diesen Zusammenhang zu einem unfehlbaren Eindrucke mitteilen will. Ein Zusammenhang ist nur von einem, dem Gegenstande und der Absicht entsprechenden, entfernteren Standpunkte aus übersichtlich wahrzunehmen; das Bild, das sich so dem Auge darbietet, ist nicht die reale Wirklichkeit des Gegenstandes, sondern nur die Wirklichkeit, die diesem Auge als Zusammenhang erfaßbar ist. Die reale Wirklichkeit vermag nur der lösende Verstand nach ihren Einzelnheiten zu erkennen und durch sein Organ, die moderne Verstandessprache, mitzuteilen; die ideale, einzig verständliche Wirklichkeit vermag nur der dichtende Verstand als einen Zusammenhang zu verstehen, kann sie aber verständlich nur durch ein Organ mitteilen, das dem verdichteten Gegenstande als ein verdichtendes auch darin entspricht, daß es ihn dem Gefühle am verständlichsten mitteilt. Ein großer Zusammenhang von Erscheinungen, aus welchem diese als einzelne einzig erklärbar waren, ist – wie wir sahen – nur durch Verdichtung dieser Erscheinungen darzustellen; diese Verdichtung heißt für die Erscheinungen des menschlichen Lebens Vereinfachung, und um dieser willen Verstärkung der Handlungsmomente, die wiederum nur aus verstärkten Motiven hervorgehen konnten. Ein Motiv verstärkt sich aber nur durch Aufgehen der in ihm enthaltenen verschiedenen Verstandesmomente in ein entscheidendes Gefühlsmoment, zu dessen überzeugender Mitteilung der Wortdichter nur durch das ursprüngliche Organ des inneren Seelengefühles, die Tonsprache, gelangen kann.
Der Dichter müßte seine Absicht aber unverwirklicht sehen, wenn er sie dadurch unverhüllt aufdeckte, daß er erst im Augenblicke der höchsten Not zu dem erlösenden Ausdrucke der Tonsprache griffe. Wollte er erst da, wo als vollendetster Ausdruck des gesteigertsten Gefühles die Melodie einzutreten hat, die nackte Wortsprache zur vollen Tonsprache umstimmen, so würde er Verstand und Gefühl zugleich in die höchste Verwirrung stürzen, aus der er beide nur durch das unverhohlenste Aufdecken seiner Absicht wieder reißen könnte – also dadurch, daß er das Vorgeben des Kunstwerkes offen wieder zurücknehme, d. h. an den Verstand seine Absicht als solche, an das Gefühl aber einen durch die Absicht nicht bestimmten, zerfließenden und überflüssigen Gefühlsausdruck, den unserer modernen Oper, mitteilt. Die fertige Melodie ist dem Verstande, der bis zu ihrem Eintritte einzig, und selbst auch für die Deutung erwachsender Gefühle, beschäftigt gewesen wäre, unverständlich; er kann nur in dem Verhältnisse an ihr teilnehmen, als er selbst in das Gefühl übergegangen ist, welches in seiner wachsenden Erregung bis zur Vollendung seines erschöpfendsten Ausdruckes gelangt. An dem Wachsen dieses Ausdruckes bis zu seiner höchsten Fülle kann der Verstand nur von dem Augenblicke an teilnehmen, wo er auf den Boden des Gefühles tritt. Diesen Boden betritt der Dichter aber mit Bestimmtheit von da an, wo er sich aus der Absicht des Dramas zu deren Verwirklichung anläßt, denn das Verlangen nach dieser Verwirklichung ist in ihm bereits die notwendige und drängende Erregung desselben Gefühles, an das er einen gedachten Gegenstand zum sichern, erlösenden Verständnisse mitteilen will. – Seine Absicht zu verwirklichen kann der Dichter erst von dem Augenblicke an hoffen, wo er sie verschweigt und als Geheimnis für sich behält, d. h. soviel, als wenn er sie in der Sprache, in der sie als nackte Verstandesabsicht einzig mitzuteilen wäre, gar nicht mehr ausspricht. Sein erlösendes, nämlich verwirklichendes, Werk beginnt erst von da an, wo er in der erlösenden und verwirklichenden neuen Sprache sich kundzugeben vermag, in der er schließlich den tiefsten Inhalt seiner Absicht am überzeugendsten einzig auch kundtun kann – also von da an, wo das Kunstwerk überhaupt beginnt, und das ist von dem ersten Auftritte des Dramas an.
Die von vornherein anzustimmende Tonsprache ist daher das Ausdrucksorgan, durch welches der Dichter sich verständlich machen muß, der sich aus dem Verstande an das Gefühl wendet und hierfür sich auf einen Boden zu stellen hat, auf dem er einzig mit dem Gefühle verkehren kann. Die von dem dichtenden Verstande ersehenen verstärkten Handlungsmomente können, ihrer notwendig verstärkten Motive wegen, nur auf einem Boden zu verständlicher Erscheinung kommen, der an und für sich ein über das gewöhnliche Leben und seinen üblichen Eindruck erhobener ist und so über den Boden des gewöhnlichen Ausdruckes hervorragt, wie jene verstärkten Gestalten und Motive über die des gewöhnlichen Lebens hervorragen sollen. Dieser Ausdruck kann aber ebensowenig ein unnatürlicher sein, als jene Handlungen und Motive unmenschliche und unnatürliche sein dürfen. Die Gestaltungen des Dichters haben dem wirklichen Leben insofern vollkommen zu entsprechen, als sie dies nur in seinem gedrängtesten Zusammenhange und in der Kraft seiner höchsten Erregtheit darstellen sollen; und so soll daher auch ihr Ausdruck nur der des erregtesten menschlichen Gefühles, nach seinem höchsten Vermögen für die Kundgebung sein. Unnatürlich müßten die Gestalten des Dichters aber erscheinen, wenn sie bei höchster Steigerung ihrer Handlungsmomente und Motive diese durch das Organ des gewöhnlichen Lebens kundgäben; unverständlich und lächerlich jedoch sogar, wenn sie abwechselnd sich dieses Organes und jenes ungewöhnlich erhöhten bedienten; ebenso wie wenn sie vor unseren Augen den Boden des gewöhnlichen Lebens abwechselnd mit jenem erhöhten des dichterischen Kunstwerkes vertauschten.
Betrachten wir die Tätigkeit des Dichters nun näher, so sehen wir, daß die Verwirklichung seiner Absicht einzig darin besteht, die Darstellung der verstärkten Handlungen seiner gedichteten Gestalten durch Darlegung ihrer Motive an das Gefühl, und diese wieder durch einen Ausdruck zu ermöglichen, der insofern seine Tätigkeit einnimmt, als die Erfindung und Herstellung dieses Ausdruckes in Wahrheit erst die Vorführung jener Motive und Handlungen möglich macht.
Dieser Ausdruck ist somit die Bedingung der Verwirklichung seiner Absicht, die ohne ihn nie aus dem Bereiche des Gedankens in das der Wirklichkeit zu treten vermag. Der hier einzig ermöglichende Ausdruck ist aber ein durchaus anderer als der des Sprachorganes des dichterischen Verstandes selbst. Der Verstand ist daher von der Notwendigkeit gedrängt, sich einem Elemente zu vermählen, welches seine dichterische Absicht als befruchtenden Samen in sich aufzunehmen und diesen Samen durch sein eigenes, ihm notwendiges Wesen so zu nähren und zu gestalten vermöge, daß es ihn als verwirklichenden und erlösenden Gefühlsausdruck gebäre.
Dieses Element ist dasselbe weibliche Mutterelement, aus dessen Schoße, dem urmelodischen Ausdrucksvermögen – als es von dem außer ihm liegenden natürlichen, wirklichen Gegenstande befruchtet ward, das Wort und die Wortsprache so hervorging, wie der Verstand aus dem Gefühle erwuchs, der somit die Verdichtung dieses Weiblichen zum Männlichen, Mitteilungsfähigen ist. Wie der Verstand nun wiederum das Gefühl zu befruchten hat – wie es ihn bei dieser Befruchtung drängt, sich von dem Gefühle umfaßt, in ihm sich gerechtfertigt, von ihm sich widergespiegelt, und in dieser Widerspiegelung sich selbst wiedererkennbar, d. h. sich überhaupt erkennbar, zu finden –, so drängt es das Wort des Verstandes, sich im Tone wiederzuerkennen, die Wortsprache in der Tonsprache sich gerechtfertigt zu finden. Der Reiz, der diesen Drang erweckt und zur höchsten Erregtheit steigert, liegt außerhalb des Gedrängten in dem Gegenstande seiner Sehnsucht, der sich ihm zuerst durch die Phantasie – die allmächtige Vermittlerin zwischen Verstand und Gefühl – in seinem Reize vorstellt, an dem er sich aber erst befriedigen kann, wenn er sich in seine volle Wirklichkeit ergießt. Dieser Reiz ist die Einwirkung des »ewig Weiblichen«, die den egoistischen männlichen Verstand aus sich herauslockt, und selbst nur dadurch möglich ist, daß das Weibliche das sich Verwandte in ihm anregt: das, wodurch der Verstand dem Gefühle aber verwandt ist, ist das Reinmenschliche, das, was das Wesen der menschlichen Gattung als solcher ausmacht. An diesem Reinmenschlichen nährt sich das Männliche wie das Weibliche, das durch die Liebe verbunden erst Mensch ist.
Der notwendige Drang des dichtenden Verstandes in diesem Dichten ist daher die Liebe – und zwar die Liebe des Mannes zum Weibe: nicht aber jene frivole, unzüchtige Liebe, in der der Mann nur sich durch einen Genuß befriedigen will, sondern die tiefe Sehnsucht, in der mitempfundenen Wonne des liebenden Weibes sich aus seinem Egoismus erlöst zu wissen; und diese Sehnsucht ist das dichtende Moment des Verstandes. Das notwendig aus sich zu Spendende, der nur in der brünstigsten Liebeserregung aus seinen edelsten Kräften sich verdichtende Samen – der ihm nur aus dem Drange, ihn von sich zu geben, d. h. zur Befruchtung ihn mitzuteilen, erwächst, ja an sich dieser gleichsam verkörperlichte Drang selbst ist – dieser zeugende Samen ist die dichterische Absicht, die dem herrlich liebenden Weibe Musik den Stoff zur Gebärung zuführt.
Belauschen wir nun den Akt der Gebärung dieses Stoffes.
Ende des zweiten Teiles
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