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Wilhelm Raabe

Das Odfeld

Vierundzwanzigstes Kapitel

eingestellt: 28.6.2007



Der Novemberwind pfiff schärfer und schneidender über das zerzauste, zerstampfte Götter-, Geister- und Blutfeld. Die Sonne, die nur einen kurzen Moment über dem Butzeberge durch das Gewölk geblickt und »Wasser gezogen« hatte, war jetzt schon hinter den Berg hinabgesunken. Es neigete sich der Tag wieder dem Abend zu.

»Herr«, sagte Knecht Heinrich, »wenn wirs wüßten, wie wirs zu Hause in Amelungsborn finden werden, so trügen wir ihn wohl mit nach Hause zwischen uns. Auch die Jungfern faßten wohl mit an bei den Füßen; aber -«

»Aber wir haben vielleicht nicht, wo wir ihn niederlegen könnten«, sprach trostlos der alte Mann. »Wir finden keine Stätte, wo er besser ruhete als wie hier, Heinrich, wo -«

»Wo er sich selber nach seinem tollen Sinn den Platz ausgesucht hat!« jammerte Mademoiselle. »O Thedel, mein Thedel, mein lieber Junge, vergebe Er mir, Junker von Münchhausen, um alter Zeiten im grünen Frühjahr und Blumensommer und um seines jetzigen blutigen Todes willen, was ich Ihm heute je in Verdruß und Elend mal gesagt und angetan habe! Wer hätte denn dies auch denken können, Herr Magister, daß ich auch ihm das kühle Grab in seiner jüngsten Jugend mit Rosmarin bestecken müßte? Und wieder um solch eine ungeforderte Dummheit und lieben Mutwillen, liebster Herr Magister!«

Für Magister Buchius sprach die tränenüberströmte Schöne vollkommen in den Wind. Er vernahm und verstand kein Wort von dem, was sie wimmerte. Er sagte zu des Toten guten Amelungsbornschen Wald- und Feldkameraden:

»Wir finden wohl heute abend keine Stätte in Amelungsborn, wo er besser ruhte als wie hier, wo er sie sich selber gesucht hat als ein junger teutscher Edelmann und Kriegsmann. Der Herr Vetter ist über ihn hingestoben mit den Reitern und hat ihn auch liegenlassen müssen. Nun wollen wir ihn ein wenig zurechtlegen in seiner Glorie aus dem Krieg um das teutsche Vaterland - hier auf dem Odfelde bei unsern Vorfahren seit Anbeginn. Und wir selber wollen zusehen, was wir selber für eine Stätte zu Amelungsborn finden und wie uns bereitet ist, wo wir unser Haupt im Leben für diese Nacht niederlegen. Kommet still und nehmet euer Bett ein, wie der allmächtige Gott es bereitet hat.«

Sie taten so. Sie legten auch Thedeln von Münchhausen christlich-sarggerecht zurecht auf Wodans Felde, auf dem Odfelde, unter den Gefallenen aus der Rabenschlacht und der Schlacht des guten Herzogs Ferdinand von Braunschweig und der Herren von Broglio, Poyanne und Rohan-Chabot. Sie zogen auch noch dem nächsten Nachbar im Elend, dem Reitersmann von den Elliots, das Bein unter dem Gaul hervor und deckten dem Sterbenden den Mantel über - »Good night, Mary«, murmelte er -, und sie gingen und ließen Odins Kriegs-, Jagd- und Opferfeld dem Abend und der Nacht: freilich im schweren Zweifel, ob sie es zu Hause besser finden würden, als wie sie hier draußen es hatten, zwischen dem Quadhagen, dem Weiersberge und dem Butzeberge.

Der Weg war nicht mehr allzuweit, wie jedermann, der bis hierhin gelesen hat, nun schon weiß. Der Kriegssturm hatte sich nach Osten und Süden hin verzogen, die Flüchtlinge erreichten ungefährdet, schleppenden Schrittes die alten mönchischen Umfassungsmauern und das zertrümmerte Tor von Kloster Amelungsborn. Der alte Schulmeister, schwer sich auf den Arm des guten Heinrichs stützend, die zwei Mädchen aneinandergeklammert, alle ohne noch ein Wort zu sagen. Wenn sich Heinrich von Zeit zu Zeit mit dem Jackenärmel über die Augen wischte, so murmelte er gewöhnlich dazu ein Wort, das mehr Fluch als Segen war; aber auch ihm wurde die Sünde nicht zugerechnet.

Sie kamen auf den Hof, und Bruder Philemon vom Orden des heiligen Bernhards von Clairvaux und Herr Theodorus Berkelmann, Abt von Amelungsborn im Wort und Glauben Doktor Martin Luthers, hätten aus ihrem Frieden dreist aufstehen und um sich deuten können: »Sehet, so sahen wir es auch. So spürten wir es auf der Haut und bis in das Mark der Gebeine und sprachen: ›Herr, zähle meine Flucht, fasse meine Tränen in deinen Sack.‹«

Die erste, die sich aber faßte, war Mamsell Selinde, des Herrn Amtmanns Vetterstochter, und die rief:

»Jeses, da sitzt ja noch mein Schlingel von Franzose von heute morgen! Der, dem mein - unser junger Liebling, unser Herr von Münchhausen um meinetwillen die Nase eingeschlagen hat! Da sitzt er an der Wand auf dem Stroh und hat sein schlechtes Leben behalten, und unser Thedel hat seines hergeben müssen. Und guck, das sind ja wohl wieder welche von Unsern, die bei ihm auf dem Stroh liegen wie Kamerad bei Kameraden. Da hört es doch auf!«

Es konnte von Mademoiselle nicht verlangt werden, daß sie alle Uniformen der kriegführenden Heere kenne. Es waren jetzt Nachzügler von dem Korps des Herrn Generalleutnants von Hardenberg, welches jetzt endlich bei Stadtoldendorf Posto gefaßt hatte, Fußlahme oder sonst Marode des Herrn von Hardenberg, die im Klosterhof von Amelungsborn ihre Gewehre an die Mauer gelehnt und sich auf den Boden geworfen hatten. Aber es war kaum noch ein halb Dutzend von ihnen, und sie sahen kaum auf, wenn einer über sie weg trat, weil sie ihm im Wege lagen.

»Jeses, auch unser Schimmel«, rief Wieschen. »Da steht er und kaut dem Franzos das Stroh unterm Leibe weg, und keiner kümmert sich um ihn. Auch der Herr Amtmann nicht.«

Es sah niemand mehr viel nach dem andern in Kloster Amelungsborn, auch der Herr Amtmann nicht. Es konnte jeder stehen, sitzen und liegen, wie er wollte; sie hatten alle wieder die Faust des Krieges auf der Stirn gespürt, und diesmal gröber denn je. Sie gingen, standen, saßen und lagen alle in stumpfsinniger Betäubung; Freund und Feind, Knecht, Magd und Vieh, Herr und Diener - »Ach Gott, und die Frau Amtmännin und die Kinder auch!« rief das gute Wieschen, den Arm Mademoiselles von sich stoßend und über den verwüsteten Hof auf die Treppe des Amtshauses zulaufend. »Wo sind unsere Kinder? Guten Abend, Frau Amtmann! Kinder, lebt ihr denn noch? Ach Gott, Frau Amtmann, unser Junker, unser junger Herr von Münchhausen liegt draußen ja tot auf dem Odfelde unter den Franzosen und Engländern und dem Herrn Magister seinem Vorspuk und Rabenvolk!«

»Schelze«, sagte der Amtmann, »Heinrich, der Schimmel, der da in den Hof gekommen ist - gehört er - zu den Engländern oder zu den Franzosen? - Was tut das Vieh, als obs hier zu Hause wäre? Guck doch mal hin nach ihm, Heinrich; manchmal kommts mir vor, als hätten wir ihn im Stall gehabt; - o der Herr Magister Buchius! Sie auch noch? Nehmen der Herr Magister die Uncourtoisie nur nicht übel, daß ich nicht aufstehe vom Stuhl. Wir haben heute einen fast zu schweren Tag gehabt in Amelungsborn.«

»Wir auch, mein Herr Amtmann, - draußen auf dem Odfelde und im Eingeweide der Erde, in der Erdhöhle im Ith. Der junge Herr von Münchhausen liegt tot auf dem Odfelde; aber Mademoisell Nichte habe ich glücklich und in Ehren wieder nach Amelungsborn geführet.«

Den Klosteramtmann bewegten beide Benachrichtigungen wenig in seinem Stupor, die letzte aber am wenigsten.

»Hat er sich zuletzt den Hals gebrochen?... Sieh, sieh, Sie Linienfliegersche ist nicht in die weite Welt gegangen mit den Husaren, Dragonern und Kürassern, mit Preußen und Franzosen, Jungfer Allewelt?... Nu, Schelze, wie ist es mit dem Schimmel?«

»Es ist unserer. Dem Herrn Amtmann Seiner ists.«

»Er kam mit dem Herrn Generalleutnant von Hardenberg ins Tor. Also der Satansjunge, der Münchhausen ist auch hinüber? Nehmen der Herr Magister es nicht für ungut, aber mir ist so konfuse, daß mir alles vor dem Auge schwimmt, daß ich von Gott und Welt nichts mehr weiß und mich auf Weib und Kind erst besinnen muß. Das ist mein erster Trost jetzt, daß unser Magister Buchius heute nicht auch für ewig verlorengegangen ist. Da hat man doch wieder einen Menschen in Amelungsborn, der einem ein vernünftig Wort sagen und an den man sich halten kann!«

Magister Buchius, vor dem an Leib und Seele zerbrochenen Manne stehend, schüttelte nur seufzend den Kopf und dachte sich das Seinige, nicht seines Ausganges aus Kloster Amelungsborn am heutigen Morgen, sondern, wehmütig getröstet, seines Eingangs und langen Aufenthalts in Kloster Amelungsborn gedenkend.

»Gehe Sie zu meiner Frau, Jungfer Nichte, und frage, ob sie noch eine Ihr anständige Beschäftigung für Sie weiß. Also es ist mein eigener, Schelze? Ich kann mich nicht aus dem Stuhl rühren; sieh zu, Heinrich, ob du noch einen Halfterstrick für ihn finden kannst. Ein schwerer, schwerer Tag, Herr Magister, - leere Ställe, leere Krippen, Hab und Gut zerschlagen und durcheinandergeworfen! Gebe der Herr mir doch Seine Hand, es ist mir, als habe ich Ihm noch für allerlei und sonst was meine Abbitte zu leisten. Aber mir ist zu konfuse in den Sinnen; vergebe Er mir, was zwischen uns passieret sein mag. Es ist mir ein wirklicher Trost, daß Er sich wieder eingefunden hat und uns nicht verlassen will in unserer Verwirrung. Wollen der Herr Magister aber doch nicht lieber noch bei währendem Tageslicht nachsehen, wie Ihnen auch das Ihrige heute von der Sündflut verschwemmt worden ist? Ich habe in dem Tumult von nichts was ab- und zu nichts was zutun können. Ein schwerer, schwerer Tag, Herr Magister; und also der junge Satan, der arme junge Kerl, Sein Junker Thedel, liegt mit gebrochenem Genick draußen auf dem Odfelde? Die Raben! Die Raben! Gestern abend auf dem Odfelde die Rabenbataille. Ein Präsagium nannte Ers ja wohl? Ja, aber wem hats das Ärgste vorausgesagt? Dem Junker - unserm Thedel Münchhausen nicht! Wer aus dem Elend heraus ist, der soll ja stille sein und ruhig liegenbleiben. Das sage ich ihm heute - der Klosteramtmann von Amelungsborn!«...

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