Wilhelm Raabe
Alte Nester
Drittes Kapitel
eingestellt: 12.7.2007
Davon sprachen wir auf der Reise; denn wir reisten wirklich. Wie ein Kind im Sack wurde ich von diesem wilden Irländer aus dem Försterhause zu Dorf Werden mitgenommen. Er kam und half mir beim Packen, er packte für mich, und er packte mich selber und ließ nicht los. Hals über Kopf wurde auch ich wie in einen Reisesack hineingestopft und in eine Droschke geworfen: wie ich es dann und wann bereute, daß ich mich nicht schon von dem Vetter Just Everstein hatte mitnehmen
lassen, kann ich gar nicht sagen.
»Nach dem Potsdamer Bahnhofe, Kutscher, und rasch! Viele Zeit haben wir nicht übrig.«
Mit dem Gefühle, meine Türen, meine sämtlichen Schubladen, Kisten und Kasten unverschlossen und jeglicher Durchstöberung offen hinter mir zurückgelassen zu haben, kam ich auf dem Bahnhofe an. Wir hatten in der Tat nur noch fünf Minuten vor dem Abgang des Zuges übrig, und das Schicksal benutzte dieselben, um mir einen rettenden Finger in den Wirbeln des
aufregungsvollen Tages hinzuhalten.
»Siehe da! Reisen wir in der Tat zusammen, Herr Doktor?« fragte eine Stimme mir gegenüber in dem Kupee, in das ich von dem raschen Freunde mehr gehoben als geschoben worden war, und ein einige fünfzig Jahre alter korpulenter Herr hob mit wohlwollendem Lächeln den Strohhut von einer ungemein glänzenden Stirn, grüßte auch meinen Irländer und meinte mit etwas asthmatischem Keuchen, das auf eine vielleicht etwas zu gute Ernährung und zu wenig
körperliche Bewegung hindeutete:
»Ja? Dies freut mich wirklich. So bleiben wir so ziemlich bis zum Ende der Fahrt beisammen und hoffentlich möglichst unter uns. Bitte, mein Herr, lassen Sie mich bis zum Abgang des Zuges aus dem Fenster blicken. Ich bin der Dickste und schrecke am meisten ab.«
Mr. Sixtus sah sich den Fremden an, aber – bereits von hinten. Breit, schwitzend und blasend lag derselbige schon im Wagenfenster, sich ganz und gar für jetzt – dem
Publikum unter der Bahnhofshalle widmend, und Ewald ließ von den weit auseinanderklaffenden Rockschößen des Reisegenossen den Blick fragend zu mir hinübergleiten.
»Kennst du ihn nicht mehr?... Bösenberg! – Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode«, flüsterte ich.
»Ich werde mich sofort selber Ihnen wieder vorstellen, Sixtus«, sprach der Stadtrat, halb über die Schulter zurück sich wendend, ins Kupee hinein. »Da gehen wir ab und bleiben fürs erste wenigstens als
Provinzgenossen unter uns. So!«
Er setzte sich, nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, breit und behaglich, wischte nochmals die Stirn mit dem ziemlich provinzhaft aussehenden Sacktuch und sagte:
»Lieber Herr, ich bin in der Tat der Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode. Habe hier in dem ungemütlichen Großnest die letzten Wochen hindurch meine alljährliche, von verschiedenen Leuten so genannte Auffrischungskur glücklich abgemacht – Sie kennen das ja,
Langreuter –, sehne mich unendlich nach meinem Schlafrock und meinen Pantoffeln und – Sie habe ich auf der Stelle wiedererkannt, Sixtus, obgleich ich seit einer erklecklichen Reihe von Jahren nicht das Vergnügen hatte, Sie zu sehen. Wo haben Sie denn eigentlich gesteckt, junger Mann?«
Der »junge Mann« gab willig in der Kürze die gewünschte Auskunft, und der Finkenrodener Stadtrat sagte:
»Sieh, sieh.«
Mir, der ich ihn, abgesehen von allem übrigen, auch
aus der Literaturgeschichte kannte, war das Zusammentreffen mit ihm und seine Reisegenossenschaft keineswegs zuwider. Und da wir von dem gewöhnlichen Reisetumult und Gedränge in unserem Wagen ziemlich ungestört blieben, hinderte uns nichts oder doch nur wenig, so vertrauensvoll und mitteilsam gegeneinander zu sein, als das unter verständigen oder verständig gewordenen Leuten nur irgend der Fall sein kann. Was den Freund Ewald anbetraf, den der Vetter Just als einen vollständig ausgewechselten
Werdener, als einen stocktauben und stockstummen Engländer in Belfast wiedergefunden zu haben glaubte, so war der auch jetzt derjenige, welcher das kleinste oder vielmehr gar kein Blatt in irgendeiner Beziehung vor den Mund nahm, so daß dies mir, wenigstens im Anfang, dem uns doch ziemlich fremden Stadtrat gegenüber ein wenig peinlich war. Alle seine und unsere Geschichten kramte er mit einer Unbefangenheit aus, die ganz und gar Schloß und Dorf Werden, Bodenwerder und der Steinhof war. Wie der
Poet aus dem Sumpfe der Alltäglichkeit die Perle des Interesses für seine Zuhörer herausfischt, so ging dieser irländische Ingenieur, wenigstens zu Anfang unserer Reise, auf den Fang aus im Bereiche der größten Trivialität unserer Jugenderlebnisse, und die Fragen: Weißt du noch, Fritz? Erinnerst du dich noch, Langreuter? Alter Kerl, das kannst du doch unmöglich vergessen haben? – schienen nimmer ein Ende nehmen zu wollen. Poetisch aber gebärdete er sich durchaus nicht bei dieser Fischerei
und wurde, wie ich nicht umhin kann zu bemerken, von dem Finkenrodener städtischen Würdenträger und früheren lyrischen Subredakteur des freilich auch schon ziemlich lange selig in allen seinen Sünden entschlafenen »Chamäleons« nach dieser Richtung hin nicht im mindesten entmutigt, sondern im Gegenteil: der Verfasser der »Heiratsgedanken«, der Dichter der »frommen Liebeslieder« gab nur da zum erstenmal seine abweichende Ansicht durch ein asthmatisch Gegrunze zu erkennen, wo mein Jugendfreund
zwischen zwei abgeschmackten Schnurren mit einem Seufzer sagte:
»Meine Herren, achten Sie dann und wann nicht auf mich! Ich sitze hier immer doch mit einem merkwürdigen Gemisch von Gefühlen; und Rührung und Beängstigung sind die vorherrschenden. Sie, Herr Bösenberg, haben ja aber auch einmal ähnliches auf dieser selben Bahnstrecke durchgemacht, darüber geschrieben und das Geschriebene sogar drucken lassen.«
Der Stadtrat gab einen Ton von sich, der ungefähr wie »
Whu!« klang. Dann brummte er:
»Jawohl. Das Vergnügen habe ich mir und einigen anderen gemacht. Ich danke Ihnen für die gütige Erinnerung, lieber Sixtus. Es ist mir freilich so, als ob ich das alles in Ihnen und dem anderen Herrn da in der anderen Ecke jetzt zum zweitenmal erlebe; aber Gott sei gelobt und gepriesen – zu schreiben brauche ich heute nicht mehr darüber! Also – erzählen Sie nur ruhig weiter von sich und dem Herrn Vetter Everstein und dem Herrn
Doktor da – von Schloß Werden, dem Försterhause und dem Steinhofe. Die Hauptsache denke ich mir selber dann wohl schon dazu. Ja, ich habe es mit vielem Interesse schon auf dem letzten Ostermarkt gehört, daß Frau von Rehlen, die frühere Komtesse Everstein, nunmehr ihren Aufenthalt bei dem Vetter Just auf dem Steinhofe genommen hat. Fräulein Schwester befindet sich, unberufen, immer noch recht wohl, pflegt den alten guten Papa und verkehrt dann und wann recht freundschaftlich mit meiner
alten Freundin, Frau Sidonie Mietze in Bodenwerder. Sie wissen doch, daß der Spiritusfabrikant schon vor fünfzehn Jahren nach der Heimat des Freiherrn von Münchhausen übersiedelte?«
Ich wußte das letztere nicht, da es mich im Grunde auch wenig interessierte; aber seltsamerweise wußte es der Ingenieur und interessierte sich auch sehr dafür. Seine Kenntnis der heimischen Zustände war in der Tat überraschend, und, was mir als das Auffallendste erschien, nichts von allem hatte sich ihm
irgendwie ins Phantastische gezogen, wie das leider bei mir heute der Fall war und im Jahre achtzehnhundertachtundfünfzig bei dem heutigen alten, fett und Stadtrat gewordenen Junggesellen Dr. Max Bösenberg.
Es waren dieselben Geleise, auf denen wir mit dem Eilzuge dahinglitten: ich, der Biograph der Leute von Schloß Werden, heute und der Doktor Bösenberg, der Biograph der Kinder von Finkenrode, damals. Ganz wunderlich sprach der irisch-deutsche Baukünstler aus seiner Wagenecke darein,
nämlich so hell, unbefangen und vernünftig, daß ich kaum ein Wort dazwischenzureden wagte und dem Stadtrat dankbar war, wenn er das mit schwitzender Gemütlichkeit tat.
»Weshalb ich nicht häufiger an die lieben Angehörigen – das gute Evchen und den alten Papa schrieb? Weshalb ich ihnen nicht von Tag zu Tag über mich Nachricht und Rechenschaft gab?« fragte der Ingenieur und jetzige Besitzer von Schloß Werden. »Einfach aus dem nämlichen Grunde, aus welchem die zärtlichsten Leute es
verabsäumen, die gewöhnlichsten Pflichten der Höflichkeit zu erfüllen, gentlemen. Heute haben sie keine Zeit und morgen haben sie keine Lust. Gewissensbisse lassen sich in dieser Hinsicht weit leichter verdauen als die Ärgernisse, die an allem hängen, was in der Ferne vordem unsere Behaglichkeit, unser Pläsier und – unsere Hoffnung war. Es quält einen in der Fremde nichts mehr als das Schönste und Liebste, was man in der Heimat gehabt hat und hat aufgeben müssen! Habe ich nicht recht, Herr
Bösenberg?«
»Natürlich! Von Ihrem Standpunkte aus!« brummte der Stadtrat und summte dabei aus Zampa: Wenn ein Mädchen mir gefällt!... »Bitte um etwas Feuer, wenn Ihre Zigarre noch brennt. Ich habe so ein Liedchen von den Zuständen und Verhältnissen zu Werden singen hören. Bis in unsere Magistratssitzungen drang es herüber nach dem Tode des Alten – ich meine des alten Biedermanns und bankerotten Dynasten von Schloß Werden. Man wächst dann und wann nicht ungestraft zusammen auf
als Jüngling und Jungfrau, wenn man nicht zufällig Bruder und Schwester ist. Kenne das! Also deshalb haben Sie nicht häufiger nach Hause geschrieben? Aber fahren Sie nur fort! Das andere interessiert einen nach den eigensten persönlichen Erlebnissen immer noch, selbst wenn man mehr oder weniger durch Gunst der Götter zu den Höchstbesteuerten in seiner Kommune gehört und es – zu einer Stellung gebracht hat wie ich.«
Wir waren diesmal mit dem Abendzuge von Berlin abgefahren und
fuhren also auch in die beginnende Nacht hinein wie der Feuilleton-Redakteur des Chamäleons im Jahre achtundfünfzig. Der einzige Unterschied bestand darin, daß es Sommer war und nicht der dreißigste November wie damals. Jenes Buch von den Kindern von Finkenrode hatte aber seinerzeit, wenigstens in unserer Gegend, und dieses selbstverständlich, ein gewisses drolliges, mit Erstaunen vermischtes Aufsehen gemacht, und die Figuren und Situationen hafteten mir auch heute noch deutlich genug im
Gedächtnisse, um mich ihnen, sowie dem – gegenwärtigen Stadtrat Dr. Max Bösenberg mit vollstem Verständnis hingeben zu können. Was ich dann und wann aus dem Buche zitiere, schreibe ich freilich, wie das nicht anders sein kann, nachträglich ab. Auswendig wußte ich es nicht.
»Zu Hause! Jeder aufblitzende Lichtstrahl aus einem Hüttenfenster auf der nebeligen Heide erfüllte mich mit einem Gefühl der Verödung, der Vereinsamung. Zu Hause! Wo ist mein Haus? Wo ist meine Heimat?... Mein
Blick verlor sich in dem dichter gewordenen Nebel draußen. Der Zug flog in diesem Augenblick über ein altes Schlachtfeld, wo vor langen Jahren um Langvergessenes Tausende und aber Tausende geblutet hatten. Es schien mir, als ob die wogenden, wallenden Dunstmassen sich in kämpfende Männer und Rosse verwandelten zum Kampfe um ein zerfließendes Nichts. Im wilden, geisterhaften Getümmel drängte sich ein Chaos phantastischer Gestalten auf beiden Seiten des dahinschießenden Dampfrosses, zerschellte an
den Rädern, ballte sich von neuem, wirbelte von neuem gespensterhaft durcheinander. Auch ich kam ja aus einer Schlacht, wilder, als je eine mit Waffen von Stahl und Eisen gekämpft wurde. Wie manchen hatte ich an meiner Seite fallen sehen, wie manchen hatte ich auf dem Schild mit heraustragen helfen aus dem Getümmel:
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