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Wilhelm Raabe

Deutscher Adel

Sechstes Kapitel

eingestellt: 4.8.2007



»... oder ihr nur die Hauptsache daraus mündlich mitteile. Es ist ein verständiges Mädchen, und in etwas habe ich ihn doch auch meinesteils mit der Nase darauf gestoßen. Seine leere Stube da oben kennt sie schon lange, und seine Verhältnisse zu Trute sind ihr auch nicht unbekannt; also würde es nur darauf ankommen, ob sie Phantasie genug besitzt, ihm in meinen und seinen Glauben an ihn hineinzufolgen. Herz genug hat sie dazu, und – auf ein paar schlaflose Nächte darf es sowieso einem Frauenzimmer in dieser argen Welt nicht ankommen. Wie aber überlegt man sich als Mutter eine ganz gehörige schriftliche Antwort an solch einen nichtsnutzigen Burschen, wenn man nachts wachend in seinem warmen Bette liegt und ihn sich da im Schützengraben unter dem Mont Valerien denkt?! Alles verschiebt dieser Krieg einem. O, den Brief hätte der Schlingel mir nur von der Universität schreiben sollen! Da würde ich ihm kühl morgens um neun Uhr nach einem recht ruhigen Schlaf gedient haben. Zu nichts kommt man jetzt der Ordnung nach. Weshalb der Wassermann neulich vom Nachbar Achtermann hinkend zurückgekommen ist, weiß ich auch noch nicht; Wedehop hat sich seit einem Jahrhundert nicht sehen lassen, und so sitze ich hier und lasse mich von meinem eigenen Fleisch und Blut ›kurzweilige Alte‹ betitulieren, in einer Welt, die freilich ihr möglichstes tut, einem die angstvollen Minuten ins Unendliche auszudehnen. Ja, ich werde der Natalie den Brief unbedingt zu lesen geben! Laß sie gleichfalls sehen, wie sie mit den Minuten, Stunden und Tagen des Lebens fertig wird; meine Schuld ist es ja nicht, daß ihr nicht erspart wird, was wir alle durchzumachen haben. Ich habe meinen lieben Seligen –«

Sie brach ab, und einige Minuten des angstvollen Daseins gingen ihr unbewußt wieder einmal weich und sanft vorbei im Gedenken dessen, was – gewesen war.

Es war längst Tauwetter eingetreten, der Tag war trübe und grau, sackartig wälzten sich die Wolken über jedweden mitteleuropäischen Horizont, und der Mitteleuropäer Achtermann ging spazieren in seiner Freistunde zwischen ein und zwei Uhr mittags, fühlte sich aber leider nicht imstande, das Wetter durch eigenste Seelenheiterkeit wenigstens für sich selber zu verbessern.

»So sind die Leute!« seufzte er bei jedem Stoß, den er im Hin und Her der Bevölkerung der Stadt bekam, und gebrauchte damit jedesmal wieder die Redensart, mit welcher er sich wahrscheinlich der Hebamme in die Arme gelegt hatte und mit welcher er sich noch viel wahrscheinlicher dermaleinst der Totenfrau überliefern wird. Und unter vielen Sterblichen hatte er freilich genügende Gründe, diese Redensart nach den verschiedensten Richtungen hin zu gebrauchen und sich durch sie möglichst wieder ins gewohnte melancholische Seelengleichgewicht zu bringen. Ach, die Leute betrugen sich nur in den seltensten Fällen so gegen ihn, wie sie eigentlich sollten, und – so waren sie denn in der Tat so, wie – sie waren!

Das Elend war schon am frühen Morgen angegangen. Des Lebens Miseren waren selbst ihm nicht seit längerer Zeit so schwer wie heute auf Kopf und Schultern gefallen. Frau und Tochter hatten ihn niederträchtiger denn je behandelt; sie hatten ihm selbst das ihm zukommende Quantum von Zichorienabsud vorenthalten und ihn also ohne Kaffee in den frostigen Morgen hinausgeschickt, und zwar unter dem Vorgeben, daß »der Herd nicht ziehe«. Dagegen mußte der Herd gegen Mittag wohl ein wenig zu gut gezogen haben, denn bis auf Napf, Teller, Löffel und Messer und Gabel war alles angebrannt gewesen, was man ihm zugetragen und vorgesetzt hatte. Sämtliche Romantik der zwanzigtausend Bände seiner Bibliothek kam nicht gegen die Öde in seinem Leibe und die Leere in seiner Seele auf. Fröstelnd, schaudernd gab er sie – die Bände – vom Morgen bis zum Mittag heraus oder nahm sie zurück. Und dazu wußte er nur allzu genau, daß ein gut Drittel dieser laufenden Literatur zu Krankenbetten ging oder von denselben herkam. Jeder Band schien ihm seinen ganz bestimmten epidemischen Duft an sich zu haben. Er hatte das selten so intensiv herausgerochen wie heute.

»Brr!« hatte er jedesmal, wenn er wieder solch ein abgegriffen aus den Händen des Volkes der Denker und zartgesinnten Frauen heimkehrendes Buch an seinen Platz zurückstellte, gesagt und hinzugefügt:

»So sind die Leute!«

Gewöhnlich führte der Leihbibliothekar in dieser Mittagsstunde auf seinen Spazierwegen durch die Gassen der Stadt den Hund Wassermann mit sich. Der Köter pflegte sich jedesmal pünktlich zur richtigen Zeit einzustellen; aber heute war er ausgeblieben, wie wir bereits aus der Bemerkung der Frau Professorin wissen. Er hatte einerseits an der Lektüre des Feldpostbriefes teilgenommen, anderseits war ihm auch unbedingt das Wetter zu schlecht gewesen, zumal er, wie wir gleichfalls in Erfahrung brachten, immer noch von der letzten Begegnung mit der Frau Leihbibliothekarin her das linke Hinterbein unter den Bauch gezogen trug.

Dem Leihbibliothekar Achtermann war selten ein Wetter zu schlecht, und so treffen wir auf ihn in der Friedrichsstraße unter seinem Regenschirm, und zwar gottlob in demselben Augenblick, wo der erste Sonnenblick in seinen Tag hineinleuchtete, und zwar unter einem andern Regenschirm hervor.

Fräulein Natalie wars, die ihm an einer Straßenecke in den Weg trat, und zwar selbstverständlich mit der Frage:

»Aber was ist denn das? Wo haben Sie denn Wassermann, Herr Achtermann?«

»Gesegnete Mahlzeit, mein Fräulein! Ich freue mich – o ja, hm, hm, Wassermann?! Ei freilich.«

Und der Alte blickte unwillkürlich über die Schulter nach dem braven Hunde aus, doch sofort wieder in das helle, muntere Mädchengesicht vor ihm:

»Ei ja, Wassermann! Wissen Sie, Fräulein; im Grunde ist es doch keine Witterung, um selbst einen Hund zum Spaziergange aufzufordern, und so –«

»Tragen Sie Ihre Griesgrämlichkeit mutterseelenallein in der Stadt zur Auslüftung herum. Nicht wahr, Sie fressen doch wenigstens Ihre Abonnenten nicht? Hu, jetzt machen Sie mir auf der Stelle ein Gesicht, dem man es auch ansieht, was für ein vergnügter alter Herr Sie sind und was für interessante Unterhaltung Sie tagtäglich vom Morgen bis zum Abend auszuleihen haben. Ich war eben auf dem Wege zu Ihnen, um mir ein hübsches Buch für den heutigen Abend zu holen. Ach, Sie können es freilich nicht wissen, Achtermann, wie lang und langweilig dann und wann meine Abende sich hinziehen.«

Es flog ein Schatten bei den letzten Worten über das kluge Gesicht, der leider auf noch etwas anderes hindeutete als bloß lange und langweilige Winterabende. »Wer hätte gedacht, daß der alte Mann soviel Blut in sich hatte?« sagte Lady Macbeth. Wer konnte es diesem jungen Fräulein auf den ersten Blick ansehen, welche bittere Lebensnot unter dieser glatten, weißen Stirn tapfer zu den feinsten Gedankenfäden Jahre, Tage und Stunden hindurch zerzupft worden war und auch in den gegenwärtigen Tagen und Stunden noch zerzupft wurde? Natalie Ferrari lebte wahrlich nicht allein in der Welt, in der sie, wie die Redensart geht, allein stand. So wenig als wir andern hatte sie die Macht, nur nach Neigung und Behagen, wie es ihr gut dünkte, die Einsamkeit zu beleben. Ach, wenn man nur mit den Leuten rundum, wie sie sind, zu tun hätte, da ginge es noch an, da wird man am Ende wie mit den Feinden, so auch mit den Freunden fertig; aber, aber, wie wehrt man sich in der Einsamkeit gegen das, was nicht in Fleisch und Blut auftritt, sondern als Spuk der Vergangenheit und fast noch gespenstischer als unfaßbare, ungreifbare Zukunftssorgen aus dem Dunkel in den Lichtkreis der Winterlampe oder aus dem glänzenden Sommersonnenschein in den kühlen Schatten hineingreift und in beiden Fällen nicht bloß dem unerfahrenen jungen Mädchen, sondern auch dem gegerbtesten Lebensabenteurer eine Gänsehaut zuwege bringt?

Das war ein langer Satz, den wir mit dem besten Willen nicht kürzer machen konnten; denn ihn uns ganz zu ersparen und unsere kleine Heldin bereits im ersten Kapitel zu verheiraten, ging unter den geschilderten Um- und Zuständen wirklich nicht an. Es wird sich aber alles zurechtfinden. Wir machen gottlob unsere Geschichten nicht – wir finden sie fertig und geben sie, wie wir sie finden. Fräulein Natalie zog ihren Regenschirm zu, schob ihr Winterhütchen mit unter den des Leihbibliothekars und nahm den Arm des Alten, doch ein »Lesebuch« für den heutigen Abend bekam sie diesmal nicht.

Eben schloß Achtermann ihr höflich die Tür seines Geschäftslokals auf und lud sie ein einzutreten, als sich auf der andern Seite der Gasse in der Höhe das Fenster der Frau Professorin öffnete und die Frau Professorin herunterrief:

»Natalie! Kind! Bitte, komm doch mal einen Augenblick herauf.«

Höflichst grüßte Achtermann empor, den Hut weit von sich abschwenkend.

»Ich komme!« rief Natalie Ferrari und sprang über die Gasse. Verschiedene Autoren würden in diesem Moment die Sonne aus den Wolken hervortreten lassen; wir jedoch können dies nicht machen. Wir könnten höchstens ein recht schlechtes Bild leisten, indem wir mitteilten, daß oben in dem Zimmer der Mama Schenck der alte Sonnenschein in dieser Geschichte den jungen in die Arme zog, ihm einen Kuß gab und dabei sagte:

»Höre, Mädchen, ich habe mich hin und her besonnen, ob ich dir volle Mitteilung davon machen solle. Er hat nämlich einmal wieder einen ganz dummen Brief geschrieben.«

»Wer? – Er? – Von Paris? – O Mama!«

»Ja von vor Paris! Und ganz in denselben Ausdrücken wie der General von Podbielski. Was die Hauptsache anbetrifft, durchaus keine Neuigkeit. Mir wenigstens nicht. Mir in dieser Hinsicht durchaus nichts Neues vor Paris! Ach, mein Herz, du hast keine Ahnung davon – Ducrot grüßt dich bestens, Trochu empfiehlt sich dir – sieh, da halt ich das alberne Geschreibsel in die Luft, und jetzt soll es ganz bei dir stehen, ob du es mir zwischen dem Daumen und Zeigefinger wegziehen willst oder nicht. Daß ich nicht klug daraus werden könne, kann ich wohl nicht behaupten. Was du zu dem Unsinn sagst, möchte ich freilich recht gern wissen; aber – wie gesagt – es soll ganz auf dich ankommen, ob du das Ding lesen willst. Nämlich – es ist auch die Rede von dir darin, außer von dem Füsilier Dickdrewe, von dem Hauptquartier in Versailles und den Parisern in Paris. Er schreibt auch wieder mal von Besserung und Einkehren in sich selbst, und von welch wohltätigem Einfluß dieser Krieg für ihn sei. Da habe ich doch in meinem Verdruß und all der sonstigen Angst um den armen Kerl lachen müssen! Von einer Wirklichen Geheimen Hofrätin schreibt er, von idealen deutschen Fürsten – kurz, es ist ein Durcheinander, das wirklich lesenswert ist, und wie gesagt, hätte er nicht das Euch, womit er dich und mich meint, ein paar Male so dick unterstrichen, so würde ich es dir natürlich bereits vorgelesen haben. Also?! na?.. nun?! wie ist es, mein armes, liebes Herz?!«

Fräulein Natalie streckte die Hand und zog sie wieder zurück. Es war unmöglich, daß sie je in ihrem Leben noch röter werden konnte als in diesem Augenblick.

»Zähle lieber gar noch drei!« rief sie mit zitternder, halb weinerlicher, halb auch wohl ärgerlicher Stimme. »Oder soll ich selber vielleicht an den Knöpfen meines Mantels abzählen?«

Die kleine Hand zuckte wiederum angsthaft vor: »Nun, so gib in Gottes Namen her!«...

»Da!« sagte die Frau Professorin mit einem tiefen, aber entlastenden Seufzer. »Jawohl, in Gottes Namen!... Jetzt sieh zu, was du herausliesest. Der Junge schreibt zu allem übrigen eine Pfote, die er vor keinem seiner Schreiblehrer verantworten kann. Du bist ja wohl auch schon früher dabeigewesen, wenn er gekommen ist und mich gefragt hat: ›Sag mal, hast du eine Ahnung davon, was ich hier eigentlich geschrieben habe?‹«

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