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Wilhelm Raabe

Deutscher Adel

Zwanzigstes Kapitel

eingestellt: 4.8.2007



Drei Tage und drei Nächte gingen hin, ohne daß die Polizei, die Freundschaft und die Liebe etwas ausrichteten, obgleich sie alle drei ihr möglichstes taten. Der Papa Ferrari war verschwunden und blieb es. Je mehr man ihn suchte, auf desto falschere Fährten geriet man; die Polizei jedoch hielt ihr Wort aufrecht:

»Der Hund wird uns Nachricht bringen, wenn alle übrigen Stricke reißen. Kommt der allein, nun so wissen wir leider jedenfalls genau, woran wir sind. Solange der ausbleibt, sind sie beide noch beisammen, und vielleicht – tut dann dem Herrn die frische Luft gut, und sie kommen auch beide von dieser Eskapade zurück, und zwar, den Umständen nach, so wohl und wohlbehalten als möglich.«

Sie kamen beide zurück; und nicht die Liebe, die Freundschaft und auch nicht die Polizei stießen auf sie und brachten sie ganz heim, sondern Butzemann junior wars. –

Es war ungefähr gegen zehn Uhr morgens. Der Morgen war frisch, aber sonnig, der Leihbibliothekar Achtermann in seiner Bibliothek Leiter auf, Leiter ab aufs eilfertigste beschäftigt. Von dem uns bekannten dunkeln Winkel des Lokals, von dem ebenso bekannten zersessenen Ledersofa her erklang ein eigentlich ununterbrochenes Gemurr, Geseufz, Gestöhn und Geächz her, als ob da der geplagteste und unbedingt der verdrießlichste Erdenbewohner seinen Sitz genommen habe und von dort aus sich über der Welt Elend, Jammer und Nichtsnutzigkeit Luft mache. Wedehop saß ganz einfach dort und war noch immer nicht zu Ende mit seinen Betrachtungen über die kürzlich verlaufenen Tage wie über den laufenden gegenwärtigen.

»Dazu bleibt man bis über sein fünfzigstes Jahr hinaus Junggeselle, um sich darin in alle solche schändlichen Haushalts- und Familienangelegenheiten fremder Leute verwickeln lassen zu müssen!«

»Oh, oh, mein guter Wedehop!« rief der Bibliothekar in der Mitte seiner Leiter. »Sagten Sie wirklich: ›Was sich der Wald erzählt‹, mein liebes Fräulein?«

»Was sich der Wald erzählt!« brummte es aus der dunkeln Ecke. »Großer Gott! Das wäre freilich auch meine Lektüre.«

»Ich empfehle mich, mein Fräulein«, sagte der Leihbibliothekar am Fuße seiner Leiter höflichst. Die Tür schloß sich hinter der mit ihrer Lektüre in dem Jahr 1850 zurückgebliebenen jungen Leserin, und Achtermann wendete sich an den Freund im Winkel:

»Es freut mich immer, wenn ich solch ein Buch wieder herausgeben kann in den heutigen Tag. Dich aber, mein guter Wedehop, begreife ich in der Tat nicht mit deiner – deiner schroffen Bemerkung.«

»Schroffe Bemerkung?... Schroffe Bemerkung ist gut! Jetzt aber halt einmal endlich den Mund und laß mich ausreden. Hab ich dir etwa schon gesagt, daß es mir kein Vergnügen mache? He?!... Vergnügen? Na ja, ein schönes Vergnügen freilich! Deine ›gute‹ Tochter bin ich zwar endlich vom Herzen los, und sie, du, deine Frau und dein ›guter‹ Sohn Louis, ihr seid sämtlich so glücklich gemacht, wie ihr es verdient; aber was will das sagen gegen diese zwei anderen jungen Geschöpfe, die ich jetzt mit ihrem verlorenen Papa und Schwiegerpapa auf dem Halse habe? Ich sage dir, dreimal lieber den Kuppler spielen, wie in deinem kläglichen Falle, als einmal so ein durch die Lappen aller seiner Verpflichtungen für beide Familienseiten gegangenes Familienhaupt mit Würde, Trost, Lehrhaftigkeit und Zutraulichkeit ersetzen zu müssen. Und das muß ich, dein guter Wedehop, mein guter Achtermann!«...

»Oh, oh!« stöhnte der Leihbibliothekar.

»Das Wort Universum ist groß«, brummte es aus dem Winkel hervor, »aber das Wort ›Universal-Schwiegervater‹ ist noch viel größer, und – so fühle ich mich. Eine Maus, die ihr Loch nicht finden kann, ist gar nichts gegen mich. – Die alte Dame da oben macht sich musterhaft unter den fatalen Zuständen; aber auf die Nerven sind sie ihr allgemach doch gefallen, und mit Recht. Das arme Bräutchen – diesmal gebrauche ich das Wort ›arm‹ wirklich im tragischen Sinn –, meine wackere Natalie hat eigentlich gar keine Nerven mehr; und der auch sonst ganz unzurechnungsfähige Mensch Ulrich ist unter sotanen Verhältnissen im Grunde gar kein Mensch mehr, sondern, wie es sich ja auch vom ersten Aufbrechen des Welteis versteht bei derartigen anständigen Naturen – der reine pure Esel. Deine eigene Zerfahrenheit kennst du, Achtermann, also ich – ich allein bins, der, wie er die deutsche Literatur durch seine Übersetzungskünste erwärmt, ernährt und auf den Beinen erhält, so euch alle – zum Henker, da fahre mal einer fort, wie er angefangen hat, also kurzum: der hölzerne Löffel bin ich im Brei, und meiner Rührigkeit habt ihr es zu danken, daß ihr nicht anbrennt! Währenddem aber bleiben wir gottlob das, was wir sind: ein ausgezeichnet Sammelsurium deutschen Volkstums – nennen wir es dreist deutschen Adels!«

»Ach, wenn ich doch nur ein allereinzigstes Mal eine Viertelstunde ganz und gar in deiner Seele sitzen könnte, Wedehop«, seufzte Achtermann. »Nachher, glaube ich, würde ich das Leben auch wohl von einem so hohen Standpunkt aus ansehen können; und jedenfalls würde ich es genauer wissen, wie du es eigentlich nimmst, ob im Ernst oder im Spaß!«

Der Übersetzer unterdrückte das Wort »Schafskopf!«. Statt dessen seufzte auch er und sagte sodann:

»O du glückseliger Nachtwandler! Alter Metempsychositissimus! Bist du nicht dein halbes Dasein durch den Unsinn – wollte ich sagen: den Inhalt deiner Bücher da gelustwandelt? Ich habe das nur übersetzt und mich dabei geärgert, während du dich amüsiert hast! Ich tausche gleich mit dir und sitze mit Wollust meine noch übrige Lebenszuchthauszeit in deinem Fell und Fleisch oder, wie du es nennst, in deiner Seele ab.«

Der Leihbibliothekar machte nur den Mund auf. Zu einer weiteren Bemerkung kam er nicht; denn in diesem Augenblick wurde auch die Tür seines Geschäftslokals geöffnet, und Herr Louis – Butzemann junior – erschien auf der Schwelle (welches letztere ebenfalls eine Redeweise aus Achtermanns Büchern ist!) und sprach mit gewohnter Vergrelltheit:

»Meine Herren – na, jetzt liegt er bei uns! Das Vieh ist schon drüben bei der Frau Professorn. Bis an die Ecke ging es mit mir; da riß es aus und fuhr wie s Donnerwetter da in die Tür. Sie werden sich also da oben wohl schon ihren Reim darauf gemacht haben.«

Die beiden Herren (auch Wedehop!) waren zugesprungen und hielten den jungen Mann am Arm, jeder von ihnen auf einer Seite.

»Menschenkind«, schrie Wedehop, »bist du wirklich überzeugt, daß du genau weißt, was du da sagst?«

»Wie kommen Sie mir vor?« brummte Louis mit gewohnter Liebenswürdigkeit zurück. »Wenn ich mal was sage, so sage ich was. Wann habe ich mal nicht gewußt, was ich sage, Herr Doktor? Zwei Stunden sind es her! Der Alte, der mich viel zu oft für meine Privatbeine seine Wege machen läßt, schickt mich da wiedermal aus dem Halleschen Tor. Von wegen des Einzugsgetränkes, sagt er. Denn, sagt er, wer kann es wissen, wann es ihnen einfällt, hereinzutriumphieren, und wer einem dann das Getränke vor die Nase wegnimmt?... Nun ist meine Privatmeinung: an dem Tage läuft alles herunter, was naß ist; aber der Alte steift sich eben auf sein altes Renommee von Butzemanns Keller und schlägt mit der Faust auf: An dem großen Tage großartig!... Dann hätte er aber auch selber an die Quelle zum Lieferanten gehen können. Nicht wahr?... Frage ich Sie, Schwiegervater, wozu ist man denn eigentlich Braut und Bräutigam, wenn man immer noch keine einzige freie Stunde für sich selber hat? No, sage ich, Butzemann junior, alles hat mal sein Ende, Louis; und so strolche ich denn los, und es ist wenigstens eine Aussicht, daß man auf dem Tugendpfade und Wege nach ner Brauerei ist und auch unterwegens an mehr als einem Orte seinen guten Bekannten und Freund hinterm Büffet hat. Bon! Aber wer nicht aus dem Halleschen Tor herausgekommen ist, das bin ich. Muß ich grade um die Ecke biegen, als er mir auf die Arme fällt!... Und wie?... nämlich mit Gefolge. Nicht wahr, da kam ich Ihnen denn gerade recht, meine Herren? – Ist das eine Polizei! Keine Pickelhaube zu sehen, so weit das Auge und der Tumult reicht!... Halb Berlin hat er hinter sich und um sich: Pietsch kommt! Nicht wahr, recht kam ich Ihnen da grade, meine Herren?... Ja, ist das ne Polizei?... Da war es denn wohl am besten, daß man sich auf seine eigene Autorität und vier Fäuste verließ – die Stiefelsohlen mitgerechnet! Und, na, Sie kennen mich: packe ich zu, so packe ich feste; – schmeiße ich einen raus aus das Lokal, so fliegt er so lange, bis er niederkommt; und wenn ich jemanden leise meine richtige Meinung sage, so soll mich der schon noch vier Wochen später die Ohren mit Baumwolle verstopfen!... Meine Herren, wie ich bin, müssen Sie mich nehmen, und so sage ich Ihnen, lernen Sie Louis Butzemann kennen, wenn es sich um ein Renkontre mit die Allgemeinheit, so meine ich, mit dem, was einem in der Straße zu anderthalbhundert auf einmal begegnet, handelt. Meine Herren, das ging alles; aber das Schlimme war der richtige faule Kunde, unser Herr Ferrari, oder wie Sie die unglückselige Kreatur sonst nennen wollen. O du meine Güte, hat mich das Gewächse den Weg mit ihm nach Hause schwer gemacht!... Der Hund ist grade verhungert genug, um sedate nachzuschleichen. Na, kurz und gut, wenn Sie jetzt wollen, so steht es bei Ihnen, ob Sie sich jetzt beide bei uns genauer ansehen wollen. Wir haben den einen im Separatzimmer platt auf dem Kanapee und den andern, alle viere von sich gestreckt, platt unter dem Tische vor dem Sofa. Hier sind sie beide; aber meinen Alten und sein Gesicht vergesse ich mein Lebtage nicht, als ich ihn ihm die Treppe hinunter zuschob. Da kam der Alte wirklich endlich einmal aus der Fassung. Den Spaß lasse ich mir mit Vergnügen kalt stellen und nächste Woche wieder aufwärmen.«

»Aber der Hund?... Eben soll er Ihnen ja voraufgelaufen sein zur – Frau Professorin Schenck!« schrie Wedehop.

»No, natürlich! Kann er denn nicht beides? Mit dem ersten besten, was ihm in der Küche in die Hand fiel, hat ihm der Alte aufgewartet. Es war ja ein wahres Wunder, daß ich ihm nicht die Serviette habe vorbinden müssen. Drei Portionen Wiener Schnitzeln bis auf die Glasur vom Teller! Na, ich denke, ich habe Ihnen ein Vergnügen durch meine frohe Botschaft gemacht, und jetzt gucken Sie so, als hätten Sie selber Appetit auf mir!«

Der Leihbibliothekar Achtermann saß schwindelnd und atemlos, Wedehop jedoch brachte es noch fertig, seinen »muffigen Liebling« auf die Schulter zu klopfen:

»Küssen kann ich Sie leider nicht, Louis; denn ich weiß doch nicht genau, ob das Metan recht sein würde. Aber küssen möchte ich Sie – Sie Tautropfen in der Blume der Menschheit! Da schimpfe mir nun nochmal einer und räsoniere über das Schicksal, daß es sich meistens in seinen Werkzeugen vergreife!«

Es war aber wirklich gar keine Zeit zu weiteren überflüssigen Reden und Redensarten; denn Wassermann hatte in der Tat schon drüben seine Bestellung abgegeben. Ulrich Schenck stürzte herein, den einen Zipfel seiner Armbinde zwischen den Zähnen, den andern in der Hand. Die Botschaft schien ihn grade bei der Festerschürzung dieses seines tragischen Knotens getroffen zu haben.

»Die Mutter folgt mir auf dem Fuße!« rief er. »Natalie – o mein Mädchen!... Wedehop? Wassermann? Und da sind Sie, Herr Butzemann? Was, was ist geschehen? Woher kommt Wassermann? Was haben wir für Nachrichten?«

»Nur ruhig Blut, junger Mann, – die besten!« brummte Wedehop.

»Das habe ich ihm ja auch gesagt!« rief die Frau Professorin, in Hut und Mantel in die Tür tretend. »Da hast du deinen Hut, Ulrich. Laß mich den Knoten knüpfen; bedenke, wie nötig du von jetzt an beide Arme haben wirst!«

Sie sah ein wenig betroffen auf den ihr bis jetzt noch unbekannten Jüngling, der ihr als Herr Butzemann junior vorgestellt wurde; und Herr Butzemann junior nahm nunmehr wirklich die Mütze vom Kopfe und sagte:

»Ja, Madam, er liegt bei uns. Grade so auf dem Hunde wie der da.«

Dieses war von so einem bedeutungsvollen Hinweis auf den armen Wassermann, welcher der Frau Marie nicht von der Seite wich, begleitet, daß jedermann daraufhin sich das unselige, zum Gerippe herabgemagerte Tier noch einmal ansah.

»Dann gehen wir so rasch als möglich«, schloß die Frau Marie, und der Leihbibliothekar Karl Achtermann schloß für heute sein Geschäft ganz. Er würde es selbst seiner Gattin vor der Nase geschlossen haben. Viele sensations-, gefühls- und stimmungsbedürftige Abonnenten hatten erstaunt, verdrießlich und – mit dem Vorsatze, anderswo auf diese ihre geistigen Bedürfnisse zu abonnieren, vor der verriegelten Tür umzukehren. Aber für den alten Achtermann hatte dieses so wie irgend etwas, was in seinen Büchern stand, nicht die geringste Bedeutung.

»Die Herren gehen wohl vorauf«, sagte die Frau Marie. »Ich nehme eine Droschke und bringe Natalie mit. Auch du gehst mit den anderen, lieber Ulrich. Achtermann, achten Sie auf ihn; – Wedehop, Sie auch.«

»O wohl«, brummte Wedehop. »Vorhin noch habe ich von meiner grünen Salatzeit, wie Ihre höchstselige Majestät von Ägypten sagte, geredet. Daß ich so ne Art Tragödie darin auch gesündigt habe, habe ich bis jetzt schämig verschwiegen. Jetzt gestehe ich es und bekenne, daß der vierte und fünfte Akt dümmer sind als das Dümmste, was ich je nachher bei anderen in diesem Fache gelesen habe. Es ist aber ein Unterschied zwischen der Theorie und der Praxis. Meine Herren, die Frau Professorin hat in der verständigsten Weise über uns verfügt. Leihen Sie mir Ihren Arm, Louis, mein fröhlicher Knabe. Man merkt doch, daß man die letzte Zeit hindurch mancherlei durchgemacht hat. O mein lieber Sohn Louis, vorhin sprach der Büchermensch da den Wunsch aus, einmal eine halbe Stunde in meiner Seele sitzen zu können: uh, was gäbe ich drum, wenn ich die nächsten Stunden durch in Ihrem Temperament sitzen könnte, Louis! Achtermann, nehmen Sie den Franzosensieger unterm Arm. Ruhig, ruhiger, Ulrich! Sie sollten doch von uns allen die sicherste Erfahrung haben, daß die Welt nicht sogleich untergeht.«

Der junge Mann hatte den Arm Achtermanns genommen; aber führen ließ er sich nicht. Er zog den alten Herrn hastig den übrigen voran, und sie hatten Mühe, ihm zu folgen.

Nach zwanzig Minuten trafen sie allesamt vor der Tür von Butzemanns Keller zusammen. Die Droschke, welche die Frau Marie und Natalie Ferrari hergeführt hatte, hielt eben an; und Ulrich Schenck kam grade noch zur rechten Zeit, um das erste Wort an seine Braut richten zu können.

»Was hat Mama dir gesagt?«

»Sie wäre bei mir, und ich sollte Mut haben.«

»O, und was soll ich dir nun sagen? Ich, der –«

»Daß du auch bei mir bleiben willst.«

Sie stiegen nun die enge Treppe hinab, die zu den düsteren, dumpfigen Vergnügungsräumen führte.

»Führe du Natalie«, flüsterte die Frau Professorin ihrem Sohne zu; »aber nimm deinen Arm in acht. Wie ist es nur möglich, daß Menschen es hier zum Aushalten finden?«

»Wollen Sie meinen Arm nehmen, liebe Frau?« fragte Wedehop, trotz aller Grimmigkeit der Situation unwillkürlich doch grinsend.

»Nein, ich danke, lieber Freund. Es ist ein wüster Weg; aber ich werde ihn meinesteils schon allein finden.«

Schon drang ihnen aus dem nächsten Raum der Lärm der Zechenden entgegen; dichter Tabaksqualm erfüllte auch den durch eine Gasflamme erleuchteten Gang, der zu der Tür des ersten Schenkzimmers führte.

»Hier, meine Herrschaften, nicht da, wenns beliebt«, sagte der alte brave Kneipenhalter Butzemann senior. »Hier herein – hier herein. Meine Damen, ich würde mit Vergnügen Ihretwegen das ganze Lokal nötigenfalls mit Gewalt geräumt haben; aber Sie wissen nicht, was unsereiner von wegen seines Renommees an moralischem Zwang auszustehen hat! Schließe ich einen Tag, so kann ich dreist den Schlüssel für Zeit und Ewigkeit an den Hauswirt abgeben. Hier herein, wenn ich bitten darf, – so haben Sie wenigstens nichts mits offizielle Geschäft Butzemann zu tun – das Maul kann ich ihnen leider nicht verstopfen.«

Er öffnete eine niedrige, schwarze Tür, die in ein Seitengemach, von wenig mehr Rauminhalt als eine Kabine auf einem Auswandererschiff, führte.

»Persönlich ist mich der werte Besuch natürlich die größte Ehre; aber – leider Gottes – ich kann Ihnen nicht zu bessern Illusionen verhelfen, als ich Ihnen zu bieten habe. O mein Fräulein – o, beste Madam, sehen Sie, da liegt denn der Unglücksmensch, und – es ist – fast für eine Gnade zu halten – daß – Sie zu spät kommen! Ach mein armes, liebes Mädchen!«

Natalie Ferrari hatte sich mit einem Schrei über die auf dem Bette Butzemann juniors ausgestreckte Leiche ihres Vaters geworfen.

»Down at last!« murmelte der Übersetzer. Das war das letzte Wort eines Mannes, der durch seine Phantasie Vieles und Großes auf dieser Erde ausgerichtet hat. Charles Dickens rief es, als er vom Schlage getroffen zusammenbrach. Ob er mit so viel Phantasie in diese Welt hineingeboren worden war wie der Pulvererfinder Paul Ferrari, das steht dahin. –

Die zwei übrigen phantasievollen Schulbankgenossen, Achtermann und Butzemann senior, sagten anfangs gar nichts. Achtermann geriet aus seinem Schrecken in ein heftiges Schluchzen, und Butzemann schüttelte den Kopf.

Es fiel ein matter Widerschein von dem hellen Sonnentage draußen in die unheimliche Höhle. Aus den Kneipenräumen drang der Lärm der Gäste her, und eine Drehorgel mischte sich von der Kellertür aus mit greulichem Hohn auch noch drein; sie hatten aber sämtlich keine Zeit, darauf zu achten und irgendeinen Ton, ein Geräusch des Lebens für unpassend zu halten.

»Ja, so ist er nun an dem Orte gestorben, wo es ihm beschieden war«, sagte Butzemann, leise die Hand der Frau Marie in seine harte, breite Tatze nehmend. Er sprach das leise, und noch leiser fügte er, dicht am Ohr der alten Dame, hinzu: »Wenn unsereiner so von seinem Büffet aus in die Fidelität und das ewige Gerenne und Keine-Zeit-Haben der Menschheit hereinsieht, dann wird er mit der Zeit zu einem Vieh und einem Philosophen. Son Mittelding von beiden! Bei mich persönlich zwar liegen zwei Drittel vons Gewicht nach die erste Seite hin; aber eins habe ich mich doch nach und nach abdestilliert: Schuld haben sie beide nicht, weder der Mensch noch sein Schicksal, – sie passen nur immer ganz genau aufeinander. Ihr Herr Sohn da, neben dem armen Fräulein, wird Ihnen das, wenn er noch etwas mehr erlebt haben wird, gewiß gelehrter und besser sagen können.«

Von der anderen Seite schob Wassermann seine feuchte Schnauze der Frau Professorin in die Hand.

»Wir sind eine wunderliche Gesellschaft auf dieser Erde!« sagte die Mama, und dann wandte sie sich zu ihren Kindern. –

Schon hatte Ulrich seine Verlobte von dem Leichnam des Vaters aufgehoben; aber was er ihr sagte, hatte viel weniger logischen Zusammenhang und philosophischen Inhalt als die weisen Worte Butzemanns. Gelehrter klang es wahrhaftig auch nicht.

»Mein armes altes Mädchen!« flüsterte er, und scheu streichelte er dabei das weiche Haar auf dem jungen Kopfe an seiner zerschossenen Schulter. Alle seine Anwartschaften auf die Direktion der ästhetischen Neigungen sämtlicher fürstlichen Thronfolger seiner Nation hätte er ohne alles Besinnen für ein festes Dach über seinem Kopfe und eine Dorfschulmeisterschaft im Spreewalde dahingegeben.

»Jetzt komm zu mir, Natalie«, sagte die Mama. »Die Männer sind die Totengräber, und das Amt müssen wir ihnen schon überlassen; – wir aber – wollen den Kopf hochhalten und – die Welt aufrecht!«

»Hier, hier soll ich ihn jetzt allein lassen? O, ich kann es nicht!«

»In guten, treuen Händen lässest du ihn. Ach, frage den Ulrich, in was für Händen so manche Mutter ihr Kind, so manches Kind seinen Vater hat lassen müssen auf den Schlachtfeldern und im feigen Hinterhalt. Wir sind nachdenklich deutsches Volk, und es ist kein anderes, das so gut und ehrfurchtsvoll mit den Toten umzugehen weiß.«

»Und das ist ein großes und gutes Wort; und wenn es wahr ist, so wollen wir uns mehr darauf einbilden als auf alle unsere übrigen merkwürdigen Vorzüge«, brummte Wedehop. »Ist Madam Naucke schon benachrichtigt?« wendete er sich an Butzemann unhörbar für die anderen, und Butzemann nickte:

»Natürlich, obgleich ich es nicht gedacht hätte, als ich ihr da hinters Büffet hatte, daß ich auf ihr auch mal unter solchen Umständen reflektieren müßte. Tun Sie aber das Ihrige, Doktor, daß der junge Herr mit dem jungen Fräulein jetzt so bald als möglich das Lokal verläßt. Mir kommt selber ein Grauen an, wenn ich uns alle hier so zusammennehme.«

Auf Ulrich Schenck war in diesen Augenblicken noch einmal weniger denn je zu zählen. Wedehop nahm ihn beiseite und sagte:

»Draußen scheint die Sonne, und die Droschke habe ich vor der Tür halten lassen. Ihr geht jetzt! Und du nimmst dich zusammen! Geh jetzt zum erstenmal nicht zu sanft mit ihr um – zu ihrem Besten. Wozu schickt man euch denn sonst in die Schulstuben und auf die Schlachtfelder hinaus? Damit ihr lernen sollt, mit dem Menschen als solchem umzugehen! Glaubt ihr etwa, ihr lernt das im Ballsaal oder Konzertsaal, oder wenn die Sonne schön auf- oder untergeht im Theater oder im Meer oder auf der grünen Bergwiese? Die alte Frau hat recht; aber du bist jung und gehst besser mit den Frauen. Für das übrige werden wir sorgen, wir Alten.«

Und so geschah es, da es nicht anders sein konnte; gegen sich selber aber bemerkte der Übersetzer aus so vielen Sprachen der gebildeten erdbewohnenden Nationen:

»Da wären wir denn!... Es gehört nur eine klare Darlegung des ganz Gewöhnlichen dazu, um den Schein des Außergewöhnlichen in der Welt festzuhalten. Was ist es denn eigentlich an der Zeit? Zwölf Uhr! Jetzt sitzt nun der Winckelspinner da oben an der Donau beim Frühschoppen im Hirsch und politisiert drauflos, schlägt mit der biedern Faust auf den Tisch und ist imstande, sich auf den Kopf zu stellen, vorausgesetzt, daß er den Gegner mit demselbigen in den Erdboden hineindrücken kann. Ach du lieber Gott, und ich sitze hier bei dir, alter Butzemann; aber als ein politisch Tier ist mir in diesem Moment mein Dasein wahrhaftig nicht bewußt. Da sitzt Achtermann, völlig gleichgültig dagegen, wie Europa heute über sieben Jahre aussehen wird. Und – hier liegt unser Freund Paul: – dies war der klügste Römer unter allen; – aber – weiter als wir drei andern hat ers auch erst vor kaum anderthalb Stunden gebracht. – Nicht auf dem haufenvollen Schlachtfelde, sondern vor der einzelnen Leiche gewinnt man das richtige Verständnis für das Menschenlos. Nichts Neues aus Afrika, nichts Neues vor Paris, nichts Neues in Butzemanns Keller. Aber die alte Frau, die da eben ihre beiden Kinder mit sich in die Sonne hinausgenommen hat, hat doch ein braves, stolzes Wort gesprochen: Es ist deutscher Adel, den Tod nicht zu ernst zu nehmen und die Toten mit Ernst und Respekt zu behandeln. Und da kommt die Frau Naucke. Kommen Sie nur her, Blanka.«

< Neunzehntes Kapitel
Epilog >



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