Frei Lesen: Abu Telfan

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Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Neuntes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



Kaum hatte der Vetter den Rücken gewendet, und noch waren die melodischen Klänge, womit er seine Anabasis begleitete, nicht verklungen im Walde, als eine große Veränderung über die Bewohnerin der Mühle kam. Die ruhige Heiterkeit verschwand aus ihrem Gesichte, sie sah noch einen Augenblick angstvoll und scheu in die stille Wildnis vor ihrem Fenster; dann faßte sie mit beinahe wilder Heftigkeit den Arm Leonhard Hagebuchers, stellte sich dicht vor ihn hin, sah ihm immer tiefer in die Augen und flüsterte:

»So sind Sie endlich doch gekommen? Weshalb kamen Sie nicht früher? O es war sehr grausam, mich so lange warten zu lassen. Sie durften am wenigsten mit mir spielen, da Sie doch auch so Schweres leiden mußten und auch keine Waffen dagegen hatten! Hat Ihnen niemand gesagt, wie die Einsiedlerin nach Ihnen verlangte? Hat Ihnen selbst Nikola nicht von mir gesprochen und Sie zu mir geschickt? O das war nicht gut, nicht gut! Aber nun danke ich Ihnen doch, denn ich habe Sie ja und gebe Sie so leicht nicht wieder frei. Sie müssen mir alles sagen, von allem erzählen – Sie dürfen das Kleinste, das Geringfügigste nicht auslassen, denn es kann mir Leben oder Tod bedeuten, was Ihnen nichts ist.«

Ratlos und bestürzt stand Leonhard unter diesem Schauer von rätselhaften Vorwürfen, Fragen und Bitten. Die Vorstellung, daß er sich einer Irrsinnigen gegenübersehe, drängte sich ihm mit aller Gewalt auf, und er wußte es dem Vetter Wassertreter wenig Dank, daß er ihn zu dieser geheimnisvollen Mühle und Frau geführt habe, um ihn sodann seinem Schicksal zu überlassen. Er sagte stammelnd und stotternd:

»Es haben mir viele Leute und auch das Fräulein von Einstein von Ihnen gesprochen, und ich würde gern früher hierhergekommen sein, wenn ich geahnt hätte, daß die Frau Klaudine meinen Besuch so gern sehen würde. Ich will auch gern noch einmal meine Historie erzählen und mit allem Vergnügen jede mögliche Auskunft geben; es läßt sich hier gut sitzen, und ich will recht oft kommen, wenn die Frau Klaudine ihre Erlaubnis gibt.«

Die Frau Klaudine schüttelte traurig das Haupt. »Ich merke, man hat Ihnen doch nicht genug von mir erzählt. Ach, halten Sie mich nicht für eine Närrin; ich bin nur eine unglückliche Mutter und frage die Leute aus nach meinem Kinde. Verzeihen Sie mir meine Aufregung, lieber Freund. Ja, ich denke, wir werden recht oft und lange zusammensitzen, und da wollen wir einander allmählich besser kennenlernen. Nun reden Sie, was hat man Ihnen von der Einsiedlerin in der Katzenmühle gesprochen?«

Leonhard Hagebucher teilte mit, was dann und wann beiläufig im Gespräch vorgekommen war, und sodann, was der Vetter Wassertreter auf dem heutigen Wege von der Geschichte der Frau Klaudine ihm kundgemacht hatte, und die Bewohnerin der Mühle hörte nun wieder still und ruhig zu und nickte nur von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe. Als er mit seinem Bericht zu Ende war, sagte sie:

»Freilich, es kann niemand wissen, wie dem Nachbar zumute ist, seis, daß ihm eine Schale aus der Hand fällt und zerbricht, seis, daß er vor den Scherben seines ganzen Lebensglückes steht. Ich suche mein Kind – meinen Sohn, Leonhard Hagebucher; er hat mich verlassen und ist davongegangen in die weite Welt; er ist geflohen vor dem Schimpf der Leute und hat mich bewegungslos hier zurückgelassen, und ich bin eine Närrin, Leonhard Hagebucher, glaube an Wunder und wäre schon längst gestorben, wenn ich nicht an Wunder glauben dürfte. So sitze ich hier in der Katzenmühle und horche bei Tag und Nacht. Es muß einst in dem Wind eine Stimme zu mir herüberdringen, ein Stein muß anfangen zu reden, und während ich darauf harre, lasse ich keinen, der aus der weiten Welt kommt und über meine Schwelle tritt, los, ohne daß er mir Rechenschaft gab über seine Wege und alle, welche ihm auf denselben begegneten. Ich frage sie alle nach meinem Sohne; wenn ich hundert Jahre lebte und wüßte, mein Kind sei längst tot, ich würde doch fragen und fragen müssen – ich lebe nur, um mit angehaltenem Atem zu horchen; o und es ist oft sehr schrecklich, so allein zu wohnen und nichts zu hören als das Niederfallen der Tropfen dort vor dem Fenster! Ja, die Nikola, die weiß am meisten von allen Menschen davon; aber sie darf auch am wenigsten davon sprechen. Sagen Sie ihr nicht, daß ich ungehalten auf sie war, Herr Hagebucher! Ich darf keinem zürnen; das Schicksal, das über mir ist, könnte es mich entgelten lassen, und ich habe schon so lange, so traurig lange gewartet. Nur die Geduld kann mir helfen, und ich will geduldig sein; ich will nicht an dem Zeiger der Uhr rücken; die Leute, die aus der Welt kommen, sollen mir nur sagen, wie es draußen aussieht, wie die Menschen es treiben und wer ihnen begegnete. Es muß einmal jemand kommen, der meinen Sohn kennt, der ihn im Gewühl streifte und ein Wort mit ihm wechselte; ich aber will still sein hier in der alten Mühle und will mit Geduld auf ihn warten; weiß ich es doch vor Hunderttausenden nur allzu gut, wie es da draußen zugeht und wie bitter, grausam und blutig das Treiben auf den Straßen der Erde ist!«

Bewegt rief Leonhard Hagebucher:

»Liebe Frau, jetzt verstehe ich Sie ganz und hätte Ursache, eine tiefe Reue zu empfinden. Kein Mensch kann die Frau Klaudine so gut verstehen wie der, welcher sich auch zehn Jahre in der Gefangenschaft in Geduld zu fassen hatte und dem nicht einmal die Geduld, sondern nur der Stumpfsinn, das blödsinnige Hinstarren und Hinhorchen in die Leere übriggeblieben war. Ja, nun will ich auch zu der Frau Klaudine sprechen, wie zu keinem andern, und ihr wie keinem andern Rede stehen; denn wer könnte gleich ihr einen Sinn in diese Trostlosigkeit und bodenlose Nichtigkeit legen?!«

»Wir haben uns gegenseitig viel zu bieten und wollen einander nach Kräften helfen«, sprach die Frau aus der Katzenmühle, und dann – erzählte Hagebucher abermals seine Geschichte, diesmal jedoch in einem andern Ton, auf eine andere Weise und der rechten Zuhörerin. An diesem ersten Tage konnte er freilich nur einen Überblick geben; schon nistete sich die Dämmerung in den tieferen Gründen des Waldes ein, und schon erglühten die höchsten Wipfel und Zweige der Bäume im rötern Lichte der untergehenden Sonne. Schon hatte Leonhard hundert Gestalten, und darunter wunderliche Gesellen, zu Land und zur See vor dem verlangenden Herzen der armen Mutter vorübergleiten lassen, aber den, welchen sie suchte, erkannte sie nicht unter ihnen. Die Dämmerung schlich von allen Seiten immer kühler und kühler aus dem Walde heran gegen die Mühle. Der moosige Fels über dem Dache erhob sich schwärzlich gegen den reinen Himmel des Sommerabends, und die erste Fledermaus verließ ihren Schlupfwinkel und prüfte ihre Schwingen, indem sie einen unsichern Kreis um den morschen Schornstein der Frau Klaudine beschrieb. Fern im Walde erhoben sich die Stimmen der Nacht, und der Spitzhund vor der Gartentür schlug leise an und schritt in dem engen Wege bis zur Tür der Mühle auf und ab, gleich einem treuen Wächter, der sich rüstet, sein Amt in der Finsternis wohl zu versehen.

Noch immer saßen Leonhard und die Frau Klaudine neben dem offenen Fenster, und keines von beiden merkte, wie das Licht und die Zeit vorübergegangen waren. Noch immer sprach Leonhard Hagebucher, der jetzt längst seine Zuhörerin in das gelbe glühende Felsental von Abu Telfan zu seiner Lehmhütte geführt hatte, und nannte jetzt auch zum ersten Male den Namen des Herrn van der Mook.

»Nun sagen Sie mir noch ein Wort von Ihrem Befreier und von der Stunde Ihrer Erlösung!« rief die Frau Klaudine. »Schildern Sie mir den Mann, welchen Ihnen die Vorsehung sandte, um Sie zu retten, und wie es Ihnen war, als die Fesseln zur Erde fielen und das Fürchterliche hinter Ihnen lag. Sagen Sie mir mit Ihrem eigenen Munde, wie Sie erlöst wurden, das soll mich bestärken in dem Glauben an die eigene Erlösung; ach, es sind zu viele, die sagen: Ihr kann nicht geholfen werden! Und ich bin so allein, und ich habe das Wunder und den Glauben und die Leute, welchen gesagt wurde: Steh auf und wandle so nötig, o so nötig!«

Fortgerissen von der fieberhaften Heftigkeit dieser Frau, sprach Hagebucher zum erstenmal seit seiner Rückkehr aus Afrika auf solche Weise, wie es sich nach solchen Erlebnissen gehörte. Er gab jedem Ding die rechte Farbe und wunderte sich, während er redete, selber darüber. Es erwachte ein Talent in ihm, von welchem er bis zum gegenwärtigen Augenblicke nichts gewußt hatte und über welches er sich nachher auf dem Heimwege nach Bumsdorf noch mehr zu wundern begann, wie wir bald erfahren werden.

Die wilden schwarzen Jäger mit ihren Sklaven waren durch Chasm-el-Bab, den Eingang der Wüste, in ihr Felsendorf heimgekehrt. Kopfschmerzen, Übelkeiten, wunde Füße und einige sehr rote Striemen waren die Ausbeute des Tages für den Sohn des Steuerinspektors Hagebucher gewesen. Nun lag er stumpfsinnig, lang ausgestreckt, drückte das Gesicht in den Sand, um nichts mehr von dem heillosen Lichte des Tages zu sehen, und war nicht imstande, Protest gegen die fröhliche Jugend, welche im kindlichen Spiel seinen armen Leichnam zum Tummelplatze erwählte, zu erheben. Schrill erklang die Stimme der Madam Kulla Gulla durch das Gequiek der Kleinen, das Schnarchen der Kamele, das Brüllen des Rindviehs, das Schnarren der Kuhhörner und das Triumphlied der Jäger. Die Alten und Weisen unterhielten sich von dem letzten Heuschreckenzuge, und ihrer einige trieben ebensogut Politik wie die Gevattern nordwärts vom Mittelländischen Meere. Die Feuer zur Bereitung der Nachtkost wurden soeben angezündet – Leonhard Hagebucher hatte selber am Morgen den Kamelmist zusammengetragen – einige Brüllaffen, ein junger Gorilla und zwei Rieseneidechsen waren bereits an die Spieße gesteckt; in einer Stunde war es unwiderruflich Nacht. Es war besser, der Zubereitung des Abendessens in Abu Telfan nicht zuzusehen, man speiste mit viel größerm Appetit; es war besser für den europäischen Menschen, auch die Ohren im Sande zu vergraben, das Stimmen der Instrumente zu dem Konzert, welches den Tag beschließen sollte, war kaum ergötzlich anzuhören. Eine Schildkröte, mit aller geistigen Begabung der Schildkröte und nicht mehr, zu sein – o die Vorstellung eröffnete einen Blick in das Reich der höchsten krönenden Gnade! Die Vorstellung, den Kopf unter die Schale ziehen zu können und nichts zu fühlen, zu sehen und zu denken – diese Vorstellung war zu beseligend, um nicht bitterer zu sein als jener Stern Wermut, der alle Brunnen und Wasserläufe der Erde untrinkbar machte. Daß der Vollmond den Neger betrunken mache, ist zwar noch nicht vollständig erwiesen; was jedoch sämtliche Touristen, Handelsleute, Missionäre und Entdecker von seinen Wirkungen auf die Seelen der unsträflichen Äthiopier erzählen, deutet darauf hin, daß etwas dran sei, und Hagebuchers Erfahrungen traten mit ganzer und klarster Gewißheit für das Faktum ein. Noch lag die feurige Sonnenkugel auf dem westlichen Rande des Tales; erst in einer halben Stunde wars Nacht, und dann mußte der wahre, echte afrikanische Sabbat beginnen – Leonhard Hagebucher dachte mit Schauder daran und begrub seine Stirn zum drittenmal tiefer in den Sand.

Ein Schuß, der ein hundertfaches Echo in den zerklüfteten Felsentälern weckt! Ein zweites Krachen, das an den roten Berglehnen dahinrollt! Stille im Dorf und Lager und darauf ein gellendes, hundertstimmiges Geschrei und Geheul! Die Männer und Krieger zu den Waffen, die Weiber und Kinder in die dunkelsten Winkel der Hütten oder in die tiefsten Verstecke der Erdhöhlen! Mrs. Lavinia Drawboddy in weiten roten türkischen Hosen, einer weiten gelblichen Flanelltunika und mit einer blauen Drahtbrille auf einer Kamelstute; – Mr. Augustus Montague Drawboddy ganz in gelbem Flanell, mit Revolver, Doppelbüchse, Jagdmesser auf dem merkwürdigsten und zottigsten aller Ponys; – Herr Kornelius van der Mook ebenfalls bewaffnet bis an die Zähne, bärtig, sonnverbrannt, in einem Kostüm, welches dem der englischen Dame an phantastischer Willkürlichkeit nichts nachgibt, auf einem stattlichen Maulesel – ein unendliches, wühlendes, staubaufrührendes, brüllendes, plärrendes, kreischendes, quiekendes, rasselndes, klapperndes, hinten und vorn ausschlagendes, purzelbaumschlagendes Gefolge von Arabern und Affen, Nubiern, Abyssiniern, Schilluks, Baggaras und Dschournegern, von Büffeln, Eseln, Lasttieren aller Art, Käfigen mit jungen Löwen und Tigern, Kasten mit Krokodilen und Schlangen und bunten Vögeln! Halt des Zuges an der Barriere von Abu Telfan; exaltiertestes Verhandeln der Parlamentäre und Dolmetscher – allgemeine Verständigung und wahnsinnigster Jubel! Große gegenseitige Vorstellung von Altengland und Tumurkieland, Mrs. Lavinia Drawboddy und Madam Kulla Gulla; – der Gorilla am Bratspieß und Mr. Augustus Montague Drawboddy in tiefsinniger Betrachtung des Gorillas – Herr Kornelius van der Mook und Herr Leonhard Hagebucher aus Nippenburg, Grand-Duchy of ***, German Confederation! – –

»Es war die allerhöchste Zeit, daß er kam, Frau Klaudine«, seufzte der Erzähler in der Katzenmühle. »Noch eine kurze Frist, und er hätte meinethalben ebensogut wegbleiben können. Einen Tag später, und der Rest wäre die unbefangenste Tierheit, die absoluteste Blödsinnigkeit gewesen; denn was man zehn Jahre ertrug, das mag einem in den ersten Stunden des elften zuviel werden. ›Law, bless me, what a horror!‹ sprach sogar Mrs. Lavinia Drawboddy, als sie die Kuriosität in ihr Reisetagebuch eintrug, und ihr Gatte ging dreimal um mich herum und sagte: ›Wonderful, wonderful!‹«

»O lassen Sie diese Engländer!« rief die Frau Klaudine. »Was sagte der Herr van der Mook? Sprechen Sie mir von diesem; denn er ists gewesen, welcher Sie erlöste und Ihnen die Ketten abnahm. Sagen Sie mir alles von ihm – was wollte ich darum geben, wenn ich ihn sehen, den Klang seiner Stimme hören dürfte.«

»Er stolperte über meinen am Boden ausgestreckten Leib, als er die Madam Kulla Gulla zum Stadthaus von Abu Telfan führte, und da er beinahe gleichfalls sich zu Boden gelegt hätte, so entfuhr ihm eine nicht sehr höfliche Redensart, und zwar in deutscher Sprache. Da bin ich aufgefahren und habe ihn ebenfalls deutsch angerufen, und dann kamen mir vor übermächtiger Aufregung meine fünf Sinne für einige Zeit abhanden, und als ich das Bewußtsein wiedererlangte, war der Handel um meine Person bereits im besten Gange; ich aber konnte nichts weiter tun, als den Verlauf der Unterhandlungen in Geduld abwarten. Mr. Augustus Montague Drawboddy, der mehr als mich in seinem Leben taxiert hatte, schätzte meinen Wert auf sechs Schnüre böhmischer Glasperlen, zwei königlich großbritannische ausrangierte Perkussionsmusketen, drei Solinger Faschinenmesser, zwölf Pfund Tabak und sechs Flaschen Rum. Mrs. Drawboddy gestand ein, daß man wohl noch ein Exemplar von Bunyans The Pilgrims Progress zulegen könne, welcher letztere generöse Vorschlag jedoch von Tumurkieland sehr kühl aufgenommen wurde, ja sogar beinahe allen weitern Verhandlungen ein Ende gemacht hätte. Schon zuckte Altengland die Achseln und wandte sich ab, um den eigenen Geschäften nachzugehen, als der Herr van der Mook auf arabisch und in der Lingua franca dartat, daß er außer den beiden angebotenen Flinten noch einige Dutzend gute Büchsen hinter sich habe und es in mancanza dun accordo amichevole, in Ermangelung eines gütlichen Vergleichs, auf einen Austrag durch Waffengewalt ankommen lassen werde. Übrigens gebe er den Herrschaften zu bedenken, daß er nach Abu Telfan gekommen sei, um ganz andere und lukrativere Verbindungen einzugehen, daß er aber auch verhoffe, man komme ihm freundlich und billig entgegen. Er sei bereit, die Messer und Glasschnüre zurückzuziehen und dafür drei Flaschen Rum und eine halbe Rolle Tabak mehr zu bieten; er erwarte, daß man diesen Vorschlag annehme und den Landsmann ihm zur Verfügung stelle.

Unter dieser schönen Rede ist der Mond aufgegangen, und unter seinem erregenden Einfluß wurde der Handel abgeschlossen. Mit einem letzten Fußtritt entließ mich Madam Kulla Gulla ihres Dienstes, und der Herr van der Mook sagte: ›Seien Sie kein Narr, mein Bester!‹ Denn ich habe jetzt wie ein Kind geweint. Er hielt mich in seinen Armen aufrecht, dieser Herr van der Mook, während der afrikanische Dämonentanz ihn und mich, den Mr. Drawboddy und die Lady umkreiste. Er rieb mir die Schläfen mit Kölnischem Wasser aus dem Flakon der Lady; und, o Frau Klaudine, Jahrtausende der Zivilisation waren in diesem Duft, in welchem die europäische Welt von neuem um mich emporstieg! Man muß das Barbarentum gerochen haben, muß es länger als zehn Jahre gerochen haben, Frau Klaudine, um das, was ich fühlte, empfand und einatmete, zu begreifen. Dieser Tropfen Eau de Cologne hat mir in der vollen Bedeutung der Worte das Leben gerettet; denn in ihm war Europa mit all seiner Kultur, und so löste er die tödliche Stockung im Blute und wendete den Herzschlag, der mich bedrohte, ab. Es war jedenfalls echtes Kölnisches Wasser, das Mrs. Lavinia Drawboddy in ihrer Tasche mit sich führte.«

»Sagen Sie mir mehr und anderes von Ihrem Befreier!« murmelte die Bewohnerin der Mühle; Hagebucher aber rief, indem er fast wie in einem Krampf die Hände aneinander rieb:

»Verzeihung, ach Verzeihung, Frau Klaudine! Aber ich kann jenen Tagen nicht beikommen, ich kann von jenen Gestalten nicht loskommen als auf diese Weise. Es ist eine Feigheit, aber ich kann dieser heillosen Vergangenheit nicht grad ins Gesicht sehen; der Schauder liegt zu tief in den Nerven – mein ganzes Leben ist ja zu einem solchen Seitwärtsschielen geworden! Freilich trage ich diesen Kornelius van der Mook in dem stillsten Winkel der Seele, wenn er gleich nicht zu jenen Menschenfreunden gehörte, die, aus Heroismus und Aufopferungsfähigkeit zusammengesetzt, nach der Meinung phantasiereicher wohlwollender Leute so häufig in der Welt vorkommen, aber doch ungemein selten im richtigen Augenblick sich vorfinden. Der Herr van der Mook war ein mürrischer, schweigsamer Mann, der, wie jeder in Afrika Handeltreibende, seine Peitsche aus Büffelleder an dem Gürtel trug und dieselbe nötigenfalls sehr rücksichtslos gegen Menschen und Vieh gebrauchte. Er rechnete vortrefflich in allen von London bis zum Mondgebirge landläufigen Münzsorten, und während seines Aufenthalts zu Abu Telfan waren ihm die Gefühle und Stimmungen der Madam Kulla Gulla wichtiger als die meinigen. Er hatte Geschäfte mit meinen früheren Gebietern zu machen und ließ sich in denselben nicht stören. Unsere halbe oder viertel Landsmannschaft achtete er wie ein echter Holländer sehr gering, und einen Wunsch, etwas Näheres über den Mann zu erfahren, der ihm zu so hohem Dank verpflichtet war, zeigte er in keiner Weise. In allem, was er tat und sagte, gab er sich als ein sehr praktischer, kühler, scharfer Rechner kund, und erst, nachdem wir von Abu Telfan aufgebrochen waren, trat er mir etwas näher, doch hab ich nicht herausgekriegt, ob er wirklich ein echter Holländer war. Die Unterhaltung in unserer Karawane wurde in allen möglichen Zungen geführt, nur nicht in der deutschen; und der Herr van der Mook, der jedenfalls Deutsch verstand und sprach, schien sich sogar nunmehr sehr davor zu hüten, sich dieser Sprache im Verkehr mit mir zu bedienen. Es ist mir auch immer deutlicher geworden, daß er nicht von Deutschland und den deutschen Verhältnissen reden wollte; und wie ich mich abmühte, ihn zu Äußerungen und Mitteilungen in dieser Richtung zu bewegen, es blieb stets bei jener uralten batavischen Redensart, mit welcher schon Civilis und Velleda allen unbequemen Erörterungen aus dem Wege gingen: Kan niet verstaan! – Seinen Rat, seinen Arm, seinen Geldbeutel und seinen Kredit hat er mir jederzeit, auf dem Nil und in Alexandria wie in Abu Telfan, auf das bereitwilligste zur Verfügung gestellt; mit dem Gemüt hat er mir auf keine Weise geholfen, und so haben wir mit einem Handschütteln Abschied voneinander genommen, wie an der Türe einer Konditorei oder eines Klubhauses. Zu allem andern Unbehagen schleppe ich auch das Gefühl mit mir, daß sich auch hier wieder Schritte, die mir wert und hochgeliebt bis zum Tode bleiben müssen, in die Wüste verlieren. Es ist ein arges, grimmiges Gespenst, welches auf allen Wegen hinter mir dreintritt und die Fäden, die mich mit den Hoffnungen und Sorgen, der Arbeit, der Freude und dem Leide um mich her verknüpfen, mit scharfem Messer zerschneidet. Ich habe nichts, gar nichts heimgebracht aus der Fremde, halte es aber auch für kein Wunder, daß die Heimat gar nicht daran glaubt, eine solche Tatsache gar nicht fassen kann.«

Der Erzähler brachte somit für dieses Mal seinen Bericht kleinlaut genug zu Ende, und auch die Frau Klaudine war eine Weile ganz still. Endlich sprach sie mit einem tiefen Seufzer:

»Wer verliert nicht mehr, als er findet, auf seiner Wanderung? Welche ehrlichen Leute rühmen und freuen sich dessen, was sie heimbringen? Nur die Kleinen und Nichtigen dürfen Triumph rufen, wenn sie ihren Bettelsack ausschütten; die Großen und Edeln werden immer sich abwenden und sagen: Das Beste gehört nicht uns zu, und wir wissen nicht, von wem wir es haben! – Was sind wir allesamt anders als Boten, die versiegelte Gaben zu unbekannten Leuten tragen? Die größte Schlacht und das höchste Gedicht, von wem kommen und zu wem gehen sie? Kein rechter Sieger auf irgendeinem Felde wird je rufen: Dies ist mein Werk und das soll es wirken! – Ich danke Ihnen, mein Freund, für die Stunden, welche Sie mir heute gegeben haben. Wir wollen immer bessere Freunde werden, Sie und ich und Nikola Einstein und noch einige andere. Wir wollen einander helfen und nicht ungeduldig sein. So lange Zeit, als Sie in der entsetzlichen Gefangenschaft lagen, hab ich hier in der Einsamkeit, in Gram und eintönigem Schmerz gesessen und hab auch heute nicht gefunden, was ich suche. Wir wollen Geduld lernen und lehren und einander helfen, wie wir vermögen. Nun wird es Nacht; Sie müssen gehen und ich bleibe wieder allein; daran werden Sie denken auf Ihrem Wege, und es ist gut für Sie. Sie werden oft zu der Mühle zurückkehren, und das ist gut für mich. Nun will ich Sie auf die Stirn küssen, Leonhard Hagebucher, und Ihnen gute Nacht sagen; heute soll kein böses Gespenst Ihnen folgen und den Faden, der Sie an die Katzenmühle bindet, zerschneiden. Ich will gute Wache darüber halten, und morgen sollen Sie die alte Frau in der alten Mühle loben.«

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