Washington Irving
Die Alhambra oder das neue Skizzenbuch
Der Thurm der Prinzessinnen
eingestellt: 28.6.2007
Bei einem Abendspaziergange durch ein enges Thälchen hinauf, welches das Gebiet der Veste von dem des Generalife trennt, und von Feigenbäumen, Granaten und Myrthen überschattet ist, fiel mir der romantische Anblick eines maurischen Thurms in der äußern Mauer der Alhambra auf, der über die Baumwipfel empor stieg, und die röthlichen Strahlen der untergehenden Sonne zurückgab. Ein einziges Fenster in einer
großen Höhe hatte die Aussicht auf das Thälchen. Während ich hinaufsah, blickte ein junges Frauenzimmer heraus, dessen Haare mit Blumen geschmückt waren. Sie hörte offenbar nicht der gemeinen Klasse des Volkes an, welche die alten Thürme der Veste bewohnen; und ihre plötzliche romantische Erscheinung erinnerte mich an die Beschreibungen von gefangenen Schönheiten in den Feenmärchen. Diese phantastischen Ideenverbindungen wurden noch durch
die Nachricht bestärkt, welche mir mein Begleiter Mateo gab, daß dieses der Thurm der Prinzessinnen (la Torre de las Infantas) sey, und so genannt werde, weil er, der Sage nach, die Wohnung der Töchter der maurischen Könige gewesen. Ich habe seitdem den Thurm besucht. Man zeigt ihn in der Regel den Fremden nicht, obgleich er der Beachtung werth ist; denn das Innere steht, an Schönheit der Architektur und Zierlichkeit der Ausschmückung, keinem Theile des
Palastes nach. Die Eleganz des mittlern Saals mit seinen Marmorbrunnen, seinen hohen Bögen und der reichen Deckenverzierung, die Arabesken und die Stuccoarbeiten des kleinen aber in schönen Verhältnissen gebauten und nur leider durch Zeit und Vernachläßigung sehr beschädigten Gemaches – alles stimmt mit der Geschichte überein, daß einst königliche Schönheiten hier geweilt.
Die kleine alte Feenkönigin, die unter
der Treppe der Alhambra wohnt, und die Abend-Tertulias der Dame Antonia zuweilen besucht, erzählt manche wundersame Geschichte von drei maurischen Prinzessinnen, welche einst von ihrem Vater, einem tyrannischen König von Granada, in diesen Thurm gesperrt, und denen nur Nachts erlaubt worden war, in den Bergen umher zu reiten, wo es bei Todesstrafe niemand wagen durfte, ihnen zu begegnen. Man kann sie, der Nachricht jener Frau zufolge, noch manchmal beim Vollmond an einsamen
Plätzen die Bergseite entlang auf reich aufgezäumten Zeltern und von Edelsteinen funkelnd, reiten sehen; aber sie verschwinden, sobald man sie anredet.
Ehe ich aber das Weitere in Betreff dieser Prinzessinnen erzähle, wird der Leser begierig seyn, etwas von der schönen Bewohnerin des Thurmes mit den blumenbegränzten Locken, die aus dem hohen Fenster sah, zu erfahren. Es fand sich, daß sie seit kurzer Zeit die Gattin des würdigen
Invaliden-Adjutanten war, der, obgleich ziemlich bejahrt, den Muth gehabt hatte, eine junge, dralle andalusische Maid an sein Herz zu nehmen. Möge der gute alte Caballero in seiner Wahl glücklich seyn, und in dem Thurm der Prinzessinnen einen sicherern Aufenthalt für weibliche Schönheit finden, als er sich in der Zeit der Mosleminen erwieß, wenn man folgender Sage glauben darf!
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