Wilhelm Raabe
Das Odfeld
Vierzehntes Kapitel
eingestellt: 28.6.2007
Wir haben eben hievon erzählt wie von einem Gespräch zwischen zweien und dreien; aber dem war nicht so für die, welche damals ihren Jammer gegeneinander austauschten durch Wort, Tränen und Seufzer. Der ganze große Krieg redete mit hinein, und zwar von Augenblick zu Augenblick grimmiger. Daß man nicht auf sechs Schritte weit sich auf seine leiblichen Augen verlassen konnte, das machte die Sache nicht beruhigender.
Es kam eine verirrte Geschützkugel und
schlug einen Ast über dem Wieschen, dem Herrn Magister Buchius und dem Knecht Heinrich von einem Eichbaum. Die Feldherren mußten es wohl wissen, wie sie ihre Truppen durch das Grau vorwärts schickten. Die hohen Alliierten und Frankreich waren auch im dicksten Nebel dicht aneinander. Wer zwischen ihnen ungefährdet durchkam, hatte wohl von noch größerm Glück zu sagen, als wer bloß aus der Rapuse in Kloster Amelungsborn sich ins freie Feld rettete. Die Kugeln, die sich verirren, können die klügsten
Könige und Feldmarschälle nicht mitzählen in ihren strategischen Berechnungen.
Das zerschmetterte Gezweig prasselte nieder auf die ratlose Gruppe; die Jungfer schrie und duckte sich, dem Knecht Heinrich wars einerlei, und der Magister sah nur einen kürzesten Moment aufwärts zum Zeus, dem Wolkenversammler. Er sah sofort wieder um, der Magister Buchius. Sie waren noch nicht alle beieinander, die sich an diesem fünften November vom Kloster Amelungsborn aus auf dem Odfelde zusammenfinden
sollten; doch die letzten kamen eben, und zwar spukhafter als sonst was an diesem Morgen für den Magister. Nämlich auf weißem Roß, wie aus der Apokalypse heraus im Qualm des Erduntergangs: »Jeses, dem Herrn Amtmann sein Schimmel!« rief Wieschen. »Der Junker von Münchhausen - und - Mamsell Fegebanck«, stammelte Magister Buchius, als der wilde Thedel wirklich des Klosteramtmanns letztes in den Knochen zusammenhängendes Reitpferd dicht vor den drei unter der Eiche des Odfeldes parierte und noch mit
seiner Begleiterin von den abgeschlagenen Ästen und Zweigen überschüttet wurde.
Hoch vom keuchenden Gaul, vor sich auf dem Sattel die schöne, aber schwere Last fester mit dem linken Arm umfassend, deutete der tolle Junge nach der Richtung des donnernden Iths:
»Hört, oder täuschen mich beliebte Rasereien?
Nein, nein, ich hör ihn schon.
Der Heere ziehend Lärm sind seine Melodeien
Und Friedrich jeder Ton!«
Der Jungfer Selinde
durfte es in Wahrheit so vorkommen, als sei ihr Morgentraum noch nicht zu Ende; dessenungeachtet glitt sie, sobald das abgehetzte Tier unter ihr es gestattete, aus den Armen ihres Kavaliers und »Erretters« auf festen Boden nieder:
»Sind es der Herr Magister, so erretten Sie mich!« kreischte sie, ihrerseits jetzt den alten Schulmeister umklammernd. »Er ist ein Narr, er ist verrückt, er ist toll! Er hat mich aufgehoben und hin und her gerissen, durch den Feind treppab und treppauf bis
aufs Dach und durch die Keller. Er hat mich verrückt und toll gemacht; nicht einen Augenblick zur Besinnung hat er mir gelassen. Er hat mich ohnmächtig auf den alten Hans gehoben, und hier sind wir, und die Welt geht unter! O Gott und Jesu, es wird ja immer schlimmer mit dem Spektakel! Und nun sind wir erst recht mitten unter ihnen, da wir uns aus ihnen herausretten wollten! Münchhausen, den Dienst vergesse ich Ihm mein Lebtage nicht!«
»Bis in den Tod vergesse auch ich diese Fortune
nicht, Allerschönste!« jauchzte der Schüler, sich gleichfalls aus dem Sattel schwingend. »Nun mag ja das Universum zusammenkrachen, Mademoisell Selinde; ich bin im himmlischen Gewölk geschwommen und kann jeden Augenblick selig sterben, Allersüßeste.«
»Der unverschämteste Peter ist er auch jetzt gewesen! Es gibt gar keinen andern solchen! O solch ein Gelbschnabel -«
»Und letzter wirklicher Primaner der großen Wald- und Wildschule Amelungsborn!« lachte der tolle Thedel,
seinem alten letzten wirklichen Lehrer die Hand schüttelnd. »Diesmal müssen mich der Herr Magister doch auch drum loben, daß man Haus-, Hof- und Stallgelegenheit zu Kloster Amelungsborn gekannt hat. Ja, wer eben nicht Bescheid gewußt hätte mit Türen und Treppen, mit Schlössern und Riegeln, mit jedwedem Katerstieg des heiligen Herrn Bernhards von Clairvaux! Nicht wahr, meine Königin, es ging um alles, was wir bei uns trugen?«
»Er ist verrückt! Er ist toll! Und er hat mich auch toll und
verrückt gemacht, Magister Buchius. Und wo sind wir jetzo in Sicherheit mit Leib und Leben? Man sieht keine Hand vor Augen, und die Bataille ist über uns und um uns toller als zu Hause im Kloster. O Jesus, das Gepolter!«
»Auf dem Campus Odini, auf dem Odfelde sind wir, Mademoisell, und freilich, wie es scheinet, mitten in der Schlacht des Herrn Herzogs Ferdinand und des Herrn Herzogs von Broglio; und da ist das Wieschen aus Amelungsborn, das seinen Schatz auf dem Rücken bis hieher in
die jetzige Sicherheit getragen hat.«
Mademoiselle Selinde war noch viel zu sehr in ihre eigene Not versunken, als daß sie auf die anderer hätte merken können; aber Thedel von Münchhausen kniete bereits bei dem Wieschen und dem Knecht Heinrich:
»Kerl, was für Unsinn hat denn Er angestiftet?«
»Es ist wohl nicht die erste Schmarre, die wir uns in Kompanie holen, Herr von Münchhausen«, ächzte der Knecht, sich auf dem Ellbogen emporrichtend. »Aber so wie heute doch
noch niemalen früher.«
»Hat Er Seinen Rest weg, Heinrich?« fragte der Junker mit wirklicher Teilnahme und Besorgnis. »Er will mir doch nicht heute, im besten Pläsier, eine Dummheit machen?«
»Schaffen der Junker mich aufs Heu hinterm Pferdestall wie sonsten, und ich lecke mir die Blessur schon zurechte; aber heute - diesmal -«
»Na, Seinen Hirnschädel kenne ich doch wohl auch ein bißchen«, meinte der gute Kamerad aus früherer Schul- und Wilddiebszeit. »Er verträgt
schon einen Puff, Heinrich.«
»Sich von seinem Mädchen auf dem Buckel durch den Tumult und durchs Dickicht schleppen lassen müssen!« ächzte der Knecht halb kläglich, halb wütend. »O verflucht, junger Herr; Sie haben es wieder besser gemacht. O verflucht! verflucht! Das lächert mich doch - dies mit des Alten weißem Hans. Der wird auch hinter Ihm her wieder Augen gemacht haben, Junker, wann er Ihn mit ihm und der Jungfer hat abfahren sehen! O verflucht, verflucht, verflucht!«
»Siehst du wohl, Heinrich, bist ja noch ganz hübsch bei Besinnung; nun nimm dich aber noch ein bißchen mehr zusammen. Der Herr Magister tritt von einem Fuß auf den andern, und die Damen können wir auch hier nicht im offenen Feld präsentieren zwischen Freund und Feind zum galanten Zugreifen, wenn sich der Nebel verzieht.«
»Und er liegt auch bloß hier auf dem Odfelde wie durch Gottes gütige Vorsicht für uns!« rief Magister Buchius. »An den Ithbergen ists klar! Dort guckt schon die
Homburg herüber, da der Kohlenberg! Da ist der Vogler! mons Fugleri! Wir tappen noch im Dunkel; aber der Herzog Ferdinand muß doch schon längst wissen, wohin er sein schwer Geschütz und klein Gewehr zu dirigieren hat. Der feuert nicht ins Blinde.«
»Aber er zieht mit seinem Kanon auch uns die Tarnkappe ab«, sagte Thedel. »Wir müssen fort und in den Wald, wo er am dicksten ist. Probiere Ers, Heinrich, ob Ers wieder auf Seinen Hinterhufen, ob Ers per pedes prästieret.«
»Ziehe
Er mich auf, Junker. Die Hand besser in den Rücken, Wieschen! Kotz, Kreutz, Donner und Blitz! Uh, uh jeh!... Nein, es prästiert sich noch nicht, junger Herr. Wieschen, lege den unnützen Sack wieder hin! Es muß auch mir wohl gestern abend mein Eingehen hier auf dem Odfeld von dem Rabenvieh prophezeiet sein.«
Es schien ihm von neuem schwarz vor den Augen zu werden. Einige Augenblicke standen die drei andern ganz ratlos, der Magister noch immer angsthaft von Mamsell Selinde
umklammert.
Doch der Verwundete strich sich von neuem die blutverklebten Haare zurück:
»Ich hab ihm auch schon manchen Gefallen getan, Herr von Münchhausen, nun tu Er mir auch einen. Lasse Er mir mein Mädchen nicht hier zurück. Herr Magister, erbarme Er sich meiner, lasse Er mir mein Mädchen, mein Wieschen, nicht auch hier unter den Rabenäsern verkommen -«
»Wir bleiben alle beieinander, Schelze.«
»Nein, nein, ihr Herren! Um Gott und Jesus nicht! Es
liegen da drüben hinterm Pfuhl wohl noch einige unverscharrt vom Sommer her; - so lasset mich jetzt auch hier und grabt mich nachher unter, wenn Ihr mit meinem Wieschen glücklich aus dem Elend herauskommt. Es geht nichts verloren an mir; das weiß das ganze Kloster. O Herren, heben Sie beide Jungfern auf des Herrn Amtmanns Schimmel und kriechen Sie unter im Wald, im tiefsten Dickicht, und lassen Sie mich hier; ich bin keinem Menschen mehr nütze und selbst meinem herzlieben Schatz nicht.«
»O Heinrich, Heinrich, kein Mensche und kein König soll mich mit Güte oder eisernen Zangen von dir losbrechen!«
Jetzt machte sich der Magister Buchius doch aus der Umarmung von des Amtmanns Vetterstochter los. Er trat her in einer Glorie, von der er selber am wenigsten wußte.
Was er in den Gassen von Helmstedt niemals gerufen hatte, das rief er jetzo:
»Bursche heraus!«
Es kam über ihn wie ein Taumel, eine begeisterte Trunkenheit. Was er in seiner
Jugend versäumt hatte, das holte er nunmehr in der Betäubung dieses wilden, greulichen Tages ganz und gar nach. So hatte er nie und nimmer sich in der Welt Trubel lebendig gefühlt wie in dieser schlimmen, ratlosen Stunde auf Wodans Felde, dem Odfelde.
»Amelungsborn heraus! Die ganze Schule! Hier Amelungsborn! Wir bleiben alle beisammen im Leben und im Sterben -
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