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Wilhelm Raabe

Alte Nester

Sechzehntes Kapitel

eingestellt: 12.7.2007



Und Ewald und Irene? Was sagten und taten die denn?

Das ward nun eine Nacht, in der viele Geister umgingen in Werden – Schloß und Dorf; doch über miracula et portenta, von großen Wundern und »Wunderzeychen« am Himmel und auf Erden und auch in den Herzen der Menschen habe ich nicht das geringste zu berichten.

Jene beiden Leute begrüßten sich zuerst, wie es sich nach der langen Trennung und bei der ersten Gelegenheit schickte, ernst und freundlich. Zu dem, was die Welt eine Auseinandersetzung nennt, kam es fürs erste noch nicht; denn teilnehmende Nachbarn sprachen immer noch ab und zu vor, und auch der jetzige Pastor des Ortes kam noch einmal und saß eine geraume Weile. Er beging vielleicht die einzigen Indiskretionen an diesem Abend, indem er den irischen Ingenieur recht lobte und seine Heimkehr »so gerade zur rechten Zeit leider!« mit allen ihren Umständen als etwas sehr Löbliches und Verdienstliches pries und sich dabei stets mit seiner Rede an die Frau Irene wendete.

Doch lauter als der beste Redner in der Welt gab der stille alte Herr hinter uns in der Stube mit den offenen Fenstern sein stummes Wort darein und half uns auch hierüber hinweg.

Auf den Spielplätzen des Dorfes verklang allgemach der Lärm der Dorfkinder. Es wurde Nacht, und auch der gutmütige, wohlmeinende geistliche Herr ging nach Hause, höflich von dem Vetter Just bis zum Hoftor begleitet.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, liebe Irene«, sagte jetzt der Irländer leise; doch die Frau antwortete mit merkwürdig fester und klarer Stimme:

»Ja, lieber Ewald; es ist sehr lange her, und nun führt uns eine so traurige Gelegenheit wieder zusammen! Dir ist es aber gottlob gut ergangen auf deinem Lebenswege, du hast vieles ausgerichtet; ich habe den Vetter Just und hier den Doktor Fritz gern davon erzählen hören –«

Hier räusperte sich der Vetter Just ziemlich vernehmlich und brummte:

»Hm, hm, hm.«

»Mein Bruder –« wollte Eva einfallen, doch ich faßte rasch nach ihrer Hand, die Frau Irene fuhr fort, und der energische Wille, sich nichts zu vergeben zu haben, kämpfte bedenklich mit noch unterdrückten Tränen:

»Du hattest es aber auch viel leichter in der Welt als ich.«

»Ja, liebe Irene!« sagte der Freund. »Ich weiß das nur zu genau. Ja, ich habe es leicht gehabt und viel Glück!« – Seine Stimme aber wurde rauh und hart, als er hinzufügte: »Ich habe jahrelang keine Zeit gehabt, an meines Vaters Haus zu denken, um dir das deinige wiederzugewinnen!«

»Aus Zorn und Mitleid, Ewald Sixtus!... O Eva, Eva, liebe, liebe Schwester, behalte mich bei dir unter deines Vaters Dache diese Nacht!... Nein, nein!... Just, o lieber Just, wie bin ich nur hierhergekommen? Wo soll ich bleiben?«

Zum erstenmal in dieser treuen, wahren Lebensgeschichte klang die Stimme des Vetters ärgerlich, ja fast böse, als er sich erhob und sagte:

»Bei mir – Just Everstein! Eine Nacht geht bald vorüber. Auf Schloß Werden, Gräfin Irene Everstein! Ich schaffe dir in dem alten Spuknest als alter amerikanischer Hinterwäldler und Baumfäller ein Strohlager und ein Bund Heu unter den wilden Kopf. Kommt herein zu dem Vater; Eva hat zwei Lichter neben sein Bett gestellt, wir wollen dabei den Kauf richtigmachen, Ewald! Ich, Just Everstein vom Steinhofe, bin hiermit Eigentümer und Herr von Schloß Werden!«...

Es ist nicht die Kraft, es ist die Angst des gefangenen Edelfalken, die das Schreckliche ist und das Publikum vor den Gittern des Käfichts am meisten interessiert; ich aber verspüre an dieser Stelle am allerwenigsten das Bedürfnis, die Frau Baronin Rehlen interessant zu machen durch ihr Flattern und Flügelschlagen. Habe auch kein Recht dazu.

Wir gingen wohl zu dem toten Vater hinein, aber nicht um einen Handelskontrakt neben den zwei Lichtern, die sein stilles, friedliches, freundliches Greisengesicht beleuchteten, abzuschließen. Irene stand an Ewalds Schulter gelehnt, von seinem Arm umschlungen, und weinte leise und flüsterte:

»Kannst du mich denn noch liebhaben?«

Er war unverbesserlich, der brave Freund Ewald Sixtus! Er hätte wirklich schon von Geburt aus als Irländer in diese nüchtern-tragische Welt hineingesetzt werden sollen.

Dem Weinen war er gleichfalls näher als dem Lachen, und seine Stimme zitterte gleichfalls, als er an dem Sterbelager seines Vaters seine Liebe fester an sein Herz zog; aber doch mußte es heraus und kam ganz in der alten Dummen-Jungen-Weise:

»Ich kriege dich ja nur in den Handel, altes Mädchen! Aber – bei den ewigen Göttern, die mir wahrhaftig den Weg bis zu dir schwer genug gemacht haben – den Vetter Just halte ich bei seinem Worte! Wir beide, mein Herz, mein liebes, liebes Herz, wir sehen uns nicht mehr um nach Schloß Werden; aber der Vetter da – der Vetter Just Everstein, der war von Gottes Gnaden allewege der Gescheiteste von uns und hat mit unserer Schwester da allein die Gabe, alles ruhig abzumachen. Du und ich, mein Herz, wir haben nur einmal den Versuch gemacht. Die beiden müssen für uns mitwissen, was mit Schloß Werden anzufangen ist!«

Von Schloß Werden wurde nun nicht mehr gesprochen bis zum anderen Morgen, und dann zwischen dem Vetter Just und mir. Wir verbrachten alle diese Nacht unter dem nämlichen Dache; doch wohl keiner von uns in einem sehr festen Schlaf. Auch ich nicht, der ich in jedem Augenblick vorgeben konnte, daß wichtigste, unaufschiebbare Geschäfte mich augenblicklich nach Berlin zurückriefen und meine Gegenwart bei dem Begräbnis – bei dem Schmerz und dem Trost der alten Heimat unmöglich machten.

Zwei Stunden nach Sonnenaufgang schon trieb es mich heraus. Wahrscheinlich weil irgend etwas – was, kann ich nicht sagen – meinte: so mag er doch wenigstens den Historiographen festhalten! – Im Unterstock des Hauses traf ich nur die bleiche, traurige Eva an der Tür der Wohnstube. Sie hatte jetzt ein weißes Laken über den toten Vater gelegt, und ich erhob das Tuch nicht mehr. Ich wollte mir die Erinnerung an das schöne, ruhige Greisengesicht von gestern abend unversehrt erhalten, und ich wußte es, wie der alte Maulwurf, das Leben, in dem an der Arbeit bleibt, was der Mensch einen Leichnam nennt.

Als ich mich nach den anderen erkundigte, erfuhr ich, daß Ewald zum Meister Dröge, dem Dorftischler, gegangen sei und daß Irene ihn begleitet habe.

»Und Vetter Just?«

»Just wirst du wohl im Garten finden. Ich habe den Kaffeetisch dort hergerichtet. O Gott, es ist ein so schöner Morgen – o Fritz, ich kann es mir noch immer nicht denken!... Er war so vergnügt und gut, als er gestern in diese nämliche Morgensonne hinein wegging! Er holte sich noch bei mir in der Küche Feuer für seine liebe alte Pfeife, und ich sah ihm nicht einmal nach und gab ihm das Geleit wie sonst bis ans Hoftor, und nun muß ich ihn in alle Ewigkeit mit seinem weißen Haar und seinem guten freundlichen Gesicht bei mir am Herde stehen sehen!... Ein paar Stunden später, in denen ich nicht einmal an ihn dachte, brachten sie ihn zurück!«...

Ich fand den Vetter Just nicht an dem Kaffeetische im Garten, und ich hielt es auch nicht lange allein daran aus in dem schönen Licht und Schatten, unter den Sommerblumen ringsum, dem Bienensummen, Käfer- und Schmetterlingsflug.

»Der Herr Vetter Just spaziert auf der Chaussee«, sagte ein Dorfkind, das in die kleine Pforte in der grünen Hecke guckte; und auch ich trat aus diesem Gartentürchen auf die Landstraße.

»Er ist nach dem Schlosse zu«, meinte die kleine barfüßige, flachshaarige Ostfalin, und ich kannte den Weg, der auch von hier aus quer über die Landstraße nach Schloß Werden führte, und so ging ich dem Vetter Just Everstein nach – wohl tief in Gedanken wie er und in ähnlichen, wenn auch nicht ganz in den gleichen.

In dem letzten Hause des Dorfes nach dieser Seite hin wohnte der Meister Dröge, der Tischler. Die helle, staubige Landstraße führte an seinem Eigentum und dem Wiesenfleck, auf dem er seinen Vorrat von glatten Brettern und Balken aufgeschichtet hatte, vorüber und ließ es zur Linken. Rechts aber führte ohne Steg durch den mit Gras, Sternblumen und Kletten, Brennesseln und Thymian ausgefüllten Chausseegraben der Schlupfweg durch jetzt noch im Tau funkelndes, wirres Gestrüpp und Gebüsch, untermischt mit einzelnen höheren Bäumen, nach dem verwünschten Schloß, dem alten, teuren Nest, in dem auch ich flügge geworden war.

In seiner Werkstatt war der Meister Tischler an der Arbeit; ich hörte seinen Hammer laut und deutlich genug. Eines seiner Kinder wars gewesen, das mir den Weg angedeutet hatte, auf dem ich den Vetter Just finden konnte.

Aber ich zögerte, ehe ich ihm folgte. Auf dem sonnigen Wiesenflecke, auf einer Lage jener glatten, weißen Tannenbretter, von denen der Meister Schreiner eines oder zwei zu seiner Arbeit die halbe Nacht hindurch verwendet hatte und an denen jetzt sein Hammer zur Vollendung des Werkes klang, saßen Ewald und Irene, dem Dorfe Werden und mir den Rücken zuwendend.

Sie saßen Hand in Hand, doch nicht dicht beisammen. Tief niedergebeugt, das Haupt in der Hand, saß der Freund; und ob sie auch miteinander gesprochen hatten, jetzt redeten sie nicht miteinander. Sie saßen still und horchten auf den Hammer, der die Nägel scharf und hell und doch auch wieder melodisch in das weiche Holz trieb. Kein Glockengeläut konnte feierlicher in einen Brautmorgen hineinklingen, und ich wagte es wahrlich nicht, diese zwei Verlobten anzureden. – – –

Der Pfad durch das taufunkelnde Gebüsch nahm mich auf, und hinter mir verhallte dieser ernste, bedeutungsvolle Hammerschlag. Durch hohes, gelbes Kornfeld zog sich der enge Weg, die Lerchen hingen unsichtbar – fröhlich darüber; und – seltsam, gerade in diesem Augenblick drängten sich die Bilder und Gewohnheiten meines so lange gewohnten Daseins – die bekannte Umgebung meines ruhigen Einsiedlerlebens durch mein Gedächtnis: meine vier Wände in Berlin, die Bücher an den Wänden und der Blick durchs Fenster in die bunte lärmende Gasse. – Du träumst, Friedrich Langreuter? Was aber ist nun ein Traum?... Besinne dich! – –

»Wo bist du eigentlich, Fritz?« fragte der Vetter Just. »Du stiegest über den Hof weg wie ein Nachtwandler. Wie siehst du denn aus, Doktor? Wie stolperst du her?... Freilich, Steine des Anstoßes liegen hier genug im Wege!«

Da stand ich wieder in dem verwahrlosten Schloßhofe von Werden, und der Vetter nickte mir von der mehrfach beschriebenen Steintreppe und Rampe zu.

»Es ist mir übrigens lieb, daß du kommst«, brummte er. »Komm nur dreist herauf, ich werde dich nicht mehr auslachen, wenn du behauptest, daß es hier umgehe. Jedenfalls gehe ich nun seit einer Viertelstunde um dies alte Gemäuer herum, und immer ists mir, als schleiche etwas hinter mir drein oder sehe gar aus dem Fenster auf mich herunter. Die Sache ist mir nun doch außer allem Spaß!... Der Vetter Just Everstein vom Steinhofe Herr von Schloß Werden!... Den Irländer kenne ich. Der Strick hält mich am Wort, wenn ich es selber nicht zurücknehme. Und er hat auch recht! Was will er mit seinem Weibe hier?... In die Försterei setzt die Regierung einen neuen Mann in Grün; – alles für uns ausgeflogene Nester!... Mein Weib nehme ich mit nach dem Steinhofe; das wäre mir wirklich eine Burgfrau hier, die Bäuerin vom Steinhofe mit Jule Grote als stewardess!... Sahst du auch die beiden – ich meine Ewald und Irene – auf der Wiese des Meisters Dröge? Das ist mir nun ganz klar und deutlich, als flösse schon das Weltmeer zwischen ihnen und Schloß Werden. Es weiß keiner etwas anzufangen mit Schloß Werden und – ich auch nicht! Doktor, was meinst du, wenn du es von mir in Pacht nähmest?«

Ich glaube fest, daß ich damals den Vetter ziemlich starr und mit etwas weit geöffnetem Munde angesehen habe; es war aber nur eine Schulmeister-Reminiszenz aus Neu-Minden von ihm, wie sich gleich auswies.

»Ländereien nicht vorhanden«, sagte er, »aber genügend Gartenland zu Spielplätzen und Turnanstalten und was sonst dazu gehört. Ausgezeichnetes Trinkwasser – gesunde Lage, frische Luft. Wald ringsum. Fritz, so ne Erziehungsanstalt für unverbesserliche Jungen aus den besten Familien!... Mit der Miete würde ich dich nicht drängen, zum Inventar würde ich zuschießen; wir behielten dich hier in der Nähe, gut zahlende junge Engländer schickte Ewald, deine Berliner brächtest du dir selber mit. Gekommen ist mir diese Idee freilich eben erst, seit du hier bei mir stehst; aber – überlege dir mal die Sache!«

Von diesem Vorschlage hatte ich mir wahrlich nichts träumen lassen, als ich mich eben auf dem Wege nach der alten Jugendheimat aus den bewegten, wunderlichen, traurigen und doch so von der Sonne überglänzten und vom Grün umrauschten gegenwärtigen Tagen plötzlich und ohne daß ich es wußte, wie es zuging, in mein einsames großstädtisches Gelehrtendasein zurückverloren hatte. Es war seltsam, aber wegleugnen ließ es sich nicht; ein gewisses leises, unbestimmtes Heimwehgefühl hatte sich bemerkbar gemacht: »Wohin gehst du, Friedrich Langreuter, wenn sich nun in der allernächsten Zeit dieser Kreis, der sich hier so schicksalsvoll geschlossen hat, wieder auflöst? Sie sind nun am Ende doch alle geborgen. Aber du, Fritz Langreuter, wenn du nun morgen mitgegangen bist zu der letzten friedlichen Ruhestätte des guten, alten, treuen Freundes? Wohin gehst du, wenn ihr morgen vom Kirchhofe zurückgekommen seid und für die übrigen das Lebensrad mit erneutem Schwunge sich wieder aufwärtsdrehen wird? Was bleibt dir in den Händen als Gewinn von dieser melancholisch-süßen Reise nach Schloß und Dorf Werden – der Fahrt in die Jugend zurück?«

Fast drollig klang nun in alle diese Fragen an das eigene Geschick der treffliche Rat des Freundes, aus Schloß Werden ein Erziehungsinstitut zu machen, hinein. Ich mußte auch lachen, aber heiter kam das gerade nicht heraus; und dabei stand der Vetter Just mit seinem heitersten Lächeln auf dem ehrlichen, breiten Gesicht weitbeinig, die Hände auf dem Rücken, vor mir:

»Na?! Was sagst du zu meinem Vorschlag?«

»Daß dies ganz der richtige Just Everstein ist. Neu-Minden, wie es leibt und lebt. Ja, wenn nur ein jeder am Wege gesessen hätte wie dieser Mensch hier, und Weisheit aus dem Wind und den Wolken wie aus dem alten Broeder gezogen hätte! Ich danke dir herzlich, Vetter Just; aber – für mich wäre das wirklich das letzte.«

»Dann ist mir Schloß Werden nur auf den Abbruch hin auf den Hals geladen worden«, seufzte Just Everstein vom Steinhofe und legte die Hand auf eines der Bretter, mit denen die hohen Fenster des Unterstocks des Gebäudes teilweise vernagelt waren. »Es wird wieder mal allerlei von einer festen Brücke bei Bodenwerder geschwatzt und geschrieben. Da könnte ich vielleicht einen Teil der Steine loswerden. Schade, daß unser Landsmann, der Freiherr von Münchhausen, sein Wort bei den maßgebenden Behörden nicht mehr dazugeben kann! Über das Gartenland wollte ich mich schon mit den Bauern von Werden verständigen, Gewissenbisse mache ich mir nicht darüber, wenn du auch nicht gerade jetzt mit Irene Everstein darüber zu sprechen brauchst. – Everstein? Everstein? Was würde der Herr Graf dazu sagen? Und was mein seliger Vater – von meinem Großvater gar nicht zu reden?!«

»Es geht alles in der Welt mit rechten Dingen zu, Vetter Just«, erwiderte ich. »Freilich die große, trostvolle Wahrheit, daß hinter jedem Ding als solches eben die Welt als solche steht, wird einem meistens nur bei einer solchen Gelegenheit wie diese klar. Das ist ein Gedanke: aus Schloß Werden eine Brücke zu bauen! Ein trefflicher Gedanke, der einen selbst in der Vorstellung schon mit Kindern und Kindeskindern sicher und fest in die Zukunft hineinführt!«

»Ein kurioses Ende vom Liede, würden die Werdenschen Bauern sagen«, brummte der Vetter kopfschüttelnd.

»Aber die Quadern würden sie dir doch herzlich gern abfahren zu dem Werk.«

»Das würden sie! Und das Fell würden sie mir dabei über die Ohren ziehen, wie es kein Everstein auf seinem alten Raubnest dort weiter ins Land hinein seinerzeit besser verstand. Ja, auch das Lied hat kein Ende! Na ja, und wenn ein Stern zerspringt, so werden die Planetoiden draus – verwerten kann ich das Material schon. Der Herr Graf, der Herr Graf! Was würde der Herr Graf dazu sagen, wenn er den Bauer vom Steinhofe sagen hörte: das hat ja aber Zeit, ich aber habe heute keine mehr, mich um das alte leere Nest zu kümmern! – ? – Über Jahr und Tag kannst du mir immer noch deinen guten Rat schriftlich geben, Fritz; oder du bringst mir ihn mündlich, oder ich hole mir ihn und zeige meiner Eva dabei zu gleicher Zeit die Stadt Berlin. – Dann werden Ewald und Irene jenseits des Kanals sitzen, und wir können doch noch ein wenig unbefangener über Schloß Werden und sein letztes Schicksal zu Rate sitzen. Jetzt habe ich schon allzu lange um das öde Gemäuer mein armes, betrübtes Mädchen bei dem toten Vater allein gelassen. Komm nach Hause, Doktor.«

Wir gingen, und – nun sind wir im letzten Akt, und da ich noch ganz und gar zur alten Komödie gehöre, so hätte ich nunmehr das vollkommenste Recht, meinen Oberrock aufzuknöpfen, meinen Stern und – mich als Serenissimus zu zeigen. Als der Serenste, der Heiterste?... Wenn ich sagen wollte, als derjenige, welchem doch von allen das bequemlichste Los zuteil geworden sei, so würde ich damit wohl das Richtigere treffen. Ich habe Zeit, wie ich es hier tue, den Geschichtsschreiber von Dorf und Schloß Werden, den Biographen des Steinhofes zu spielen. Habe ich meine Sache erträglich gemacht, so ists gut; ist das Ding unter aller Kritik ausgefallen, so habe ich im Grunde ja doch nur für den alten Vetter Just Everstein vom Steinhofe geschrieben, und der wird gottlob nur lächelnd sagen:

»Ja, unser Berliner Doktor! Lesen mußt dus, Evchen; mir ist mehr als einmal die Pfeife drüber ausgegangen, und auf dein Gesicht dazu bin ich auch nicht wenig gespannt. Mittelalterliche Geschichtsquellen hat der alte Junge auch in unserem Falle gut studiert – na, laß ihn; während der Universitätsferien rückt er wieder ein auf dem Hofe, und dann hoffe ich mündlich von ihm zu erfahren, ob er mir in seiner Chronik mehr Schmeicheleien oder mehr Grobheiten gesagt haben will. Nach England muß jedenfalls eine Kopie hinüber; denn das sehe ich doch gar nicht ein, weshalb Ewald und Irene nicht geradesogut wie wir über diesen wunderbaren Historien den Kopf zwischen beide Hände nehmen sollen! Es ist wirklich die Möglichkeit, was ein Mensch in der Einbildung des anderen an Glück und Geschick und dem Gegenteil davon befahren kann! Jaja, mein Herz, von Rechts wegen müßten wir nun, ich und du und Freund Ewald und Frau Irene, uns hinsetzen und zu Papiere bringen, wie wir dies alles angesehen haben, als wir es erlebten. Sollen wir, Herz?«

»Mir bleib damit vom Leibe«, wird dann Frau Eva Everstein sagen. »Irene wird auch keine Zeit dazu haben. Die ist froh, wenn sie meines Bruders Korrespondenz besorgt hat. Also fällt es einzig und allein auf dich, Just, wenn wirklich in dem dicken Bündel Schriften (und was für eine Hand schreibt das Menschenkind dazu!) was drin steht, was von einem von uns beantwortet werden muß.«

»Ja, wenn man nur nicht zu behaglich in dem alten Neste säße und wenn einem nur der Tag Ruhe ließe!« wird der Vetter Just die Unterredung mit seinem Weibe über das Manuskriptum des »Doktors in Berlin« fürs erste zu einem behaglichen Ende bringen. – – –

Nun wird es natürlich wieder Leute geben, die nie zufrieden sind, wo es sich um den Schluß einer Geschichte, die man ihnen erzählt, handelt; die alles immer noch genauer und ausführlicher zu wissen wünschen, als der Erzähler es vortragen kann oder – will. Wo es sich um eine Hochzeit handelt, wollen sie die Zahl der Musikanten kennen, wo eine Taufe das Ende ist, soll ihnen nicht ein einziger Gevatter unterschlagen werden, und im vorliegenden Falle (o, ich kenne sie!) möchten sie mit »zur Leiche« gehen, d. h. den guten alten Vater Sixtus mit begraben, und dann ganz genau in Erfahrung bringen, ob Schloß Werden wirklich ebenso vom Erdboden verschwunden sei wie die Nester, die wir aus dem Schlosse einst in die Luft und das grüne Gezweig hingen, oder was eigentlich zuallerletzt der Vetter Just Everstein damit angefangen habe. Ich für mein Teil hätte nun wohl noch mancherlei von Ewald und Irene zu berichten; aber sonderbarerweise würde ich dafür die wenigsten aufmerksamen Ohren finden, denn »das kann sich ja ein jeder leicht denken«.

Und so sage ich nur, daß Irene mir die Instandhaltung eines Kindergrabes auf einem Berliner Kirchhofe anvertraut hat und daß es mir, unberufen, sonst nach Wunsch geht. Was das übrige anbelangt, z. B. auch Jule Grote und Mademoiselle Martin (Schloß Werden nie zu vergessen!), so weiß nur der Vetter Just Everstein das Allergenaueste. Wer also noch eine Frage auf dem Herzen hat, der wende sich an ihn. Von Bodenwerder, wo der Freiherr von Münchhausen geboren wurde, führt der Feldweg nach dem Steinhofe an jenem Steine vorbei, auf welchem er – der Vetter Just – den Kopf in den Händen und die Arme auf die Kniee stützend und so in das Blaue hineinstarrend – einst saß und wartete auf menschliche Schicksale.

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