Frei Lesen: Der Hungerpastor

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Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor

Dreiunddreissigstes Kapitel

eingestellt: 21.7.2007



Es war der vierundzwanzigste Dezember, und alle die jungen Damen, welche Pantoffeln und Zigarrentaschen und Polster und Kissen für den Rücken gestickt hatten, die Seelen der Männer, der jungen und alten, zu fangen, nach dem Wort des Propheten Ezechiel im dreizehnten Kapitel, Vers siebzehn und achtzehn, waren fertig mit ihrer Arbeit und erwarteten ihrerseits die Dinge, die da kommen sollten. Es warteten sehr viele Leute – große und kleine – auf kommende gute Dinge; – der Himmel war am Morgen und Mittag so blau, wie man es sich nur wünschen mochte, die Sonne bestrahlte glitzernd die weiße Weihnachtswelt und färbte sich erst am Nachmittag blutrot, als sie in den aufsteigenden Nebel hinabsank. Es schien, als ob die Sonne es wisse, daß hunderttausend Christbäume auf ihren Niedergang warteten, und es schien, als ob sie gutmütigfroh ihren Lauf beschleunige. Um fünf Minuten nach vier Uhr war das letzte Stückchen feuriges Gold hinter dem Horizont versunken – der Heilige Abend war da, war endlich gekommen, nachdem sich Millionen Kinderherzen so lange nach ihm gesehnt hatten. Um fünf Uhr läuteten alle Glocken im Lande den morgenden Festtag ein, und die Kuchen waren fertig; es wurde Friede in der Brust auch der scheuereifrigsten Hausfrau. Um sechs Uhr stand jeder festlich geschmückte Tannenbaum in vollem Lichterglanz, und wer noch froh und glücklich sein konnte, der war es gewißlich um diese Stunde, in welcher sich das Himmelreich derer, die da sind wie die Kinder, auch dem trübsten Blick öffnet und das dunkelste Herz hell macht.

Das war ein Reisetag! Das war ein Tag, um der Heimat zuzueilen! Hans Unwirrsch und Fränzchen Götz bedurften keines Zaubermantels, keines übernatürlichen Beförderungsmittels mehr; der Postwagen oder vielmehr Postschlitten, der sie gen Freudenstadt führte, war selber ein zauberhaftes Vehikel, das dreist mit Oberons fliegender Muschel, mit dem fliegenden Koffer der arabischen Märchen, mit dem hölzernen Gaul, auf welchem der Ritter Peter mit dem silbernen Schlüssel und die schöne Magelone ritten, es aufnehmen konnte. Hans hatte sich als der trefflichste Reisemarschall erwiesen, sowohl während der Eisenbahnfahrt als auch am vergangenen Abend im Gasthof zu ***, wo er das Fränzchen unter den besondersten Schutz der vornehmen Frau Wirtin stellte und die freundliche Versicherung erhielt, daß das Fräulein unter keinem Dach in der Welt sicherer und behaglicher schlafen solle. Richtig wurde es ihm am andern Morgen vergnüglich und wohlbehalten überliefert; sie nahmen Abschied von der wackern Frau Wirtin, die dem Fränzchen noch einen Sack mit heißem Sande »der kalten Füße wegen« nach dem Posthofe schickte; sie fanden ihre Plätze auf dem Postschlitten und fuhren hinein in den vierundzwanzigsten Dezember, ohne die Lerchen am klaren, hellblauen Himmel zu vermissen.

Wahrlich war die Post und der Weg nach Freudenstadt verzaubert. Hans Unwirrsch, der doch beides ziemlich genau kennengelernt hatte, erkannte beides nicht wieder. Die Juden schienen bei solcher Kälte nicht zu reisen, und die Passagiere, die unterwegs ein- und ausstiegen, waren mit ihren mannigfaltigen Paketen, Schachteln und Körben in heiterster Weihnachtsstimmung, und der alte joviale Herr, welchem der Hanswurst, der den Enkel am Abend erfreuen sollte, aus der Brusttasche guckte, konnte schon allein die Beschwerlichkeiten der Reise zu einem Spaß machen.

Der Weg war vortrefflich, und kein grober Bauer brauchte mit seinen Gäulen Vorspann zu leisten. Auf der glatten Bahn flog der Schlitten pfeilschnell dahin, und die Postillone wurden nicht müde, ihre Weihnachtsstimmung durch Peitschengeknall und wohlgemeinte Hornmusik kundzugeben. Durch alle Orte, durch welche die Post fuhr, war vor ihr der Weihnachtsmann geschritten, und jedermann sah aus, als ob er ihm so lange als möglich nachgesehen habe. Auch der bösartigste Stallknecht vor den Posthaltereien hatte sein Gesicht zu einem Grinsen verzogen, dessen letzte Ursache nicht etwa in einem extraordinär nobeln Trinkgeld zu suchen war.

An solchem Tage mußten die letzten Gedanken an die trübe Vergangenheit mit ihren Kirchhofskreuzen aus der Brust entweichen. Die reine weiße Decke des Schnees hatte sich über die Gräber gebreitet, und der Sonnenschein glitzerte darauf; – die Toten feierten die ewige Weihnacht jenseits der niedern Hügel und auch jenseits des Sonnenscheins. Anton und Christine Unwirrsch, die Base Schlotterbeck, der Oheim Grünebaum, der Geheime Rat Theodor Götz, Felix Götz und des Fränzchens Mutter hatten nichts dagegen, daß Hans und Fränzchen am Fest der Kinder froh und selig wie Kinder der irdischen Weihnachtsfreude ihre Herzen öffneten.

Da waren die großen Nadelholzwälder und sahen heute ganz anders aus als an jenem dunkeln Tage, an welchem der Kandidat sie zum erstenmal durchfuhr. Das wilde Schwein, das vom Rande des Forstes grunzend in den Schatten zurücktrabte, die Hasen, die komisch eilig über den Schnee hüpften, der Zug Schneegänse, der mit Geschrei über den Wald zog – alles machte einen angenehmen Eindruck auf das Gemüt. Nur vergnüglich wars, heute dem Fränzchen die Stelle zu zeigen, an welcher während der ersten Reise nach Grunzenow der Wagen im Schlamm steckenblieb und wo der erzürnte Vorspannbauer erst den Juden durchprügelte und dann das Wort Gottes, den Kandidaten Hans Unwirrsch, am Kragen nehmen wollte.

Welch ein ander Ding war die Heide im sonnbeglänzten Weihnachtsschnee als die Heide, über welcher der Novembernebel lag! Welch ein ander Ding war die Stadt Freudenstadt am vierundzwanzigsten Dezember als am trüben Tage des Wind- und Reifmonats, an dem der Kandidat Unwirrsch zum erstenmal das Vergnügen hatte, ihren Kirchturm am Horizont auftauchen zu sehen!

Ja, da war die Stadt Freudenstadt wieder, und vor dem Tor stand wachehaltend ein mächtiger Schneemann, und sämtliche versammelte Jugend begrüßte die heranklingelnde Post mit langhallendem Jubelgeschrei. Auch durch das Tor von Freudenstadt war der Weihnachtsmann den Reisenden vorangeschritten, und jedes Gesicht, das hinter den Fenstern der Gasse, durch welche das königliche Posthorn erschallte, erschien und neugierig der Post nachsah, mußte ihn gesehen haben. Da war der Marktplatz von Freudenstadt; – »Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!« blies der Schwager und – hielt mit einem Ruck die Gäule zehn Minuten vor der durch den Postzettel dem Publikum kundgemachten Zeit an; – es war der vierundzwanzigste Dezember.

Hans Unwirrsch hatte keine Zeit, an die merkwürdige Pünktlichkeit der Freudenstädter um zwölf Uhr mittags zu denken und das Fränzchen damit bekannt zu machen.

Wer stand im Schnee vor der Tür der Posthalterei?

Ein Mann, der ganz und gar aussah wie der Weihnachtsmann und jedenfalls ein Vetter oder sonst ein naher Verwandter von ihm war! Ein Mann in hohen Wasserstiefeln, Pelzrock und Pelzmütze. Ein Mann mit Pelzhandschuhen und einer qualmenden, kurzen Tabakspfeife, ein Mann, der beim Anblick des Kandidaten Unwirrsch unzweifelhafte Zeichen ungemeiner Befriedigung und hohen Vergnügens zu erkennen gab, ein Mann, bei dessen Anblick der Kandidat Unwirrsch, die Hand Franziskas fassend, rief:

»Der Herr Oberst von Bullau!«

»Ja, er Selbsten! Hurra, wo ist mich das Wurm? Da ist es? Komm raus, Herzenskind! Komm her, Liebchen! Dies ist unser Fränzchen Götz? Vivat, nochmals und abermals! Gott grüß dir, Liebchen, und sei tausendmal willkommen und – Tausendschwerenot, vom Erdboden stammst du wohl nicht?«

Die letzte Frage war sehr erklärlich; – der Oberst hatte den Schlag des Postschlittens aufgerissen, hatte die junge Dame in die Arme gefaßt, um ihr einen Schmatz zu geben und ihr das Aussteigen zu ersparen. Nun hielt er die leichte Last hoch in den Lüften und verwunderte sich, ehe er sie auf den Boden absetzte, und das Fränzchen sträubte sich gar nicht gegen seine rauhen Liebesbezeugungen.

»Schätzchen, Schätzchen, haben wir dir?« rief der Oberst von Bullau. »Das ist mir mein Christkind. Ein Hurra für den Leutnant Rudolf Götz und sein Fräulein! Schreit mit, ihr Dickköpfe!«

An das versammelte Volk von Freudenstadt war die Aufforderung gerichtet, und das Volk schrie mit.

Der Oberst drückte nun auch dem Kandidaten die Hand, gab ihm einige wohlmeinende, vielsagende Ellenbogenstöße und verkündete, daß der Onkel Rudolf »wohl bis aufs Pedal« sei und mit Grips das Haus Grunzenow auf den Kopf stelle. Er verkündete, daß das Frühstück bereit sei im Polnischen Bock und daß der Schlitten von Grunzenow ebendaselbst warte. Mit ritterlichem Anstand führte er das Fränzchen über den Marktplatz von Freudenstadt, und alle Honoratioren von Freudenstadt gerieten in die größtmöglichste Aufregung über den alten Krieger und das fremde Fräulein. Die seltsamsten Vermutungen wurden darüber angestellt; alle Damen einigten sich jedoch sehr bald dahin, daß der Oberst des ehelosen Lebens müde geworden und daß die arme, junge Braut gekommen sei, »sich die Heidenwirtschaft in Grunzenow anzusehen«. Die guten Seelen bedauerten das Fränzchen sehr; und hätten ihre Meinungen dem Oberst im Polnischen Bock den Appetit verderben können, so würde der wackere Kriegsmann gewiß nicht so seelenvergnügt von Freudenstadt abgefahren sein, wie er daselbst ankam.

Nun aber zeigte es sich, weshalb der Wirt zum Polnischen Bock einen solchen Respekt vor dem Namen des Obersten von Bullau hatte. Ein solcher Gast mußte ein Segen für jedes Wirtshaus in der Welt sein, ein solcher Gast fuhr nicht alle Tage vor, um Küche und Keller zu revidieren.

Der Polnische Bock befand sich in einer Aufregung wie ein Ameisenhaufen, den ein Stockschlag oder Fußtritt traf. Es roch gut und nahrhaft im Polnischen Bock; es war aber kein Wunder, wenn Hans und Franziska über das Frühstück des Obersten von Bullau ein wenig erschraken; der Oberst hatte ihren Hunger sehr überschätzt.

Weihnacht! Weihnacht! Wir lassen das Fränzchen und den Obersten genauere Bekanntschaft machen bei diesem trefflichen Frühstück, um ihnen und dem Kandidaten vorauszueilen nach Grunzenow an der See, wo der Leutnant Rudolf vor Ungeduld vergehen will und dem treuen Grips das Leben sauer macht.

Das Meer im Weihnachtssonnenschein ist auch eine Vorstellung, die das Herz weiter machen kann. Auch durch das Dorf Grunzenow war der Weihnachtsmann geschritten und hatte grüne Tannenzweige vor den Hütten des seefahrenden Volkes verloren. Der Rauch, der aus den Schornsteinen in die kalte Luft stieg, sah aus, als ob er mehr als an andern Tagen zu bedeuten habe; die Seevögel, die Kinder, die Alten und Pastor Ehrn Josias Tillenius, der, durch das Dorf humpelnd, fast vor jeder Tür stehenblieb, wußten, was sie von diesem Tage zu halten hatten.

Wenn wir, das Dorf verlassend und hinter dem Pfarrherrn her zu dem Herrenhause emporsteigend, den Hof daselbst betreten, so dürfen wir – starr stehenbleiben vor Verwunderung.

Auch auf dem Hofe von Grunzenow stand ein riesenhafter Schneemann und hielt Wacht vor einer aus grünen Tannenbäumen und Tannenzweigen künstlich errichteten Ehrenpforte, über der ein noch dunkles Transparent das Fränzchen und den Kandidaten Unwirrsch willkommen hieß. Das Hausgesinde schien das Fieber zu haben, die Hunde wußten augenscheinlich, daß etwas Außergewöhnliches im Werke sei; die Aufregung des Leutnants Götz aber kannte keine Grenzen und mußte jedem mit den Verhältnissen Unbekannten nicht wenig bedenklich erscheinen.

Der körperliche Zustand des Leutnants hatte sich so weit gebessert, daß der biedere Krieger mit Hilfe eines Krückstockes in wohlwattierten Pelzstiefeln umherhinken konnte, und das war ein großes Glück, denn in seinem Rollsessel hätte er es an dem heutigen Tage nicht ausgehalten. Seit vier Uhr morgens war er auf den Beinen, um das, was in dem Kastell noch auf dem Kopfe stand, auf die Füße zu stellen, wobei ihm Grips an der Spitze des verwilderten Hausvolks hilfreich zur Hand ging, während der Oberst sich zur Fahrt nach Freudenstadt rüstete.

Haus Grunzenow war nicht wiederzuerkennen seit dem Tage, an welchem Hans Unwirrsch es verlassen hatte, um das Fränzchen zu holen. Man hatte das »Weibervolk« hereingelassen, und es war gekommen mit Besen und Bürsten, mit Lauge und Seife, mit warmem und kaltem Wasser und mit dem besten Willen, dem Greuel, der Sünde und der Schande ein Ende zu machen. Als das Aufgebot ins Dorf gelangte, wäre Grips, der es hinabtrug, beinahe ein Opfer desselben geworden. Die Frauen hätten ihn fast erdrückt, sie stürzten sich auf ihn, wie das Tagesgevögel auf die Eule, die unvorsichtigerweise um Mittag ihren Schlupfwinkel verließ. Sie wollten und konnten zuerst gar nicht glauben, was er ihnen verkündete, und er, der mit großem Ekel vor ihrem Geschrei sich die Ohren verstopfte, war nicht imstande, mit seinen erhobenen Ellenbogen sich gegen den übermächtigen Andrang zu wehren. Glücklicherweise erschien Ehrn Josias Tillenius zu seiner Hilfe, und in langem Zuge zogen die Weiber bewaffnet, wie wir bereits schilderten, nach dem Hofe, und es bewährte sich für den Oberst und den Leutnant wieder einmal das schöne, alte Sprichwort vom Teufel, dem man den kleinen Finger gibt.

Es war keine Kleinigkeit, das Haus Grunzenow zu scheuern! – Wenn das Alter ehrwürdig macht, so waren der Schmutz, der Staub, der Schimmel, das Wurmmehl und die Spinnengewebe gewiß im höchsten Grade ehrwürdig, sie wichen aber auch nur den hartnäckigsten Angriffen. Von allen Treppen rauschten die Wasserströme, in allen Gemächern wirbelte der Staub; die Hunde verkrochen sich heulend in die entlegensten Winkel, um den Besenstielen zu entgehen, das Hausgesinde kroch fluchend in den Ställen zusammen, und der Oberst und der Leutnant, die sich »die Sache doch nicht so vorgestellt« hatten, retteten sich mit einem wohlgefüllten Flaschenkorb und einem entsprechenden Knastervorrat in das Pfarrhaus und ließen Grips wie den grimmigsten aller Tritonen unter den Wasserweibern zurück, mit dem Auftrag, »Meldung zu tun, wenn die Arche wieder auf dem Trockenen« sitze! Zwei Tage hindurch saß Grips auf dem Treppengeländer, seinen Trost in diesem Jammer weniger an einem Muschelhorn als an einer dickbäuchigen Flasche echten alten Wacholders findend. Am Ende des zweiten Tages sanken die Wasser, und gegen den Mittag des dritten Tages meldete sich der »Faktotus« auf der Pfarre und zeigte an, »daß das Haus rein, die Bestialität zu Ende und das Frauengezimmer wieder abgezogen« sei.

»Gott straf mir, meine Herrens«, sagte Grips, »schöne ists, aber besser roch es doch sonst! Grüne Seife, Herr Oberst, allgemeiner Rasiertag – Regimentswäsche, Herr Leutnant! Sehr schöne, meine Herren – kein Hund wagt mehr feste aufzutreten.«

»Grips«, sagte der Oberst von Bullau, »Grips, der Herrgott weiß am besten, was nem Menschen und nem alten Soldaten gut ist. Proppertee ist ne angenehme Tugend.«

»Mit Maß – zu Befehl, Herr Oberst!« erwiderte Grips gebrochen. Der Leutnant wurde samt dem leeren Flaschenkorb wieder in den Schlitten gehoben; die beiden alten Herren zogen in Begleitung des Pastors wieder in das alte Kastell ein, alle zwei- und vierfüßigen Hausbewohner krochen mit Graus und Gewinsel aus ihren Schlupflöchern hervor.

»Alle Hagel! Alle Hagel!« rief der Oberst einmal über das andere, als er aus einem Gemache in das andere schritt.

»Alle alten Herrens möchten sich an der Wand umdrehen!« seufzte Grips, wehmütig zu den Ahnenbildern des Hauses Bullau emporblickend.

»Aber die Damen, Grips, aber die Damen!« lachte Ehrn Josias Tillenius fröhlich und rieb sich die Hände. »Seht die Damen, Grips! Sie haben noch nie, seit ich die Ehre habe, sie zu kennen, so frisch und vergnügt ausgesehen. Wahrlich, Bullau, es tat Eurem Bau not, daß einmal in solcher Art Kehraus gemacht wurde!«

»An der Hofmauer liegts«, seufzte Grips. »Viertehalb Fuder – sechs Scheffel Pröppe und drei Sack Tabaksasche darbei; – ist n Elend und Jammer, aber eine Merkwürdigkeit ists auch!«

»Eine Prinzessin könnte auf dem Fußboden niedersitzen«, schrie der Oberst, plötzlich in Ekstase geratend. »Hurra, Rudolf, jetzt kann das Mädel mit dem Schwarzrock einrücken! Hurra, jetzt wirds mich aber Tag auf Grunzenow!«

Der Leutnant stand auf den Füßen, als kenne er das Podagra noch nicht einmal dem Namen nach; er schwang den Krückstock und die Kappe und schrie ebenfalls hurra aus vollem Halse; aber die Tränen standen ihm in den Augen. Der Pastor sah auch mit glänzenden Augen von dem Boden zur Decke und von einem der beiden greisen Kriegsgefährten auf den andern.

»Es ist uns eine gute Stätte bereitet für unsere alten Tage«, sagte er leise. »Schlagt ein, Kameraden! Wir haben gut zusammengehalten, und es soll so bleiben bis zum letzten.«

Die drei alten Hähne schüttelten sich energisch die Hände, und dann erkundigte sich der Oberst besorglich, ob die Weiber auch nicht über den Keller geraten seien, und erhielt von Grips die beruhigende Versicherung, daß der Schlüssel nicht aus seiner Tasche gekommen sei. Bei einer dampfenden Bowle Punsch wurde die Reinigung des Hauses Grunzenow gefeiert und bei ebenderselben ein Kriegsrat gehalten über die Frage, was nunmehr weiter zu beginnen sei, um dem Kind den Aufenthalt in der Wüste behaglich zu machen. Jetzt war der Pastor der Mann, dessen Meinung den Ausschlag gab. Er bezeichnete das Eckzimmer, von welchem aus man den weitesten Blick über Land und Meer hatte, als das Gemach, in dem sich das Fränzchen am heimischsten fühlen werde. Er bezeichnete die Möbel, mit welchem dieses Zimmer auszufüllen sei, und versprach, aus seinem Pfarrhause einen Beitrag dazu zu liefern.

Des Leutnants Hirn siedete und kochte; auch er brachte mancherlei Vorschläge zur Verschönerung und Wohnlichmachung des Kastells an den Tag; aber gleich den Plänen des Obersten litten diese Vorschläge meistenteils an einer Abenteuerlichkeit, die dem Pfarrherrn ein höchst behagliches, doch kopfschüttelndes Lächeln entlockte.

Grips wurde nach Freudenstadt gesendet, um allerlei notwendige Dinge zu holen. Mit hochbepacktem Schlitten kam er zurück und bewies, daß er ein Mann von Geschmack, wenn auch vielleicht ein wenig zu sehr »für das Bunte« sei. Es wurde viel geklopft und gehämmert auf Haus Grunzenow; der weibliche Hausstand wurde vermehrt und verbessert. Am dreiundzwanzigsten Dezember war alles zum Empfang des jungen Gastes bereit, und das Stübchen, welches der Kandidat und demnächstige Adjunktus, Hans Unwirrsch, auf der Hungerpfarre bewohnen sollte, war ebenfalls aufs beste ausgekehrt und eingerichtet.

Am Morgen des vierundzwanzigsten Dezember fuhr der Oberst nach Freudenstadt, das ankommende Paar daselbst in Empfang zu nehmen, während der Leutnant, der Pastor und Grips die Errichtung des Schneemanns und der Ehrenpforte beaufsichtigten und noch andere wichtige Vorbereitungen trafen.

In zappelnder Ungeduld, Hast und Aufregung verbrachte der Leutnant Götz den Tag. Die Vorstellung, daß nunmehr sein Fränzchen ihm wiedergegeben werden solle, der Gedanke, daß sich nun niemand mehr trennend zwischen ihn und das arme Kind drängen dürfe, trieben ihn alle Augenblick von seinem Sessel in die Höhe, jagten ihn alle Augenblick ans Fenster oder vor die Tür. Der Rollsessel war ein überwundener Standpunkt oder vielmehr Sitzpunkt; es zeigte sich wieder, daß die Hoffnung und die Freude die besten Ärzte sind. Der Leutnant Rudolf Götz war einfach außer sich, und seine Unruhe brachte nicht nur den Pastor Tillenius, sondern sogar den praktischen, unbeweglichen Grips aus dem Gleichgewichte.

Vergeblich zitierte der Pfarrer aus der Pfarrbibliothek und ermahnte zur Selbstbeherrschung, Fassung und Geduld; – vergeblich erklärte Grips, daß sich die Zeit nicht vorschieben lasse, daß die Laterne im Kopfe des Schneemanns, die Lampen hinter dem Transparent, die Lichter an der Weihnachtstanne im großen Saal zum Anzünden bereit, daß die Böller geladen und Petersen und Gerd Classen zum Losbrennen gerüstet seien. Weder die Ermahnungen des Pastors noch die Versicherungen des Hausmeiers von Grunzenow brachten den Leutnant zur Ruhe, und als ihm gar noch um drei Uhr des Nachmittags einfiel, daß das Fränzchen den jungen Pape habe »ablaufen« lassen und daß der Oberst von Bullau »solus« von Freudenstadt heimkehren werde, da bedurfte Ehrn Josias Tillenius seiner ganzen Beredsamkeit und Überzeugungskraft, um den Onkel Rudolf vom Haarausraufen zurückzuhalten.

Hussa! Die Rappen des Obersten von Bullau wurden im Polnischen Bock mit derselben Aufmerksamkeit behandelt wie ihr Herr, der noch dazu gewohnt war, selbst im Stall ihre Verpflegung zu überwachen. Hussa! Mit freudigem Wiehern galoppierten sie über die glatte Bahn, ohne das Geknall der Schlittenpeitsche und das Hallo des Obersten für eine Drohung zu nehmen. Das war eine andere Fahrt als jene auf dem elenden Marterfuhrwerk des Wirtes zum Polnischen Bock. Der Oberst befand sich in der allerbesten Stimmung; auch seine ganze Seele hatte das Fränzchen bereits gewonnen; er nannte es sein Kind, sein Liebchen, sein Lamm; er fragte es einmal über das andere, ob es es auch niemals gereuen werde, ihm und dem Onkel Rudolf und »dem da« in ein so wildes, wüstes Nest zu folgen – er schalt es, daß es ihn, den Oberst, und den Onkel Rudolf und den Pastor Tillenius so lange bei den Seelöwen und Klabautermännern allein habe sitzenlassen. Er stieß alle fünf Minuten den Herrn Kandidaten Unwirrsch in die Rippen und nannte ihn einen »ganz merkwürdigen Burschen«; er zog ihn am Ohr und erinnerte ihn grinsend an die Rede, die er neulich dem Leutnant gehalten habe; es war ein Wunder, daß der Oberst von Bullau den Schlitten nicht um- und den Kandidaten und das Fräulein in den Schnee warf.

Nun war der Augenblick da, in welchem die rote Sonnenscheibe hinter der weißen Heide versank.

»O sieh, sieh, Johannes, wie schön!« rief Franziska. Es stieg der Mond hinter dem Hünengrabe empor, und wie im Traum sprach Hans Unwirrsch:

»Viele Menschen und Könige sind da geschlachtet – in der Riesenzeit von den Riesen.«

Und wieder erscholl durch die Dämmerung die große Stimme des Meeres erst dumpf in weiter Ferne, dann immer näher und lauter.

Nun war die Stunde, in der alle Christbäume im deutschen Lande aufflammten – die rechte Stunde, um in ein neues, glückliches Dasein mit freudig-vollem, dankbarbewegtem Herzen einzuziehen. Nun saß die Freude nieder an jedem Herd, an welchem sie nicht bereits die Sorge, die Krankheit, den Haß, den Neid und den Tod sitzend fand: wahrlich, es war die Zeit, um, hungernd nach Frieden und Liebe, die Heimat zu erreichen!

Das böse Moor lag hinter den Reisenden, schnaufend arbeiteten sich die Pferde die letzten Hügelreihen hinan. Hans hatte den Arm um seine Braut gelegt, es war allmählich sehr kalt geworden, und die Luft war so rein, der Mond schien so hell, daß weithin jeder Gegenstand sich aufs schärfste von der schneebedeckten Erde abhob.

Auf dem letzten Dünenhügel dicht am Wege stand eine dunkle Gestalt und –

»Kreuzhimmeldonnerwetter!« schrie der Oberst von Bullau, die Zügel mit aller Kraft fassend. Ein Blitz und ein Knall! Das war einer der Böller des Hauses Grunzenow, und die dunkle Gestalt war der Posten, den Grips aufgestellt hatte, das Nahen des Schlittens zu verkünden.

Die Gäule bäumten sich und schlugen aus; es bedurfte aller Geschicklichkeit des rossekundigen Obersten, um sie zu beruhigen. –

»Hier mal ran! Wer war mich denn dieser knallende Satan?« rief der Oberst, und die dunkle Gestalt kam im kurzem Trab an den Schlitten, um sich zu melden.

»Hurra Grunzenow!« schrie der Oberst; eine Rakete stieg jenseits des Hügelrückens auf; Grips mit den Seinigen meldete sich ebenfalls; – der Schlitten erreichte die Höhe des Weges, und das weiße Ufer, das Meer im Mondenschein und die hellen Hüttenfenster von Grunzenow lagen vor den Blicken des Fränzchens.

»Da sind wir! Willkommen zu Hause, mein Liebling!« rief der Oberst und gab dem jungen Mädchen wiederum einen herzhaften Kuß, gegen welchen es sich wiederum nicht wehrte. Hügelabwärts gings; – durch das Dorf klingelte der Schlitten; – Weihnacht, Weihnacht! – Glanz und Lichter der Weihnacht aus allen Fenstern.

Weit auf stand das Hoftor von Grunzenow, an welchem Hans Unwirrsch einst so lange hämmern mußte. Grimmig leuchtete die Laterne aus Augen und Maul des Schneemanns. – Willkommen! rief mit feurigen Lettern der Triumphbogen des Tausendkünstlers Grips; – Willkommen! brüllte aus rauhen Kehlen das Hofgesinde. Die Böller krachten, die Hunde bellten – der Leutnant Rudolf Götz hielt sein Kind in den Armen und hätte es fast erdrückt und erstickt; Ehrn Josias Tillenius hatte sich des Kandidaten Unwirrsch bemächtigt und flüsterte ihm ins Ohr:

»Eheu, eheu sudores et cruces Johannis Unwirschii! Ei, ei – ei, ei, das ist sie? Gott segne dich, Hans – das ist sie?«

»Jaja, das ist sie!« rief Hans Unwirrsch, und der Leutnant Rudolf wiederholte dasselbe und legte das Fränzchen in die Arme des alten Pfarrherrn von Grunzenow.

Der Oberst schritt von einem zum andern und schüttelte sich und den Freunden fast die Hand ab. Grips zog grinsend den Mund bis zu beiden Ohren auseinander und beleuchtete die Gruppe als gerührter Statist. –

Da war der große, alte Saal des Hauses Grunzenow! Die beiden riesenhaften holländischen Kachelöfen glühten – ein riesenhafter Christbaum glänzte im Schein von hundert Wachslichtern – Weihnacht, Weihnacht! Ein solches Weihnachtsfest hatte das Haus Grunzenow seit hundert Jahren nicht erlebt.

Unter der Weihnachtstanne saß Fränzchen Götz, umgeben von den drei greisen Männern, und ein liebliches Bild wars. Die altersschwarzen Jägerbilder auf den Tapeten schienen zu lächeln, es lächelten aus ihren dunkeln Rahmen die grimmigen Herren und die zierlichen Frauen von Bullau, und Hans Unwirrsch lächelte auch, aber durch Tränen.

Viel war nun zu bereden – Vergangenes und Zukünftiges –, doch jetzt mußte sich ja eine Zeit für alles finden, für Leben und Tod, wie der Oberst von Bullau sagte! Weihnacht, Weihnacht – das Fränzchen unter dem Christbaum zu Grunzenow an der Ostsee! Wenn der Kandidat Unwirrsch am nächsten Morgen nicht in der Grinsegasse vier Treppen hoch unter dem Dach erwachte, so hatte sich der Ring seines Glückes geschlossen. –

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