Frei Lesen: Alte Nester

Kostenlose Bücher und freie Werke

Kapitelübersicht

Erstes Buch, Erstes Kapitel | Zweites Kapitel | Drittes Kapitel | Viertes Kapitel | Fünftes Kapitel | Sechstes Kapitel | Siebentes Kapitel | Achtes Kapitel | Neuntes Kapitel | Zehntes Kapitel | Elftes Kapitel | Zwölftes Kapitel | Dreizehntes Kapitel | Vierzehntes Kapitel | Fünfzehntes Kapitel | Sechzehntes Kapitel | Siebenzehntes Kapitel | Achtzehntes Kapitel | Zweites Buch, Erstes Kapitel | Zweites Kapitel | Drittes Kapitel | Viertes Kapitel | Fünftes Kapitel | Sechstes Kapitel | Siebentes Kapitel | Achtes Kapitel | Neuntes Kapitel | Zehntes Kapitel | Elftes Kapitel | Zwölftes Kapitel | Dreizehntes Kapitel | Vierzehntes Kapitel | Fünfzehntes Kapitel | Sechzehntes Kapitel |

Weitere Werke von Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor | Die Akten des Vogelsangs | Pfisters Mühle | Altershausen | Horacker |

Alle Werke von Wilhelm Raabe
Diese Seite bookmarken bei ...
del.icio.us Digg Furl Blinklist Technorati Yahoo My Web Google Bookmarks Spurl Mr.Wong Yigg


Dieses Werk (Alte Nester) ausdrucken 'Alte Nester' als PDF herunterladen

Wilhelm Raabe

Alte Nester

Achtzehntes Kapitel

eingestellt: 12.7.2007



Ich habe es wohl vergessen, zu sagen, daß wir damals im März des laufenden Jahres waren. Der Tag war hell und trocken, wenn auch noch immer windig. Auf den verhängten Fenstern lag ein gut Teil des Tages hindurch die Vorfrühlingssonne, und in das Nebenzimmer schien sie voll hinein, bis sie hinter die gegenüberliegenden hohen Häuser hinabglitt.

Wir verlebten diesen Tag vom Mittag an in diesen zwei Zimmern, dem verdunkelten und dem hellen, der Vetter Just und ich. Mademoiselle Martin deckte uns sogar in dem hellen Raume ein Tischchen und legte vier Couverts auf und stellte vier Stühle daran. Wir aßen daran zu Mittage, Mademoiselle, der Vetter und ich; und auch Irene kam und setzte sich einmal zu uns. Da aber hatte der Vetter ihren Platz an dem kleinen Bette eingenommen. Wir gingen ruhelos ab und zu, aus der hellen Stube in die dunkle. Es wurde auch eine Zeitung gebracht, und Mademoiselle Martin reichte mir dieselbe. Ich nahm sie und habe sie bis in die Dämmerung hinein wohl hundertmal hingelegt und von neuem aufgenommen. Wer diese Weise, eine Zeitung, ein Buch oder sonst einen beliebigen Gegenstand in Angst, Herzensweh und – Langerweile, ja Langerweile, hin und her zu wenden durch die kriechenden Stunden, nicht kennt, der preise das Geschick, das ihm solchen Zeitvertreib ersparte, und bitte, daß es ihn auch fernerhin davor bewahre, sich daran halten, im vollsten Sinne des Wortes sich daran halten zu müssen, bis das schlimme, öde, tödliche Warten sein Ende gefunden hat, einerlei welches.

So warteten wir an jenem Nachmittage.

Das kranke Kind wimmerte und schlief und wimmerte wieder und schlief wieder.

Die Mutter sang ihm mit leisester Stimme und kam zu uns und weinte und erzählte auch abgebrochen aus ihrem Leben und fragte nach dem meinigen. Wenn der Vetter Just irgend etwas sagte, so horchten wir alle mit momentan leichterem Atemholen; aber auch er schwieg oft viel zu lange und wußte nichts zu sagen. Mademoiselle ging ab und zu; – die war noch am besten dran, denn sie hatte den Haushalt für den kommenden Tag zu besorgen und von uns allen also das meiste um die Hand. Manchmal aber stand auch sie beschäftigungslos am Fenster, und ich bin fest überzeugt, dann haben sich Leute an den Fenstern drüben auf der anderen Seite der Gasse einander heiter auf sie aufmerksam gemacht:

»Guck nur die Alte! Wie in einem Bilde!... Die möchte ich mir freilich nicht am frühen Morgen über den Weg laufen lassen!«

»Die könnte Geschichten aus ihrer Seele erzählen, gegen die wir beide, Fritz, alle unsere Erlebnisse still zusammenpacken könnten«, flüsterte mir einmal der Vetter zu, mit dem Daumen über die Schulter auf die sœur ignorantine an dem Fenster hindeutend. »Was meinst du, wenn die am Jüngsten Gericht ihre auf Erden verschluckten Tränen auf einmal fließen läßt?!«

»Ja, Just«, sagte ich, »aber es läuft alles in einen Strom. Ich kann es dir nicht sagen, was für einen Damm das letzte Tribunal dagegen aufbauen wird, um nicht mit Sessel, Bank und grünem Tisch weggeschwemmt zu werden.«

»Darf ich Ihnen noch eine Tasse Kaffee einschenken?« fragte im Augenblick darauf Mademoiselle Martin. »Sie trinken ihn noch immer recht süß?«

Und ich sah in demselben Augenblick wieder vollständig genau die grünlackierte Zuckerdose von Schloß Werden vor mir und fühlte auf meinen Knöcheln den Schlag, mit welchem Mademoiselle meinen verstohlenen Griff in dieselbe zu verhindern gewohnt war, und hörte dazu das vorwurfsvolle Wort meiner Mutter: »Aber Fritz?!« und dabei das mutwillig glückselige Kichern der Komtesse Irene, der währenddem der Griff unbeachtet gelungen war.

Die schwersten Tage, Stunden und Minuten erzeugen ihre geschwindesten, wunderlichsten und buntesten Phantasmagorien.

Wenn wir zusammen sprachen, so sprachen wir sehr häufig von Eva Sixtus. Das Wort des Vetters: »Ach, wenn wir sie doch hier hätten!« kam zur vollsten Geltung. Jede heller auftauchende Erinnerung an sie, jedes Geschichtchen von ihr aus der Kinderzeit war uns wie ein Trunk aus einer kühlen klaren Quelle an einem schwülen Tage und unter schwerer Mühe. Wir konnten sie uns auch heute noch nicht anders vorstellen als immer noch umgeben von dem alten Zauberreich der Erde, weiterlebend still und freundlich in dem süßen Licht, den Tönen und Düften des von uns verlorenen oder aufgegebenen Paradieses.

Der Vetter Just, der natürlich am genauesten über sie Bescheid wußte und sie vor vierzehn Tagen noch gesprochen hatte, sagte:

»Das ist auch so mit dem guten Mädchen, und sie verdient es wirklich. Schon die Art anzusehen, wie sie mit ihrem alten Papa und seinen Hunden und seinem kuriosen Papstbuche umgeht, ist ein wahres Vergnügen. Beiläufig, wenn ich an das Papstbuch denke, so fällt mir dabei jetzt immer Freund Ewald in England ein. Seit ich den braven Jungen dort besucht habe, meine ich in plain terms, daß ein gut Stück mehr als genug aus dem Schmöker an ihm hängengeblieben ist. Das hat sich der Papst Sixtus der Fünfte wohl auch nicht träumen lassen, daß man einmal im Königreich Großbritannien und Irland Ingenieurkunst und dergleichen nach seinen Maximen treiben würde. Ich wollte nur, er schriebe häufiger an unser Evchen und den Alten – den Mr. Ewald und nicht Seine Heiligkeit meine ich selbstverständlich. – Ja, das liebe, alte Försterhaus von Werden! Daß die Regierung was daran gewendet habe, kann keiner behaupten; aber ungemütlicher ist es darum doch nicht geworden. Im Gegenteil, nur noch gemütlicher hat es sich zwischen seine Lindenbäume, Büsche und Gartenkultur eingenistet – ihr wißt, angenuselt nennen wir das bei uns zu Hause. Über Bodenwerder hinaus ist, während wir anderen sämtliche Münchhausens Abenteuer in der Welt erlebten, weder Eva noch der Förster gekommen. O Irene, wie werden sie demnächst einmal Ohren, Nase und Mund aufsperren, wenn wir ihnen unsere Allerweltshistorien heimbringen! Das steht fest, diesen Sommer treffen wir uns alle auf dem Steinhofe bei dem Vetter Just! Wozu bin ich denn der Vetter Just, wenn ich das nicht ganz genau wüßte und dazu, daß es immer wieder Sommer wird, wenn es Winter gewesen ist?! Das steht fest wie der Magister matheseos, Fritze Langreuter; jaja, Miß Martin, man kann es zu einer ungeheuren Gelehrtheit und Weisheit in der Welt bringen, wenn man nur seinerzeit an nichts denkt und die Leute reden und lachen läßt. Ein Verdienst war das damals aber bei mir nicht, sondern nur Blödigkeit und Schüchternheit und dazu Angst und Verwunderung, weil ich nur der dumme Junge auf dem Steinhofe war und die Welt und der Himmel umher so weit und voll und allmächtig, – liebe Irene, bleib sitzen; ich sehe schon nach dem Kinde!«

Sie wußte es, daß er ihren Platz an dem kleinen Schmerzenslager ebensogut ausfüllte als sie selber; sie lief ihm doch vorauf in das verdunkelte Zimmer. Er ging aber dennoch mit ihr; und Mademoiselle Martin und ich blieben uns an dem Kaffeetische allein gegenüber.

»Haben Sie nicht vorhin gesagt, daß Sie an unserer Haustür mit M. le prince de ** zusammengetroffen seien, M. Fritz?« fragte Mademoiselle.

Ich bestätigte das noch einmal.

»Sie wissen gar nichts von uns, Frédéric, und wenn Sie etwas sehr verwundert, so behalten Sie auch das für sich. Dies war immer Ihre manière so, schon als Sie noch so groß waren.«

Sie zeigte es durch eine Handerhebung, wie hoch ich war, als ich bereits alle meine Verwunderungen für mich selber behielt.

»Es tut mir leid, Mademoiselle Martin –«

»O, es tut Ihnen gar nichts leid, monsieur le docteur, denn sonst hätten Sie sich schon nach vielen Dingen erkundigt. Par exemple: ›Wie kommen Sie nach Berlin, Mademoiselle?‹... Mais cest navrant – ces gémissements de la petite! Bleiben Sie sitzen, Fritz, wir können doch nichts helfen dort, und der Vetter hilft der Komtesse. – Es ist der Fürst und seine Familie, die uns haben weggeholt von Wien und uns haben leben lassen hier. Das sind sehr gute Leute, und die Väter und Großväter haben sich auch schon geholfen gegenseitig depuis les siècles, und vorzüglich, als der Kaiser Napoleon war in Deutschland der Herr. Damals ist es monsieur le comte dEverstein-Werden gewesen, der helfen konnte; aber das Glücksrad geht herum toujours, toujours, toujours! Und Seine Durchlaucht ist gekommen und hat gesagt: ›Sie können nicht bleiben in Wien, madame la baronne. Je suis garçon, sonst sollten Sie wohnen in meinem Hotel in Berlin; aber ich muß sein Ihr Vormund, das ist mir eine Pflicht. Sie sollen still leben in Berlin und die Vergangenheit vergessen; ich werde alles besorgen.‹ – Bien, was wäre aus uns geworden ohne ihn? La grande mer hätte uns übergeschlungen. Voyez par exemple madame de ** und madame de ** und so viele andere arme Frauen dans la rafale de la vie! So haben wir gelebt hier durch seine Herzensgüte und auf seine Kosten, bis neulich gekommen ist monsieur Just, der Herr Vetter von dem Steinhofe – o, der Vetter Just, o, und es ist sehr gut, daß Sie an unserer Tür haben einander vorgestellt den Herrn Fürsten und den Herrn Vetter. Wir hatten noch keine Gelegenheit dazu gehabt, denn Seine Durchlaucht waren verreist bis gestern.«

In dem Nebengemache war das leise, klagende Gewimmer wieder still geworden, und der Vetter Just setzte sich wieder zu uns. Es war gegen sechs Uhr am Nachmittage und die Sonne eben dem Untergange nahe. Der Vetter seufzte schwer und gab wortlos der alten sœur ignorantine die Hand. Mademoiselle ließ die Schuhe von den Füßen fallen und ging auf den Strümpfen zu der Tür des Nebenzimmers, kam zurück und fragte:

»Schläft sie auch? Sie hat den Kopf mit auf das Kissen gelegt.«

»Weiß nicht«, sagte der Vetter kaum hörbar. »Ich wollte es wohl, aber ich glaube es nicht. Sie horcht nur.«

Wir horchten alle; dann ging Mademoiselle mit ihren Pantoffeln in der Hand von neuem ihren Haushaltungsgeschäften nach, und in der immer mehr über uns hinsinkenden Dämmerung waren jetzt Just Everstein und ich wieder für eine Zeit allein einander gegenüber gelassen.

»Es kann noch Stunden dauern. Ich kenne das leider nur zu genau aus mancher Ansiedlerhütte drüben, jenseits des Atlantic. Wir hatten dort immer nur Kalomel und wieder Kalomel; aber es ist egal, denn es bleibt immer dasselbe, hier und im Hinterwalde. Die Mütter legen dann immer ihren Kopf mit auf das Kissen«, sagte der gelehrte Bauer vom Steinhofe. »Sie machen auch die Augen zu, und wer sonst dabeisitzt, kann nichts tun als stille sein. Wolltest du etwas sagen, Fritz?«

Ich hatte nur einen etwas tieferen Atemzug getan, und so fuhr gottlob der Vetter fort.

»Man sitzt da still, wenn das Kind sterben will und die Mutter weiterlebt, und hat doch Zeit, an allerlei anderes zu denken. Von den größten und wirklichsten Wundern spricht, schreibt und druckt kein Mensch und kein Evangelium! Dies ist nun so eine Stunde, in der man mancher Angelegenheit, welche man sonst nicht so leicht anrühren würde, freimütiger auf den Grund geht, weil alles rundum ernst genug dazu aussieht und selbst der Mißtrauischste nicht an pure Neugier oder albernen, überflüssigen Vorwitz denkt. Fritz Langreuter, unsere Eva Sixtus hatte dich einmal sehr gern. Weshalb hast du das nicht merken wollen?«

Es schwamm mir vor den Augen, die heißesten Blutwellen drängten sich nach dem Herzen und Hirn, es hämmerte sinnbetäubend; der Boden schwankte unter mir.

»Mich?... Ich?!« stammelte ich, und der Vetter Just ergriff meine Hand und hielt sie während des Folgenden in der seinigen fest.

»Natürlich!« murmelte er. »Er fragt! Er weiß gar nichts! O, wenn ich nur wüßte, wo ihr Menschenkinder in der besten Zeit eures Lebens eure Augen und Ohren hattet!... Dich hatte sie lieb!«...

»Mich?« wiederholte ich durch eine See von Wonne und – Angst, nach einem unbekannten, noch unsichtbaren Ufer mich durchringend.

»Wen denn anders?« fragte der gelehrte Bauer vom Steinhofe, und ich fühlte, wie seine Hand dabei erzitterte; und meine Angst, die tödliche Angst in mir, hatte darin ihren Grund, daß ich wußte, was dieses Zittern bedeutete.

O Vetter Just! Vetter Just!

Als ob er mit einem anderen spräche, den Blick in die Weite gerichtet, fuhr Just Everstein fort:

»Da saß ich, der dumme, übergeschnappte Bauernjunge, um so manches Jahr älter als ihr, unter der Obhut und Vormundschaft von Jule Grote, zwischen meinen Düngerhaufen und Ackerfeldern, Wiese und Wald, und sah alles wie im Traume und doch ganz klar. Ich will nicht behaupten, daß ich der Gescheiteste von der Gesellschaft war, denn der ist und bleibt Freund Ewald, der ohne allen Traum und Duselei ebenfalls ganz klarsah und ganz genau wußte, wie er zu der Komtesse Irene stand und sie zu ihm. Er ist nicht ohne seine stichhaltenden Gründe in die Welt und nach Irland gegangen und schreibt wenig nach Hause. Wie vieles möchten wir anders haben in der Welt, was doch nicht sein kann! Da sitzt sie; – horch, und ihr Kind ist wieder wach, und sie spricht zu ihm, zu ihrem sterbenden Kinde; und niemand darf sie fragen, ob es nicht doch möglich gewesen wäre, daß dies alles hätte anders sein können!... Von ihr und Ewald rede ich auch gar nicht; da wird noch lange Zeit hingehen, ehe die Menschen es für etwas Selbstverständliches halten werden, auf der Erde zu ihrem Behagen unter dem rechten Dache zu Schauer zu kriechen. Nach deinen Versäumnissen möchte ich dich fragen, Fritz! Nimm es mir nicht übel – es findet sich aber vielleicht keine bessere Stunde dazu in unserem Leben als diese gegenwärtige sehr melancholische und sehr – ich weiß nicht, wie ich mich darüber ausdrücken soll!«

Er sagte es wirklich, daß er nicht wisse, wie er sich über diese Stunde ausdrücken solle. Hätte er ein Wort dafür gefunden, so würde er freilich die deutsche Sprache für all ihre Zeit dadurch bereichert haben. Was mich anbetraf, so war es nicht nötig, daß er noch ein Wort fand oder erfand für sich. Ich wußte bis in die tiefste Tiefe seiner und meiner Seele hinein, was er mir deutlich zu machen gewünscht hatte.

Aber ich?!...

In diesem Augenblick rief Irene aus dem Nebenzimmer angstvoll und laut unsere Namen. Der Vetter Just und ich kamen an diesem Abend nicht mehr dazu, unsere Privatangelegenheiten weiterzuerörtern. Gegen Mitternacht starb das Kind.

< Siebenzehntes Kapitel
Zweites Buch, Erstes Kapitel >



Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.