Wilhelm Raabe
Altershausen
V.
eingestellt: 10.7.2007
Seinen Schutzengel glaubte auch er, Geheimrat Feyerabend, zu haben. Wie vom Professor Plockhorst gemalt hatte er sich ihn grade nicht vorgestellt; aber getraut hatte er ihm, verlassen hatte er sich auf ihn sein ganzes Leben durch gradesogut wie des Sophroniskos Sohn auf sein Dämonion. Auch des Daseins Giftbecher hatte er häufig genug aus seiner Hand hingenommen; immer in der Gewißheit, daß es dazu gehöre und unter jedesmaligen obwaltenden Umständen nicht
anders sein könne. Tödlich brauchen ja die Tränke des Lebens nicht immer zu wirken. Ein tüchtiger Katzenjammer und Lebensekel genügt schon, um den festen Griff nach dem bittern Kelch verdienstlich zu machen. -
Für diesmal reichte der jugendliche Genius seinem greisen Schutzbefohlenen nur einen angenehm berauschenden Trank. Geheimrat Feyerabend verschlief die Fahrt und die wechselnde Reisegesellschaft, und da die Bemerkungen, die über beides gemacht werden können, schon recht häufig zu
Papier und in Druck gebracht worden sind, so verliert die Nachwelt wenig, wenn das Manuskript hier eine Lücke bietet. Es wird nicht die letzte drin sein. -
Es war nicht eine der Linien, auf welcher die Blitzzüge verkehren, die Aufgang und Niedergang jetzt auf so leichte, angenehme, uns bequeme Weise miteinander in Verbindung bringen, wie die Vorfahren weder auf ihren Kriegs- noch auf ihren Friedenszügen es sich je im Wachen und im Traum als möglich in die Sinne kommen lassen konnten.
Eine wenig befahrene, merkwürdigerweise mehr zu Krieges- als zu Friedenszwecken erbaute Bahn verbindet den größeren Weltverkehr mit Altershausen. Wenn es wieder die Gelegenheit geben sollte, das Wort: ›Kindlein, liebet euch untereinander!‹ nunmehr vermittelst rauchlosen Pulvers und den dazu passenden Schnellfeuergeschützen zwischen den Völkern zur Geltung zu bringen, kann sie auf einmal lebendig genug werden: gegenwärtig war sogar Fritze Feyerabend, der seinen Freund Ludchen Bock
besuchen wollte in Altershausen und also sicherlich ein Anrecht auf sie haben durfte, vollständig neu auf ihr. Die Reisewege durch sein Leben hatten immer auf anderen Linien und nach anderen Richtungen hin gelegen.
In Athen, Rom und Byzanz war er bekannt und konnte auch die Hotelrechnungen von dorther aufweisen: aus Altershausen nicht!
Altershausen konnte ihm nur auftauchen wie das erste Kapitel der Genesis dem Geologen und Philosophen - nicht eine unbekannte, aber trotz
aller Wissenschaft unbekannt gewordene Gegend.
Daß er seinen Geburtsort tief aus der Vergangenheit seiner Lebenszeit heraufholen mußte, war ihm bewußt, und da hielt er sich denn dabei ganz richtig beim Näherkommen fürs erste an die alten Berggipfel, die über neue Dächer und neues Gemäuer hersahen. Er war darauf gefaßt, daß er die augenblickliche »Jetztzeit« auch hiesigen Orts, von ihrem Rechte Gebrauch machend, vorfinden werde, und fühlte sich dadurch durchaus nicht in einem älteren,
weil bessern Recht gekränkt. Wo der Tempel des kapitolinischen Jupiters stand, steht heute die Kirche Ara celi, und wer weiß, was später da noch mal stehen wird?
»Altershausen!« schnarrte der Schaffner, und auf seinen Arm gestützt verließ Geheimrat Feyerabend den Zug, der ihn dahin gebracht hatte. Die Höflichkeit und Freundlichkeit des Mannes hatte er nicht allein seiner Persönlichkeit und der Würde des Alters zu danken: Schwester Line hatte auch mit gesorgt, daß er richtig von
Station zu Station weitergegeben worden war bis in den angenehmen Abend hinein.
»Hm, hm, hm«, brummte er, mit der Hand an der Stirn, ein wenig schwankend auf den Beinen und jetzt doch mit dem »Gefühl«, daß er nicht recht wisse, wo er eigentlich sei, wie er hiehergekommen sei und was er hier wolle, das heißt, was er hier noch so spät am Abend zu suchen habe.
Er war ja nicht allein auf dem Zuge gewesen! Es stieg anderes Menschtum aus, das nicht - bloß Ludchen Bock besuchen
wollte und nicht den Titel Wirklich Geheimer Obermedizinalrat, Professor, Doktor an sich trug, neulich siebenzig Jahr alt geworden und, obgleich es daher kam, seit nahezu zwei Menschenaltern nicht in Altershausen gewesen war.
Ein Blitzzug würde wohl nicht um die Lebendigkeit, die sich jetzt für einige Minuten auf dem Bahnhofe von Altershausen entwickelte, da angehalten haben. Zwei oder drei Handelsreisende, ein jüdischer Viehhändler, mehrere mehr oder weniger behäbige Stadtbürger, ein
älterer, jedenfalls der Justiz oder der Verwaltung angehörender Beamter mit einer Aktenmappe, ein jüngerer desselbigen Berufs mit einer Flurkarte legitimierten sich an der Bahnsperre, und - Geheimrat Feyerabend stand allein - glaubte allein zu sein mit der Abendsonne auf dem Bahnsteig seiner Vaterstadt! nie in seinem Dasein so sehr in der Fremde wie jetzt! Er konnte von dem, was ihn hier erwartete, nicht abgeholt werden - weder festlich noch zärtlich, weder mit Lächeln oder Tränen noch mit
Triumphbögen, Girlanden, Fahnen, Hurras, Kalbfell- und Blechmusik, Reden und Redensarten!
Und er?
»Da erwachte der edle Odysseus
Ruhend auf dem Boden der lange verlassenen Heimat.
Und er kannte sie nicht« -
alles erschien ihm
»Unter fremder Gestalt: Heerstraßen, schiffbare Häfen,
Wolkenberührende Felsen und hochgegipfelte Bäume.«
Ja, wenn er das nur zu Gesicht
bekommen hätte; aber das war ihm ja, soweit es Altershausen betraf, alles »verbaut« worden im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts! Wie konnten ihn die lieben Gestalten und Bilder, die ihn hier erwarten mochten, vor diesem neuen Stationsgebäude in Empfang nehmen? Und die lange, freche, öde Häuserreihe da, die Treppe hinunter, jenseits der Landstraße! und das »Bahnhofshotel«! Das sollte sein Altershausen sein, sein Geburtsort, in welchem er seinen besten ersten Freund, Ludchen Bock, besuchen
wollte?
Ja, da stand er, und -
»da er sein Vaterland ansah,
Hub er bitterlich an zu weinen und schlug sich die Hüften,
Beide mit flacher Hand, und sprach mit klagender Stimme:
›Weh mir! zu welchem Volk bin ich nun wieder gekommen?‹«
Er hätte nur den Stationsvorstand fragen können; aber auch dieser Herr, dessen Aufmerksamkeit er einige Augenblicke lang erregt zu haben schien, verschwand, ohne
nur zum Gruß an die rote Mütze gegriffen zu haben. Betroffen wie Odysseus in Phorkys Bucht sah der Fremdling im Vaterlande auf sein Gepäck:
»Wo verberg ich dies viele Gut? und wohin soll ich selber
Irren? O wäre doch dies im phäakischen Lande geblieben!«
»Soll ich Sie das nach dem Hotel tragen?« fragte eine weinerliche Kinderstimme hinter ihm, und wie der landfremde König von Ithaka hatte er keine Ahnung, daß nur diese Stimme es war, die ihm sagen konnte, daß
er wirklich noch einmal zu Hause in Altershausen angelangt sei und seine Fahrt nach Traumland zum Zweck führen könne. - - -
Der greise Ankömmling sah sich um nach dem Fragesteller und sah in ein altes, altes, feistes, runzelloses, unbärtiges Greisengesicht und in Augen, deren Zwinkern unter schlaffen Lidern hervor ihm nur zu gut aus seiner Wissenschafts- und Lebenspraxis bekannt war.
»Ich bin ja Ludchen!« greinte das Gespenst, und Fritze Feyerabend aus Altershausen, der
weder in den Wonneburgen der Fürsten dieser Erde noch sonstwo dem Erdenelend gegenüber mit den Augen gezwinkert hatte, fuhr zusammen und trat drei Schritte zurück und stammelte:
»Ludchen Bock?!«
»Ludchen - Ludchen Bock!- lachte das Ding kindisch vergnügt. »Soll ich Sie Ihren Koffer tragen? ich weiß den Weg. Ich weiß alles hier, und sie kennen mich alle. Wenn die anderen Jungens nicht wären, wäre ich der einzige. Soll ich Sie Ihren Koffer in die Stadt tragen? Ich bin Ludchen
Bock! Fragen Sie nur, wen Sie wollen hier; sie kennen mich alle und wissen, wer ich bin! Die verfluchten anderen Jungen!... aber sie trauen mir alle.«
»Ich auch, Ludchen!« sagte der Wirkliche Geheime Obermedizinalrat Professor Dr. Feyerabend. »Aber nach dem Ratskeller möchte ich zum Übernachten, nicht nach der neuen Wirtschaft da drüben. Gibt es den Ratskeller noch bei euch hier in Altershausen?«
Das alte blödsinnige Stadtkind starrte den alten fremden Herrn an, wie
verblüfft ob der Dummheit der Frage. Dann lachte es nur, wie die Weisheit lacht, wenn sie durch Tatsachen antwortet, griff nach dem Koffer der Schwester Karoline, schwang ihn sich auf die Schulter, schritt mit einem Kopfnicken rückwärts über die Schulter dem Fremden voran den Steig vom Bahnhof hinunter, über die Landstraße, vorbei an der neuen Häuserreihe, die dem noch mal auf Besuch gekommenen Stadtsohn bis jetzt Altershausen verdeckte. Willenlos, schwankend, wie betäubt durch solch rasches
Wiederfinden folgte der »große Mann« aus der »großen Welt« seinem besten ersten Freunde in der Welt.
Sein Schicksal hatte an manchem Endpunkt seiner Lebensfahrten für mannigfache Überraschungen gesorgt, aber so wie jetzt doch noch nie. Er war an vielen Orten von mancherlei Menschentum erwartet und auf allerlei Weise in Empfang genommen worden, aber so wie jetzt noch nicht.
»Hat der alte Nothnagel den Ratskeller noch?« fragte er idiotisch wie sein Führer - zeitvergessen, als
ob nicht fast zwei Menschenalter verflossen seien, als der Nothnagel, den er unter dem Eindruck der Stunde meinte, den Ratskeller von Altershausen innehatte.
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