Die Raupen im Park verschwanden, nachdem sie ihr Teil an der Tafel des Lebens verzehrt hatten; aber der Doktor Stein verschwand nicht aus dem Hause des Geheimen Rates Götz. Er kam täglich und wurde täglich mit verbindlicherem Lächeln von der gnädigen Frau empfangen. Er las mit den Damen, er fuhr mit ihnen aus, und es gab viele Leute in der Stadt, welche die Geheime Rätin um diese interessante Bekanntschaft beneideten, denn der Doktor war ein Mann, dessen Ruf sehr
wuchs. Man hörte ihn wachsen, ohne daß man im geringsten berechtigt war, von außergewöhnlicher Reklame und dergleichen zu reden. Vor einem ausgewählten Publikum beiderlei Geschlechts hielt Theophile Vorlesungen über die »Rechte und Pflichten in der menschlichen Gesellschaft«, welche dem exklusiven, eleganten Bruchteil der Menschheit, für welches sie berechnet waren, sehr gefielen. Doktor Stein schüttelte den Sack nicht roh und gewissenlos aus, nachdem er den Inhalt kräftig
durcheinandergerüttelt hatte; nein, reichlich, zart und zierlich sortierte er die Rechte wie die Pflichten, legte die ersten mit Grazie neben das Wachslicht zur Rechten und die zweiten mit der bekannten, das Gewissen so sehr beruhigenden, lächelnden Wehmut neben das Licht zur Linken. Sodann lud er das gegenwärtige Publikum ein, gefälligst zu wählen, und es wählte mit Behagen. Die Vorlesungen aber wurden gedruckt, und es sollte, wie man sagte, bis in die höchsten Kreise hinein viel die Rede von
ihnen sein. Die Geheime Rätin Götz war jedenfalls sehr entzückt von ihnen – die Einwände aber, die Kleophea machte, gaben dem Doktor erwünschte Gelegenheit, hundert glänzende Schlingen um ihr rebellisches Selbst zu werfen. Mit Kleophea Götz sprach Theophile in einer andern Weise als mit ihrer Mutter. Nicht bloß die weiche, sanfte Desdemona wird gewonnen, wenn der »abenteuernde Afrikaner« erzählt von
. . . weiten Höhlen, wüsten Steppen,
Steinbrüchen, Felsen,
himmelhohen Bergen,
Von Kannibalen, die einander schlachten,
Anthropophagen, Völkern, deren Kopf
Wächst unter ihrer Schulter.
Der Zauber ist fast noch größer, wenn dem unbiegsamen, kräftigen, feurigen Weibe, das sich in Trotz und Unmut vergeblich gegen kleinliche Verhältnisse abängstigt und in zorniger Schönheit an verachteten Ketten zerrt – in solcher Weise vorgelogen wird. Es gehört nicht viel dazu, unter solchen Umständen die Seele eines
Weibes zu fangen. Von Schlachten und Belagerungen konnte nun freilich Theophile nicht erzählen, und als Sklav war er auch nicht verkauft worden; aber er sprach von andern Dingen, die ihm Anspruch auf eine »Welt von Seufzern« geben konnten. Er machte Kapital aus seiner Abstammung und dunkeln Jugendexistenz und war elegisch und rührend trotz Hans Unwirrsch. Wie leicht und eben ihm der Weg in die Welt durch seinen armen Vater gemacht worden war, verschwieg er weislich; durch eigene Manneskraft und
eigenen Mannesmut hatte er natürlich alle Hindernisse besiegt, die sich ihm entgegengestellt hatten. Er klappte seinen Hemdkragen à la Byron um und deutete an, daß er – lord of himself; that heritage of woe! – nicht immer den graden Pfad gegangen sei, daß es Tiefen, dunkle, schwarze Tiefen in seinem Busen gebe, Abgründe, in die er nicht hinabsehen dürfe, ohne schwindlig zu werden. Offen, aber mit dumpfer Bitterkeit sprach er von einzelnen Epochen seiner Vergangenheit, von frühen
Irrtümern und Fehlern; er verlangte nicht das Mitleid der Menschen, aber er duldete auch nicht ihre Vorwürfe; er schloß seine Rechnungen selber ab; finstere Wolken hingen ringsumher, Nacht war es in seinem Innern; aber er hatte den Hunger nach dem Licht noch nicht verloren, und deshalb allein – konnte er noch unter den Lebenden wandeln, ohne von der Last des Daseins zum Krüppel gedrückt zu werden.
Kleophea war in ihrem ganzen Leben nicht so schweigsam gewesen wie um diese Zeit.
Die Geheime Rätin fing an, von dem günstigen Einfluß zu reden, welchen der Doktor auf das Mädchen ausübe. Was um diese Zeit der Herr des Hauses von dem Verkehr Theophiles mit seiner Gemahlin und Tochter dachte, ist deshalb nicht kundgeworden, weil er nicht um seine Meinung gefragt wurde. Aber eine Tatsache ist, daß er öfter als je in tiefe Gedanken versunken schien und seltsamerweise dann am ersten daraus erwachte, wenn Franziska ihn anredete oder auch nur den andern antwortete. Da der Geheime
Rat nicht ein Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit genannt werden konnte, so gingen auch für jeden andern als den Hauslehrer die traurigen, ängstlichen Blicke verloren, mit welchen der Mann das Fränzchen auf ihren scheuen Wegen durch die Zimmer seiner Frau begleitete. Es war, als erwarte er von der selbst so Hilflosen irgendeinen Trost, eine Hilfe.
In Fränzchens Verhältnis zu Hans war keine Veränderung eingetreten; sie gingen umeinander herum und fühlten sich sehr unbehaglich.
Der Leutnant Rudolf ließ sich nicht blicken; im Grünen Baum, wo sich Hans erkundigte, wußte niemand Bescheid von ihm zu geben; ob Franziska Nachricht oder Briefe von ihm erhielt, blieb für Hans unklar. Wenn es der Fall war, so mußten sie ihr jedenfalls wenig Trost geben. Hans Unwirrsch fühlte sich täglich jenem Star ähnlicher, der in Yoricks Sentimentaler Reise an den Stäben seines Käfigs rüttelt und jammert: »Ich kann nicht heraus! Ich kann nicht heraus!«
Um die alten Leute in der
Heimat nicht zu beunruhigen, hatte er immer an sie gemeldet, daß es ihm gut, sehr gut gehe, daß er nach seinem Wunsche in einer großen Stadt unter vielen Menschen und in einem vornehmen Hause lebe und dergleichen mehr. Aber es ging ihm nicht gut! Er konnte nicht heraus aus dem verzauberten Kreis, den das Schicksal um ihn hergezogen hatte. Er fühlte, daß die Zeit nicht fern sei, wo er Moses Freudenstein hassen, wo er Franziska Götz – lieben werde, und er befand sich auf einer
ewigen Flucht vor seinen eigenen Gedanken. Es ging dem armen Hans Unwirrsch gar nicht gut.
Der Sommer war frostig und regnicht, eine mit dem Doktor Stein verabredete Badereise wurde von der Familie aufgegeben; man blieb zu Hause, um grämlich und langweilig auf den triefenden, tröpfelnden Park und die kotigen Spazierwege hinauszusehen oder um mit Theophile, dem Professor Blüthemüller und einer langen Reihe ähnlicher Bekannten und Freunde beiderlei Geschlechts die Tage in gewohnter,
winterlicher Weise hinzubringen. Kleophea wäre ohne den Doktor Theophile in einem solchen Sommer verloren gewesen; sie würde erst ihre Mama, dann den holden Aimé und zuletzt sich selbst umgebracht haben. Theophile aber erzählte ihr jetzt, wenn die Mama nicht anwesend war, Pariser Geschichten und erhielt sie sowie die beiden lieben Angehörigen dadurch am Leben.
Unter den strengen Augen der Geheimen Rätin unterrichtete der Hauslehrer nach wie vor den Sohn des Hauses und duldete
schrecklich. Er fing allmählich an, auch körperlich sich unwohl zu fühlen, litt an Schwindel und Kopfweh und wurde von Tag zu Tag mehr zum Hypochonder. Er litt am Herzen und wußte es, aber mehr und mehr bildete er sich auch ein, an der Lunge zu leiden, fragte jedoch wenig danach. Er hatte keinen Hunger mehr nach irgendeinem Dinge; nur dem Fränzchen hätte er sein ganzes Herz klar darlegen mögen, und dann – dann? Einerlei! Der Tod war ja Ruhe, und Ruhe, Ruhe wünschte sich Johannes Unwirrsch,
den Moses Freudenstein den »Hungerpastor« genannt hatte.
Es war ein Sonnabendnachmittag in den letzten Tagen des Augusts, und es hatte wieder einmal vom frühesten Morgen an unaufhörlich geregnet.
Am Fenster seines Stübchens saß Hans, dessen Kopfweh heute heftiger als gewöhnlich war und der Gott dankte, daß er heute keine Lektionen mehr zu geben hatte. Der Zögling befand sich im Zimmer der Mutter und zerfetzte zu den Füßen des Doktor Stein ein schönes Bilderbuch, welches
dieser Herr ihm mitgebracht hatte. Der Doktor Stein hatte für Aimé sehr häufig irgendein Spielzeug oder dergleichen in der Tasche; er wußte, daß es in der Diplomatie nichts Großes und nichts Kleines gibt.
An diesem Sonnabendnachmittag, an welchem Kleophea Götz trotz der geistreichen Unterhaltung Theophiles mürrisch war und blieb, an diesem Tage, an welchem der Kandidat Unwirrsch von seiner baldigen Auflösung fest überzeugt war, an welchem es nicht nur draußen, sondern bis tief in
seine Seele hinein regnete, an diesem Sonnabendnachmittag erhielt der Kandidat Unwirrsch von der Post ein Paket aus Neustadt, künstlich geschnürt und nicht nur mit Siegellack, sondern auch zu größerer Vorsicht mit Pech verpicht, ein Paket, das Jean mit Ekel und Verachtung auf den nächsten Stuhl neben der Tür fallen ließ.
In diesem Paket befanden sich ein Paar neuer Stiefel von Rindshaut, ein Schächtelchen mit halbwelken Blumen, ein Brief von der Base Schlotterbeck und ein Brief von
dem Oheim Nikolaus Grünebaum.
Des Oheims Schreiben aber ging folgendermaßen seinen Weg:
»Hochzuverehrender Nevö,
insbesonderegeliebter Herr Theologus Kantidatiä,
Studio und Hauspräzeptor, Wohlgeboren!
Insbesondere von wegen dem nassen Sommer, das ewige Geregne, dem Dreck und die verwandtschaftliche Liebe und Affektion übersende ich ein Paar Stiebeln mit doppelte Sohlen und dem Wunsch, daß sie mit Gesundheit verrissen werden möchten. Lieber Hans! Es freut mich sehr, zu vernehmen, daß Du noch bei Kräften bist, und ich danke
für die gütigst zum Präsent geschickte Weste und Dabacksbeutel mits Porträt vom Mohrenkönig. Mir gehts hundeübel und elend, man wird älter mit jedem Tage, der Magen will nicht mehr fort, und die Augen sind auch nichts mehr wert, und auf der Brille habe ich mir vorgestern hingesetzt, weswegen ich von wegen diesem Brief um Verzeihung bitte, wenn er nicht zu lesen sein sollte. Dein Vater hats ganz recht gemacht, daß er früh abgefahren ist aus diesem Jammertal. Was will der Mensch drin, wenn er sich
den letzten Zahn an seiner trockenen Brotrinde ausgebissen hat und der Podagra in seine Zehen murxst, welches mich darauf bringt, daß der Nachbar Murx auch erlöst ist, und ich habe sein Spanisches erstanden in der Auktion. Lieber Hans, sonsten gehts gut und wir sind ganz fidel, aber der alte Bieräugel im Roten Bock hats Geschäft abgegeben an seinen Sohn, so das Haus verputzt hat innerlich und auswendig und Dapeten eingeklebt hat und Bilder in goldem Rahmen aufgehängt hat undn großen Spiegel,
weswegen das Bier schandhaft und die Gemütlichkeit zum Henker ist und der Alte aus natürlichem Kummer mitn Strick in die Tasche umgeht und sich nachm passenden und haltenden Nagel für sich umsieht. So sind wir in die Traube gezogen, aber das ist aus die Gewohnheit und dem Wege, und wenn man alt geworden ist, so bleibt man am liebsten beis Gewohnte. Mit die Politik ists auch das alte nicht mehr. Da müßte man ja den Postkurier mitn französischen Wörterbuch verstudieren! bitt ich Dir! Wars mir aber
doch sehre angenehm, Deine Ansicht von denen Konstitutionen zu vernehmen, so sie uns versprochen haben für den vielen Kontributionen, so sie uns in die Befreiungskriege aus die Nase gezogen haben, und halten nun nicht Wort. Ich bleib aber derbei, der Deibel nimmt die Graden und die Ungraden, und, lieber Hans, was nun die Base Schlotterbeck anbetrifft, so hat sie immerdar noch ihre Tücken, Schrullen und Spitzfindigkeiten, aber missen möcht ich ihr doch um keinen Preis in die Welt. Eine Perschon
ist sie, und im Sack hat sie mir, aber wenn sie mir stramm hält, so hält sie mir doch auch warm, und ich wüßte nicht, was ich ohne ihr anfangen sollte hier in Neustadt. Das istn gefährlich Ding, ihr vor die Haustür zu kommen, wenn sie sie schonsten verriegelt hat und im Bett ist. Gnade Gott – der Schnabel ist ihr dann nicht zugewachsen, und man möchte gewißlich wohl lieber als einer von ihre Geister denn in Fleisch und Blut anklopfen und ihr die Treppe herunterkommen hören.
Lieber Hans, der Hauszins so Du uns in Güte lassest in unsere Gebrechlichkeit, geht noch immer druff, aber wir wollen Dir die Lujedors aus die ewige Seligkeit überschicken, wenn sie uns hereingelassen haben. Du kannst Dir darauf verlassen! Wir haben es uns ganz feste vorgenommen.
Die Stiebeln sind mit Schenie gearbeitet und haltbar, wenn Deine Brinzipalität Dir darin trapsen hört, sage nur dreiste, Dein Oheim Niklas Grünebaum sei der Mann zu so was, und damit Gott befohlen.
Lebe wohl und grüße bald von Dir Deinen alten betrübten Oheim
Niklas Grünebaum.«
Der Brief der Base Schlotterbeck lautete:
»Lieber Sohn!
Wenn ich nur wüßte, was Dir wäre und wie Dir zu helfen wäre! Du schreibest zwar, es ginge Dir recht gut, und schickst mir aus gutem Herzen eine warme Jacke für den Winter; aber dem ist nicht so, es geht Dir nicht zum besten. Das mit dem Moses Freudenstein, daß er ein Christ geworden ist und seinen
Namen umverändert hat und soviel in Eurem Haus ein und aus gehet, solches will mir nicht in den Sinn. Es gefällt mir gar nicht, und die alte Esther, die auch in ihrem Elend noch lebt, ist gestern abend vor mein Fenster gehumpelt gekommen und hat angeklopft und sich schlimm gehabt und gesagt, der Moses sei ein böser Mensch und es gehe nicht gut mit ihm aus. Sein Vater sei um seinetwillen gestorben und er sei ein schlechter Mensch und sie habe es nie geglaubt, daß es also sei, bis zum Tode des
alten Samuel. Sie hat gebeten, ich möge Dich warnen vorm Moses und seinen glatten Worten, er sei ein falscher Mensch bis in das Mark von seine Knochen.
O lieber Sohn, Du weißt, es kommen auch noch andere Leute vor mein Fenster oder ich begegne ihnen in den Gassen oder sie stehen vor den Häusern und sehen aus, als warteten sie auf jemanden, wo denn einer im Haus von ihrer Familie sterbet und zu ihnen kommt. Deine Mutter und Dein Vater sind oft dagewesen in der letzten Zeit und haben
sehr betrübt ausgesehen und mit den Köpfen geschüttelt. Da weiß ich nun, daß es schlecht um Dich steht, und gräme mich, weil ich nicht weiß, wo es Dir fehlt. Bitt Dich also von Herzen, lieber Johannes, Du wolltest Dich recht fest stellen gegen alle Anfechtungen und den Moses keine Macht über Dich gewinnen lassen, trotzdem Ihr so gute Freunde gewesen seid in Euerer Jugend. Der Herr Professor Fackler, der jetzt recht alt und kümmerlich wird und seine Eugenie hat gefreit, aber die andere ist noch
zu haben, hat dasselbe gesagt. Er hat noch darzugewelscht in lateinischer Sprache, aber ich habe nur das Deutsch verstanden, und er hat den Moses auch nicht recht leiden können, da er ihn noch unter der Rute hatte, und Du solltest ihm aus dem Wege gehen.
Es regnet hier dieses Jahr sehre, und bitte Dich, Du mögest mir schreiben, ob das bei Euch auch so ist. Aber ich habe keine Langeweile, wenn ich am Fenster sitze und denke an die alte Zeit und wie das Leben hingeht und wie wir
zusammen auf dem Christmarkt saßen. Mit Deines Oheims Arbeit hats nie viel auf sich gehabt und jetzt noch weniger, aber ich komme schon aus mit dem Mann, und je älter er wird, desto stiller sitzt der Mensch, und Selbsten der Niklas Grünebaum. Nun denk ich mir auch, wen Du wohl heiraten wirst, wenn Du erst ein Pastore bist, ich möchte sie wohl noch sehen, die junge Frau. Der Maurer zahlt die Miete schlecht, denn es geht ihm schlecht bei das nasse Wetter. Wir behelfen uns, wie es geht. Lieber Sohn
Johannes, Geld kann ich Dir nicht schicken von Deinem Eigentum, aber ich schicke Dir einen Strauß von Deiner Eltern Grabstelle. Ich habe sie im Regen gepflückt, und das wird sie wohl frisch halten auf dem langen Wege. Es ist wunderlich doch, die Blumen fahren so weit, und noch gar auf der Eisenbahn, und ich sitze und kann nur die Gedanken fahren lassen Dir entgegen. Meister Grünebaum möchte auch wohl die Eisenbahn sehen, aber wenn sie nicht zu uns kommt, so wirds ein übel Ding darum sein. Lieber
Sohn Johannes, schreibe mir bald, und wenn der Moses Freudenstein mit dem fremden Namen darnach fragt, was sie in Neustadt von ihm denken, so sage ihm nur gradheraus, was ich Dir geschrieben habe, und Du, lieber Sohn, hüte Dich vor ihm und gedenke an Deine getreue Base Schlotterbeck.
Nachschrift: Des Oheims Stiebeln trage nur ja bei dem feuchten Wetter, sie mögen wohl schon einen Schnupfen und sonstige Verkühlungen abhalten.
Nicht zu vergessen, empfiehl mich Deiner
Herrschaft und sage ihnen, ich machte ihr mein Kompliment und sie möchten aus gutem Herzen für Dich sorgen, da Du eine Waise bist und immer nicht selber auf Dich achtgibst. Sei nochmalen gegrüßt von
Deiner Base.«
Die beiden Briefe waren im Original nicht so leicht zu lesen, wie sie hier im Druck erscheinen. Nicht alle Buchstaben drin standen auf der rechten Stelle, und nicht jedem Worte sah mans an, was es bedeuten sollte. Die Korrespondenten hatten jeden Klecks,
der ihnen »passiert« war, zierlich mit dem Zeigefinger ausgewischt und dadurch freilich den Text nicht deutlicher gemacht. Die Buchstaben lagen durcheinander wie ein Wald, in welchem der Orkan gehaust hatte; es war keine Kleinigkeit, sich durch diese Wildnis zu arbeiten, noch dazu wenn man körperlich unwohl war und durch manchen Passus der Briefe tief gerührt und bewegt wurde. Als Hans endlich den Kopf wiederaufrichtete, war es ihm dunkel vor den Augen, und die herankommende Dämmerung trug nicht
die Schuld allein davon. Eigentümliche Lichter zuckten durch den grauen Schleier, der vor den Augen des Kandidaten lag; er mußte den Kopf mit beiden Händen fassen, es war ihm, als wolle er zerspringen, und dumpf dröhnte es vor seinen Ohren, als werde dicht neben ihm eine große Glocke angezogen. Er wollte sich aufraffen, um das Fenster zu öffnen, vermochte es aber nicht; – er war ernstlich krank, so krank, daß sich alle übeln Gefühle in das tote Nichts der Bewußtlosigkeit auflösten, um dann
in das geisterhafte, grausame Spiel des Phantasierens überzugehen.
Hans Unwirrsch hatte eine Gehirnentzündung und war in der Tat während mehrerer Tage dem Tode nahe genug; aber er hatte auch Visionen während dieser Krankheit, die nicht zu teuer durch alle Schmerzen, die er dulden mußte, erkauft wurden.
Der Herrin des Hauses war dieser Zufall, welcher den Hauslehrer betraf, natürlich im höchsten Grade unangenehm und unbehaglich. Sie fühlte sich im Grunde ihrer Seele nicht
verpflichtet, diesen fremden Menschen mit solcher gefährlichen Krankheit im Hause zu behalten. Aber unangenehm wars ihr anderseits der Welt wegen, von ihren innersten Gefühlen Gebrauch zu machen und ihn aus der Tür zu werfen und nach dem Krankenhause bringen zu lassen. Sie hatte einen Charakter zu bewahren, und sie war eine fromme Dame. Sie mußte also zulassen, was sie nicht ändern konnte, und fand wiederum eine große Hilfe an dem Doktor Theophilus Stein, der sich bereit erklärte, den Kranken
unter seine besondere Obhut zu nehmen und in betreff seiner alles Nötige zu besorgen.
Der Doktor Theophilus Stein gehörte zu den Visionen Hans Unwirrschs!
Es war am zweiten Tage nach dem Ausbruch des Fiebers, als sich Theophilus am Bett des kranken Jugendgenossen allein befand – allein und unbeachtet, wie er glaubte. Er war draußen auf dem Gange mit einer spöttischen Verbeugung an Franziska Götz vorübergeschlüpft und beugte sich nun über das Lager
des Kandidaten. Auf Wunsch der Geheimen Rätin war er gekommen, um nachzusehen, »was der junge Mann mache.«
Wirr sah es in dem Geiste Hans Unwirrschs aus. Von seltsamen lichten Augenblicken wurden seine Phantasien unterbrochen; Dunkelheit, Dämmerung und Licht, Wirklichkeit und Traum wechselten fortwährend. Die beiden Briefe aus der Heimat, bei deren Lesung die Krankheit ihre giftige Hand auf sein Haupt gelegt hatte, hatten das Ihrige getan, seine Seele mit den Bildern der Vergangenheit
zu füllen, obgleich das kaum noch nötig war. Der Brief der Base hatte die geistigen Qualen der letzten Zeit mit der körperlichen Not in wahrhaft schrecklicher Weise durcheinandergewühlt; – Theophile aber glaubte sich allein und unbeachtet.
Er hatte den Arzt zu dem Kranken hinauf begleitet; der Arzt hatte bedenklich den Kopf geschüttelt, ein neues Rezept geschrieben und war gegangen. Theophile war geblieben, obgleich er eigentlich keinen Grund dazu hatte. Nachdem er einen
Augenblick dem Kranken in die fieberglühenden Augen geblickt hatte, wandte er sich ab und sah sich mit einem mitleidigen Lächeln im Zimmer um. Er war sehr neugierig, wie wir wissen, und schnüffelte gern um und in anderer Leute Sachen und Angelegenheiten, wenn es ohne Schaden und Unannehmlichkeiten geschehen oder gar Nutzen bringen konnte. Die Sachen und Angelegenheiten des Kandidaten Unwirrsch hatten für ihn natürlich noch ein besonderes Interesse.
So musterte er denn die kleine
Bibliothek, zog das eine oder das andere Buch hervor, warf einen Blick hinein, lächelte und stellte es wieder an seine Stelle. Er hielt es nicht unter seiner Würde, in den Kleiderschrank zu gucken; – zuletzt wandte er sich zu dem Schreibtisch.
Wir haben erzählt, wie Hans von der Krankheit überrascht wurde; – Theophile hielt es für keine Indiskretion, in Schubladen zu schauen, welche offenstanden, und in Briefe, welche geöffnet dalagen. Er hob den welken Blumenstrauß, den
die Base Schlotterbeck auf den Gräbern von Anton und Christine Unwirrsch gepflückt hatte, an die Nase und warf ihn dann mit Verachtung wieder hin. Er fand den Brief des biedern Oheims Grünebaum und studierte ihn mit Behagen. Dann nahm er das Schreiben der Base auf; – er fühlte sich angenehm gerührt und gekitzelt durch diese Laute aus jener längst abgetanen Welt und zog einen Stuhl an den Tisch, um sich seinen gemütlichen Empfindungen mit Bequemlichkeit hingeben zu können. Er gähnte, als er
den Brief der Base öffnete; aber er schloß den Mund gleich darauf, nachdem er die ersten Zeilen entziffert hatte. Schnell drehte er sich nach dem Kranken um und erhob sich halb vom Stuhl, den Brief in der Hand zusammenknitternd. Hans Unwirrsch stöhnte tief, aber er lag jetzt mit geschlossenen Augen, Theophile konnte seine Lektüre ungestört beendigen.
Er las, biß sich auf die Unterlippe und lachte; er sah nicht, daß der Jugendfreund die Augen von neuem geöffnet hatte und ihn mit dem
starren, unheimlichen Blick des Fiebers anstarrte.
»Wie toll! Wie närrisch! Wie albern!« sagte Theophile, das Schreiben mit Bedacht wieder glättend.
»Lächerlich originell!« sagte er, die Arme auf der Brust kreuzend. »Aber der Tölpel könnte endlich doch unbequem werden, es wird das beste sein, ihn aus dem Hause zu schaffen. Wir wollen sehen; – nimm dich in acht, liebster Hans; jedes Übermaß muß gefährlich werden, selbst ein Übermaß von Gemüt.«
Er stand auf
und schob den Stuhl ziemlich heftig zurück. Wieder trat er an das Bett des Kranken. So völlig geistig gebunden glaubte er den armen Hans, daß er es für gänzlich unnötig hielt, sich irgendeinen Zwang aufzulegen; aber er irrte sich: Hans sah klar, ganz klar, erschrecklich klar. Zwischen Sein und Nichtsein, Bewußtsein und Bewußtlosigkeit kam ihm die Erkenntnis gleich einem Blitz. Er sah die Augen des Mannes, der vor ihm stand, leuchten wie die eines bösen Geistes, der sich an einem Unglück weidet.
Die ganze Herzlosigkeit dessen, den er einst seinen Freund nannte, offenbarte sich in diesen Augen, diesem Lächeln. Hans Unwirrsch fühlte zum erstenmal in seinem Leben, was der Haß sei; er haßte die schlüpfrige, ewig wechselnde Kreatur, die sich einst Moses Freudenstein nannte, von diesem Augenblick an mit ganzer Seele. Er hätte laut aufschreien mögen, aber seine Zunge war nicht in seiner Gewalt; er hätte aufspringen mögen, um diesen Moses Freudenstein mit den Fäusten und Zähnen zu
packen, allein, sein armer Körper war eine bewegungslose Masse, über die er keine Macht hatte. Aber mit dem Auge konnte er ihn erreichen! – Theophile Stein fuhr zusammen und zurück; er lächelte nicht mehr; – Johannes Unwirrsch versank abermals in die Phantasien des Fiebers, doch die Gewißheit nahm er in sie mit hinüber, daß er sich einen unversöhnlichen Feind erworben hatte.
Als er von neuem aufwachte, war manch ein Tag vergangen. Zwei andere Gesichter und Gestalten sah er
neben seinem Schmerzenslager. Zu Füßen des Bettes saß der Geheime Rat Götz, gelblichbleich, müde und kummervoll, ganz ohne Mechanik, aber als ein gebeugter Mann, der teilnehmen konnte an fremden Elend! Und neben ihm – neben ihm, mit der Hand auf seiner Schulter stand – Franziska – das Fränzchen, mitleidig und mild und mit Tränen in den Augen, des Leutnants Rudolf liebliches Fränzchen!
Und dieses Fränzchen hatte keine Ahnung davon, wie scharf der Kranke auch in
diesem Augenblick sah. Es war doch sonst so ziemlich Herrin über seine Gesichtszüge, zum Beispiel der Herrin des Hauses gegenüber bei manchen bösen Gelegenheiten; aber in dieser Stunde gab es sich nicht die geringste Mühe, sie zu beherrschen.
Es erschrak auch sehr, das Fränzchen, und errötete tief, als es plötzlich bemerkte, daß Hans Unwirrsch wache und sehe. Hans mußte die Augen schließen, und als er sie wieder öffnete – er konnte die Zeit nicht recht
angeben –, waren auch diese beiden Gestalten nicht mehr da. Sie hatten der alten, rohen Wärterin aus dem Hospital Platz gemacht; aber es schadete nichts.
Die Sonne war aufgegangen in Hans Unwirrschs Seele; er wußte; daß er nicht sterben werde, und er wußte ein noch viel Wichtigeres: er hatte erkannt, weshalb der vagabundierende Bettelleutnant Rudolf Götz ihn in dieses Haus, in so großes Ärgernis und unbehagliches Wesen gebracht hatte!
Nach allen Seiten hin nahmen die
bösen Geister die Flucht. Segen über den Leutnant Rudolf Götz! Gottes Segen über des Leutnants Fränzchen! Es war großer Jubel in der hungrigen Seele des Kandidaten Johannes Unwirrsch, und es schadete auch nichts, daß ihm noch einmal die Sinne vergingen; es war alles gut.
Die Fieberphantasien wiederholten sich nicht; es kamen die Tage der Genesung. Weder Franziska noch der Doktor Theophile Stein zeigten sich ferner in dem Zimmer des Kranken; aber der Geheime Rat Götz zeigte sich
öfters, und zwar von einer sehr guten Seite. Er war an dem Bette seines kranken Hausgenossen ein ganz anderer Mensch als in seiner Studierstube oder gar in den Gemächern seiner Gemahlin. Hans, der geglaubt hatte, das Haus und seine Bewohner durch und durch zu kennen, erfuhr erst durch seine Krankheit, daß ihm doch noch manches da verborgen geblieben sei.
O über die einsamen, nachdenklichen, grübelnden Stunden der Genesung!
Es kam der Tag, an welchem der Herr Hauslehrer,
sehr hager und etwas schwindelig, die Treppe wieder hinab in den Salon stieg, um der gnädigen Frau und Kleophea für alle bewiesene Güte seinen Dank abzustatten. Diese Sache war sehr schnell abgetan. Ein paar kalte Worte der Geheimen Rätin, einige Anspielungen auf die vielen Unannehmlichkeiten, welche durch diesen »accident« im Hauswesen hervorgerufen worden waren – und das in dieser Beziehung Nötige war besprochen! Kleophea sagte gar nichts; Aimé aber schien das Wiedererscheinen seines
Lehrers für eine persönliche Beleidigung zu nehmen.
Am folgenden Tage hatte die gnädige Frau eine zweite Unterredung mit dem Kandidaten und drückte den Wunsch aus, bis zum Tage des Heiligen Christfestes das bestehende Verhältnis zu lösen. Sie sprach ihre Meinung dahin aus, daß sie die Einwirkung des Herrn Kandidaten auf ihren Sohn für nicht allzu segensreich erachten könne, und dagegen konnte Hans nicht das geringste einwenden. Betäubt wankte er in sein Zimmer hinauf und
murmelte nur den Namen:
»Franziska!«