Frei Lesen: Das Horn von Wanza

Kostenlose Bücher und freie Werke

Kapitelübersicht

Erstes Kapitel | Zweites Kapitel | Drittes Kapitel | Viertes Kapitel | Fünftes Kapitel | Sechstes Kapitel | Siebentes Kapitel | Achtes Kapitel | Neuntes Kapitel | Zehntes Kapitel | Elftes Kapitel | Zwölftes Kapitel | Dreizehntes Kapitel | Vierzehntes Kapitel | Fünfzehntes Kapitel | Sechzehntes Kapitel | Siebenzehntes Kapitel | Achtzehntes Kapitel | Neunzehntes Kapitel | Zwanzigstes Kapitel |

Weitere Werke von Wilhelm Raabe

Gedelöcke | Der Marsch nach Hause | Altershausen | Das Odfeld | Die Leute aus dem Walde |

Alle Werke von Wilhelm Raabe
Diese Seite bookmarken bei ...
del.icio.us Digg Furl Blinklist Technorati Yahoo My Web Google Bookmarks Spurl Mr.Wong Yigg


Dieses Werk (Das Horn von Wanza) ausdrucken 'Das Horn von Wanza' als PDF herunterladen

Wilhelm Raabe

Das Horn von Wanza

Siebenzehntes Kapitel

eingestellt: 28.7.2007



Eine Viertelstunde später befanden sie sich auf dem Heimwege. Die Tante Grünhage nämlich samt ihrem Neffen und dem Nachtwächter Marten, welcher letztere den zwei anderen zwar wiederum eine Laterne durch den dunkeln regnichten Abend vorantrug, dieselbe aber ebensogut auf dem Küchenschranke Fräulein Theklas hätte belassen können. Die Frau Rittmeisterin in ihrer jetzigen Laune kümmerte sich nicht im mindesten um die sauberen Strümpfe an ihren Beinen und die Pfützen auf ihrem Wege. Sie schritt gradezu und durch, hing zwar ziemlich schwer am Arme ihres jungen Verwandten, aber statt sich von ihm führen zu lassen, zog sie ihn im Gegenteil erbost-gewalttätig hinter sich her und räsonierte fortwährend – über sich selber.

»So ne alte Schachtel!... So ne verrückte alte Schachtel!... So ne ganz und gar fürs Raspelhaus reife, dumme alte Gans! Was hilft es mir für meine Nachtruhe, daß ich sie mit blutendem Herzen um Verzeihung gebeten habe und sie mir dieselbige diesmal zum viertausendstenmal gutmütig nicht vorenthalten hat? Nichts! Gar nichts!... Nicht eine Viertelstunde lang werde ich darum die Augen zudrücken, ohne sie vor mir zu sehen, wie sie sich mit ihren blinden Augen über die unverbesserliche Kratzbürste mokiert. Und Sie, Marten, hätten auch verständiger sein und rasch zuspringen können, ehe es wie gewöhnlich zum Äußersten kam. Daß ich keine Vernunft annehmen kann, wenn sie mir vernünftig vorgestellt wird, das kann doch gewiß keiner behaupten; – selbst das alte gute Herz, die Thekla, nicht.«

»Entschuldigen Sie, Frau Rittmeistern –«

»Gar nichts entschuldige ich. Was Sie sagen wollen, weiß ich wohl; nämlich daß Sie sich die Finger schon allzuoft geklemmt haben und daß das noch nie was genutzt hat und überhaupt ein Vergnügen für Sie gar nicht ist. Und dann – du – alberner Bengel – liebster Bernhard, meine ich – konntest du nicht zur rechten Zeit eine nützliche Bemerkung oder dergleichen machen, um deiner alten Tante dies Ärgernis vor dir zu ersparen? Aber das saß nur da, mit den Händen auf den Knieen, und guckte wie die Eule in den Blitz. Wozu studiert ihr denn Geisterkunde und Psychologie auf euern jetzigen überstudierten Universitäten, wenn ihr nicht einmal einer alten Tante damit zu Hülfe kommen könnt, wenn sie sich wieder mal ihrer einzigen, besten, treuesten Freundin in der Welt gegenüber blamieren will?... Ja, das war wieder ein Sumpf, bis an die Kniee! Und mit Ihrer Laterne leuchten Sie eigentlich nur sich selber, Marten! Hierher!... Da hört ja alles auf bei solchem Wege, und Bürgermeister und Rat sollten sich bis in die Puppen schämen; aber – weiß der liebe Himmel, das ist mir in diesem Moment ganz einerlei, und der Bürgermeister, der Dorsten, ist mir in meiner jetzigen Stimmung doch lieber als ihr alle miteinander. Ich will nicht sagen, daß er immer an der rechten Stelle mit seiner Weisheit den richtigen Fleck trifft, aber im Stich hätte er mich mit meiner nichtsnutzigen Dummheit sicherlich nicht gelassen wie ihr beiden! Gott sei Dank, da sind wir unter dem Teichtor und wenigstens auf festem Pflaster. Ach ja, Kinder, gar nichts wollte ich sagen, wenn ich nur mein Gewissen heute abend in die Wäsche geben könnte wie meine Strümpfe!«

»Frau Rittmeistern«, meinte Marten Marten, »dies möchten sich stellenweise wohl mehr Leute wünschen und aus mehr Gründen als Sie. Je ja, und es ist ja auch nicht das erstemal –«

»Gott bewahre! Die Regel ist es!... Und geht gar nicht anders! Und nun – wenn ich nur wüßte, was ich jetzt mit dem Jungen hier für den Abend anfangen soll? Den Humor habe ich mir zu gründlich verdorben, um ihm behaglich am Tische gegenübersitzen zu können, und jeder Grünhagesche Familienzug an ihm ist mir auch wie ein Gewissensbiß. Nimm es mir nicht übel, mein guter Bernhard, aber –«

»Aber dann habe ich einen Vorschlag zu machen«, rief der Meister Marten, ehe der Student dazu kam, halb lachend, halb verdrießlich die gute Tante seines abendlichen Behagens wegen zu beruhigen. »Wie wäre es, wenn Sie den jungen Herrn mir noch ein Stündchen mitgeben würden, wenn wir Sie richtig nach Hause gebracht haben, Frau Rittmeistern? Freie Nacht hab ich heute und kann mir ruhig von meinem Kollegen meine schlaflosen Stunden abrufen lassen. Sie wissen, mit dem Teichtorturm hängt der Herr Rittmeister doch auch immer ein bißchen zusammen, und auch da – bei mir – könnte vielleicht noch ein Wort das andere geben über ihn.«

Die alte Dame murrte leise etwas vor sich hin und schritt fürs erste tapfer zu, ohne ihre Meinung deutlicher auszudrücken. Aber, wie schon gesagt, Wanza ist nicht groß, und sie standen bald vor dem Hause auf dem Marktplatze; auf der Treppenstufe stehend, sprach die Frau Rittmeisterin:

»Du bist dazu nach Wanza gekommen, um deine Tante Grünhage kennenzulernen. Da der Meister Marten hat recht: der Teichtorturm gehört auch dazu und steht sogar da wie ein Punkt am Ende einer Historie. Ja, es schickt sich wirklich recht gut, daß Sie heute abend noch dem jungen Menschen an Ort und Stelle gleichfalls von seinem – verstorbenen Onkel Bericht tun, Marten. Eine bessere Gelegenheit dazu kommt vielleicht doch nicht wieder und ein besserer Mann dafür als Sie, alter Freund, ganz gewiß nicht. So krieche ich denn ins Bett und rede, mit der Decke über dem Kopf, noch ein Stündchen mit der Thekla. Luise soll mit deines seligen Onkels Hausschlüssel wach bleiben, und kommst du heim, so gehst du mir leise auf der Treppe und vor allen Dingen vorsichtig mit dem Lichte um. Gute Nacht für diesmal in dieser närrischen, konfusen Welt!«

Die Tür hatte sich hinter ihr geschlossen; der alte und der junge Mann standen allein, und der Meister Marten hob seine Laterne auf und ließ den Schein nicht nur dem Studenten, sondern auch sich selber ins Gesicht fallen. Er selber hatte bis jetzt in diesen Wanzaer Geschichten noch nie so klug und Herr Bernhard Grünhage noch nie so ratlos, um nicht zu sagen, dumm ausgesehen. Für den letztern war es eine wahre Erlösung, als ihm der Alte jetzt vertraulich den Ellbogen in die Seite stieß und vergnüglich-schlau zuflüsterte:

»Ja, dies Frauenzimmervolk! So ist es nun mal, und von uns ändert es keiner! Na, Sie glauben es doch wohl auch nicht, daß es heute abend das erstemal gewesen wäre, daß sie in Anbetreff des seligen Herrn Onkels das, was sie in Eintracht angefangen hatten, nicht ebenso zu Ende abgewickelt hätten? Na, na, nun kommen Sie nur her und erweisen Sie mir die Ehre, Herr Studiosius Grünhage. Auf große Traktamente ist der Nachtwächter von Wanza freilich wohl nicht eingerichtet; aber traktieren will ich Sie doch und nachher Sie fragen, ob sich die Stunde nicht lohnte, die wir noch zusammensetzen wollen, ohne die Bettdecke über den Kopf zu ziehen.«

Der Student hatte noch nie der Einladung eines Nachtwächters, mal mit ihm zu kommen, so eifrig Folge geleistet wie jetzt der des nächtlichen Wächters von Wanza.

»Und da sitzt nun mein Alter an der Aller und weiß von gar nichts!« murmelte er.

Ein Turm ist der Teichtorturm eigentlich nicht, sondern nur eine Durchfahrt unter einem feldschlangenkugelsichern, schiefergedeckten Gemäuer aus dem sechzehnten Jahrhundert. In lyrischen Gedichten und Balladen kommt das Ding häufig vor; dann aber schaut stets des Wärters rosig Töchterlein hinter ihren Gelbveigelein, Nelken und Rosen hervor und wird angesungen. So hübsch können wirs leider in diesem jetzigen Falle nicht liefern. Der Vorgänger des Meister Marten in diesem Torgebäude war, wie schon bemerkt wurde, der Stadtbüttel, der darin seine Amtswohnung hatte und seine jeweiligen Gäste hinter seinen Gittern nicht vorschauen ließ. Die Tauben, die der jetzige Bewohner hielt, würden wohl schon eher in ein Lied passen, aber –

»Sie sind nur ein Nebenverdienst, und man hat auch nur seine leidige Not und wenig Vergnügen damit«, sagte Marten Marten.

Ein paar ausgetretene Steinstufen führten zu einer niedrigen Pforte; dann gings eine enge Steintreppe weiter aufwärts in eine kellerartige Wölbung, die bei Tage durch einige winzige Schießscharten erhellt wurde. In dieser Abendstunde hatte der Meister Marten wiederum seine Laterne hochzuheben, um seinem jungen Gast die feuchten schwarzen Wände und noch eine Merkwürdigkeit zu zeigen.

Er hob eine rostige Kette nebst Halseisen und Handschellen, die neben einer mit rostigen dicken Nägelköpfen beschlagenen Tür hingen, auf und ließ sie klirrend wieder an die Steinwand fallen.

»Noch von meinen Vorfahrern, junger Herr!« sagte er. »Im neuen Amtsgebäude haben es die Leute anjetzo behaglicher. Diese Tür führt in das alte Loch, in welchem auch ich, wie Sie heute morgen auf dem Rathause vernommen haben, mal zum Nachdenken über meine Sünden gehockt habe. Wenns Ihnen Pläsier macht, leuchte ich hinein; wir stören keine Eulen und Fledermäuse drin auf, sondern nur mein Geflügel in der ersten Nachtruhe.«

»Dann wollen wir es ja in Ruhe lassen bis auf eine hellere Stunde, Marten«, meinte Bernhard Grünhage fröstelnd.

»Schön! Dann stoßen Sie sich gütigst hier nicht an den Kopf. Treten Sie aber nur ein und seien Sie fröhlich willkommen in meiner Behausung. Dies ist mein Losament, und nebenan schlafe ich, dicht an meinem frühern Prison, dicht an der Wand, an der ich mir wochenlang so oft den Kopf einstoßen wollte, bis mein lieber Herr Erdmann und Fräulein Thekla mich auf andere Gedanken brachten. Jaja, junger Herr, so soll der Mensch es abwarten, was mit ihm geschieht; nun hoffe ich auf einen stilleren, sanfteren Tod mit dem Kopfe an derselbigten harten Mauer, die ich Anno neun nicht umreißen und eintreten konnte in meiner Tollheit und Wut.«

Er hob wiederum die Laterne.

»Nun setzen Sie sich da in den Stuhl am Ofen, bis ich die Lampe angesteckt habe; denn bei dieser Beleuchtung läßt es sich auf die Länge doch schlecht weiterschwatzen. Die Frau Tante würde wohl auch hier sogleich ein Feuerchen in den Ofen kommandieren; aber ich meine, wir andern warten wohl noch ein bißchen damit mehr in den Herbst hinein.«

Die kleine Blechlampe leuchtete, das Licht in der Laterne wurde ausgeblasen, der Student saß in dem großen schwarzen Lederstuhl an dem mittelalterlichen Kachelofen und sah stumm dem Greise zu, der immer beweglicher in seinen gastfreundlichen Haushaltsverrichtungen wurde. Marten Marten rückte ihm den Klapptisch näher an seinen Sitz, er öffnete einen tief in das Mauerwerk eingelassenen Wandschrank und brachte ein schwarzes Brot, einen Teller mit Butter, zwei Messer und ein Pfeffer- und Salzfaß zum Vorschein. Er entschuldigte sich höflichst für einen Moment, verließ das Gemach und kam nach einer Weile mit einem geräucherten Schinken und einem verpichten Steinkruge zurück. Letztern stellte er nebst zwei Gläsern, melancholisch den Kopf schüttelnd, auf den Tisch. Er seufzte sogar auch, als er dann sprach:

»Ein Schuft, wers besser gibt, als ers hat, Herr Grünhage. Ein Wacholderbusch im Walde ist wohl etwas recht Nettes und Angenehmes, was den Geruch anbetrifft; und dem seligen Herrn Onkel sein Lieblingsgewächs wars immer, vorzüglich aber bei so naßkalter Witterung und einer Jahreszeit wie die jetzige.« Er zog den Pfropfen aus, und ein lebhafter Duft vom alten märchenhaften Machandelboom verbreitete sich freilich sofort in dem Gemache.

»Echter doppelter Steinhäger, Herr Studiosius, und was Besseres hab ich gewiß nicht, denn es ist die letzte von den Kruken, die sich der Herr Onkel, der Herr Rittmeister, hier bei mir im Teichtorturm eingelegt hatte. Sie liegt manch liebes langes Jahr; – was sagen Sie aber auch zu dem Geruch? Sapperment, und nun sitzen Sie da und heißen auch Grünhage und sind der rechte Herr Nevöh der Frau Rittmeistern und haben sich den Herrn Onkel von mir durchs Kirchhofsgitter bei Sankt Cyprian zeigen lassen wollen. Prost, junger Herr; an diesem Tische hat er oftmalen gesessen mit mir wie mit seinem besten Kriegskameraden, wenn er es nirgends anderswo in der Welt und hier in Wanza aushalten konnte. Und nun greifen Sie auch sonsten zu! Alles, was das Quartier liefern kann, steht auf dem Tische. Und schneiden Sie nur recht ins Fett; es geht nichts über den richtigen Speck an so nem Schinken um die Zeit, wo die Tage abnehmen und bald Frost im Kalender steht. Mit dem Schinken versorgt mich jahrein jahraus die Frau Tante in ihrer Güte; und darauf können Sie sich verlassen, daß sie sich vorher genau erkundigt hat von wegen der neumodischen Tierchen und Gewürmer, die man, Gott sei Dank, nunmehr endlich mit dem Vergrößerungsrohr drin aufgefunden hat.«

Der Stammhalter der Familie Grünhage hielt noch immer das Spitzglas mit dem silberhellen Trank – ein Geisterseher in der echtesten Bedeutung des Wortes. Da saß aber der Meister Marten mit beiden Ellbogen auf dem Tische ihm so realistisch, gutmütig und vertrauenerweckend gegenüber, daß er es endlich wortlos doch wagte. Er hob das Glas, kippte es über und stellte es mit einem Klapp auf den Tisch.

»Wunderbar!« rief er, sich schüttelnd. »Geisterhaft! Sie aber, Marten, bester alter Freund, schmunzeln Sie mich nicht so natürlich-behaglich an. Zum Henker mit Ihrem Schinken und Speck mit und ohne Trichinen! Geben Sie mir noch einen Juniperus aus meines Onkels letzter Flasche. Sie alter unheimlicher Zauberer, ich gebe Ihnen mein Wort darauf, solange es spukt auf Erden, ist noch niemals in ähnlicher Weise einem Neffen sein längst verstorbener Onkel aus dem Geisterreich heraufbeschworen worden!... Weiß der Himmel, er grinst ruhig weiter, und ganz Wanza, der weise Seneka, sein Bürgermeister, eingeschlossen, wird mir allmählich zu einem Traumgebilde und – ich auch! Selbst an diesen Stuhl, in den Sie mich gesetzt haben, Marten, glaube ich schon nicht mehr. Auch er wird sofort unter mir anfangen, seine Geschichte von dem Rittmeister Grünhage und der Frau Rittmeistern, von Fräulein Thekla Overhaus und dem Nachtwächter Marten Marten zu erzählen.«

»Er? Er besser als ein anderer von uns! Ja, wenn der von dem Herrn Onkel erzählen könnte, Herr Grünhage! Er – und jetzt meine ich den seligen Herrn Rittmeister – hat drin so manche Stunde in der Unterhaltung mit mir oder im Schlummer oder im Nachdenken über sich selber oder im Halbdusel oder im Nachdenken über die Welt überhaupt zugebracht, daß der alte Sitz samt Rücklehne wohl manches von ihm wissen muß. Und, was Sie wohl noch mehr verinteressieren wird, junger Herre, – er ist ihm auch zu seinem letzten Ruhehafen geworden. Bitte, bleiben Sie nur sitzen, bester junger Herr, – er ist auch sanft für immerdar drin eingeschlafen –«

»Was?« rief der Student aufspringend.

»In Frieden zur großen Armee abmarschiert«, fuhr der Alte nickend fort; »wie ein unschuldig Kind nach allem Kriegstumult in aller Herren Ländern und auch hier zu Hause und in Wanza!«

Der Neffe setzte sich wieder oder fiel vielmehr zurück in den letzten »Ruhehafen« seines seligen Onkels.

»Und nicht in seinem Hause am Markte? Und meine Tante Sophie hat nicht nachher diesen Stuhl aus diesem Hause los sein wollen und Ihnen ein Geschenk damit gemacht, Marten Marten?« stotterte er.

»Ne, ne! Was das Möbel angeht, so stammt das aus dem Overhausschen Hause, und ich habe es der Güte von Fräulein Thekla zu verdanken. Wenn Sie es ganz zufällig nennen wollen, daß der Herr Rittmeister hier im Teichtorturm beim Nachtwächter Marten in den ewigen Frieden eingegangen ist, so kann ichs wohl nicht verhindern, denn von wegen seiner Konstitution konnte man damals eigentlich schon lange drauf gefaßt sein; aber ganz allein der Zufall wars doch nicht, denn dazu war der selige Herr doch zu häufig bei mir auf Besuch.«

»Weil er es zu Hause nicht mehr aushalten konnte!« rief der Student, mit beiden Armen auf den Tisch sich legend und das Gesicht so weit als möglich gegen den Alten verschiebend. »Weil er wirklich geduckt worden war, wie Fräulein Thekla vorhin sich ausdrückte! Wollen Sie eine Zigarre, Marten?«

Der alte Wächter dankte, holte dagegen selber eine kurze Holzpfeife aus der Jackentasche, füllte sie aus einer Schweinsblase mit einem Husarenknaster, der das Lob seines Fabrikanten, daß er »sehr gut in der Pfeife stehe«, vollkommen verdiente, und sprach durch den sich entwickelnden süßen Qualm grinsend:

»Schade, daß Sie nicht manchmal dabeisein konnten, Herr Nevöh, – bei unserm Stillvergnügen an diesem Tische, meine ich. Da haben wir uns doch noch manchen Sommernachmittag hindurch und tief in manche Winternacht hinein unsere Feldzüge auf die Platte gemalt, sobald ich den verstorbenen Herrn nur erst notdürftig ein bißchen zur Ruhe gebracht hatte, wenn er in der hellen Wütenhaftigkeit gekommen war und sein Wort gesprochen hatte: »Kamerad, es ist ein Hundedasein und eine Welt, um drin zu bersten! Marten Marten, ich bin die miserabelste Kreatur auf Erden, und mein Mädchen, mein Fiekchen, hat sich auch wieder im Winkel unter dem Dache verriegelt, und der Rittmeister Grünhage, der so manch eine Tür in aller Herren Ländern frei mit dem Reiterstiefel eingetreten hat, darf diesen allerbesten Schlüssel in seinem eigenen Hause nicht mehr gebrauchen, sondern muß durchs Schlüsselloch parlamentieren: ›Nimm Vernunft an, mein Herzchen, mein Püppchen, mein Schäfchen, mein Täubchen; dein Männchen, dein Kapitänchen, dein Rittmeisterchen Grünhage kriecht zu Kreuze!‹« – Daß die Kränklichkeit des Herrn Onkels damals schon längst ihren Anfang genommen hatte, können Sie sich wohl selber hieraus abnehmen, Herr Studiosius. – ›Ihren Kummer sieht man Ihnen meistens, gottlob, doch noch nicht an, Herr Rittmeister‹, sage ich, um ihm doch fürs erste was zum Troste aufzutischen; er aber sagt denn auch schon viel ruhiger: ›Schafskopf, es lacht mancher auf seinem Stockzahn, der vor Wehmut sich im ersten besten Mauseloch verkriechen möchte. Und dazu mit dem kleinen Mann auf dem Schimmel, der blanken Klinge in der Faust, durch ganz Europa spazierengeritten, um zuletzt so auf den Nachtwächter zu kommen – Himmelsackerment!‹ – Nun hätte ich das letzte Wort eigentlich wohl für n Affront nehmen müssen, aber dazu mußte ich es zu oft vernehmen, war also schon drauf eingerichtet in Gutmütigkeit. – ›Es hat uns anderen Mühe genug gekostet, diesem sapperlotschen Spazierenreiten ein Ende zu machen, Herr Rittmeister‹, sage ich nun ruhig; und damit kommen wir denn schon mehr ins Geleise und die Behaglichkeit. ›Alabonnör, Kamerad Marten‹, sagt der Herr Onkel, sitzt schon ächzend, wo der Herr Nevöh anjetzo sitzt, und stopft sich seine Pfeife, als ob er ganz Wanza, seinen Haushalt und Ehestand mit in den Maserkopf drücke – › das ist ein schlechter Soldat, der brave Arbeit, die ein braver Feind macht, nicht gelten läßt. Ästimiere ich nicht etwa auch dein Fräulein – dein Fräulein Overhaus, trotzdem sie tagtäglich mich nicht bloß aus dem Hause, sondern auch immer mehr aus der Haut herausmanöveriert?! Jetzt sitzt sie nun wieder bei meiner Frau, die ich mir doch zu meinem Pläsier ihrer Mutter und ihrem Vater aus dem Neste geholt habe, und trocknet ihr die Tränen, und ich verkrieche mich vor ihrem Geschützfeuer schon wieder hier bei dir im Teichtor hinterm Ofen, als ob ich dem Fiekchen (was beiläufig immer Ihre Frau Tante ist, Herr Grünhage) nicht alles zuliebe täte, wenn ichs nur anzufangen wüßte. Kann ich denn was dafür, daß ich nicht auch Kandidate, Schulmeister und Versemacher fürs deutsche Vaterland, sondern der Kapitän Grünhage im Zweiten Königlich-Westfälischen Kürassierregiment geworden bin? Das sage ich dir aber, Kamerad Marten, Gewissensbisse kriegt die doch noch mal, sobald nur erst meine Sophie von dem Rittmeister Grünhage als von ›meinem seligen Mann‹ reden wird; und beerben mögen sie mich beide so bald als möglich meinswegen; man hat doch seinerzeit manches hübsche Mädchen in der Welt geküßt, und so mag eins ins andere gehen, wenn es zuletzt auch das angenehme Weibervolk ist, was einen aus ebender nichtsnutzigen Welt hinausärgert. Stoß an, Marten Marten, die Rittmeistern Grünhage und Fräulein Thekla Overhaus sollen leben!‹ – Begreifen Sie nun wohl, Herr Studiosius?«

Der Gast des Nachtwächters Marten Marten von Wanza, der Herr Neffe der Tante Sophie, der Student der Philologie und »Studiosius« aller möglichen Philosophien, begriff allgemach so gut, wie man es seiner Jugend und seiner teilweisen Erziehung durch seinen Freund Dorsten, den weisen Seneka und pro tempore Wanza regierenden Bürgermeister, gar nicht zugetraut haben sollte.

»Ich werde mich wohl hüten, Ihnen dazwischenzuschwatzen, Herr Nachtrat!« rief er. »Da kommt man bei euch an auf der ganz gewöhnlichen Chaussee durch den ganz kommunen hellen Sonnentag und denkt an gar nichts weiter, als daß man demnächst gradeso wieder gehen wird, wie man gekommen ist. Nicht das geringste Merkwürdige findet man im Anfange an euch; denn daß ihr den Senior der Caninefatia zu euerm Burgemeister gemacht habt, kann zwar auffallen, ist aber mit Hülfe guter Bekanntschaft und Verwandtschaft schon häufiger dagewesen. Und euer Herr Burgemeister langweilt sich sträflich bei euch und hat keine Ahnung davon, daß ihr das kurioseste Volk seid, das je einen Erdenfleck bevölkert hat. Nun aber fängt plötzlich der eine an, so ganz beiläufig vom andern zu erzählen. Anfangs hört man mit halbem Ohre hin und meint: Großer Gott, wie gut diese Philister und Phileusen ihre Erinnerungen verkorkt gehalten haben! Aber dann kommt der andere und fährt da fort, wo der erste aufgehört hat, und man gerät in Spannung. Alte Violen in alten Potpourris werden einem unter die Nase gehalten. Auf euerm Rathause blättert man alte Papiere durch, und das Interesse wächst, daß das gar nicht auszudrücken ist. Und immer mehr Volk gibt das Seinige dazu. Das Tuthorn, das Nachtwächterhorn hat man zwar in Wanza wie überall sonst abgeschafft, aber der alte Zauberer, der Meister Marten Marten, stößt doch hinein, und rundumher wird alles wieder lebendig, was dem Schuljungen von heute, nämlich mir, lieber Marten, längst und für immer abgetan, verblaßt, begraben und vermodert war. Immer bunter und doch auch immer deutlicher werden einem die alten Historien, die unsere Väter und Mütter, unsere Onkel und Tanten in Ärger und Behagen an ihren lebendigen Leibern durchzumachen hatten. Das Horn von Wanza soll leben, Marten Marten; und nun tun Sie mir den einzigen Gefallen und erzählen Sie ruhig weiter und fragen Sie nicht mehr, ob ich auch verstehe, was Sie erzählen! Jawohl, Sie können sich darauf verlassen, daß ich jetzt ziemlich genau weiß, weshalb meine Frau Tante, die Frau Rittmeisterin Grünhage, und Fräulein Thekla Overhaus sich dann und wann in betreff meines seligen Herrn Onkels in die Haare geraten, wenn sie zu Anfang der Kaffeevisite oder Teegesellschaft auch noch so einträchtig in ein Horn geblasen haben. Was aber Sie und Ihr Horn angeht, Marten, so verpfände ich Ihnen hiermit mein Wort: wir holen Sie ab von Wanza, wenn wir demnächst das neue Deutsche Reich fertigbringen. Sie werden mit in den allgemeinen Tusch hineintuten – weiß Gott, s gehört dazu! – es gehört unbedingt dazu, und ohne es fehlt der ganzen Jubelmusik etwas ganz Hauptsächliches!«

»Na, na, wenn Sie mich nur noch hier in Wanza treffen, wenn Sie mit dem übrigen so weit sind, junger Herr«, meinte der alte Schlaukopf und demnächstige Jubelnachtwächter Marten Marten.

< Sechzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel >



Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.