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Wilhelm Raabe

Das Horn von Wanza

Achtzehntes Kapitel

eingestellt: 28.7.2007



Eine Weile saßen sie nun stumm einander gegenüber, der Student und der Nachtwächter von Wanza. Der eine blies den Rauch seiner Zigarre gradeso nachdenklich vor sich hin wie der andere die Wolken aus seinem schwarzen Nasenwärmer, der ihm, wie es auch im Liede steht, schon durch manche bittere Winternacht eben seine Nase in gewohnter gutmütiger Schlauheit unerfroren erhalten hatte. Der Wacholderduft aus des seligen Onkel Grünhages letztem Kruge echten doppelten Steinhägers wurde immer intensiver im Gemache, und die philosophische Gelassenheit, mit welcher der graue Freund und Dienstmann von Fräulein Thekla und Frau Sophie in die Schicksale seiner Bekanntschaften und Freundschaften hineinsah, gleichfalls.

»Nun noch das letzte vom guten Oheim Dietrich; – vorstellen kann ichs mir jetzt zwar schon, als ob ich dabeigewesen wäre, aber – erzählen Sie doch nur weiter, Marten. Wie Sie da so sitzen und schmunzeln, muß er ein beneidenswertes Ende genommen haben!«

»Je ja, so mit Fallen und Aufstehen und zuletzt umgekehrt wie wir meistens alle – nach meiner längern Erfahrung. Daß es in der großen Weltgeschichte auch mit Fallen und Aufstehen alleweile achtzehnhundertdreißig geworden war, davon hatten wir an der Wipper eigentlich gar nichts zu merken gekriegt. Es war, als ob eine große warme Schlafhaube über ganz Wanza gezogen sei, und nun will ich Ihnen sagen: der Zipfel daran war um diese Zeit einzig und allein der Herr Onkel. In den Bären reichte die Frau Rittmeistern selbst in ihren mächtigsten Perioden nicht hinein, und den großen runden Tisch im Bären haben Sie ja auch schon kennengelernt und da auch schon auf des Herrn Rittmeisters Sitze gesessen. Ja, so n solider eichener Wirtshaustisch, der hält sich wohl eine geraume Weile länger als die Ansichten und Meinungen der Herren dran und die Freundschaften, die dran geschlossen werden, und die Feindschaften, die dran zu Platze kommen. Stehn Sie nur mal so n fünfzig Jahre lang draußen und gucken Sie durch die Ritze im Laden auf den Nebenverdienst hin, daß einer von den Herren drin nach Hause begleitet sein will! – Je ja, im Jahre dreißig war der Herr Onkel im Bären schon längst der Herr Rittmeister und schon lange nicht mehr der Westfälinger Raufbold – des Franzosen Spießgeselle – der Kasselsche Räuberhauptmann. O ganz im Gegenteil! Und daß er ein vermöglicher Mann war, tat ihm in Wanza auch keinen Schaden mehr an seiner Achtung. Sie reichen in die Zeit nicht hin, Herr Studente, sonst wüßten Sie auch, wie hoch die Franzmänner knappe fünfzehn Jahre nach Waterloo wieder bei uns in Deutschland waren.«

»Anno achtundvierzig ritt ich noch auf meines Vaters Knie.«

»Nun, sehen Sie wohl; dies nennt man denn eben Weltgeschichte. Und darüber wußte denn der Herr Onkel damals natürlich zu diskurrieren wie kein anderer in der Stadt. Wie es auch zu Hause mit ihm aussehen mochte, nieste er im Bären, so sprach die ganze Gesellschaft: zur Gesundheit, Herr Rittmeister! Und schlug er auf den Tisch, daß die Gläser und Flaschen hüpften, so kriegte er das Wort, um seine politische Meinung durchzusetzen, und behielts, solange er es nur mochte. Wer aber drunter durch war, das waren die Dorsten und die Overhaus, und wem die Fenster zu Ehren der neuen französischen Revolution eingeschmissen wurden, das waren sie auch. Wer aber die ganze Wanzaer Revolution, und was dazu gehört, hier besorgte, das waren einzig und allein die drei Geschwister Lunkenbein, obgleich man es ihnen noch nicht einmal nachweisen konnte und auch nicht, wer eigentlich in der Nacht vom ein- auf den zweiundzwanzigsten August das Overhaussche Gartenvergnügen, den Birkenpabillon, in Brand steckte. Je ja, in einer Bevölkerung von fünftehalbtausend Menschen, Weibsleute und Kinder mitgerechnet, wo doch jeder den anderen ziemlich genau kennt und auch alles in allem ganz einträchtiglich mit ihm auskommt, sind so drei Spitzbuben wie die Geschwister Lunkenbein ein wahrer Segen, wenn es sich ums Revolutionsmachen handelt und jeder sich schämt, wenn alle andern sagen: ›So wars bei uns in der großen Zeit!‹, und bei ihm zu Hause gar nichts los gewesen ist. – So wahr ich hier vor Ihnen sitze und bei Leipzig, bei Laon, bei Paris und bei Ligny mitgewesen bin, ohne die Geschwister Lunkenbein hätte Wanza sich zu Tode schämen müssen; aber die zwei Hauptkerle mit der Spitzbübin, ihrer Schwester, hatte uns Gott zu unserm Troste in die Behaglichkeit gesetzt, und ihnen zu Ehren schafften wir auf dem Rathaus zwei neue Trommeln an, und aus Furcht vor ihnen richteten wir eine Bürgergarde ein; und weil es uns an Flinten ermangelte, kriegte jeder ausgewachsene Bürger und Bürgerssohn nen Spieß, neun Fuß im Lichten, und kam mehr als eine Nacht erst am Morgen zu Bette von wegen der zwei Trommeln, die doch auch mal zum Alarmschlagen benutzt sein wollten. Was aber das tollste war: um der Geschwister Lunkenbein wegen ist der selige Herr Onkel, der Herr Rittmeister Grünhage vom hochseligen Zweiten Westfälischen Kürassierregimente, der durch das wirkliche französische Donnerwetter unter dem großmächtigen Kaiser Napoleon von Lübeck bis Belle-Alliance mitgeritten war, noch einmal in seinem Leben zu Pferde gestiegen, und zwar als Kommandant von unserer Wanzaer Spieß- und Bürgergarde, und dabei umgekommen, ohne daß einer was dafür konnte; denn die Frau Rittmeistern, Ihre liebe Frau Tante, Herr Grünhage, hätte sich doch gewiß und wahrhaftig mit ihrem Lachen bezähmt, wenn sie vorausgewußt hätte, was sie damit anrichtete!«

»Sie hat ihn, den Onkel Grünhage, also zu Tode gelacht?« rief der Student, beide Hände flach vor sich auf den Tisch legend.

»Das Feuer vom Overhausschen Pabillon habe ich in Wanza ausgetutet«, fuhr der Alte ausweichend in seiner wunderbaren Historie fort, »und ich hätte es mir gewiß lieber erst in der Nähe besehen sollen, ehe ich von Amts wegen solchen Lärm drum machte. Unsere Trommeln und unsere Spießgarde habe also ich item aus m Bett und auf die Straße gebracht und den Herrn Rittmeister mit dem Kürassiersäbel überm Schlafrock auf dem Posthalter seinen damaligen Schimmel. Ich sehe ihn noch wie heute, wie er bei Laternen und Fackeln unter Fräulein Theklas Fenster hielt und sie, auch im Schlafrock und der Nachtmütze, herausguckte und ihm eine Kußhand zuwarf und sich bei ihm für seine Hülfe in der Not bedankte. Es genügten aber zwei Mann, um die brennenden Pfosten von dem Birkenhaus hinten im Garten auseinanderzuziehen; und notwendig wars grade auch nicht, daß wir dann mit ganzer Heerschar vors Teichtor zogen und die Geschwister Lunkenbein in ihrer Kabache belagerten. Das lag natürlich bis über die Ohren im Stroh und tat, als ob es die ganze Affäre ganz unschuldig verschlafen habe! Mit der Jungfer Lunkenbein wars freilich eine andere Sache, und meine persönliche Meinung ist, wenn ein Mensch das Genauere über den Mordbrand angeben konnte, so wars das armselige, unsinnige Geschöpfe Gottes. Nun, da sie gradeso log wie die anderen, so kam denn, wie gesagt, gar nichts heraus, und die Sonne ging richtig noch mal ganz nett über Wanza auf und beschien Gerechte und Ungerechte. Mit dem frühesten meldete ich mich dann nach gewohnter Weise auch wieder bei meinem Fräulein und hatte sie lange nicht so spaßhaft und bei so gutem Humor gesehen. Die übrigen im Hause waren natürlich alle in hellster Wut; aber mein Fräulein saß in seinem Hinterstübchen und lachte und sagte. ›Wie wir unsern Erdmann kennen, Marten, so hätte der ganz gewiß sein Vergnügen an der jetzigen neuen Lebendigkeit in der Welt und nähme auch schon einen Wanzaer Ziegelstein ins Fenster seiner lieben Verwandtschaft mit in den Kauf!‹ Und damit schließt sie unseres Herrn Erdmanns Brieftafel, die sie auf dem Tische vor sich gehabt hatte, in die Kommode und nimmt ein Tuch um und sagt: ›Nun komm, s ist ein Morgen, als ob unser Herrgott Geburtstag hätte, und deine Frau Rittmeistern hat die große Wäsche; aber den Herrn Rittmeister, den sollte man für ewige Zeiten auf seinem Roß als Bildsäule auf den Wanzaer Marktplatz stellen. Nur schade, daß man über den Mann nicht lachen kann, nachdem man aufgehört hat, sich über ihn zu ärgern!‹ – Da gehen wir denn durch den Overhausschen Garten, wo alles von unserer Bürgergarde zertrampelt ist und das Sommervergnügen immer noch leise dampft, und spazieren hinter den grünen Hecken weg um die Stadt bis zu Ihrem Grünhageschen Garten, Herr Studiosius; und als wir nun allda über den Zaun gucken, da haben wir wiederum ein Schauspiel und einen Aschenhaufen, der auch nur noch leise dampft, nämlich Ihren Herrn Onkel mit der Wäschleine unterm Arm, als ob von Ewigkeit an nichts als Friede auf Erden gewesen sei und von dem Kaiser Napoleon, dem König Hieronymus, dem Marschall Blücher und den Geschwistern Lunkenbein nun und nimmer die Rede. Damals hätten Sie Ihre Frau Tante auf dem Gartenstuhl stehen sehen sollen, Herr Studente, in ihren geschürzten Röcken und weißen Strümpfen; denn mit dreißig Jahren gehörte sie immer noch zu den Hübschesten in der Stadt. Mein Fräulein aber sah nur den Herrn Rittmeister und schüttelte den Kopf und meinte: ›Da möchte ich doch jetzo in dein Horn stoßen, Marten – tut, tuuuut – tut!‹ – über die Hecke aber ruft sie doch nur: ›Guten Morgen, Herr Kommandant, und nochmals schönsten Dank für die gute Hülfe heute nacht; da hat man ja wirklich mal wieder gesehen, was ein Mann und Kriegsmann in der rechten Stunde wert ist!‹ – Die Frau Tante sagt auch: ›I guten Morgen, Thekla!‹ Aber der Herr Rittmeister tut leise einen französischen Fluch, stellt seine lange Pfeife an eine Gartenbank, wirft mir die Zeugleinenrolle vor den Bauch und spaziert, ohne noch weiter ein Wort zu sagen, weg unter der weißen Wäsche, geht weg aus dem Garten und kommt nicht wieder. Warten Sie nur, Herr Nevöh, haben Sie nur Geduld; ich kann nur erzählen, wie es sich zugetragen hat und wie man überhaupt hier in Wanza jede Geschichte erzählt. – Mein Fräulein und meine Frau Rittmeistern unterhalten sich nun zuerst ganz freundschaftlich über den schönen Morgen und die Vorkommnisse in der Nacht und die Geschwister Lunkenbein, aber leider immer mit der Aussicht auf den Herrn Onkel, und da bleibt denn natürlich wie gewöhnlich die Meinungsverschiedenheit nicht aus. Ich aber helfe als Faktotus wie gewöhnlich rund herum, obgleich weibliche Bedienung von der Frau Tante jetzt längst nach aller Notdurft durchgesetzt war – kann also nicht auf jedwedes Wort achten und sehe zuletzt nur, daß sie wieder mal voneinander Abschied nehmen in der Art, wie Sie, Herr Nevöh, es ja selber erst vor zwei Stunden erlebt haben. Und die Stunden fließen so hin, eine nach der andern. Der Kirchturm, der uns in den Garten und Hof hineinsieht, zählt sie uns zu; aber am Tage habe ich mich ja gottlob nicht drum zu scheren, und so tue ichs auch nicht. Wanza liegt rundum, als ob es von dem nächtlichen Tumult gründlich ausschlafe; aber die Frau Rittmeistern, noch dazu mit der Erzürnung über Fräulein Thekla in den Gliedern, hat es desto eiliger, und erst, als es zu Tische gehen soll, fragt sie: ›Ist denn mein Alter noch nicht wieder da aus dem Bären?‹ – Und ziemlich ärgerlich sagt sie eine halbe Stunde später: ›Wenn es Fräulein Thekla erlaubt, so tut mir den Gefallen und seht mal nach im Bären, Marten Marten!‹ – ›Zu Befehl, Frau Rittmeistern‹, sage ich und gehe hin und gehe durch Wanza – den Weg kennen Sie ja schon, Herr Studiosius – grade als es eins schlägt, und es ist mir, als habe mir die liebe Mittagssonne noch niemalen so heiß auf den Schädel gebrannt. Punkto zwölf aß man damals in jedem ordentlichen Hause in Wanza, wenn man was hatte, und der selige Herr Onkel war wirklich der einzige, der zuweilen sehr häufig die Stunde überhörte. Aus dem Essen nämlich machte er sich schon seit Jahren nicht viel, denn sein Magen war die letzte Zeit durch recht schwach, was ich aber nicht weiter untersuchen will, sondern gehe lieber weiter auf meinem Wege nach dem Bären. Und weiß der Teufel: kommt es, weil es durch das Ausbleiben des Herrn Onkels auch bei mir noch vor Tische ist, – auch mir wird auf einmal ganz sonderbar durch den ganzen Leib. Kein Mensch in der Straße, nur ein oder zwei Hunde, die im Schatten liegen und nach Fliegen schnappen, und mit einem Male tut mir an diesem hellen, heißen Augusttage Ihr seliger Herr Onkel so von Herzen leid, wie es doch gar nicht nötig ist. Mit Respekt zu sagen, junger Herr, er kommt mir wie ein armer Narr oder genärrter Mensche vor, der Herr Rittmeister, und wie ich so gehe, denke ich: es ist richtig, ganz wundersam muß es ihm zumute sein, wenn er hier in Wanza so wie gestern nacht auf einmal durch Trommelschlag und Feuergeschrei aufgeweckt wird, aus dem Bette springt und seinen Reitersäbel umschnallt und noch halb im Schlafe meint, ganz Deutschland, Spanien und Rußland rücke auf ihn los. Und damit bin ich denn auch so in meinem eigenen jungen Leben und überlege mir, wie es anfing und weiterlief, und plötzlich wird es auch mir ganz flau, und ich glaube, hätte mir da einer mein Nachtwächterhorn in die Hand gegeben und gesagt: ›Marten, blas!‹, so wäre ich vor meinem eigenen Schall wie vor einem Gespenst in der hellichten Mittagssonne in die Kniee geschossen! – Im Bären wußten sie nichts von dem Herrn Rittmeister. Alle sonstigen gewohnten Stammgäste waren von halb elf bis halb zwölf dagewesen und hatten heftig diskurriert, und ein junger Herr hatte auch die Marselljäse gesungen, grade als ob ich am hellen Mittage in mein Horn getutet hätte; aber dem Herrn Onkel seinen Stuhl hatte ein anderer warm gesessen. Na, da stehe ich denn hernach ziemlich ohne Rat vor der Tür; denn ohne den Herrn Onkel wäre ich grade heute der Frau Tante nicht gerne zur Suppe zurückgekommen. Was hilfts aber? Also ich geh wieder die Straße hinunter auf das Teichtor zu, und der Kellner vom Bären gähnt hinter mir her, als wenn er ganz Wanza, und die ganze damalige Welthistorie dazu, überschlucken will; ich aber denke: sollte er in seinem Ingrimm bei der Temperatur gar nach dem Spatzenkruge hinausgewallfahrtet sein, der Herr Onkel nämlich?! Na, denn aber!... An meinen eigenen kühlen Unterschlupf im Teichtorturm und den von dem Herrn Rittmeister daselbst eingelegten Vorrat von Trost im irdischen Drangsal denke ich in meiner Dummheit mit keinem Gedanken, als – sieh, sieh, mir mit einem Male wieder mal die richtige Stunde angesagt wird – durch die Jungfer Lunkenbein nämlich. Die humpelt mir entgegen und will mit ihrem boshaften Katzenblick wie eine Katze mit bösem Gewissen an mir vorbei, so dicht als möglich an der Hauswand hin. Und ihre Schürze trägt sie dabei aufgerafft und zusammengegriffen, als trüge sie Krösussen seine Schatzkammer drin; und ich weiß eigentlich selber nicht, wie es zugeht, daß ich dem armen Tier ganz höflich die Tageszeit wünsche, noch dazu nach dem Zunder-, Stahl- und Feuerstein-Verdachte von der letzten Nacht. ›Na, Jungfer, ausgeschlafen mit gutem Gewissen?‹ frage ich. ›Wohin geht denn der Weg? Und was trägt Sie denn da so verborgen, als ob Sie es bei der heutigen Hitze vorm Anbrennen bewahren müßte?‹ – Und weil die trübselige Kreatur und ich augenblicklich doch die einzigen lebendigen Wesen rundum sind, binde ich an die Höflichkeit auch noch die Frage und frage sie, ob ihr nicht der Herr Rittmeister Grünhage begegnet ist!... Herr Studente, was mir entgegengezetert wird, ist das alte Lied, was immer von vorn angeht, solang noch einer lebt aus denen, die mit mir in die Welt kamen. ›Pferdedieb! Schinderknecht! Haltet den Dieb!‹ kreischet giftig das unsinnige Geschöpfe und gibt sich zugleich mit seinem Klumpfuß ins Laufen, und die Schürze gibt nach, und – sackerment, da läuft mir auch ein Taler vor die Füße und noch einer und noch einer. Und ein Sortimente klein Geld rollt auch aufs Pflaster, und ich – nunmehr wie von Amts wegen – greife natürlich ganz feste zu. Mit der einen Hand das alte Mädchen an der Schulter, mit der andern in die Kattunschürze. Und was faßt meine Seele? Ein Bund Schlüssel, einen Korkenzieher und eine Uhr mit einer Kette und einem Haufen Bammelotten, die ich so genau kenne wie die gelbe Lederhose, vor der sie seit den zehner Jahren hier in Wanza gebaumelt haben!... ›Menschenkind, wie kommst du dazu?‹ rufe ich. ›Das sind ja meinem Herrn Rittmeister seine leiblichen Eigentümer! Um Gott und Jesu, wo liegt er am Wege, daß du ihm die Taschen hast ausräumen können?‹ Da lacht die Kreatur, als ob alle Schlauheit der Welt aus ihren Augen wie aus einem Tollhause herauslachte: ›Ehrlich Gut, ehrlich Gut, Marten Marten! Kein gestohlner Gaul von Rasehorns Anger! Unterm Teichtor da ist es mir von Seinem Westfälinger geschenket als einer guten Kameradin, Marten Marten; und wenn Er wissen will, wo er sitzt, Marten, – wo Er selber gesessen hat, Er Schinder, Er Dieb, Er Pferdedieb. Und jetzo lasse Er mich frei, oder ich kratze Ihm die Augen aus dem Gesichte, daß Er sie bis zum Jüngsten Tage mit Seiner dummen Laterne suchen soll, anstatt daß Er damit jetzt allnächtlich mich und meine Gebrüder ins Unglück bringen will!‹ – Sehen Sie, Herr Studiosius, da blieb mir denn freilich fürs erste nichts übrig, als daß ich die Unhuldin freiließ auf ihr Wort und hinging und nachsah, ob sie die Wahrheit gesagt habe, denn möglich war das, wie ich es auf manchem Schlachtfelde und auch im Lazarett in Erfahrung gebracht habe, wie Leute allerlei wegschenken können, wenn sie nur in der richtigen Stimmung dazu sind und für sich selber glauben keinen Gebrauch mehr von der Welt und ihren Besitztümern machen zu können. Glauben Sie ja nicht, Herr Nevöh, daß einem dazu das Messer schon in die Kehle gefahren sein muß; manchmal genügt es schon, daß man es nur die gehörige Zeit in der Einbildung hat von weitem blinken sehen. So war doch Ihre liebe Frau Tante nie, daß ich sie mit einem Messer vergleichen möchte, das sich der Herr Onkel, als er aus seinen Kriegen kam, selber an den Hals gesetzet habe! Nachher ist die Jungfer Lunkenbein vor Gericht noch mal genauer inquirieret, und es hat sich, obgleich sonst kein Mensch freilich dabeigewesen ist, richtig erwiesen, daß es so gewesen ist, wie sie mir zugeschrillt hat. Unter dem Teichtor ist er wie einer, der schon halbwegs in einer andern Welt spaziert, auf sie losgekommen und hat was gesagt, wovon sie nichts weiter verstanden hat, als daß er arg geschimpft und sie seinen Kameraden genannt hat. Und sie hat wiedergeschimpft und gesagt: er sollte doch nicht auch arme Leute hohnnecken, er, den die ganze Welt doch auch nur zum Narren hielte. Und da hat er sie ganz stier angesehen und sich an die Wand gelehnt, als ob ihm schwindelig werde; aber noch einmal ist er doch wieder zur Besinnung gekommen, wenn Sie dies so nennen wollen, Herr Studente, daß einer mit dicker Stimme sagt: ›Halt die Schürze auf, Mädchen! Dich hätt ich freien sollen und mit dir und deinem Lumpengesindel haushalten hier in Wanza, um dem verfluchten Nest das faule Pläsier an sich zu ruinieren. Da hast du zum wenigsten deinen Teil an des Satans Aussteuer, und die Uhr braucht der Rittmeister Grünhage auch nicht mehr, um zu wissen, was die Zeit ist. Sie stammt aus dem Kosakenkriege und kommt ganz richtig an die Jungfer Lunkenbein!‹... Ach, Herr Studiosius Grünhage, dann hat er ganz weinerlich ›Fiekchen! Fiekchen!‹ gerufen; aber die Jungfer Lunkenbein hat natürlich gesagt: ›Da sollen Sie ja auch tausendmal bedankt sein, Herr Rittmeister, und Vivat in alle Ewigkeit Ihr lieber Herr Kaiser, der Kaiser Napoleon!‹ – Ja, lieber junger Herr, dies wurde, wie gesagt, vor Gerichte von ihr zu Protokoll gegeben; aber was blieb mir übrig, als ich sie zuerst traf mit ihrer Schürze voll Ausbeute vom seligen Herrn Onkel? Nichts, als daß ich selber lief, was das Zeug halten wollte, und die Treppe in meinem Turm mehr herauffiel als -lief! Ich war damals erst im vorigen Jahre in diese meine mir von Stadt wegen angewiesene Behausung eingezogen; und dies war nun seit meiner Prisonzeit das erste von Merkwürdigkeit, was ich darin erleben sollte. Tauben hielt ich damals noch nicht, und die lieben nutzbaren Tierchen flogen mir nicht ums Dach. Die Sonne dagegen liegt grausam heiß auf dem alten Steinklumpen, aber drinnen ists kühl und kalt wie im Grabe. Und wie ich die Tür da aufmache, da sitzt er richtig an diesem Tische und auf dem Stuhle, wo Sie da sitzen, Herr Nevöh, und ruht aus von seinen Feldzügen durch ganz Europa und von allen seinen Pläsieren und Molesten in Wanza an der Wipper. Ganz friedlich und still sitzt er da, als ob er nicht einmal in seinem Dasein mit Säbel und Pistol dem Teufel Bonschur gesagt hätte. Wie n Kind sitzt er da, bloß ein bißchen blau im Gesicht und ein bißchen weniger rot um die Nase, aber sonst viel, viel freundlicher und, mit Erlaubnis zu sagen, lieblicher als wie zum Exempel auf seinem Bildnis über der Frau Tante ihrem Sofa, allwo er noch jedermann anguckt, daß man sich erst ganz allgemach dran gewöhnt, ihn zu betrachten. – Na, daß aber mein Schrecken dessenungeachtet nicht klein war, das können Sie sich wohl vorstellen, bester junger Herr. Aber was half es? Der Nachtwächter von Wanza weckte ihn nicht mehr auf, und wenn er ihm sein Horn dicht an das Ohr gehalten hätte. Alle Trommeln und Trompeten des Kaisers Napoleon weckten ihn nicht mehr auf; und mir blieb dann nichts weiter übrig, als wenigstens für die anderen Lärm zu machen, unnötigerweise mit Hülfe der Nachbarschaft einen Doktor herbeizuschreien und die Frau Tante mit Vorsicht von ihrer Wäsche abzurufen –«

»Und was hat meine Frau Tante dazu gemeint?« rief der Neffe, der mit beiden Fäusten im Haupthaar und mit beiden Ellenbogen auf dem Tische in atemloser Spannung der Erzählung des Alten zugehört hatte, jetzt einmal wieder, nach Luft schnappend, dazwischen. Der Meister Marten klopfte ruhig die Asche aus seiner Pfeife, füllte die letztere bedächtig von neuem aus seiner Tabaksblase und erwiderte:

»Je ja, was sollte sie sagen? Gedenken Sie nur daran, daß wir sie auf meiner Hellebarde in Wanza und in ihren Ehestand reingetragen hatten. Und bei was für einem schlimmen Wetter – nicht bloß in der Nacht da, sondern überhaupt in jenen Zeiten, wo wir jung waren. Wir konnten alle unsern Puff vertragen, daran hatte uns das Schicksal wohl gewöhnt. Je ja, ich muß mich wirklich erst darauf besinnen, was sie gesagt hat, Ihre Frau Tante, Herr Grünhage! Ja, eigentlich weiter nichts als: ›Wie ist denn das gekommen, Marten?‹ Eine lange Rede hat sie nicht gehalten und noch weniger vor der Menschheit irgendeine Träne vergossen; nur in dem Herrn Erdmann Dorsten seinem Giebelstübchen hat sie sich die nächsten Tage durch wieder häufiger eingeschlossen, und was sie da mit sich und dem seligen Herrn Rittmeister ausgemacht hat, das hat sie Wanza weiter nicht mitgeteilt, sondern ruhig es daraufhin raten und reden lassen, wie es ihm gefällig war. Aber als die Frau Rittmeistern, wie wir sie hier im Orte heute kennen und Sie, Herr Nevöh, sie nunmehr auch bereits kennengelernt haben, ist sie aus der Giebelstube herausgekommen und sozusagen auf dem gemeinen Wesen zu Pferde gestiegen. Manch einer will zwar behaupten, daß sie manchmal ein bißchen zu hoch drauf sitzt; aber, du lieber Gott, fragen Sie nur den anjetzt regierenden Herrn Burgemeister, Ihren lieben Herrn Freund, mit wem er in kommunalen Angelegenheiten am liebsten zu tun hat, ob mit dem löblichen Magistrat und Stadtverordneten oder mit Ihrer Frau Tante.«

»Bei den ewigen Göttern, was soll mir das?« rief der Student. »Ich bin mit Ihnen immer noch da, wo mein Onkel – mein verstorbener Herr Onkel hier sitzt, wo ich sitze. Was sagte denn Fräulein Thekla – Fräulein Overhaus dazu?«

Des Alten Augen fingen über seinem Gläschen und des Rittmeisters letzter Flasche echten, alten Steinhägers auf einmal an, ganz wundersam zu leuchten und zu zwinkern.

»Herr!« rief er, »die tat, was die Tante nicht selber besorgte, sondern durch den Herrn Oberpastor auf Sankt Cyprians Kirchhofe vornehmen ließ an dem Herrn Onkel; sie hielt ihm eine Rede noch hier im Teichtorturm, ehe sie ihn in der Abenddämmerung still wegbrachten; und es ist mir dabei gewesen, als hörte ich meinen seligen Herrn Kandidaten auf mich einreden, als ich Anno neun in diesem selbigen Turm in meinem jetzigen Taubenschlag wegen meiner Missetaten einspundieret lag. Ja, wenn da einer die Worte noch wüßte oder damals zu Papiere gebracht hätte!«

»Besinnen Sie sich nur, Marten Marten.«

Der Nachtwächter von Wanza lächelte immer seliger durch sein Spitzgläschen und wiegte das graue Haupt dazu hin und wider wie einer, dem es nun bald so wohl und vergnügt zumute ist, wie es nur je solch ein stillbehaglich Plauderstündchen am Herbstabend mit sich bringen kann. Und als der Student den Steinkrug aus Steinhagen ergriff, um ihn ein wenig zur Seite zu rücken, der Aussicht auf den fröhlichen Greis wegen, däuchte ihm das Gewicht des Gemäßes um ein merkliches leichter denn zuvor.

»Je ja, was meinte mein Fräulein?« sprach der Meister Marten. »Daß wir allesamt arme Sünder seien, sowohl hier in Wanza wie überhaupt auf Erden, und daß der Herr Rittmeister doch zum wenigsten eine gute Seite gehabt habe, nämlich, daß er sich niemalen besser gemacht habe, als er von Natur gewesen sei, und daß sie – nämlich mein Fräulein – für ihr Teil immerdar ganz gut mit ihm ausgekommen sei, nachdem sie ihn im Laufe der Zeit ganz genau kennengelernt habe. – Na, Herr Studiosius, ob Ihre liebe Frau Tante, die Frau Rittmeistern, dies nun für einen Stich nahm, will ich dahingestellt sein lassen. – ›Freilich war er für mich zu gut, Thekla‹, sagte sie, ›aber erst am Abend nach dem Begräbnis; – schade, daß er nicht dich an meiner Statt sich aus Halle geholt hat, beste Thekla! Aber, mein Herz, so laut und deutlich vor allen Leuten im Teichtorturm in Marten Martens Stube brauchtest du mir eigentlich doch nicht mein ehelich Glück unter die Nase zu reiben!‹ – Na, Herr Studente, Nevöh und Studiosius Grünhage, was meinen Sie, wenn wir nunmehr hiermit dies Kapitel zuschlagen? Viel Moralität und gute Lehre, Exempel und Beispiel steckt eigentlich doch nicht drin und läßt sich daraus abziehen. Die beste und nützlichste Weisheit Salomonis habe, bei Lichte genau besehen, vielleicht ich selber mir draus abgefüllt –«

»Und was ist die, Meister Marten?« rief der Student, zappelnd vor Spannung.

»Nämlich, daß ich als Junggeselle gelebt habe und auch ganz sicher als ein solcher aus dieser auch hier in Wanza doch meistens auf die Verheiratung gestellten Welt abscheiden werde. Ich hätte wohl mehr als einmal Gelegenheit dazu gehabt, denn mein festes Brot und gute Versorgung hatte ich hier ja im Gemeinwesen nach meiner Art so ausreichend wie der selige Herr Onkel, und ein und zwei Male auch unbändige Lust dazu, einmal mit ner Jungfer und das andere Mal mit ner Witwe mit nem recht hübschen schuldenfreien Anwesen. Aber, aber – dann war ich zuerst doch immer ein zu guter Freund von meinem lieben Fräulein Thekla und von Ihrer hochverehrten Frau Tante gewesen, um mich nicht immer wieder von neuem zu besinnen, ehe und bevor ich zugriff und die Sache richtigmachte. Und vom August Anno dreißig an hat mir immerdar die Jungfer Lunkenbein mit ihrer zusammengerafften Schürze vorgespukt; und als es mit der Witwe Knöffler und mir nur an einem seidenen Faden hing und damals sogar mein Fräulein und die Frau Rittmeistern zurieten, ist, so wahr ich ein ehrlicher Kerl bin und hier vor Ihnen sitze, der Herr Rittmeister mir erschienen, als ich mit dem Morgen grade vom Dienste kam und eben mein Horn an den Nagel hing. Da, wo Sie sitzen, hat er wiederum gesessen, aber in seiner Kürassieruniform wie auf dem Bildnis über der Frau Rittmeistern Sofa, aber längst nicht mit dem Gesichte wie auf der Schilderei und auch wie ganz eingefallen in seinem Harnisch, und hat mit der Hand – wer kommt denn da jetzt noch die Treppe herauf?!«...

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