Frei Lesen: Bracebridge Hall oder die Charaktere

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Washington Irving

Bracebridge Hall oder die Charaktere

Die Wittwe

eingestellt: 28.7.2007





Ungeachtet des sonderbaren Aufzugs von Lady Lillycraft bei ihrer Ankunft, hat sie doch nichts von der kleinlichen Förmlichkeit, die ich mir gedacht hatte; im Gegentheil, sie besitzt einen Grad von Natürlichkeit und Einfalt des Herzens, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, der zu ihrer altväterischen Art und Weise und ihrer harmlosen Pracht sehr gut paßt. Sie kleidet sich in schwere Seidenzeuge, mit langer Taille; sie legt bedeutend Roth auf, und ihr beinahe graues Haar ist heraus gekräuselt und mit Nadeln aufgesteckt. Sie ist pockennarbig, allein die Feinheit ihrer Züge zeigt, daß sie einst sehr hübsch gewesen sein mochte; und sie hat sehr weiße, wohlgeformte Hände und Arme, worauf, wenn ich nicht ganz irre, die gute Dame noch ein wenig eitel ist.

Ich habe die Neugierde gehabt, einige nähere Nachrichten über sie einzuziehen. Sie war vor dreißig bis vierzig Jahren eine große Schönheit in London gewesen und hatte zwei Winter lang in allem Stolze ihrer Reize regiert und mehrere sehr vortheilhafte Heirathsanträge ausgeschlagen; unglücklicherweise verlor sie durch die Pocken ihre Reize und ihre Anbeter zugleich. Sie begab sich alsbald auf das Land, wo sie kurze Zeit nachher ein Gut erbte und einen Baronet, einen früheren Anbeter, heirathete, dessen Leidenschaft plötzlich wieder erwacht war, »da er,« wie er sagte, »jederzeit mehr ihren Geist, als ihr Aeußeres geliebt hätte.«

Der Baronet genoß indeß ihren Geist und ihr Vermögen nicht über sechs Monate, und war ihrer kaum sehr müde geworden, als er auf einer Fuchsjagd den Hals brach, und sie nun reich, frei und untröstlich zurück ließ. Sie blieb seit der Zeit beständig auf ihrem Gute, und hat nie irgend ein Verlangen bezeigt, wieder nach der Stadt zu kommen und den Schauplatz ihrer früheren Triumphe und ihrer unglücklichen Krankheit wiederzusehn. Alle ihre Lieblingserinnerungen wenden sich indeß auf jene kurze Zeit ihrer jugendlichen Schönheit zurück. Sie hat keinen andern Begriff von der Hauptstadt, als wie sie zu jener Zeit war; und vergißt beständig, daß sich in beinahe einem halben Jahrhunderte der Ort und die Menschen wesentlich verändert haben müssen. Sie spricht sehr oft von den Trinksprüchen jener Zeit, als ob sie noch in der Mode wären; und pflegte bis noch ganz vor Kurzem mit Entzücken von der königlichen Familie und der Schönheit der jungen Prinzen und Prinzessinnen zu reden. Sie kann nicht dahin gebracht werden, sich den jetzigen König anders zu gedenken, denn als einen zierlichen, etwas wilden jungen Mann, der aber eine Menuet ganz göttlich getanzt habe; und sie pflegte seiner, ehe er auf den Thron kam, öfter als des »lieben jungen Prinzen« zu erwähnen.

Sie spricht auch von den Spaziergängen im Garten von Kensington, wo die Herren in goldbesetzten Röcken und mit dreieckigen Hüten, die Damen aber in Reifröcken erschienen, und stolz in den mit Gras bewachsenen Alleen einherschritten; und sie ist der Meinung, daß die Damen sich sehr erniedrigt hätten, als sie die Kopfzeuge mit den Kissen darunter und die Schuhe mit hohen Absätzen aufgegeben. Sie weiß auch viel von den Offizieren zu erzählen, die sich unter dem Gefolge ihrer Verehrer befanden, und spricht vertraulich von mehreren wilden jungen Degen, die jetzt vielleicht in den Bädern mit Krücken und Podagristen-Stiefeln umherhumpeln.

Ob das, was die gute Dame von der Ehe kennen gelernt, sie davor abgeschreckt hat, kann ich nicht sagen; aber, obgleich ihre persönlichen Eigenschaften und ihre Reichthümer manche Bewerber herbeigezogen haben, so war sie doch nie wieder versucht, sich in diesen glücklichen Stand zu wagen. Dieß ist auch auffallend, denn sie scheint ein sehr sanftes und empfängliches Herz zu haben; spricht immer von Liebe und ehelicher Glückseligkeit; und streitet sehr für altväterische Galanterie, zarte Aufmerksamkeit und ewige Beständigkeit, von Seiten der Herren. Sie lebt indeß nach ihrem eigenen Geschmack. Ihr Haus muß, wie man mir gesagt hat, um Sir Charles Grandisons Zeit erbaut und möblirt worden sein; Alles, was dazu gehört, ist etwas förmlich und stattlich; hat aber den sanfteren Anstrich einer gewissen Weichlichkeit erhalten, wie man es bei einer alten, sehr zartsinnigen, romantischen Dame, die ihre Bequemlichkeit liebt, erwarten darf. Die Kissen auf den großen Lehnstühlen und den breiten Sophas begraben Dich beinahe, wenn Du dich auf sie niedersetzest. Blumen der seltensten, freundlichsten Art sind in den Gemächern und auf kleinen lackirten Gestellen aufgestellt, und Räucherkissen liegen auf allen Tischen und Kaminsockeln. Das Haus ist voll von Schooßhündchen, Angorakatzen und Singvögeln, die eben so aufmerksam bedient werden, als sie selbst.

Sie ist bei ihrem Essen eigen und etwas weniges von einer Epikuräerin, lebt nur von weißem Fleische und kleinen für Frauen bestimmten Schüsseln, wenn gleich ihre Dienstboten kräftige englische Kost haben, wie auch ihr Aussehen bezeugt. In der That wird diesen so viel nachgesehen, daß sie alle verwöhnt sind, und wenn sie ihre jetzigen Stellen verlieren, für keine andere mehr taugen. Ihre Herrlichkeit ist eines von jenen wohlgesinnten Wesen, die stets bestimmt sind, von ihren Leuten sehr geliebt, aber schlecht bedient, und von der ganzen Welt betrogen zu werden.

Sie wendet einen großen Theil ihrer Zeit auf das Lesen von Romanen, wovon sie eine sehr große Sammlung besitzt, und womit sie von den Verlegern in der Stadt beständig versehen wird. Ihre Belesenheit in diesem Zweige der Literatur ist unermeßlich: sie hat seit einem halben Jahrhundert mit der Presse immer gleichen Schritt gehalten. Ihr Geist ist mit zärtlichen Geschichten aller Art angefüllt, von den abgemessenen Liebschaften in den alten Ritterbüchern herab bis zu dem neuesten blau broschirten Roman, der ganz warm aus der Presse kommt, obgleich sie denen, die in ihrer Jugendzeit, und als sie zuerst verliebt war, erschienen sind, augenscheinlich den Vorzug gibt. Sie behauptet, daß heutiges Tages keine Romane mehr geschrieben werden wie Pamela und Sir Charles Grandison; und das Schloß von Otranto stellt sie über alle Romane.

Sie thut sehr viel Gutes in der Nachbarschaft, und wird von jedem Bettler in der Grafschaft betrogen. Sie ist die Wohlthäterin eines Dorfes, nahe an ihrem Gute, und nimmt einen besondern Antheil an allen Liebesgeschichten daselbst. Sie weiß von jedem bestehenden zärtlichen Verhältniß; jedes liebesieche Mädchen kann sicher sein, an Ihrer Herrlichkeit eine geduldige Zuhörerin und eine weise Rathgeberin zu finden. Sie gibt sich große Mühe, alle Liebes-Zwiste beizulegen, und sollte irgend ein treuloser Schäfer bei seiner Unbeständigkeit beharren, so mag er gewiß sein, daß er den heftigsten Zorn der guten Dame auf sich zieht.

Ich habe alle diese Einzelnheiten theils von Frank Bracebridge, theils von Meister Simon erfahren, und bin nun im Stande, die unermüdete Aufmerksamkeit des Letzteren für Ihre Herrlichkeit zu erklären. Ihr Haus ist eines seiner Lieblings-Aufenthaltsorte, und er ist dort eine sehr bedeutende Personage. Er macht ihr jährlich einmal einen Geschäftsbesuch, wo er alle ihre Angelegenheiten ins Auge faßt, die, da sie den Haushalt nicht versteht, leicht in Verwirrung gerathen. Er sieht die Bücher des Verwalters nach und jagt auf dem Gute, wo, wie er sagt, sehr viel Wild zu finden ist, ungeachtet alle Vagabunde in der Nachbarschaft dort auf Wilddieberei ausgehen.

Mau glaubt, wie schon vorhin angedeutet worden, der Capitain werde den größern Theil ihres Vermögens erben, da er immer ihr besonderer Liebling gewesen ist; denn sie ist sehr parteiisch in Hinsicht auf rothe Röcke. Auch kam sie jetzt nach der Halle, um bei seiner Hochzeit gegenwärtig zu sein, da sie sich sehr dazu neigt, an allen Liebes- und Heirathsgeschichten Antheil zu nehmen.

< Haus-Diener
Die Liebenden >



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