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Wilhelm Raabe

Alte Nester

Zwölftes Kapitel

eingestellt: 12.7.2007



Ob er wirklich so existiert, wie wir ihn aus tausendfachem Zusammentreffen mit ihm kennenlernen, lassen wir eine offene Frage bleiben. Wie wir ihn in unsere philosophischen Systeme einzureihen belieben: im praktischen Dasein bleibt er verteufelt mehr als ein bloßes Wort oder ein Begriff. Er ist und bleibt der Herr und Gebieter. Und im Gegensatz zu den übrigen Erdenherren und Erdengebietern läßt er sein Kommen vorher durchaus nicht ankündigen, weder durch die drei Stöße mit dem Marschallstabe auf den Parkettfußboden noch durch Posaunenstöße, durch das Hervorrufen der Wachen, den obligaten Trommelwirbel, das Präsentieren der Gewehre und das Senken der Fahnen. Die Erdenherren vor allen übrigen Sterblichen wissen es am genauesten, daß er auch dazu – viel zu vornehm ist: er, der Zufall nämlich.

Von der Suppe aufsehend bei meinem altgewohnten, tagtäglichen Speisewirt, fand ich ihn mir plötzlich wieder einmal gegenüber, und der Löffel entfiel meiner Hand. Der Löffel ist der Hand viel größerer Philosophen, Geschichtskenner und dergleichen Leute bei derartigen Gelegenheiten entsunken, und sie haben es hoffentlich stets für eine Gnade gehalten, wenn ihnen der Appetit nicht für längere Zeit oder gar für immer verdorben wurde.

Gottlob war das letztere bei dieser Gelegenheit bei mir nicht der Fall; aber die Erstarrung blieb dessenungeachtet für längere Zeit die nämliche, bis sich das sie in ihr Gegenteil, die höchste Bewegung, auflösende Wort fand:

»Vetter!... Der Vetter Just!«

Je unmöglicher es erschien, desto bedingungsloser drängte sich die Gewißheit auf, daß er es war. Ja, er war es! Er war es unbedingt!... Ausgeweitet nach allen Dimensionen; mit einem Ansatz zwar zu einer hohen Stirn, sonst jedoch in keiner Weise infolge seines landwirtschaftlichen Bankerottes verfallen und zu einer selbstgelehrten Ruine geworden, sondern auch – ganz im Gegenteil!...

Er war es ganz gewiß, und zwar mit einem gewissen, völlig undefinierbaren Anstrich vom Exotischen, einem ihm ganz sonderbar gut passenden Anflug von Amerikanertum. Wäre einer von den Göttinger Sieben seinerzeit nach Amerika ausgewandert, so hätte er so zurückkommen können; Professor Gervinus vielleicht ausgenommen. Es war wundervoll!

»Just Everstein!« stammelte ich noch einmal, mehr gegen mich selber als gegen diese unvermutete Erscheinung am Berliner Wirtstische gewendet; und nun legte auch sie, die Erscheinung, oder er, der Vetter Just, Messer und Gabel nieder, legte dann gleichfalls erstaunt einen Augenblick lang beide Hände auf den Tisch, erhob sich dann langsam, bog sich über, warf das Salzfaß um, was beiläufig diesmal ausnahmsweise kein übel Omen war, und rief ganz mit der alten unveränderten Stimme vom Zaun oder der Haustürtreppe des Steinhofes her:

»Now?... Jetzt aber erst mal alle stille! Fritzchen!! Nun nur nicht alles auf einmal!... Fritz? Der kleine Fritze Langreuter!... Also zuletzt doch wieder!... Ich bin es; aber – jetzt laß auch du dich einmal anfühlen! Mensch, so reiche doch endlich deine Hand (your fist, sagte er) her. O mein lieber Junge, das ist doch zu gut!«...

Es war ein sehr gefülltes Restaurationslokal, in dem unser Wiedersehen stattfand, und die verschmauchten Räume füllten sich eben immer noch mehr mit hungrigen Menschen. Sämtliche Professoren der vier Fakultäten, die Bauakademie und verschiedene andere Akademien schütteten ihre Zuhörer über diese behaglicheren Tische und Subsellien aus. Privatdozenten von allen Sorten schoben sich ein; dazwischen großstädtisches Volk von jeglicher Art. Mir schwindelte, ich glaubte zu träumen, wenn ich an den Steinhof und unser trostloses Abschiedsfrühstück daselbst dachte. Und ich dachte in dieser aufgeregten Minute wirklich daran, so sonderbar das erscheinen mag, vorzüglich dem mit mehr Muskeln als Nerven von der wohlmeinenden Natur ausgestatteten Erdenbürger.

Ich ergriff die Hand, die mir über den Tisch zugereicht wurde; breit war sie immer noch, aber ich hatte auch den harten biederen Griff vom Steinhofe in der Erinnerung und nahm die weichen Finger jetzt ebenfalls als etwas ganz sonderbar Unstatthaftes.

»O Vetter Just!«

»Jawohl! Und ich freue mich merkwürdig, lieber Junge. Viel ins Gerade gewachsen ist er nicht mehr in den Jahren! Aber das ist auch schön; da findet man doch auch hier etwas wieder, was so ist, wie es war –«

»Und wie lange bist du in der Stadt, Just?«

»Davon nachher! Ich glaube wahrhaftig, der Kerl ist imstande und meint, daß ich schon seit acht Wochen Wand an Wand mit ihm wohne, ohne ihn aufgefunden zu haben! Ist es denn möglich, daß ein alter Freund so schlecht von dem anderen denken kann?«

»Wie kannst du verlangen, Vetter, daß ich in diesem Moment genau überlege, was ich sage und frage? Wo kommst du her?«

»Auch das noch!... Well, aus Amerika natürlich, wo die Leute in jedem Momente ganz genau wissen, was sie sagen und was sie fragen. Und nun, weißt du was, Fritz? Nun tun wir fürs erste, als ob keinem von uns beiden etwas besonders Merkwürdiges passiert sei. Jetzt essen wir mit möglichster Ruhe zu Mittag und besehen uns stillschweigend währenddem. Keiner nimmt es dem anderen übel, wenn er bei dem Studium auch einmal den Kopf schüttelt. What will you drink? Alter Kerl, wenn ich weiter nichts mit über das Wasser zu euch zurückgebracht hätte als den alten guten Magen vom Steinhofe (Fritze, nachher stoßen wir drauf an!), so wäre auch das schon gar nicht zu verachten. Wie sagt Cicero in diesem Falle?... Na?!... Kellner, die Weinkarte! Ach ja, die schöne Zeit, wo man alles Gute, was kam, als etwas sich ganz von selbst Verstehendes nahm!«

Das war nun alles so hingesagt, als ob der Mann erwarte, daß man mit dem sonnigsten Lachen darauf Antwort gebe; und ich lachte auch, wie man hie und da über etwas ganz Neues lacht, dem man eben noch auf keine andere Weise beikommen kann. Es war mir nie im Leben etwas so neu erschienen als der Vetter Just Everstein, dieser alte gute Bekannte. Ratlos, wie und wo er am richtigsten anzufassen sei, fing ich mechanisch an, meine Suppe herunterzulöffeln, aber ohne ihn für den kürzesten Augenblick aus den Augen zu lassen. Ihm aber schien das großen Spaß zu machen, ihm, der so viele Jahre hindurch so oft unser Ergötzen auf dem Steinhofe gewesen war.

»Dir ist es gottlob gut gegangen«, stammelte ich, und:

»Besser, als ichs verdiente«, erwiderte der Vetter Just. »Cicero hat sich jedesmal nach einer längeren Reise für das heimatliche Gewächs erklärt, und wenn es noch so verfälscht war; und sie haben den Falerner damals sicherlich schon gerade so vermanscht wie heute hier diesen Rüdesheimer. Dessenungeachtet also: Auf dein Wohl, Fritz!«

»Auf dein Wohl, Vetter Just!« stotterte ich und sah wieder stumm hin nach dem alten wackeren Freunde.

Das überraschende Wiedersehen hinderte ihn in der Tat nicht, sich geradeso durch die Speisekarte des Berliner Restaurants durchzuarbeiten wie vordem durch alles Gute, was unsere Jule Grote auf den Tisch setzte, und nachher verstohlen und »vermittelst eines zweiten Schlüssels« durch seine Schinken-, Speck- und Wurstkammer.

»Noch einmal auf dein Wohl, Fritz Langreuter!«

»Und auf deines sooft du willst, Just, und – die alte Jule soll leben!«

Da war das lösende Wort, das ich bis jetzt so vergeblich zu finden gesucht hatte.

»Hurra, das soll sie!« rief der Vetter, auf den Tisch schlagend, daß alles Tafelzeug emporhüpfte und man von sämtlichen übrigen Tischen sich nach uns umdrehte.

»Sie lebt doch hoffentlich noch und befindet sich wohl? Sie muß freilich jetzt wohl –«

Der Vetter hatte seine Serviette neben dem Teller niedergelegt, den Teller von sich abgeschoben und die Hände auf die Kniee fallen lassen.

»Old boy, wenn du in die Fremde hinausgemußt hättest und ich zu Hause geblieben wäre, so wäre ich dir, wie ich mich kenne, hoffentlich mit dieser Frage vom Leibe geblieben. Nimm es mir nicht übel, Fritze, aber von Rechts wegen müßtest du doch eigentlich wissen, daß sie noch lebt. Nimm es nur nicht übel, daß sie auch die ganzen Jahre, in welchen wir uns nicht gesehen haben, noch gelebt hat. Übrigens danke ich für gütige Nachfrage, Fritzchen! Sie sitzt wieder ganz gut und, ihr Alter und Temperament abgerechnet, recht vergnügt auf dem Steinhofe.«

»Auf dem Steinhofe?... Sie hat – du hast – den Steinhof wieder, Just?«

»Natürlich!« sagte der Vetter Just Everstein, als ob das das Natürlichste von der Welt gewesen wäre. Kein römischer Kaiser, der je eine verlorengegangene Provinz zum Deutschen Reiche zurückbrachte, hätte das selbstverständlicher finden können: das wenigstens mußte ich aus meinen Geschichtsforschungen und meinem mittelalterlichen Quellenstudium wissen; und der Vetter Just hatte vollkommen recht: es war erbärmlich wenig, was ich von der Welt durch mein Quellenstudium in Erfahrung gebracht und darin behalten hatte.

Nun hätte ich dreist auch mein stummes Studium der jetzigen äußeren Erscheinung des Jugendfreundes von neuem über den Wirtstisch weg beginnen können. Aber je nötiger es war, desto unmöglicher war es gleichfalls. Nie war mir das Getöse, das Geklapper und Geklirr, das Kommen und Gehen rundumher so widerwärtig und unbehaglich gewesen als jetzt. Ich sah nur wie hülflos in das gute Gesicht mir gegenüber, und der Vetter Just nickte nur lächelnd und brummte:

»Jaja, es ist wohl nicht der richtige Ort hier zu dem, was wir einander vielleicht doch etwas weitläufiger zu erzählen haben. Das Getränk paßt auch nicht recht zu der Feierlichkeit der Stunde; es macht seinem Schuft von Verfertiger wohl alle Ehre, aber melancholisch stimmt es doch. Weißt du was, Alter? Jetzt nimmst du mich mit nach Hause. Da hocken wir einmal wieder zusammen wie in meinem Erker auf dem Steinhofe – weißt du noch? Ach Gott, wie habe ich mir da drüben so oft nach dem Erker und des Großvaters Wissenschaftsschranke das Herz abgesehnt!... Alter Kerl, und ich wohne jetzt wieder darin – den Schrank hat freilich damals der Auktionator geholt. Daß Irene Everstein augenblicklich hier auch in der Stadt wohnt, wirst du ja wohl wissen, obgleich du nicht gewußt hast, daß meine alte Jule noch lebt. Und – Menschenkind, in Bodenwerder halten sie mich immer noch für einen geradeso großen Narren wie vor Jahren. Zum Exempel dieses Schrankes wegen, für den ich fünfzig Dollars geboten habe, wenn ihn mir einer noch irgendwo auftreibt. Aber imponieren tue ich ihnen jetzt doch riesig; denn dazu braucht man nur einen hübschen Sack voll Taler, und es ist also leicht genug. Sobald du hier von deinen Geschäften abkommen kannst, mußt du mich auf dem Steinhofe besuchen, um das Gaudium mitzuerleben. Und nun komm, deinen Kaffee braust du dir hoffentlich selber.«

Ich kam, das heißt ich ging einfach mit, und ich sagte es auf dem Wege nach meiner Wohnung nicht, daß ich auch nicht gewußt hatte, wo Irene von Everstein augenblicklich lebte. Es war ein Wunder, daß ich meinen Weg nach Hause in meiner jetzigen Stimmung zu finden wußte.

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