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Wilhelm Raabe

Altershausen

XIII.

eingestellt: 10.7.2007



So wurde ihm von dem Freunde, den er, siebenzig Jahre alt, zu besuchen gekommen war, erzählt, und er hatte vor keinem Lehrstuhl seiner Lehrjahre nachdenklicher gesessen als wie heute hier am Maienborn zu Altershausen.

»Es ist grade, als wäre er von dem Unglücksbaum da oben mir in die Arme gefallen«, sagte Minchen Ahrens. »Ich weiß nicht mehr, wie ich sie mit meinem Geschrei hergerufen habe; aber sie waren bald da und schoben mich von ihm und trugen ihn zu seinen Eltern hin in die Stadt. Der Doktor ist auch gleich dagewesen und der Chirurgus, aber was konnten sie tun als nur den Kopf schütteln? Und du, Fritz, warst auch noch kein berühmter Mensch und Arzt! Nachher bin ich fürs erste nicht zu ihm gelassen, und weißt du, da ich ihn jetzt bei sich zu Hause in der Pflege wußte, hatte ich auch gar kein Verlangen danach, und meine Puppe war mir immer doch noch lieber als er; denn was ginget alle ihr Jungens uns an, da ich keinen Bruder hatte. Er aber von euch allen vom Rektor Schuster hatte uns zu oft und zu arg geärgert und gequält. Mich besonders, wie ich meinte. Ja, so lange, bis sie sagten, daß er im Sterben liege, habe ich nur gedacht: Das geschieht ihm recht! na, warte du, wenn du rauskommst und ich fürs erste dich mal zwingen kann! Aber so ging die Sache leider Gottes nicht. Es wurde lange, lange niemand von uns zu ihm gelassen, und wir Kinder standen nur und guckten nach dem Fenster, wo die Mutter Bock ein Bettlaken vorgenagelt hatte, und sagten: Dahinter liegt er! - Der Herr Rektor soll in seiner Schule sehr betrübt um ihn gewesen sein und geseufzet haben: es wäre mit sein Bester, wenn nicht sein Allerbester, gewesen, und sie sollten alle mit ihm den lieben Gott bitten, daß sie ihn doch noch mal auf seinem Platz auf der Bank zu sehen kriegten. Er soll manchmal Tränen in den Augen gehabt haben, der gute alte Rektor, und hat ihn doch so viel hauen müssen! Als gutes Beispiel hat er ihn nunmehr aufgestellt und ist tagtäglich hingegangen und hat an seinem Bett gesessen, so betrübt um das Unglück wie sein Vater und seine Mutter. Wochenlang hat dieses gedauert, bis es auf einmal in der Stadt geheißen hat, es sei als ein Wunder anzusehen, aber Ludchen Bock komme mit dem Leben davon!... Fritz, ich lüge nicht, die frohe Botschaft hat mir gar nichts gemacht, und ich habe weiter nichts gedacht als. Nu, denn ists ja gut! - Seine Mutter hat das Bettlaken vom Fenster wieder abgenommen, und am Fenster habe ich ihn mit seinem verbundenen Kopf zum erstenmal wiedergesehen. An Mordmanns Brunnen sind wir alle zusammengewesen, Jungens und Mädchens, und alle haben gefragt: ›Hast du ihn gesehen?‹ - Wärest du, Fritz, hier noch in Altershausen anwesend gewesen, so hätte man dich als seinen besten Freund gewiß zuerst zu ihm gelassen; aber das konnte ja nun nicht sein. Es hat noch eine ziemliche Zeit gedauert, ehe ihn der Doktor ganz frei und unter seine Kumpane zurückgelassen hat. Die haben auch wohl grade so große Scheu gehabt als wir Mädchen, wie er mit seinem verbundenen Kopfe auf der Bank vorm Hause saß, - du weißt ja, wie er war, und besonders gegen uns aus der Mädchenschule! Es wird wohl so sein müssen, viel anders bist auch du in deiner damaligen Zeit gegen uns nicht gewesen, Fritz. - Erst nach und nach rückten wir, die Jungens zuerst, zu ihm auf die Bank vor seiner Haustür, und da er noch lange nicht feste auf den Füßen stand, schoben wir es darauf, daß er sich nunmehr viel geduldiger anfassen ließ als vor seinem Fall vom Baum. In die Schule kam er fürs erste nicht, das wollte der Doktor nicht; aber mitspielen durfte er, und da ist es zuerst herausgekommen, daß mit ihm nicht alles in der richtigen Ordnung war: er ist so weinerlich gewesen, und er hat sich zu uns Mädchen gehalten! Er blieb bei uns und unseren Puppen unter der Hecke, und seinen Kumpanen sah er nur wie angstvoll nach, wenn sie ihre wilde Jagd anfingen; sie kümmerten sich auch bald gar nicht mehr um ihn: es sind ihrer immer genug füreinander gewesen, zu unserer Zeit wie heute. Mit dem Sich-um-ihn-Kümmern ist es erst anders geworden, als der Doktor gesagt hatte, diesmal sei es noch merkwürdigerweise gut abgelaufen, er könne nun alles wieder mitmachen, und als er da wieder auf seinem Platze beim Rektor Schuster saß... da wurde es nach und nach klar, daß nicht alles gut abgelaufen war und daß nicht mehr alles wie vorher war und daß er nicht mehr alles mitmachen konnte wie sonst!...

Zuerst hatte es natürlich der Rektor gemerkt, denn er ist ja sein Bester gewesen. Du mußt das mir nicht übelnehmen, Fritz; wieviel weiter du es auch in der Welt gebracht hast als er: in eurer Rektorschule hat er doch immer über dir gesessen! Er hat zuerst angefangen, den Kopf über ihn zu schütteln, den Rektor meine ich, Gott hab ihn selig. Unter uns Mädchens haben wir noch gar keine Veränderung an ihm gemerkt als zum Bessern, nämlich bei seinem Zusehen und Mitspielen bei unsern Puppen und sonst so, und außerdem, daß er jetzt so leicht weinte. Aber bei den Jungens ist bald nach des alten Schusters erstem betrübten Aufmerken schon das Necken und Herken und Foppen angegangen für ihn hier in Altershausen, ja, von damals an bis heute über sein siebenzigstes Jahr weg. Ach Fritz, ich meine doch, du hättest ihm nicht so mitgespielt wie alle ihr anderen! - Beim Rektor Schuster hats sich gezeigt, daß er nicht mehr mitgekonnt hat, und was er bis dahin gelernt hat, das hat er manchmal noch gewußt, aber nicht immer, und nach und nach immer weniger, als was die Wissenschaft anbetrifft. Neues zulernen hat er gar nicht gekonnt, und wenn ein Mensch Kummer darum gehabt hat und sein möglichstes getan hat, es zu ändern, so ists der gute alte Rektor Schuster gewesen! - Wir sind alle gewachsen mit den Jahren und er auch: mit dem Verständnis ist er nicht mehr gewachsen. Er hätte bald der Unterste nicht bloß auf der ersten Bank, sondern auch in der ganzen Schule sein müssen; aber der Rektor hat ihn auf seinem Platze sitzenlassen. Er ist keinen Morgen in die Schule gekommen, der gute alte Mann, ohne daß er seinem vordem Besten die Hand auf den Kopf legte und seinen kummervoll dazu schüttelte. Du hast es vielleicht gar nicht gehört, Fritz, daß er leider bald verstorben ist, euer alter Lehrer; und der andere, der nach ihm gekommen ist, den haben sie von euch hergeschickt, und er hat nichts von Ludchen Bock und seinem Unglück gewußt, als was ihm erzählt worden ist, und hat das richtige Mitleiden mit ihm nicht haben können, wie sein richtiger erster alter Lehrer. - Konfirmiert hat man ihn seinerzeit auch mit seinen Zeitkameraden, und die sind dann alle ihres Weges weitergegangen, jeder zu einem Geschäft, in die Lehre, aufs Feld oder wohl auch zu was Höherem. Mit meinem armen Jungen hat man das eine wie das andere wohl auch versucht, auch noch mit Strenge; aber wie heute hat er sich damals gegen alles gewehrt, wie er es nur noch konnte, mit Kinderweinen. Das haben eben, die es am besten mit ihm meinten, aber die Schlimmsten auch, nicht aushalten können, daß die Tränen ihm, dem großen unmündigen Kinde, so lose saßen... das Lachen aber gottlob auch nicht! Und weißt du, Fritz, das beides ists gewesen, was mich zu ihm gebracht hat für unser ganzes Leben, sein Weinen und sein Lachen! Ausdrücken kann ich es dir nicht, und ich weiß nicht, ob du mich verstehst; aber gewesen ist es so. Ich habe es an mir gehabt wie er mit dem Weinen und dem Lachen auf Erden, und mit ihm habe ich besonders mit weinen müssen, wenn er weinte, und mit lachen, wenn er lachte. Ich... habe aber nicht wie die anderen lachen können, wenn es weinte - es, das große ausgewachsene Kind... mein Kind, Fritz, mit dem ich heute noch lache und weine wie vor sechzig Jahren, Fritz.« -


 

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