Wilhelm Raabe
Altershausen
XI.
eingestellt: 10.7.2007
Sie hielten sich an den Händen, das heißt der Alte hatte die der Alten gefaßt und hielt sie fest trotz alles Zurückzerrens und -zupfens. Die Alte hatte sie dem Alten schon lassen müssen, um nicht der Überraschung und der Verlegenheit der Kinder wegen in die Erde zu versinken.
Konnte denn dies die Möglichkeit sein?
Ja! Und es hatte wirklich nur wieder mal ein Wort das andere gegeben. Vom gegenwärtigen schönen Wetter war man auf die Altershausener
Witterung im allgemeinen gekommen, von dem angenehmen Platz hier am Brunnen auf die Annehmlichkeiten der Gegend überhaupt, von der Gegend auf die Leute drin und von den Leute im allgemeinen auf die Leute im besondere. Zum Beispiel als wer jetzt Superintendent sei und wer Oberamtsrichter und wie heute der Herr Bürgermeister heiße und ob er aus dem Orte sei oder aus einer Menge auswärtiger Bewerber gewählt. Daran hatte sich denn sachgemäß, nicht selbstverständlich, vom andern äußersten Ende der
Rundbank am Maienborn her schüchtern die Erkundigung geknüpft: der Herr sei wohl schon vor längeren Zeiten hier bekannt gewesen und habe die und die, den und den gekannt? Worauf denn natürlich die Gegenfrage gewesen war: ob wohl am Orte noch einige vorhanden seien, die beim alten Rektor Schuster in die Schule gegangen seien; denn auch darunter könnten sich wohl noch, und auch aus der Mädchenschule, Bekannte aus jenen Zeiten, aus langer, langer Zeit finden lassen.
»Bei Herrn
Priesterjan bin ich in die Schule gegangen.«
»Und beim Herrn Rektor ich und - Ludchen Bock! Damals hieß ich Fritz Feyerabend!«...
Er hatte oft in größer werdende Augen gesehen - lachende, weinende, gierige, giftige, der Herr Geheime Rat, aber nie in ähnliche wie jetzt hier. Er hatte manchmal Menschen auf dem Sitz hin und her rücken sehen, doch nie einen so wie nun. Er war es, der aufsprang; aber nicht um Strickzeug und Wollknäuel höflich vom Boden aufzuheben, sondern um die
beiden alten, dürren, zuckenden Weiberhände in seine ebenso dürren, alten zu fassen und zu rufen:
»Ja, Minchen, es ist die Möglichkeit! So kommen Leute wieder zusammen. Wir beide sind es noch und - Ludchen Bock - und wenn meine Schwester Karoline - Linchen Feyerabend, weißt du - zu Hause dies wüßte: wie würde sie jetzt mit ihrer Seele hierbei sein und dich grüßen lassen - ja, Fräulein, und ich sage ja auch nur du, weil sie das auch sagen würde; aber - nun vernünftig: wie geht es Ihnen
denn, Fräulein Minchen, und wie ist es Ihnen diese langen Jahre her ergangen?«
»O Herr - Herr, lieber Herr, ich weiß ja gar nicht -«
»Was Sie - was du sagen sollst. Natürlich! Eigentlich weiß ich es auch nicht: weißt du, wir wollen es ruhig als ein liebes Wunder nehmen und uns des Dinges freuen. Meinst du nicht auch?«
»O gewiß! gewiß! Aber - ich weiß nicht mal, wie ich dich - Sie nennen muß, lieber Herr!«
»Fritz heiße ich immer noch. Wie vor sechzig
Jahren. Wenn es dir recht ist, hat sich zwischen uns beiden nicht das geringste dran verändert. Es ist dir doch recht?«
Jetzt konnte die Alte nur nicken. Sie schluchzte hinter ihrem Taschentuch, nickte aber heftig. Der Alte drückte sie sanft auf die Steinbank des Maienborns nieder, rückte ihr dicht an die Seite, und eine Weile saßen sie nun stumm nebeneinander.
Wer dann zuerst wieder das Wort nahm, war Fräulein Minchen.
»Bist du denn aber der, von dem letzterzeit
so viel in den Zeitungen gestanden hat?«
»Ne!« sagte Geheimrat Professor Dr. Feyerabend. »Damit sollte ich zu Hause meiner Schwester Line kommen!... Und nun gar hier in Altershausen - heute - jetzt - hier am Maienborn, aus dem uns beide der Storch geholt hat? Ne, ne, ne, Kind! Damit komme du mir nicht. Ich gebe dir mein Wort darauf, der, von dem du im Blatte gelesen haben magst, bin ich nicht diesen Morgen hier am Maienborn mit diesem Rauschen und Brodeln unter den
Füßen.«
»Wir haben Ihren Geburtstag hier auch gefeiert«, sagte Minchen Ahrens leise. »Ludchen - Ludchen Bock und ich.«
Da war der Name zum erstenmal aus dem Munde, aus welchem der Geheimrat ihn schon längst gern von der Freundin gehört hätte.
»Ja, Freund Ludchen! Nenne mich aber nicht Sie, liebes Mädchen; es schickt sich sonst auch für mich nicht, dich du zu nennen, und ich komme aus einer Welt da hinter den Bergen, in welcher man recht sehr auf Schicklichkeit
und Schicklichkeiten hält. Wie geht es ihm? und wo steckt er diesen Morgen? Schade, daß wir ihn jetzt nicht hier bei uns haben.«
»Ach, dort oben in den Tannen beim Schwämmesuchen. Steinpilze und Hahnenkämme. Es ist ja ihre Zeit jetzt und für ihn und mich eine wahre Gottesgabe; nämlich seiner Beschäftigung und Selbstzufriedenheit wegen. Er macht sich so gern nützlich, und dies ist so die richtige Beschäftigung für ihn. Sie - du - wenn Sie es denn wollen! - du wirst ihn ja gleich sehen
und als großer Doktor wissen, wie es mit ihm ist. Ich habe diese Nacht wieder mal meine liebe Not mit ihm gehabt. Ein fremder Herr muß ihm für seine Hülfsleistungen, die er da immer hinter meinem Rücken gegen meinen Willen tut, mehr Geld als nötig gegeben haben, und da gibt es auch hier so schlechte Menschen, die ihr Vergnügen und ihr Spielzeug sich aus ihm machen.«
»Der fremde Herr bin leider ich gewesen, Minchen.«
»Sie?... Du - - - Fritz?«
Sie war
zusammengefahren und etwas abgerückt; dann aber glitt ein um so zutraulicheres Lächeln über ihr Runzelgesicht, und sie meinte sogar leise lachend:
»Ja, das konnte ich auch nicht wissen! Und der arme Junge auch nicht! Aber vielleicht ists gut, daß wir es gestern abend nicht gewußt haben; diese Nacht durch wäre ich gewiß nicht zum Schlafen gekommen. Ein Wunder übers andere. Nein, nein, nein, ists denn nicht genug, daß ich dieses alles heute morgen in der hellichten Sonne in meinen alten
Tagen so spät am Abend noch erleben soll und dran glauben muß?«
Er berichtete nun des Genaueren, wie das Wiederfinden des Freundes sich ihm gemacht hatte vom Bahnhofe bis zum Ratskeller und nachher in der Nacht am Brunnen vor Mordmanns Hause. Und dann, wie er sie, das Minchen Ahrens, auch nach so langer Zeit wiedergesehen habe - mit dem Licht in der Haustür.
Da rief sie zum erstenmal: »O Fritz«, ohne anzufangen: »Herr Geheimrat« und nachher das zu verbessern.
»Es
kommt ja leider öfter vor; aber so weinerlich wie heute morgen war es doch selten. Weinen tut das Kind ja immer, wenn es sich an der schlimmen Welt gestoßen hat, aber diesmal wollte er seinen Kaffee nicht - auch noch so süß. Was ich sonst seiner Gesundheit wegen nicht tue - ich stellte ihm die Zuckerdose hin. Er wollte nichts! Ich habe ihm all sein Spielzeug gegeben und mir von ihm in der Küche helfen lassen, was sonst bei so was immer noch am besten hilft; aber diesmal hat es gar nichts
geholfen. Da hab ich denn bei dem schönen Wetter das letzte gebraucht, um ihn wieder zu seiner Ruhe wegen seines bösen Gewissens zu bringen. Was soll man machen mit seiner Angst und seiner Ärgernis, wenn so ein armer Mensche nichts weiß, als einem seit sechzig Jahren wieder sagen, daß er nichts dafür kann, daß es die anderen, die Großen gewesen sind? Es paßte mir heute eigentlich gar nicht, trotz der schönen Witterung. Man hat doch seine Wirtschaft; aber er tat mir zu leid, daß ich zuletzt doch
gesagt habe: ›Komm, Ludchen, wisch dir die Tränen ab, ich will dir weisen, daß ich nicht mehr böse bin; nimm deinen Korb, wir gehen in die Schwämme, da kannst du viel mehr Geld für mich verdienen als auf deinem dummen Bahnhof mit unbekannten Leuten.‹«
»Mit unbekannten Leuten«, murmelte der Geheimrat vor sich hin.
»Da ist er nun jetzt da oben in den Tannen kindsvergnügt nach Steinpilzen und Hahnenkämmen aus und meint, er steckt mit allem, was er findet, ein
Vermögen für mich in den Korb. Und das muß man ihm lassen, was die Natur anbetrifft, das Gewächse, die Vögel, alles Ungeziefer und die Jagd - da hat er nichts vergessen aus seiner Jungenszeit vor sechzig Jahren. Da hat er nach seinem Unglück noch zugelernt. Ach Gott, wie muß ich wehren, daß er mir nicht alles, was der Schöpfer in Wald und Feld gemacht hat, ins Haus schleppt und in die Kost gibt! Mit Güte und Überredung kommt man aber auch hier immer am leichtesten mit ihm zu einem Vergleich.
Seine Schlangen und Molche habe ich ihm abgeredet, aber die Kaninchen kann man ihm ja wohl lassen, und an seinen Dompfaffen und Stieglitzen habe ich selber meine Freude und, wirklich, damit verdient er auch manchmal ein ganz hübsches Stück Geld zu unserm Haushalt! Am Igel habe ich selber meinen Spaß; das sind zu nette und auch im Garten nutzbare Tiere und verhelfen sich auch immer selbst bald wieder zu ihrer Freiheit. Bringt er mir einen Fuchs oder sonst so was, was mir nicht paßt, nu, so helfe
ich dem schon bei nächster Gelegenheit von der Kette, und durch Nachbar Kreikenbooms Zaun weiß es sich zu helfen. Es gibt eben in der Hinsicht zu vieles, was bei sich zu Haus am besten aufgehoben ist, aber anderswo, und wo sie es noch so gut mit ihm meinen, nur Heimweh, Angst und Elend leidet. Ach, Herr Geheim - Fritz, es ist ja was ganz anderes, aber doch war es so grade mit ihm oder doch was Ähnliches. Da sie ihn nicht anders machen und ihm helfen konnten, war es das einzige und beste, daß sie
ihn da ließen, wo er zu Hause war, und bei mir. Da kommt er!«...
Ja, da kam es: durch den Hochwald, die Berglehne herunter, mit seinem Korbe am Arm - das unbeholfene greise Kind! Glückselig stolperte es her mit seiner Beute, von Baum zu Baum, von Stein zu Stein im Geröll, so rasch, daß Fritz Feyerabend fast erschreckt aufsprang und Minchen Ahrens wenigstens mahnte:
»Vorsichtig, Ludchen! nicht auf die Nase fallen, Junge!«
Aber er kam glücklich mit ungebrochenen
siebenzigjährigen Gliedmaßen an beim Maienborn, dem Kinderbrunnen, und stutzte, wie er den »fremden Herrn vom Bahnhof und der vorigen Nacht« bei seiner Pflegerin sitzend fand, natürlich mit ähnlich flämisch-verdrießlichem Gesicht wie Geheimrat Feyerabend vor sechzig Jahren, wenn er aus der Schule nach Hause kam und statt des: »Alles steht auf dem Tisch« einen feinen Besuch vorfand, dem er vielleicht gar noch schön tun sollte.
Er konnte es wieder zeigen, Geheimrat Dr. Friedrich
Feyerabend, daß er nicht nur durch der Walchen Wonnneburgen, sondern auch durch der Erde Krankenstuben, Spitäler und Lazarette geschritten war, und er zeigte es.
»Guten Morgen, Ludchen. Zeig mal deinen Korb. Donnerwetter, Junge, hast du aber das Holz ausgeräubert! Minchen, guck doch mal. Da braucht heute nach ihm kein anderer zu kommen und zu suchen! Meinst du nicht, Mädchen?«
»O Herr Geheimer -«
Er legte den Arm um sie und drückte sie sanft auf ihren Platz auf
der Steinbank nieder. Neben ihr sitzend behielt er ihre Hand in der seinigen. Zum Strumpfstricken kam sie an diesem Morgen nicht mehr.
»Kennst du mich gar nicht mehr, Ludchen? s ist freilich ein bißchen lange her, seit wir zusammen beim Rektor Schuster in die Schule gingen; aber besinne dich nur: Kennst du Fritze Feyerabend nicht mehr, Ludchen? Na nun! nicht wahr? Jawohl, dein Freund Fritze Feyerabend bin ich! Mit den Karnickeln ließ dir deine Mutter mehr Freiheit als meine mir; aber
einen richtigen Papierdrachen kriegtest du nicht zurecht wie ich, und steigen lassen konnte ich ihn auch besser als du. Na, so setze doch deinen Korb hin und sitze auch her zu Minchen und mir!«
Fürs erste wich er nur scheu ein paar Schritte zurück und drückte seinen Schwammkorb fester an sich. »Der Herre von gestern!« murmelte er.
»Der Herre vom Bahnhof und - von gestern Nacht - Minchen!« Das letzte Wort kam heraus, wie wenn ein Kind in Angst und Ratlosigkeit nach seiner
Mutter ruft.
»Ja, Ludchen - Ludwig«, schluchzte Minchen Ahrens und faßte seinen Arm, »komm, sitze hin, du brauchst dich nicht zu fürchten: es ist der Herr von gestern und - von - von lange, lange vorher - o Gott!«
Nun war es eine Weile so still, daß sie den Brunnen unter sich jetzt bei Tage so laut hörten, wie er sich sonst dem Ohr wohl nur in der stillsten Nacht vernehmen ließ. Und dann war es Ludchen Bock, der die Unterhaltung aufnahm.
Mit einem scheuen Blick
auf den fremden Herrn vom Bahnhof und Mordmanns Brunnen und mit dem Fingerknöchel im Augenwinkel schnuckte er:
»Ich habe es ihr ja schon gesagt, daß ich nichts dafür konnte, und ihr feste versprochen, daß ich es nicht wieder tun will. Deshalb brauchte doch keiner, ich weiß nicht wer, nicht wie damals zu kommen und mich mitnehmen wollen, da sie mir doch noch mal es vergeben hat!«
»Die vorige Nacht meint er und die schlechten Menschen, seine Verführer, Herr Geheim -
Fritz, und dann, daß sie ihn zu seinem Besten von mir wegnehmen und in einer Anstalt haben unterbringen wollen. Das verwindet er bis zu seinem Tode nicht.«
»Habe ich jemals gepetzt? Beim Rektor Schuster oder sonstwo, Ludchen?« rief Geheimrat Feyerabend. »Hast du nur ein einzigmal durch mich die Prügel gekriegt, die du richtig verdient hattest, vom Rektor, von deiner Mutter, von deinem Vater und manchmal von ganz Altershausen?«
Noch ein kurzes, ängstliches Anstieren des
Fremdlings, dann - ein breites, verständnisvolles Grinsen, das sich über das bartlose, kinderhafte Greisengesicht legte -
»Ne, Herre Fritze!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Nun wurde nach und nach alles, was bis jetzt doch nur Schemen, Schatten, Gespenst, »Spukeding«, oder wie man es sonst nennen wollte, gewesen war, das, was so plötzlich wie da aus dem Maienborn unter ihnen aufgestiegen und aus fernster Vergangenheit wieder da war, greifbare
Wirklichkeit. Mehr und mehr fingen sie, das alte Mädchen und das alte Kind, an, an den Wirklichen Geheimen Medizinalrat Professor Dr. Fritz Feyerabend zu glauben und ihn nicht nur für möglich, sondern sogar für gewiß zu nehmen. Aber nun trat etwas Absonderliches, aber doch Natürliches ein: je mehr Geheimrat Feyerabend sich in die Wirklichkeit und Greifbarkeit Altershausens von heute zu finden und zu vertiefen hatte, desto mehr mußte er sich selber zum Schatten, zum Gespenst werden, und - er
wurde es! So feierte er seinen siebzigsten Geburtstag zum anderen Mal: freilich ein ander Ding als neulich an der Jubiläumsfesttafel, wo man noch dabei war im schönen Wetter, im Sonnenschein der Tageslebendigkeit!...
Immer näher rückten sie sich trotz allem. Das Kind spielte um die beiden Verständigen und Vernünftigen her, und Minchen Ahrens gab von sich und Ludchen Bock und den letzten sechzig Jahren Bescheid, wie es sich so machte in Hin- und Widerrede, am
Maienborn, auf dem Heimwege zur Stadt und unter ihrem lieben Dach.
Wenn ein Buch möglich wäre: »Mutter Deutschland und ihre Leute«, dürfte wohl auch von ihr ein wenig darin die Rede sein müssen.
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