Frei Lesen: Der Hungerpastor

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Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor

Drittes Kapitel

eingestellt: 21.7.2007



Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch war in seinem fünften Jahre ein kleiner, plumper Gesell in einer Hose, welche auf Wachstum berechnet und zugeschnitten worden war. Er sah aus blaugrauen Augen fröhlich in die Welt und die Kröppelstraße, seine Nase hatte bis jetzt noch nichts Charakteristisches, sein Mund versprach sehr groß zu werden und hielt sein Versprechen. Das gelbe Haar des Jungen kräuselte sich natürlich und war das Hübscheste an ihm. Er hatte in jeder Beziehung einen ausgezeichneten Magen, wie alle die Leute, welche viel Hunger in ihrem Leben dulden sollen; er wurde mit dem größten Stück Schwarzbrot und dem vollsten Suppenteller fast noch leichter und schneller fertig als mit dem Abc. Von den beiden Weibern, der Mutter und der Base, wurde er natürlich sehr verzogen und als Kronprinz, Heros und Weltwunder behandelt und verehrt, so daß es ein Glück war, als der Staat sich ins Mittel legte und ihn für schulpflichtig erklärte. Hans setzte den Fuß auf die unterste Stufe der Leiter, welche an dem fruchtreichen Baum der Erkenntnis lehnt; die Armenschule tat sich vor ihm auf, und Silberlöffel, der Armenschullehrer, versprach an ihrer Tür der Base, daß das »Herzenskind« weder von ihm selber noch von den Rangen, die seiner Zucht untergeben waren, totgeschlagen werden solle.

Mit dem Schürzenzipfel vor dem Auge zog die Base ab und tröstete sich erst, als ihr am Brunnen der Pastor Primarius Holzapfel, der im Jahr achtzehnhundertfünfzehn gestorben war, in seinem schwarzen Predigerrock mit Halskrause und Bibel begegnete. Die Base hatte den Pastor und seine Eltern sehr gut gekannt. Der Vater war ein Holzhauer gewesen, und die Mutter war im Spital zum Heiligen Geist gestorben; der Pastor Primarius aber, von dessen Ruhm und Preis die Stadt noch voll war, hatte auf demselben Platz in der Armenschule gesessen, zu welchem Silberlöffel den kleinen Hans führte.

In einem dunkeln Sackgäßchen, in einem einstöckigen Gebäude, welches einst als Spritzenhaus diente, hatte die Kommune die Schule für ihre Armen eingerichtet, nachdem sie sich so lange als möglich geweigert hatte, überhaupt ein Lokal zu so überflüssigem Zweck herzugeben. Es war ein feuchtes Loch; fast zu jeder Jahreszeit lief das Wasser von den Wänden; Schwämme und Pilze wuchsen in den Ecken und unter dem Pult des Lehrers. Klebrignaß waren die Tische und Bänke, die während der Ferien stets mit einem leichten Schimmelanflug überzogen wurden. Von den Fenstern wollen wir lieber nicht reden; es war kein Wunder, wenn sich auch in ihrer Nähe die interessantesten Schwammformationen bildeten. Ein Wunder war es auch nicht, wenn sich in den Händen und Füßen des Lehrers die allerschönsten Gichtknoten und in seiner Lunge die prachtvollsten Tuberkeln bildeten. Es war kein Wunder, wenn zeitweise die halbe Schule am Fieber krank lag. Hätte die Kommune auf jedes Kindergrab, welches durch ihre Schuld auf dem Kirchhof geschaufelt wurde, ein Marmordenkmal setzen müssen, so würde sie sehr bald für ein anderes Schullokal gesorgt haben.

Karl Silberlöffel, unterschrieb sich der Lehrer auf den Quittungen für die stupenden Geldsummen, welche ihm der Staat quatemberweise auszahlte. Ach, der Arme führte seinen Namen nur der Ironie wegen; er war nicht mit einem silbernen Löffel im Munde geboren worden. Er hätte dem Kultusministerium viel Stoff zum Nachdenken geben müssen, wenn nicht die verehrliche und hochlöbliche Behörde durch Wichtigeres abgezogen gewesen wäre. Wie kann sich die hohe Behörde um den Lehrer Silberlöffel bekümmern, wenn die Frage, welches Minimum von Wissen den untern Schichten der Gesellschaft ohne Schaden und Unbequemlichkeit für die höchsten gestattet werden könne, noch immer nicht gelöst ist? Noch lange Zeit werden die mit der Lösung dieser Frage beauftragten Herren die Volkslehrer als ihre Feinde betrachten und es als eine höchst abgeschmackte und lächerliche Forderung auffassen, wenn böswillige, revolutionäre Idealisten verlangen, auch ein hohes Ministerium möge seinen Feinden Gutes tun und sie zum wenigsten anständig kleiden und notdürftig füttern. O du gute alte Zeit, wo die Menschheit noch aus der Hand des einen Unteroffiziers in die des andern überging! O du gute alte Zeit, wo nicht allein die Armee unter dem Korporalstock stand!

Der Hungerpastor hat später noch einmal so gern seinen Schulmeister in Grunzenow zu seinem Sonntagsbraten, seiner Martinsgans und seinem Weihnachtspunsch eingeladen, wenn er sich seiner ersten Schultage und des Armenlehrers Silberlöffel erinnerte. Er hatte auch nichts dagegen, wenn der Schulmeister an der Ostsee einen Teil der guten, nahrhaften Dinge für seine sieben Buben daheim einsäckelte; er brachte ihm selbst die alte Zeitung dazu und half die Tüte in die enge Rocktasche zwängen.

In dem Spritzenhause zu Neustadt saßen rechts die Mädchen, links die Knaben. Zwischen diesen beiden Abteilungen lief ein Gang von der Tür zum Pult des Lehrers, und in diesem Gang hustete Silberlöffel auf und ab, ohne daß es irgendeinen in der jugendlichen Schar rührte. Lang, sehr lang war der Arme; hager, sehr hager war er; sehr melancholisch sah er aus, und das mit Recht. Ein anderer an seiner Stelle hätte sich in dem feuchten, kalten Räume munter und warm geprügelt; aber selbst dazu war er nicht mehr imstande. Seine schwachen Versuche in dieser Hinsicht galten nur für gute Spaße; seine Autorität stand unter Null. Ein herzzerreißender Vorwurf für alle Wohlgekleideten war der Anzug dieses verdienstvollen Mannes; der Hut führte mit seinem Besitzer eine wahre Tragödie auf. Zwischen beiden handelte es sich darum, wer den andern überdauern werde, und der Hut schien zu wissen, daß er gewinnen müsse. Ein diabolischer Hohn grinste aus seinen Beulen und Schrammen. Das Scheusal wußte, daß es auch noch den Nachfolger des armen, schwindsüchtigen Mannes überleben könne; es machte sich nicht das geringste aus dem Schimmel und Schwamm des Spritzenhauses.

Hans Unwirrsch trat mit keineswegs sentimentalen Gefühlen in die Gemeinschaft und das Gewimmel der Armenschule. Nachdem die erste Verblüffung und Blödigkeit überwunden war, nachdem er sich halbwegs hereingefunden hatte, zeigte er sich nicht besser als jeder andere Schlingel und nahm nach besten Kräften teil an allen Leiden und Freuden dieser preiswürdigen Staatseinrichtung. Er orientierte sich bald. Die Freunde und Feinde unter den Knaben waren schnell herausgefunden; gleichgeartete Gemüter schlossen sich an ihn, entgegenstehende Naturen suchten ihn an den Haaren aus seiner Weltanschauungsweise herauszuziehen, und im Einzelkampf wie in der allgemeinen Prügelei kam manches Leid über ihn, welches er aber als anständiger Junge ertrug, ohne sich hinter dem Lehrer zu verkriechen. Als anständiger Junge hatte er in dieser Lebensepoche gegen das weibliche Geschlecht auf den Bänken zur Rechten des Ganges im allgemeinen eine heilsame Idiosynkrasie. Er klebte den Mädchen gern Pech auf ihre Plätze und knüpfte ihnen gern paarweise verstohlen die Zöpfe zusammen; er verachtete sie höchlichst als untergeordnete Geschöpfe, die sich nur durch Geschrei wehrten und durch welche der Lehrer mehr über die linke Hälfte seiner Schule erfuhr, als den Buben lieb war. Von ritterlichen Regungen und Gefühlen fand sich anfangs in seiner Brust keine Spur, doch die Zeit, wo es in dieser Hinsicht anfing zu dämmern, war nicht fern, und bald machte wenigstens ein kleines Geschöpfchen von der andern Seite der Schule her seinen Einfluß auf Hans Unwirrsch geltend. Es kam die Zeit, wo er eine kleine Mitschülerin nicht weinen sehen konnte und wo er einen unbestimmten Hunger empfand, der nicht auf die großen Butterbrote und Kuchenstücke der benachbarten Straßenjugend gerichtet war; doch für jetzt steckte er frech die Hände in die Taschen der Pumphose, spreizte die Beine voneinander, stellte sich fest auf den Füßen und suchte sich soviel als möglich von der absoluten Herrschaft der Weiber zu befreien. Nicht mehr wie sonst saß er still und artig zu den Füßen der Base Schlotterbeck und horchte andächtig ihren Lehren und Ermahnungen, ihren Märchen und Kalendergeschichten, ihren biblischen Vorlesungen. Zum großen Mißbehagen der guten Alten fing er an, täglich mehr Kritik zu üben. Die Kalendergeschichten wußte er allesamt auswendig; kein Märchen konnte die Base beginnen, ohne daß Hans ihr ins Wort fiel, um Verbesserungen anzubringen oder nichtsnutzige, ironische Fragen zu stellen; gegen ihre guten Ermahnungen rückte er immer mit verwirrenden Einwänden hervor, welche die Base öfters ganz und gar aus der Fassung brachten. Wenn sich die treue Seele nach ihrer Art in einem langatmigen Geschlechtsregister der Bibel verwickelt hatte, so hatte Hans eine wahrhaft diabolische Lust daran und suchte die Arme immer tiefer und hilfloser in das Dornengestrüpp zu treiben, so daß sie oft ganz ärgerlich und giftig das Buch zuklappte und das einstige »kleine Lamm« eine »nichtsnutzige, nasweise Kröte« nannte. Hinter ihrem Rücken spielte er ihr allerlei Possen, ja er entblödete sich nicht, vor einem ausgewählten Publikum der Kröppelstraße, welches mit ihm im gleichen Alter stand, eine Vorstellung zu geben, in der er die Art der Base aufs komische nachäffte. Kurz, Hans Jakob Nikolaus Unwirrsch hatte jetzt eine Lebensstufe erreicht, auf welcher liebende Verwandte ihren hoffnungsvollsten Sprößlingen und jugendlichen Bekannten mit finster-melancholischen Blicken und warnenden Handbewegungen eine düstere Zukunft, den Bettelstab, das Gefängnis, das Zuchthaus und zuletzt, zum angenehmen Beschluß, den schimpflichen Tod am Galgen vorhersagen. Es ist auch in diesem Falle ein Glück, daß Prophezeiungen gewöhnlich nicht in Erfüllung gehen.

Hans zog in dieser Epoche das bewegte Leben der Gasse mit seinen Einzelheiten dem häuslichen Glück, dem stillen, ungestörten Frieden der vier Wände bei weitem vor. O du schöne Zeit der schmutzigen Hände, der blutenden Nasen, der zerrissenen Jacken, der zerzausten Haare! Wehe dem Mann, der dich nicht kennenlernte! Es wäre ihm besser gewesen, er hätte manches andere nicht kennengelernt, welches die liebenden Verwandten und Freunde mit den finster-melancholischen Blicken ihm als sehr löblich, lieblich und rühmlich priesen und empfahlen.

Naturgemäß hielt sich Hans jetzt mehr an den Oheim Grünebaum als an die Mutter und die Base. Der wackere Flickschuster hatte manches, was ein jugendliches Gemüt anziehen konnte. In der Gesellschaft dieses würdigen Mannes wurde dem Neffen selten die Zeit lang.

Sehr schmutzig und vernachlässigt erschien jedem ordentlichen Weibe die Haushaltung und Umgebung des Oheims Grünebaum. In seiner Werkstatt sah es aus, als hätten die Hutzelmännchen nicht wohlwollend, sondern in grimmigster Erzürnung darin gehaust. Ein tolleres Kopfüber-Kopfunter kann man sich nicht leicht vorstellen, und wenn jemand hätte das Suchen lernen wollen, so hätte er hier die beste Gelegenheit dazu gehabt. Der Oheim Grünebaum verbrachte aber auch den größten Teil des Tages und seiner Arbeitszeit im vergeblichen Suchen. Das Gerät, welches er eben brauchte, war fast niemals zu finden, und das Wühlen und Rumoren danach brachte keine größere Ordnung in den Wirrwarr. Dazu schrien, pfiffen und sangen von den Wänden aus großen und kleinen Käfigen Vögel mannigfacher Art; ein Laubfrosch zeigte in seinem Glase am Fenster das Wetter an. Das politische Wetter aber zeigte sich der Meister Grünebaum selber an, indem er sich und seinen Vögeln den Postkurier für Stadt und Land mit lauter Stimme vorlas, was ebenfalls einen ziemlichen Teil seiner Arbeitszeit wegnahm. Der wackere Oheim Grünebaum schusterte nur gerade so eifrig und so lange, als nötig war, um sich und seine Vögel notdürftig zu erhalten und den Postkurier für Stadt und Land halten zu können. Seine Schoppen im Roten Rock ließ er öfter ankreiden, als für einen soliden Bürger und Handwerksmeister sichs eigentlich schickte.

Für den Sohn des seligen Schwagers mangelte es dem guten Mann durchaus nicht an natürlicher Zuneigung. Mit Wohlwollen nahm er ihn auf in seinem verwahrlosten Loche und gab ihm gute Lehren über Welt und Leben, Vogelzucht und Politik nach seiner Art. Wenig verstand Hans von der Weisheit des Postkuriers für Stadt und Land, aber einzelne Namen wie Navarin, Missolunghi, Bozzaris, Ibrahim-Pascha nahm er doch mit offenem Munde in sich auf, und eine große Griechen-und-Türken-Schlacht wurde in der Kröppelstraße geschlagen; blutige Köpfe gabs dabei, und Silberlöffel, der Armenlehrer, mußte viel Anzüglichkeiten darob von Seiten der erzürnten Eltern vernehmen.

Der Oheim Grünebaum war ein gewaltiger Philhellene, aber noch mehr war das der arme Karl Silberlöffel, welcher mit wahrhaft fieberhaftem Interesse dem blutigen Kampfe im fernen Osten folgte. Auch die Base Schlotterbeck war eine große Philhellenin, und in der Kröppelgasse gab es eigentlich nur einen Mann, der Partei für die Türken nahm, weil er die Griechen aus eigener Anschauung und Erfahrung kannte. Dieser Mann war Samuel Freudenstein, der Trödeljude, welcher einst weit genug in der Welt umhergekommen war und welcher von den »Höllönen« fast noch weniger hielt als Jakob Philipp Fallmerayer, der orientalische Fragmentist. Der Trödler behielt aber seine Ansicht für sich und entging somit den mannigfachen Unannehmlichkeiten, welche der treffliche Münchener Gelehrte zu erdulden hatte.

Von dem Oheim Grünebaum wurde Hans übrigens zum ersten Male darauf aufmerksam gemacht, daß man dem Lehrer Silberlöffel wenigstens doch einigen Respekt schuldig sei. Unter meinen männlichen Lesern wird wohl niemand sein, der nicht weiß, was für eine Tyrannei in der Schule von Schulknaben ausgeübt werden kann und ertragen wird, der nicht weiß, was es um die »öffentliche Meinung« unter einer Bande solcher jungen Geister ist. Der Oheim Grünebaum war schuld daran, daß Hans Unwirrsch dieser öffentlichen Meinung in einem Falle die ganze Wucht seiner kleinen Persönlichkeit entgegenwarf und heldenmütig die Folgen davon ertrug. Zwischen Lehrern und Schülern herrscht dasselbe Verhältnis wie im Völkerverkehr. Was auch der Lehrer tun mag, um das Vernunftrecht zur Darstellung zu bringen, seine Schüler stützen sich immer wieder auf das Naturrecht. Ein immerwährender, scharf beobachtender Kriegszustand ist die Folge davon, und nicht immer hat der Lehrer die bessere Hand im Kampf gegen den rücksichtslosen Feind, dem jede Waffe recht ist und der kein Erbarmen kennt. Manch hochbegabte Natur ist schon in solchem Kampfe zugrunde gegangen.

»Hannes«, sagte der Oheim, »wenn ich in deiner Stelle wäre, so machte ich nicht mit die andern so n tagtäglich heillos Spektakulum in der Schule, daß, wenn n Mensch da vorbeigeht, er sich die Ohren zustopfen muß. Mich jammert der Magister in der Seele, und lange leben wird er auch nicht mehr. Die unglückselige, miserable Kreatur hustet sich zu Tode, und ihr gottverlassenen, inkomparabeln Satans brüllt ihn zu Tode. Hier mal vors Brett, Hans, und nicht ausgewichen! Was ist mit der Schule? Bist du mit bei dem Gebrüll und Getrampel und Spietakel? Junge, Junge, in deiner Stelle ginge ich in mir und bedächte, daß, wer n Menschen umbringt, n Mörder ist und daß n toter Mensch einem sehr auf der Seele liegen kann, als was man dann nachher böses Gewissen nennt. Gehe in dich herein, Hannes, und bedenke, daß sich wohl ein Stiebel lange flicken, versohlen und vorschuhen läßt, daß aber noch kein Doktor nen schwindsüchtigen Schulmeister, welchem seine Schlingel also grausam mitspielen wie ihr eurem, den Atem gerettet hat. Der Mensch jammert mich wirklich, und der Deibel nimmt die Graden und Ungraden, also gib Achtung, Hans, daß er dich nicht mit den andern Bälgern in den Sack steckt: das Recht hat er wohl gewiß schon längst dazu.«

Diese Rede machte auf Hans einen größeren Eindruck, als ihm der Oheim anmerkte. In einem günstigen Augenblick hatte dieser geredet, seine Worte waren nicht auf schlechten Boden gefallen und hatten eine bessere Wirkung als alle früheren Ermahnungen. Zum erstenmal dämmerte in der Brust des Kindes ein Gefühl, welches über den Egoismus des Kindes hinausging. Als Hans Unwirrsch am folgenden Morgen seinen Platz in dem Spritzenhause einnahm, sah er den Armenlehrer mit ganz andern Augen an; und da Silberlöffel an diesem kalten, unfreundlichen Regenmorgen noch jammervoller und hungriger als sonst aussah und noch mehr hustete, so erlosch das Gefühl nicht, sondern es wurde stärker – Hans Unwirrsch saß zu erstenmal still in der Schule.

An dem nächsten Komplott nahm Hans nicht teil, verfiel der allgemeinen Verachtung und kriegte fürchterliche Prügel, die ihn jedoch nur in seinen guten Vorsätzen bestärkten. Der Streich wurde natürlich auch ohne ihn ausgeführt und gelang vollkommen. Es war ein Hauptstreich, und die Befriedigung der jungen Taugenichtse und Galgenstricke war groß; der arme Lehrer, dessen Brustschmerzen an diesem Tage noch stärker als gewöhnlich waren, unterlag kraftlos, und der Blick hilfloser Verzweiflung, welchen er über die rebellische Schule schweifen ließ und welcher auch Hans Unwirrsch streifte, wurde von letzterem niemals vergessen; seine Wirkungen reichten bis in das späteste Alter.

Am nächsten Morgen kam der Lehrer nicht in das Spritzenhaus; er sollte es niemals wieder betreten. Ein Blutsturz war in der Nacht über ihn gekommen, und zum Sterben krank lag er auf seinem Bett in seiner schlechten, kalten Stube. Ein anderer nahm seine Stelle an dem Marterpult in der Armenschule ein; Karl Silberlöffel war aufgebraucht worden wie ein Rad in der Maschine. Ein anderes Rad wurde eingesetzt; langsam drehte sich das Ding weiter, und »unsere fortschreitende Bildung und humane Entwicklung« war und blieb das Lieblingsthema manches wohlmeinenden Mannes.

Wenige Leute kümmerten sich um den abgenutzten, sterbenden Armenschullehrer; zu den wenigen aber, welche das Ihrige taten, ihm seine letzten Lebenstage zu erleichtern, gehörten der Oheim Grünebaum und die Base Schlotterbeck. An der Hand der letztern kam Hans Unwirrsch, um seinen Lehrer sterben zu sehen und um zum erstenmal die feierlichen Schauer zu empfinden, die das Nahen des Todes in der Seele des Menschen erregt, auch wenn er noch ein Kind ist.

Der todkranke Mann hielt lange die Hand des Kindes und sah ihm lange und tief in die Augen. Aber in dem Blicke, mit welchem er es ansah, war jetzt nichts mehr von jenem Elend zu finden, welches ihn durch sein dunkles, kurzes Leben unablässig bedrängt und ihm gnadenlos jedes freiere Aufsehen und Aufatmen verwehrt hatte. Matt war jetzt das Auge, aber still und befriedigt war es auch; der Kampf war zu Ende, noch ein Schritt, und das Land der ewigen Freiheit war erreicht. Auf seinem Sterbebette fühlte sich der Armenschullehrer zum erstenmal als ein freier Mann, der sich vor niemand mehr zu neigen und in den Winkel zu drücken brauchte. Der alte, rötliche, diabolische Hut, der hinter der Tür am Nagel hing, hatte freilich das Spiel gewonnen, aber weder er noch ein hochlöbliches Kultusministerium zogen einen großen Vorteil davon. Der eine wurde als Vogelscheuche in ein Kornfeld gestellt, und das andere blieb fürs erste, was es war.

Laut sprechen konnte der Kranke nicht, aber Hans vernahm doch, was er zu ihm sagte, und vergaß es nicht.

»Weine nicht, liebes Kind, und fürchte dich auch nicht! Du bist immer ein guter Junge gewesen und wirst dereinst auch ein guter Mann werden. Großen Hunger jeder Art wirst du auch zu erdulden haben, aber du wirst satt werden, denn endlich wird doch einmal jeder satt . . .«

Das, was der sterbende Herr Silberlöffel damals noch hinzufügte, verstand Hans freilich nicht, und die Base Schlotterbeck wußte auch nicht recht, ob der Kranke bereits in den letzten Todesphantasien liege oder nicht.

Er sagte, während seine Augen sich nach der niedern, schwarzen Decke der Stube richteten:

»Ich bin sehr hungrig gewesen. Hungrig nach Liebe bin ich gewesen und durstig nach Wissen; alles andere war nichts. Goldene Äpfel hängen lockend im Gezweig und schießen ihre Strahlen durch das Grün. Sie blenden so die Augen, die schönen, glänzenden Früchte. Die Hände habe ich ausgestreckt und habe sie mir zerrissen an den Dornen; – viele Tränen habe ich vergießen müssen um den goldenen Glanz im Grün. Im Schatten habe ich gesessen mein ganzes Leben durch, und doch war ich für das Licht geboren. Es ist hart, hart, hart, im Schatten sitzen zu müssen und Hungers zu sterben, während so schöne Augen leuchten in der Welt, während so holdselige Stimmen locken – in der Nähe und, ach, auch aus so weiter, weiter Ferne. Ich habe auch Hunger gehabt nach der Ferne, aber im Schatten mußte ich bleiben, auf einen kleinen Raum im Schatten war ich gebannt. Ein goldener Regen umspielte mich oft, in Schauern fielen die leuchtenden Früchte nieder um mich her und glänzten durchs Grün und durch die Morgen- und Abendröten; mir aber waren die Hände gefesselt, und nichts hatte ich als mein qualvolles Sehnen. Ich habe nichts, nichts erhalten von dem reichen Leben. Nur mein Sehnen ist mir zuteil geworden, und auch das geht nun zu Ende. So wirds dunkel vor den Augen, still vor den Ohren und im Herzen; ich werde satt sein – im Tode.«

Man begrub den Armenschullehrer Silberlöffel einige Tage vor Weihnachten, und die Armenschule unter dem Nachfolger folgte dem Sarge, der nicht mit Silber beschlagen und nicht mit Samt behängt war. Nicht über reinen Schnee, sondern durch ein schmutziges Schlackerwetter trug man den Leichnam und scharrte ihn kurz und gut ein ohne das allergeringste Gepränge. Die Schule zerstreute sich vom Kirchhofe und flatterte auseinander gleich einem Sperlingsschwarm, und auch Hans war mit im Schwarm und fühlte sich nicht viel beklommener als die andern. Der Tod hat doch eigentlich für das Kind keinen Sinn; erst wenn uns das Leben recht zusammengerüttelt und -geschüttelt hat, geht uns das rechte Verständnis dafür auf.

Der Kindheit, der alles noch neu ist, drängt jeder neue Tag den vergangenen in die vollständigste Vergessenheit. Am Morgen nach dem Begräbnis des guten Lehrers spielte Hans Unwirrsch bereits wieder lustig in der Gasse und dachte für jetzt mit keinem Gedanken mehr an den toten Mann. Der Schnee, der gestern gemangelt hatte, war über Nacht reichlichst herabgefallen; es hatte kein Junge in der Stadt Zeit, an etwas anderes zu denken als an den Schnee.

Großes Geschrei war in der Kröppelstraße, und mächtig wuchs der Schneemann zur Lust der jungen Künstlerbande und zum Ärger des misanthropischen pensionierten Stadtbüttels Murx, der wie ein podagrischer Oger in seinem Lehnstuhl am Fenster festgebannt saß und welcher den Lärm und die Lust der lieben Jugend für eine ganz persönliche Beleidigung nahm. Aber der spanische Rohrstock war pensioniert wie sein Herr und hing in grimmiger Unzufriedenheit über dem pensionierten Dreimaster an der Wand.

Unablässig wanderte das Auge des zur Ruhe gesetzten Schützers der öffentlichen Ruhe und Sicherheit zwischen dem Stock und der Straße hin und her, und in der Brust des Vortrefflichen grollte und brummte es wie in einem dem Ausbruch nahen Vulkan: Prometheus, am Kaukasus angeschmiedet, Napoleon auf Sankt Helena fühlten ähnliche Bitternisse wie der Büttel, aber ihr Beispiel tröstete ihn nicht. Lustig ging der Spektakel in der Gasse fort, und nachdem der Schneemann vollendet war, stürzte sich die Bande jugendlicher Missetäter auf Moses Freudenstein, den Sohn des Trödlers, und fing an, ihn zu waschen.

In jenen vergangenen Tagen herrschte – vorzüglich in kleineren Städten und Ortschaften – noch eine Mißachtung der Juden, die man so stark ausgeprägt glücklicherweise heute nicht mehr findet. Die Alten wie die Jungen des Volkes Gottes hatten viel zu dulden von ihren christlichen Nachbarn; unendlich langsam ist das alte, schauerliche Hepphepp, welches so unsägliches Unheil anrichtete, verklungen in der Welt. Vorzüglich waren die Kinder unter den Kindern elend dran, und der kleine, gelbe, kränkliche Moses führte gewiß kein angenehmes Dasein in der Kröppelstraße. Wenn er sich blicken ließ, fiel das junge, nichtsnutzige Volk auf ihn wie das Gevögel auf den Aufstoß. Gestoßen, an den Haaren gezerrt, geschimpft und geschlagen bei jeder Gelegenheit, ließ er sich auch sowenig als möglich draußen blicken und führte eine dunkle, klägliche Existenz in der halbunterirdischen Wohnung seines Vaters.

An diesem Tage aber hatte ihn sein Unstern doch mitten unter seine Peiniger geführt; und man hatte, wie gewöhnlich in solchen Ausnahmefällen, ihn in einen engen Kreis geschlossen. Was fiel dem Judenjungen ein, daß auch er den neuen Schnee sehen wollte? In der Mitte seiner Tyrannen stand Moses Freudenstein und reichte mit verhaltenen Tränen und einem Jammerlächeln die Hand, in welche jeder junge Christ und Germane mit hellem Hohngeschrei hineinspie, in die Runde. Es gab wenige Leute in der Kröppelstraße, die nicht ihren Spaß an solcher infamen Quälerei gefunden hätten. Keiner von den Gaffern in den Haustüren trat dazwischen, um der Erbärmlichkeit ein Ende zu machen. Man lachte, zuckte die Achseln und hetzte wohl gar noch ein wenig; es hatte eben wenig auf sich, wenn der schmutzige Judenjunge ein bißchen in seiner Menschenwürde gekränkt wurde. Hilfe und Rettung sollten für Moses Freudenstein von einer Seite kommen, von woher er sie nicht erwartet hatte.

Hans Unwirrsch hatte bis zu dieser Stunde auch hier mit den Wölfen geheult, und was die andern taten, hatte er leichtsinnig, ohne Erbarmen und ohne Überlegung ebenfalls getan. Jetzt kam die Reihe an ihn, in die offene Hand des heulenden Judenknaben zu speien, und wie ein Blitz durchzuckte es ihn, daß da eben eine große Niederträchtigkeit und Feigheit ausgeübt werde. Es war ihm, als blicke das bleiche Gesicht des Lehrers Silberlöffel, der gestern begraben worden war, ernst und traurig über die Köpfe und Schultern der Buben in den Kreis. Hans spie nicht in die Hand des Moses! Er schlug sie weg und streckte seine Faust den Kameraden entgegen. Wild schrie er, man solle den Moses zufrieden lassen, er – Hans Jakob –- leide es nicht, daß man ihm ferner Leid antue. Die Faust fiel auf die erste Nase, die sich frech näher drängte. Blut floß – ein verwickelter Knäuel! Püffe, Knüffe, Fußtritte, Wehgeheul! Wutgebrüll! Sausende Schneebälle, zerrissene Kappen und Jacken! Exaltierteste Aufregung des pensionierten Stadtbüttels! Elektrisches Erzittern des spanischen Rohres an der Wand! Übereinander und Durcheinander! Untereinander und Zwischeneinander! – Hernieder in den Laden des Trödlers Samuel Freudenstein rollten Moses und Hans, schwindlig, zerschlagen, mit blutenden Mäulern und verschwollenen Augen. Auch Moses Freudenstein hatte zum erstenmal in seinem Leben einen Schlag gegen seine Peiniger zu führen gewagt. Es war eine glorreiche Stunde, und ihr Einfluß auf das Leben von Hans Unwirrsch war unberechenbar im Guten wie im Bösen. Indem er aus dem wilden Gewühl der Gassenschlacht die Stufen in den Trödelladen hinabrollte, fiel er in Verhältnisse, welche unendlich wichtig für ihn werden sollten. In mehr als einer Hinsicht entschied sich sein Schicksal an diesen Tage; eine ganz andere Welt tat sich vor seinen Augen auf. Es wohnten seltsame Leute in dem Keller, Leute, die auch ihren Hunger hatten und ihn nach Kräften zu befriedigen suchten. Leute, über welche die Kröppelstraße sehr mit Unrecht sich erhaben dünkte.

Das nächste Kapitel soll uns zeigen, wer der Trödler Samuel Freudenstein war, dann werden wir bei Gelegenheit wohl auch erfahren, auf welche Weise er seinen Sohn Moses erzog und welche Ansichten von der Welt und von dem Leben in der Welt er ihm beizubringen strebte.

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