Wilhelm Raabe
Alte Nester
Dreizehntes Kapitel
eingestellt: 12.7.2007
Und dann kam wieder eine Stunde, in der ich wieder auf meiner Stube allein saß, und zwar tief in der Nacht oder vielmehr früh am Morgen. Draußen tobte das schlechteste Wetter der Jahreszeit, und von den Wänden sahen mich durch den Tabaksqualm des Vetters meine Bücher an, und zwar ebenfalls wie etwas, das mich nur zu oft abgehalten hatte, die besten Lebensstunden, wie es sich gehörte, auszunutzen und mein Teil von der Sonne, der frischen Luft und der freien Welt mit
allen fünf Sinnen und vor allem mit Händen, Füßen und Lungen einzuholen.
Der Vetter Just hatte mir ein Privatissimum vorgetragen, wie ich es nie gelesen habe und leider auch nie lesen werde. Er hatte mir über seinen Lebensgang Bericht gegeben von jenem Morgen an, wo der Bodenwerdersche Landpostbote auf dem Steinhofe unseren jungen guten Kreis sprengte, bis auf die eben abgelaufene wunderliche Stunde.
Nun konnte ich wohl sitzen, mir den Kopf mit beiden Händen halten und
Gewissensbisse der schlimmsten Art haben, nämlich die der vielbeschäftigten, selbstgenügsamen Indolenz, die plötzlich zu dem Bewußtsein kommt, wie wenig auf Erden durch sie zum Guten, Wirklichen und Wahren ausgerichtet wird! Ich hatte selten kläglicher geseufzt und jämmerlicher nach Luft geschnappt als in jener Nacht; und des Vetters Knastergewölk war wahrlich nicht schuld an der erbärmlichen Atemnot.
Mittelalterliches Quellenstudium hatte ich zur Genüge für mich und andere getrieben
und konnte genaue Auskunft geben, zum Exempel über die Annalen von Brauweiler, die sich so sehr darüber beklagten, daß die Ketzer so viele Wunder täten, und die natürlich das Nahen des Antichrists, des allgemeinen Durcheinanders, daraus vordeuteten (o dieser Ketzer von Vetter!), aber die Quellen des lebendigen Daseins, die neben mir aus dem Boden aufsprudelten, jede nach ihrer Art trübe oder klar, mit ihren Kristallblasen und überhängendem Grün, mit ihrem Treiben von Kindermühlwerken und
Fabrikrädern, mit ihrem Rauschen über Stock und Stein, die waren mir nur zu sehr aus dem Gesicht und Gehör ferngeblieben! In meinem Kopfe war in jener Nacht, nachdem der Vetter Just Everstein Farewell oder Good night gesagt hatte, das große Durcheinander unbedingt momentan vorhanden, und es kostete keine geringe Mühe, nur die allernötigste Ordnung wieder in das Chaos zu bringen.
Ach, Vetter Just, was hatte ich dir auf deine Erzählung als Gegengabe meinerseits zu bieten? Wie wenig
fühlte ich mich persönlich in den Enthusiasmus einbegriffen, mit dem du die Titel auf den Bücherbrettern an diesen nichtsnutzigen vier Wänden herlasest und buchstabiertest!... Aber das Ärgste war doch, Vetter, als du so ganz beiläufig und gutmütig bemerktest:
»Das ist der ganze Steinhof und meine Erkerstube und meine Gefühle – wies leibt und lebt! O Fritz, du hast es gut gehabt und bist immer mitten in allen deinen Anlagen und Wünschen geblieben, und keiner hat dich gestört:
glaub nur ja nicht, daß ich dir nochmals einen Vorwurf daraus mache, daß du heute mittag bei Tische so gar nichts von uns anderen gewußt hast. Ich hätte sicherlich ebensowenig davon gewußt, wenn ich du gewesen wäre! Du bist ja freilich ein ganz famoser Kerl! Ein Riese bist du!«...
So fühlte ich mich freilich in jener Nacht – ach, du liebster Himmel! Und jetzt lasse ich die Arme sinken und lasse den Vetter Just Everstein erzählen.
»Daß man die größten Wunder zu Hause
erlebt«, sagte er, »das lernt man erst in der Fremde erkennen. Man braucht sich überall nur fest hinzustellen mit dem, was man von seinem eigenen Grund und Boden mitgebracht hat, um dem Auslande verdammt merkwürdig vorzukommen. Das ist meine Erfahrung, und so habe ich selbst als Deutscher den lieben Leuten da drüben ganz devilish imponiert. Mit den lieben Leuten aber meine ich sämtliche Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika, von den großen Seen bis an den äußersten Zipfel der Halbinsel
Florida und von einem Ozean bis zum anderen. Ich freute mich auch da schon auf das Wiedersehen mit unserem guten Ewald, bloß um ihn fragen zu können, wie es ihm in dieser Hinsicht außerhalb der deutschen Nation ergangen sei. Nun, ihm natürlich, wenigstens in dieser Beziehung, noch um manches Prozent besser als mir; das steht fest, ich glaube nicht, daß es mir bloß so scheint! Du weißt, unter welchen schauderhaften und unangenehmen Umständen ich von euch und dem Steinhofe und dem
Vaterlande überhaupt Abschied zu nehmen hatte. Ein blöderer Hanstoffel als ich ist wohl selten aus seinem Traumwinkel und von der Ofenbank an die freie Luft hinausbefördert worden. Alles, was ihr nachher erlebt haben könnt (Fräulein Irene nehme ich aus!), ist gar nichts gegen das, was ich an jenem schönen Sommertage und dann bei der Auktion ausgestanden habe. Und wie die Welt ist, nimm mir das nicht übel, Fritze, so ließ sich keiner von euch auf dem Hofe mir zum Troste und der alten Jule zur
Aufrichtung blicken; und so waren wir denn einzig und allein auf uns selber angewiesen in dem Verdruß und Elend, ich und Jule Grote. Ich mache dir übrigens durchaus keinen Vorwurf, Fritzchen, denn ich weiß es wohl, daß ihr euch damals gleichfalls durch schlimme Tage durchzufressen hattet. Aber uh, die alte Jule! Da habe ich das Meinige zu hören gekriegt vom Morgen bis zum Abend. Und, was das schlimmste war, durchaus nicht mehr mit Gift und Galle und spitzen Reden, sondern alles in Wehmut und
Herzeleid, und – ›mein armer, lieber Just‹ hier –, ›mein armer, armer Junge‹ da! – Zum Heulen wars! Die Haare stehen mir heute noch darüber zu Berge. Ganz unerträglich! – – ›Dich hätte ich gar nicht aus deinen Windeln herauswickeln sollen, Just‹ – winselte die Alte fort und fort, als ob ich an dem tagtäglichen Exekutor nicht schon genug zu tragen gehabt hätte. Gottlob, daß das alles damals war und nicht heute noch mal ganz
von vorn an durchgemacht werden muß! – Und ein Glück war es in allem Unglück, daß ich für die gute alte Seele am wenigsten zu sorgen hatte. Ich kam ihr einmal mit dem Wort und der schweren Herzensangst; aber da hättest du Jule Grote in ihrer Glorie sehen und hören können, Fritz Langreuter! Keine Katze konnte giftiger aufpusten. Da ging es los wie die Kastanien in der Asche, und die Asche flog mir arg genug in das Gesicht. – ›O du dummer Bengel, willst du dich auch da noch zum
Narren machen? Mich willst du unglückselig, geschoren Schaflamm bemuttern? Du hülflose, übergeschnappte Kreatur, du? Du hast doch sonst immer mit deinem dummen Maul warten können, bis du gefragt wurdest! Ach, Gott, nun auch das noch!... Um mich macht sich das Kind zu guter Letzt auch noch seine Gedanken. Da ist es denn freilich wohl mit uns zum Schlimmsten gekommen! Zu glauben steht es freilich nicht, du – Töffel!‹
Das war das richtige Wort, Fritz. Für sie bin
ich mein Lebtage der kleine Töffel gewesen, und ich kann dir gar nicht sagen, Fritze, wie wohl es mir jedesmal ums Herz wird, wenn ich daran denke, daß ich es auch heute noch für sie sein kann und bin.
Sie hatte vollständig recht. Die Gedanken, die ich mir in meinem Leben gemacht habe, sind nie viel wert gewesen, und die über sie am wenigsten. Da könnte ich mich noch eher mit meinen Gefühlen sehen lassen! Ich sage dir, Fritz, wenn ich noch lebe und jetzt, in dieser Nacht, hier dir so
fett und rund gegenübersitze, so ist das einzig und allein ihr Verdienst. Sie nahm es mir denn auch ganz unchristlich schriftlich übel, als ich ihr die ersten hundert Dollars über die See nach Bodenwerder schickte. Son dummes Zeug verbat sie sich ausdrücklich fürs künftige; ich muß dich aber da mal unsere gegenseitige Korrespondenz lesen lassen: so kurzweg erzählen läßt sich dies nicht; das ist wie mit allem Schönsten, Liebsten und Großartigsten in der Welt. Zum allerwenigsten muß ich
die Dokumente dabei auf dem Tisch haben.
Sieh mal, Fritz, du bist nur eine vaterlose Waise gewesen, ich dagegen eine mutterlose von Kindesbeinen an; also kalkuliere dir mal unser gegenseitiges Verhältnis, ich meine zwischen mir und meiner Alten, selber zurechte. Ach, Gott, was hat sie von meinen Gedanken ausstehen müssen! Und was das ärgste war, das Allerärgste war noch zurück und ging ihr über alles übrige hinaus, bis sie sich auch in es, wie in alle meine anderen Unsinnigkeiten,
mir zuliebe, gefunden hatte. Auf den Gedanken, nach Amerika auszuwandern, verfiel ich auf dem Wege nach Bodenwerder am letzten Auktionstage, und es war ein richtiger Kreuzweg. Nach ihr, meiner Jule, hatten sich die Hände, die sie gebrauchen konnten, dutzendweise ausgestreckt; aber nach mir nicht ein einziges Paar. Wer konnte mich gebrauchen? Sie war auf jedem Bauernhofe, auf jedem Gutshofe hoch willkommen; denn sie wußten alle weit ins Land hinein, was für eine Perle von Ökonomie und
Molkenwesen, Schweinezucht, Viehzucht und Menschenzucht überhaupt der Steinhof an ihr gehabt hatte. Mir verhalf weder der große noch der kleine Broeder zu einer Unterkunft – im Gegenteil, sie waren schuld daran, daß ich überall, wo ich anklopfte, mit einem manchmal gar nicht höflichen Kompliment weitergeschickt wurde. Niemand wollte von dem ›gelehrten Bauer‹ etwas wissen, und am allerwenigsten seine besten Freunde. So bitter ist wohl selten einem Menschenkinde der Geschmack vom
Lateinischen auf der Zunge geworden wie mir damals.«...
»Armer Teufel!« sagte ich, Friedrich Langreuter, Doktor der Philosophie, Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin usw. usw., und fügte hinzu: »Was weißt du denn von dem Geschmack auf den Zungen anderer Leute, Vetter Just? Ach, Vetter, du bist der größte Doktor, der mir je bekannt geworden ist, – wie gern zeige ich dir die meinige körperlich und geistig und lasse mir ein Rezept gegen die Bitterkeit darauf
verschreiben!«
»Zweihundertfünfzig Taler hatte sich die Alte übergespart«, fuhr der Vetter fort, »das übrige hatte sie alles immer wieder so bei kleinem in den Steinhof hineingesteckt, und noch dazu meistens wohl in mich, und ohne daß ich es in meinem faulen Behagen leider Gottes im geringsten gemerkt habe und ihr dankbar dafür gewesen bin, wie es sich von Gottes und Rechts wegen gehörte. Nun kam sie mit ihren Sparkassenbüchern und ihrem Strumpfe voll blanker Achtgroschenstücke zum
Vorschein und mit einem Gesichte dazu, was mir bis an mein Lebensende im Gedächtnis bleiben wird. Denke dir nur um ihr Gesicht einen Heiligenschein, wie ihn die Maler um ihre himmlischen Jungfrauen malen, – beschreiben läßt sich aber der Kontrast nicht, sondern nur mit tränenvollem Herzbeben nachfühlen. Nicht einmal für ihr standesgemäßes Begräbnis, wovon sie immer gern sprach wie die Alte in dem Gedichte, wollte sie wenigstens die fünfzig Taler zurückbehalten, und – gottlob –
bis heute hat sie sie auch noch nicht nötig gehabt; aber ich habe sie ihr damals doch zurückgelassen, und dabei erlebte ich denn of course ihren letzten Wutanfall über mich vor meiner Abreise. Die zweihundert Taler habe ich genommen, und ich will keinem anderen von meiner Natur wünschen, daß ihm auch einmal so schweres Geld in die Tasche gesteckt wird! Glaub nur ja nicht, daß sich das so an einem Tage machte; ebensowenig wie der Abschied! Aber eines Morgens waren wir doch so weit, nämlich bis zu
dem: ›Ja, Just, denn adjes, und ich hätte nimmer gedacht, daß ich auch das noch an dir erleben sollte!‹ – gekommen. Fahre du einmal so wie ich damals von Bodenwerder nach Bremen und probiers, wie dir dabei zumute ist. Was wir Gelehrten die Logik nennen, das ist wie Philosophie auf dem Wege zum Zahndoktor; beides kommt einem erst wieder, wenn alles – Herz, Hirn und auch die Kinnbacken wieder in verhältnismäßiger Ordnung sind. Du siehst es mir heute, Gott sei Dank, nicht
mehr an, wie ich damals aussah inwendig und auswendig. Wenn wir Gelehrten aber wissen, daß der Mensch in seiner Natur immer derselbe bleibt, so ist es doch ebenso wahr, daß sich manches auf den Charakter hängt und dazugerechnet wird wie die Mistel zum Apfelbaum. Kannst du das Schmarotzergewächs nicht zu Vogelleim gebrauchen oder ist dir das Geniste sonst widerlich und hinderlich, so sei nur dreist ein guter Gärtner und richtiger Mensch – reute es aus, reiß es ab und mach ein Feldfeuer aus
dem Gestrünk und Gestrüpp. Für mich, den Vetter Just vom Steinhofe, ist da diese glorreiche Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika eine unbezahlbare Schulmeisterin gewesen. Hier bin ich wieder, und – ein Schulmeister bin ich drüben gewesen: ich habe mich doch nicht ganz umsonst von euch hier zu Lande auslachen lassen wollen, alter Junge, und ein Buch könnte ich wohl auch jetzo zustande bringen, wenn auch nur eines – meine Lebensgeschichte. Ich gebe dir mein Wort
darauf, eine ganz sonderbare Historia ist das; und so in manchem stillen Augenblicke komme ich mir wirklich merkwürdig kurios und interessant vor und als etwas, was ganz außer mir steht und sich von den verschiedensten Seiten her betrachten läßt. Nicht wahr, Objektivität nennen wir dieses? Glaube nur aber ja nicht, daß ich dir das Gesicht, welches du mir hier eben zuschneidest, übel anrechne.«
»O Vetter«, habe ich damals, mit beiden Händen nach der Hand des teuern Mannes greifend,
gerufen, »Vetter, lieber Vetter, was ich für ein Gesicht dir mache, weiß ich nicht; aber wie ich jetzt, in dieser Nacht, mit diesem Winde vor dem Fenster in deiner Schule sitze, das weiß ich ganz genau. Und nun tue mir die Liebe an und verführe mich nicht wieder, dich zu unterbrechen! Erzähle weiter – weiter; o, erzähle weiter –«
»Herr Urian! Jawohl; – wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen, singt der Wandsbecker Bote. Und freilich, eine Reise habe ich
getan, und sie war noch lange nicht zu Ende, als ich drüben am anderen Ufer angekommen war, daselbst auf der Werft im Kreise meiner Zwischendecksgenossen stand (einige saßen auch noch ratloser als ich auf ihren Kisten und Kasten) und diesen Neuyorkischen Nordamerikanern meine ersten frisch importierten Maulaffen feilbot. Großer Gott, damit mochte man dort so frisch als möglich ankommen, eine neue Ware war es da am Platz wahrhaftig nicht! Es ist nicht in einer Sitzung, wie wir sie jetzt abhalten,
zu berichten, was ich im Handel damit ausgestanden habe! Und dann nimm nur auch mal die Konkurrenz an, ganz abgesehen von den Weibern, Kindern und den Alten, die dazu ihre Tränen, Seufzer, Jammergesichter und Gebresten auf den fremden Markt bringen. Daran darf ich gar nicht denken, ohne meine eigene Historie auf der Stelle abzubrechen und anzufangen, die eines anderen, und zwar eines anderen von Hunderten und Tausenden, zu erzählen. Der Mensch ist aber und bleibt ein Egoist, und so bleibe auch
ich in der Furche und pflüge mein eigen Feld nach der allgemeinen Regel dir vor wie bei dem ersten besten Preispflügen. Das mit der großen Konkurrenz war denn sicherlich für mich kein eitler Wahn. Es geht außer den ordentlichen Bauern auch eine Menge wirklicher Schulmeister über das Wasser, weil ihnen der vaterländische Grund und Boden nicht genug Balken mehr unter sich hat, – gelehrte Leute, Professoren, Doktoren, Oberlehrer und Seminaristen – Philologen und Philosophen von jeder
Sorte, und kommen sämtlich beim Steinklopfen, Ziegeltragen und im deutschen Auswandererspital an. Mit mir ist es glücklicherweise umgekehrt gegangen. Ich habe da freilich nur meine eigene persönliche Erfahrung und kann nur sagen, was ich persönlich weiß. Und nun, Fritz Langreuter, lasse ich mich darauf totschlagen, daß von allem, was man drüben am besten gebrauchen kann, ein lateinischer Bauer das allererste ist. Von ihren großen Städten und dergleichen rede ich natürlich nicht, sondern von
ihren Wildnissen und Einsamkeiten. Und merken lassen darf man es ihnen, auch im Hinterwalde oder auf der Prärie, auch nicht, was man außer seinen zwei groben Fäusten mitgebracht hat, sondern sie müssen es nach und nach ganz von selber merken. Nun stelle dir den Vetter Just vor in einem Lande, wo jedes Kind, sowie es das Licht der Welt erblickt hat, sofort sich auf das Praktische legt und mit seinen Eltern über seine ersten natürlichen Geschäfte an zu handeln fängt! Nicht wahr, da brauchte der
bankerotte Bauer vom Steinhofe nicht erst eine Glatze zu kriegen, um zum Kinderspott zu werden? Es war der erste Vorteil, den ich aus meiner heimischen Dummheit zog, daß ich dieses einsehen und mich darauf einrichten konnte. – Ach, Fritz, es ist manchmal dem Menschen nichts dienlicher, als daß er mal so recht vollständig umgekehrt wird! Wenn das Allerinnerste nach außen kommt, dann erfährt er erst, was eigentlich alles in ihm gesteckt hat und was ihm nur angeflogen war. Jetzt kehrst du
zuerst den Bauer heraus, Just! denke ich mir, mit der Faust vor der Stirn, – den Urbauer, den deutschen Bauer aus der Zeit, wo er sich noch nicht einen Ökonomen schimpfen ließ. Dreidrähtig, Just! Schon um der alten Jule willen. Ebenso dick als lang, und wäre es auch nur der Ehre des deutschen Vaterlandes wegen. Mist bleibt überall Mist und hat überall dieselbe Wirkung in der schönen Natur, einerlei ob in dem alten Europa oder in dem jungen Amerika. Und dann – muß man denn immer in
seinem eigenen Bette schlafen und den Schlüssel zu seiner eigenen Rauchkammer in der Tasche herumtragen? Uh, das Fleisch ist mir da wirklich von den Knochen gefallen; aber gereckt habe ich mich auch. Du glaubst es wahrscheinlich nicht; aber einen guten Zoll bin ich ganz gegen die Natur in Amerika noch gewachsen. Das Land hat das wirklich naturgeschichtlich so an sich, daß es seine Leute wie zähes Leder auseinanderzieht. Ist dir mein Hals nicht aufgefallen? Na ja, auf dem Steinhofe steckte er mir
ganz anders zwischen den Schultern! Nimm es mir nicht übel, das sollte kein Stich auf dich sein; denn bei dir ist das ganz was anderes, du bist ein glorreicher deutscher Gelehrter und passest mit deiner dünnen Nase ganz nach der Regel zu deiner übrigen Figur. Aber wir – das deutsche Volk im großen und ganzen, wie lange müssen wir noch selbst dem Unteroffizier dankbar sein, der uns zum Geradestehen animiert und uns das Kinn mit der Faust in die Höhe stößt, um uns auf das stolze Blau über
uns aufmerksam zu machen?! Das war eine Abschweifung, rechne ich; und da bin ich also auf einer Farm mitten im Staate Wisconsin – auf einer Farm –, zahle mein Lehrgeld als Ackersmann auf Erden nachträglich und hole vieles nach, was ich auf dem Steinhofe aus Faulheit und Dummheit versäumt habe; – mein einziger Verlaß die Muskeln, die mir Jule Grote angefüttert hatte. Ein bißchen klimatisches Fieber abgerechnet, ging es auch so ziemlich. Aber das Geräte! Damit habe ich jahrelang
meine liebe Not gehabt, bis ich es mir handgerecht einstudiert hatte. Nimm nur mal solch eine Yankee-Axt an. Und dann ihre Verbesserungen an ihren Pflügen zwischen ihren Baumstumpfen. Selbst das Älteste, was Adam schon kannte, kommt einem da neu vor. Bis auf den Griff am Spaten mußt du dort als deutscher Ackerknecht von frischem in die Lehre gehen. Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen, und by degrees machte sich die Sache ganz gut. Wir Gelehrten nennen das ja wohl eine felix culpa, wenn sich
einer zu seinem Glück und besseren Verständnis blamiert und sich elend und lächerlich macht? Wir hatten einmal einen thüringischen verunglückten Pfarrer in Liedlohn genommen, der sprach viel hiervon. Einerlei; ich sage dir, Fritze, man muß so einen wackeren Erbsitz und Urvätereigentum wie den Steinhof wie im Traum von der Hand weggeblasen haben, um es im vollen einzusehen, was für ein glorreiches Handwerk Adams Handwerk ist! So ist es aber mit allen guten Dingen, die uns in die Hand wachsen, in
die Windel eingebunden oder auf dem Präsentierteller gebracht werden. Erst verdudele du sie, dann lernst du sie nach ihrem ganzen Wert und Behagen abschätzen! Wenn ich es heute nicht noch zu allem übrigen hier bei euch zum Titel Ökonomierat bringe, so – na, ich will lieber nicht sagen, was Karl Heinzen drüben dann in diesem Falle sagen würde! – Herzensjunge, es ist jammerschade, daß du in jener Zeit nicht bei mir warst, um dein Pläsier geradeso an mir zu haben wie im grünen Grase
unter meines Vaters alten Kirschenbäumen oder in meiner ganz verrückten Erkerstube. O, hätte ich nur manchmal die alte Jule, dich, Ewald und die beiden Mädchen nach Neu-Minden hexen können. Wenn man absolut einmal zu renommieren wünscht, so renommiert man am liebsten vor seinen nächsten Bekannten, Verwandten und besten Freunden, wahrscheinlich eben, weil die doch nie an einen glauben. Neu-Minden hieß unsere Ansiedelung, und alles in allem gerechnet, jung und alt zueinander, waren wir so zirka
fünfzig bis sechzig Köpfe stark. Immer ein hübscher Kern! Der General Varus auf seinem Marsche durch Deutschland hat wahrscheinlich erst bei Detmold einen bunteren Haufen von uns, und zwar zu seinem Schaden, auf einer Stelle zusammen erblickt. Neu-Minden! Ein netter Name und ein absonderlich Sammelsurium deutschen Volkes – von jeder Sorte a Gschmäckle, wie die drei oder vier Schwaben unter uns sagten. Drei bis vier Dutzend Kinderflachsköpfe wuchsen uns zwischen den Beinen, Schweinen,
Baumstumpfen und Fenzen auf, und das war die Hauptsache, und wer auch Präsident sein mochte – dieses machte ihm keine grauen Haare; einen Kultusminister schickte er uns nicht, um Ordnung zu stiften, nach Neu-Minden. Ihm war es in seinem Weißen Hause in Washington vollständig einerlei, auf welche Weise sich seine Bürger die Fähigkeit, seine Nachfolger in diesem Weißen Hause zu werden, erwarben. Nun, da freue ich mich, daß ich dreist beschwören kann, daß es immer noch etwas auf sich hat mit
dem deutschen Gewissen, nämlich soweit es sich um Vaterpflichten und Muttersorgen handelt, einerlei, ob es ihm absolut gleichgültig ist, wer Präsident wird und wer nicht. – ›Sie wachsen auf wie die Schweine!‹ brummten kopfschüttelnd die Grauköpfe von beiden Geschlechtern in der neuen Gemeinde. ›Ein Vergnügen ist es, es mit anzusehen, aber eine Schande ist es auch, wie das Zeug ins Kraut schießt. Es geht nicht länger so; für den nächsten Winter müssen wir für einen
Schulmeister zusammenlegen, koste er, was er wolle. Aber mit Rat, Gevattern! Es verläuft sich mancher von der Sorte hierher, dem man kein Ferkel zum Waschen anvertrauen möchte, wenn man ihn selber und seine Vorgeschichte im alten Lande genau kennte.‹ – Na, Fritze, du kennst mich und meine Vorgeschichte im alten Lande! Was meinst du zu mir und diesen Reden und Beratungen in der Waldwirtschaft rund um mich her? Nicht wahr, du siehst es jetzt schon ziemlich klar vor dir liegen, wie es
sich nachher alles gemacht und passend ineinandergefunden hat? Schwerenot, wollte ich dir jetzo eine Pfeife vom schwersten Lobtabak vorrauchen, so könnte ich es, daß du Fenster und Türen des Wohlduftes halber aufsperren müßtest. Neu-Minden aber existiert glücklicherweise noch; also reise du nur lieber selber hinüber und höre dir, wenn dir daran liegt, an, wie die anderen von mir reden. Ich, der ich auf dem Steinhofe nicht der Herr und Bauer sein mochte, ich bin hoffentlich ein guter Bauer und
Knecht in dem amerikanischen Walde gewesen. Aber ich bin auch durch des Großvaters Schrank – weißt du noch? – im Laufe der Zeit wieder mein eigener Meister geworden, wie wir Deutschen das Wort nehmen; ich habe eine Farm in die Wildnis hineingesetzt, die sich sehen lassen konnte und bald ihren Wert und Preis hatte. Weiß der liebe Gott, den Vetter nannten sie mich auch drüben bald auf zwanzig Meilen in die Runde, ohne daß ich dir sagen kann, wie es zuging. Von den Kindern
ging es nicht aus. Die habe ich schon der Autorität wegen bei ihrem Mister Everstein erhalten. Bitte, reise wirklich morgen schon ab – bloß um zu hören, wie sie hundert und mehr Meilen nordwestlich von Milwaukee von dem Mister Everstein sprechen, wenn sie zu ihren Buchstabierspielen aus allen Himmelsrichtungen her auf eine halbe Tagereise weit zu Pferde und zu Wagen zusammenkommen! Und ich habe es nicht bei dem bloßen Buchstabieren gelassen nach getaner Tagesarbeit mit Axt, Pflug und
Spaten. Ein Exemplar vom alten Broeder war freilich nicht aufzutreiben, weder in Neu-Minden noch in Neuyork; aber da liegt schon in Minnesota am Mississippi ein Ding, das heißt Sankt Paul, und da hat mir wirklich und wahrhaftig einer einen Ellendt aufgetrieben, und wenn heute ein eingeborener Neu-Mindener einen Begriff oder eine Ahnung von mensa und amare hat, das heißt in der Römersprache, so bin ich der Mann, der schuld daran ist. O, und der pythagoreische Lehrsatz! Erinnerst du dich wohl noch
an den Magister Matheseos, Fritze Langreuter? Und an meine Seelenseligkeit, als ich ihn heraushatte und ihn dir als etwas, was unumstößlich seine Richtigkeit hatte, beweisen konnte? Du hättest die Tafelrunde von alten und jungen Neu-Mindenern sehen sollen, denen ich ihn gleichfalls bewies, mit Kreide auf der Tischplatte, am Winterabend mitten in der amerikanischen Wildnis und viel näher dem Lake superior als der Weser und dem Flecken Bodenwerder und dem Dorfe Kemnade! Siehst du, liebster Freund,
so habe ich wenigstens einmal in der Fremde für voll gegolten in dem, was ich zu Hause für das höchste Ideal hielt. Jetzt bin ich mit Ruhe ein Bauer auf meinem alten braven Hofe. Alle Nachbarn sind mir wiederum willkommen wie vor Jahren in meiner Narrenzeit. Ich bin auch mit Vergnügen für jedermann wieder der Vetter Just, und manchmal denke ich wie mit einigem geheimen Vergnügen: Hast du auch weiter nichts vor dich gebracht, Just, als daß sie nicht mehr hinter deinem Rücken über dich lachen, so
ist auch das schon bei deiner angeborenen Dummheit und Faulheit etwas ganz Hübsches.«
»O Vetter Just«, rief ich im hellen Enthusiasmus und wahrhaftig mit Tränen in den Augen und einem heißen Kitzel in der Gurgel, »der Vetter Just bist du und bleibst du, und – bei den unsterblichen Göttern – höher als das kann es kein sterblicher Mensch auf dieser Erde bringen! O Vetter, wie freue ich mich, daß ich dich wieder im Lande weiß und von neuem dich auf dem Steinhofe besuchen und
bei dir in die Schule gehen kann!«
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