Frei Lesen: Deutscher Adel

Kostenlose Bücher und freie Werke

Kapitelübersicht

Erstes Kapitel | Zweites Kapitel | Drittes Kapitel | Viertes Kapitel | Fünftes Kapitel | Sechstes Kapitel | Siebentes Kapitel | Achtes Kapitel | Neuntes Kapitel | Zehntes Kapitel | Elftes Kapitel | Zwölftes Kapitel | Dreizehntes Kapitel | Vierzehntes Kapitel | Fünfzehntes Kapitel | Sechzehntes Kapitel | Siebenzehntes Kapitel | Achtzehntes Kapitel | Neunzehntes Kapitel | Zwanzigstes Kapitel | Epilog |

Weitere Werke von Wilhelm Raabe

Horacker | Der Marsch nach Hause | Der Hungerpastor | Pfisters Mühle | Das Odfeld |

Alle Werke von Wilhelm Raabe
Diese Seite bookmarken bei ...
del.icio.us Digg Furl Blinklist Technorati Yahoo My Web Google Bookmarks Spurl Mr.Wong Yigg


Dieses Werk (Deutscher Adel) ausdrucken 'Deutscher Adel' als PDF herunterladen

Wilhelm Raabe

Deutscher Adel

Siebentes Kapitel

eingestellt: 4.8.2007



Der alte Achtermann hatte währenddem sein Geschäft von neuem eröffnet; – wir können einfach sagen: die Menschheit verlangt es eben, daß auch im Druck unter ihr umläuft, was sie tagtäglich an ihrem Leibe in der Wirklichkeit erlebt oder, besser gesagt, durchzumachen hat. Der Leihbibliothekar lieh seine Liebesgeschichten in jeglicher Form aus und nahm sie zurück. Blech, Gold und Talmi – seine Bücherständer waren für jedwedes Bedürfnis und Verständnis aufs reichlichste ausgerüstet, und als einer der berufensten Minister des Auswärtigen aller Herrscher von und in Traumland sah er beinahe jedem seiner Kunden das, was er brauchte, an der Nase ab. Aber daß es wenig sorgenvollere Posten als solche Ministerstellungen in irgendwelchem »Ressort« in der Welt gibt, sollte ihm auch binnen kurzem wieder zu erneuter Kenntnisnahme vorgelegt werden.

Dutzendweise hatte er Zeitgenossen und Zeitgenossinnen samt ihren kultur- wie literarhistorisch oft recht merkwürdigen Wünschen nach Möglichkeit befriedigt entlassen. Bald oben, bald unten auf seiner Leiter hatte er jeglichem idealen wie realen, physischen wie metaphysischen Verlangen nach – Zerstreuung Genüge zu leisten gestrebt und dazwischen nach seinem Teekessel gehorcht, der allgemach auf seinem kleinen Kanonenofen im dunkeln Winkel ins Singen geriet, als ein neuer Schatten dessen, was sich nicht zum Traumland rechnete, seine Tür verdunkelte und einen Moment später sich über seinen Ladentisch lehnte.

»Sieh – Wedehop!« rief er. »Gerade recht. Tu mir den Gefallen und gieße selber zum letztenmal auf. Der Kaffee wird eben fertig sein. ›Auf der Höhe‹ – dritter Band; – ›Problematische Naturen‹ – ich bin sofort hier oben fertig und komme herunter.«

»Ufh!« blies der Übersetzer, der unter manchem andern auch darin ein behaglich Selbstbewußtsein fand, daß er noch nie in seinem Leben einen Regenschirm selbst besessen oder von einem Bekannten geborgt hatte. Er hob den regennassen Filz von einer der breitesten, glänzendsten, kahlsten Stirnen Deutschlands, schüttelte ihn und schüttelte sich selber. Dem gastfreundlichen Ersuchen Achtermanns kam er, ohne weiter ein Wort zu verlieren, nach, indem er zuerst mit der Eisenzwinge seines Gehstockes die Kohlen im Ofen zu erhöhter Glut durcheinanderrüttelte, und stumm goß er sofort auch auf.

Ächzend ließ er sich auf dem kleinen Sofa nieder, und rasch verbreitete sich ein Dampf und Duft im Lokal, der einzig und allein aus der feuchten Wolle aufsteigen konnte, die winterlich seinen kurzbeinigen, breitbäuchigen und breitschulterigen Leib überzog.

»Es geht dir sonst gut, guter Wedehop?« fragte der Leihbibliothekar von seiner Leiter herab.

»Ufh!« Und dazu wurde ein Streichholz angezündet, und der Dampf einer gar nicht schlechten Zigarre fing an, sich mit dem übrigen Dunst und Dampfe zu vermischen.

»Merkwürdig gut, Achtermann. Der pure umgekehrte Schubart:

In einem finsteren Geklüfte Karmels
Verkroch sich Ahasver; –

es ist wahrhaftig für unsereinen eine Zeit zum Unterkriechen! Da übersetze euch jetzo einmal einer aus dem Französischen! Wahrhaftig, allgemach kommt mir die Überzeugung, daß, wenn das so fortgeht, es mit uns allen vorbei ist. Nichts Neues aus Paris! Es soll mich nur wundern, wie lange ein germanisch Gemüt das Elend aushalten kann.«

»Gestatte mir eine Bemerkung, Wedehop«, sagte Achtermann, nunmehr gleichfalls in das Dunkel seines Geschäftsschlupfwinkels tretend. »Wenn jemand dich ganz genau kennt, so bin ich es. Das ist eben nur eine Schrulle von dir, durch jedes Wetter ohne Schirm zu laufen. Da sitzest du nun und dampfst und kannst nur für dein Inneres kein Ventil finden. Ich kenne dich viel besser, als du dich selber kennst; im tiefsten Grunde deines Herzens bist du fast nicht mehr und weniger als eine recht innige deutsche Mädchennatur, und es erbost dich nur, daß du es nicht bist und nächstens weißgekleidet unsere Sieger –«

»Kerl«, schrie der Übersetzer aufspringend, »Mensch! Wirst auch du mir unter den Händen gar noch witzig? Da hört freilich alles auf, sagt Antonelli. Unterstreiche das Datum in deinem Kalender. Von dieser Stunde an mache ich es mir zum Lebenszweck, deiner Tochter einen Mann zu verschaffen. Ja, ich habe Gemüt, ich habe Herz, echtes, wirkliches Gemüt und Herz. Ich verheirate dir deine Meta, verlaß dich fest darauf. Da hast du meine Hand; – Achtermann, du bist ein prachtvoller alter Bursch und darfst dreist alle, die über dich wegsehen, zu mir schicken; ich werde dich, wie es sich gehört, in ihrer Achtung zurechtrücken.«

»Du scheinst mir heute einmal wieder in einer deiner eigentümlichen Launen zu sein, guter Wedehop.«

»Das bin ich auch, mein guter Achtermann. Es war eine Käserinde, an der ich gestern abend meinen letzten Schneidezahn einbüßte! Und auf ihn allein hatte ich mich noch zu verlassen dem Gurkensalat des kommenden Sommers gegenüber. Achtermann, Achtermann, je älter man wird, desto mehr merkt man, in welcher retardierenden Tragödie man seine Rolle zu spielen hat! O ja, was für eine stoische Fratze hat der Egoistischste durch die Tage zu schneiden, damit nachher irgendeine dumme Mitkreatur neidisch die Bemerkung von sich bläst: Das war noch, alles in allem genommen, wirklich einmal ein fideler Kerl! Beiläufig – um auf ein anderes Thema und Dasein zu kommen –, es wird dich vielleicht auch noch interessieren, daß unser Freund Paul Ferrari wieder im Lande ist.«

»Wie?« fragte der Leihbibliothekar zerstreut. Er hatte wirklich nicht recht auf die letzten philosophischen Stoßseufzer seines Freundes Wedehop hingehört, sondern, in seine eigenen Gedanken versunken, Kleistertopf und Pinsel gehandhabt und neue reinliche Rückenschilde auf eine arg zerlesene Serie von Spindlers Werken geklebt.

»Wie?... Nun höre einer den Menschen!« brummte ärgerlich der Übersetzer, seinen Stock auf den Boden stoßend. »Verläßt er sich jetzt darauf, daß ich gewöhnlich Blech schwatze, oder denkt er augenblicklich noch tiefer als gewöhnlich an Weib und Kind? Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir, daß du von ihm ausfahrest! Achtermann, ich teilte dir soeben mit, daß unser Freund, Schul- und Jugendgenosse Paul Ferrari glücklich wieder bei uns angelangt ist!«

»Was?« rief der Leihbibliothekar. Er hatte wirklich nicht während der letzten Minuten über den Unterschied zwischen unglücklich und unbehaglich verheiratet zu sein nachgedacht. Seine Einbildungskraft hatte an dem letzten Schneidezahn Wedehops gehaftet; sie hatte einfach zwischen den Gurkenbeeten des kommenden Sommers gewandelt. Ihm war es nicht von der Natur gegeben, wie der absonderliche Vogel, dessen Namen der absonderliche Freund führte, von Ast zu Ast zu hüpfen!

Der Kleisterpinsel entfiel seiner Hand: »Paul? Gütiger Himmel! Unser Paul? – Ferrari? Das ist unmöglich, Wedehop!«

»So sagt ihr – ihr Philister, und habt deshalb den Vorzug vor – andern Leuten, alle Augenblicke das Unmögliche sehr möglich werden zu sehen. Wenn ihrs nur nicht stets so schauderhaft eilig mit euren Gemeinplätzen hättet! Entschuldigt euch nur ja nicht mit dem es überhaupt eilig habenden Jahrhundert: die Narrheit des Ganzen hebt niemals die des einzelnen auf. »Das ist unmöglich!« – wie oft zum Exempel bin ich nur seit Mitte des vergangenen Sommers über das dumme Wort halb aus der Haut gefahren –«

»Um Gottes willen, lieber Freund, bleib jetzt einmal bei der Sache. Paul ist zurückgekommen? Du hast ihn gesehen? Du hast ihn gesprochen?«

»Gesehen? Gesprochen? Angepumpt hat er mich auf der Stelle. Mich erblicken und dieses war eins. Ich habe selber wohl dann und wann der Menschheit meine Existenz auf ähnliche Weise in das Bewußtsein zurückgeführt, und nie nachher hat jemand, der an meinem Nochvorhandensein im Leben zweifelte, das Wort: Das ist unmöglich! wiederholt. Von dir wünscht er, daß du ihm das Wiederzusammentreffen mit oder, wenn du willst, das Wiederfinden seiner Tochter vermitteln möchtest. Ich habe ihm auf heute abend neun Uhr in Butzemanns Keller ein Zusammentreffen mit dir versprochen, und ich bin fest überzeugt, daß er seit dem Öffnen des Lokals dort auf dich harrt. Wo er die Nacht zugebracht hat, kann ich dir nicht sagen.«

»Das ist alles, als wenn mir ein Stein vom Dache auf den Kopf fiele! Und eben springt Fräulein Natalie hinauf zur Frau Professorin; und wenn einer weiß, was für eine tapfere Heldin in dem Mäd – der jungen Dame steckt, so bin ich es, Wedehop; – von der Frau Professorin darf ich da natürlich nicht reden. Ich soll es sein, der das arme Mäd – Fräulein wieder aus all ihren so mühselig eingerichteten Lebensschlupfwinkeln aufscheucht? Und dann meine Frau?! Wie soll ich es nur möglich machen, um heute abend nach Butzemanns Keller –«

»Das ist freilich des Teufels Küche!« grinste Wedehop. »Des Teufels Küche! Es wundert mich höchlichst, daß nicht schon lange einer unserer literarischen Arbeitgeber den Titel gefunden und ihn jauchzend, drei Bände angehängt, einem Verleger aufgehängt hat. Na, weißt du, ich hole dich ab aus deinem häuslichen Kreise; ich entreiße dich dem Schoße deiner Familie. Ich rede mit deiner Gattin. Ich habe es nicht leichtfertig ausgesprochen, daß ich deine gute Meta zu verheiraten gedenke. Punkt neun Uhr bin ich bei dir. Butzemanns Keller! Es ist meine feste Absicht, es dahin zu bringen, daß dich dein Weib selber jeden Abend nach Butzemanns Keller schickt.«

»Was den heutigen Abend betrifft, so würdest du mir in der Tat einen Gefallen tun, wenn du das möglich machtest«, seufzte der Leihbibliothekar.

»Nun, nun«, murmelte Wedehop, »wenn man auch selbst allgemach ein alter Junggesell geworden ist, so hat man doch seine Erfahrung darüber gewonnen, wie die Kreaturen aus der Arche Noäh zusammengehören und aufmarschieren, Löwe und Gemahlin, Affe und Gattin, Spinnerich und Frau. Sie heiratet Butzemann junior, das steht fest! Man will doch nicht ganz umsonst seine Nürnberger Naturgeschichte auf dem Christmarkt erstanden haben für die lieben Kinder seiner guten Bekannten und besten Freunde.«

Die Aussicht, am heutigen Abend in verhältnismäßig so später Stunde von Wedehop aus seinem Familienkreise abgeholt zu werden, drängte, für einen Moment wenigstens, alles andere in der Seele Achtermanns zurück. Aber wie kurz sind immerdar die Augenblicke des Behagens auf dieser Erde! Der Zufall, der sonst doch alles möglich macht, hat eines noch nie fertiggebracht, nämlich ein Wohlsein und Sichwohlfühlen des Menschen von einer Ideenassoziation zur andern.

»Aber sie will sich doch ein Buch von mir holen für den Abend!« rief der Leihbibliothekar. »Die Frau Professorin hat sie nur – für einen Augenblick heraufgerufen, und ich hatte ihr einen Band von Stifters ›Studien‹ bereits zurechtgelegt. Was soll ich ihr nun sagen? Ich bitte dich, Wedehop, was für ein Gesicht soll ich Fräulein Natalie jetzt machen?«

Der Übersetzer erhob sich, trat an den Ladentisch und fing an, in den Katalogen des Geschäftes zu blättern:

»Hm«, sagte er, »1177 Hölderlins gesammelte Werke. 6075 J. W. von Goethes sämtliche Werke, Ausgabe letzter Hand. Eines hatten die zwei Leute wenigstens gemeinschaftlich – der eine im Wahnsinn bei seinem Tischler in Tübingen, der andere als der Weiseste der Menschen und Großherzoglich Weimarischer Minister –: Sie legten sich regelmäßig sofort zu Bett, wenn das Leben zu scharf andrängte, – Gewährsleute: Wilhelm Waiblinger und Johann Peter Eckermann. Was du tun willst bis heute abend, wo ich dich abhole, ist in dein Belieben gestellt!«

»Du saßest mit ihm nur auf derselben Schulbank«, murmelte Karl Achtermann; »aber Paul Ferrari und ich, ich und er, wir waren –«

»Vögel aus demselben Nest der Lebensharmlosigkeit, nur daß den einen sein phantastisches Gefieder allzuleicht zu hoch über den gesunden Menschen- und Philisterverstand hinaustrug. So bist du denn Gatte deiner Gattin, Vater deiner Tochter und Inhaber dieses Sammelsuriums von bubbles und bouteilles des Menschengeistes geworden und leihst sie weiter aus, während der andere seine eigenen Seifenblasen, allem Abreden seiner guten Freunde zum Trotz, in die Lüfte blies und auf ihnen ritt, wie der Freiherr von Münchhausen auf seiner weltkulturhistorischen Kanonenkugel. Lies die Geschichten nach in deiner Bibliothek, Achtermann. Alles vergnügliche oder tragische Interesse, das wir soliden guten Leute und Staatsbürger an uns selber nehmen, haftet am letzten Ende doch einzig und allein in der spannungsvollen Teilnahme, die ihr von uns in Anspruch nehmt. Was in aller Welt würde mich auch sonst bewegen, heute abend auf Schlafrock und Pantoffeln zu verzichten, dich im harten Kampfe deinem Weibe zu entreißen und dich nach Butzemanns Keller zu schleppen? Es ist immer etwas, gleich dem Spiegel in der Putzstube zwischen zwei solchen Seitenstücken zu hängen wie du und unser guter Freund Paul Ferrari.«

»Ein schöner Spiegel!« hätte dreist der alte Achtermann seufzen können. Er tat es jedoch nicht; er war aber nach einer andern Richtung hin in die Bilder seiner Phantasie versunken und hatte die recht witzigen des Übersetzers leider gänzlich überhört oder übersehen.

»Ja, hole mich ab, Wedehop«, sagte er. »Tu mir den Gefallen. Wir sind von den frühesten Jahren an gute Freunde gewesen. Er soll nicht sagen können, daß ich mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte, weil es mir besser ergangen sei als ihm.«

< Sechstes Kapitel
Achtes Kapitel >



Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.