Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
2. Abschnitt
eingestellt: 20.7.2007Ich war natürlich auch nach Berlin bloß des Studierens wegen gekommen. Damit wurde es diesmal gar nichts. Die schlimmsten Befürchtungen meines armen Vaters trafen ein; ich verfiel für die nächste Zeit wieder vollständig dem Verderben, das nach der Meinung aller Verständigen in der Heimat von dem Freunde ausging. Ich hatte ihn wieder, und er hatte mich wieder am Kragen, und wie sich die Vögel mit demselben Gefieder sofort wieder um ihn zusammengefunden hatten, das mußte ein Wunder sein auch für den, der an keine Wunder in dieser nüchternen Welt glaubte.
Da war zuerst seine Stubenwirtin, die Frau Fechtmeisterin Feucht. Ein anderer hätte die Millionenstadt jahrelang nach der aussuchen können, ohne sie zu finden: auf ihren jetzigen jungen Herrn, auf »ihren Velten«, schien sie schon jahrelang gewartet zu haben, um, »was sehr nötig war«, Mutterstelle an ihm zu vertreten.
Wir klopften schon am zweiten Abend unseres Zusammenseins an ihre Tür, und er stellte mich der kleinen Dame vor mit den Worten:
»Hier ist noch einer aus dem Vogelsang, gnädige Frau. Ein bißchen langweilig, aber sonst auch ein guter Kerl und erziehungsfähig, sogar ein wenig über das Maß seiner Bildungsbedürftigkeit hinaus.«
Dem naseweisen, scharfmäuligen Pennal einen »dummen Jungen« aufzubrummen wäre wohl das Sachgemäße gewesen, aber wie immer kam ich auch jetzt nicht dazu, meine Stellung dem Knaben gegenüber zu wahren.
»Von Jena?« fragte die elfenhafte kleine Greisin, noch immer die Klinke ihrer Tür in der Hand haltend.
»Von Göttingen.«
»War zur Zeit meines Seligen auch noch ein anständiger Aufenthalt. Bitte näher zu treten, Herr, wenn ich recht gehört habe: Studiosus juris Krumhardt?«
Ich konnte das nur bestätigen, aber mußte mich doch ein wenig zusammennehmen, um es mit der notwendigsten Höflichkeit und Freundlichkeit zu tun; doch -
»Weshalb kommen Sie nicht von Jena?« fragte die Frau Fechtmeisterin jetzt schon von ihrem Sofa aus. »Setzen Sie sich doch, Velten; und Sie auch, Herr Krumhardt, und nehmen Sie mir meine Frage nicht übel: ich komme nämlich von Jena, mein Mann ist da begraben, und ich bin dort jung gewesen, da erkundige ich mich denn bei den jetzigen jungen Herren gern so nach dort und der alten Zeit, eben hier von Berlin aus, wo keiner von uns eigentlich so recht weiß, ob er dahin gehört.«
Da saß sie, ein weißhaarig Mütterchen, mit scharfem, hübschem Altfrauengesichtchen und Augen, die auf jeder Mensur dem Gegner imponieren mußten, und das »keiner von uns« kam so selbstverständlich, natürlich, sachgemäß heraus, mit einem Anklang von Fechtboden und Kneipe, daß - es gar nicht anders möglich gewesen war: sie und Velten Andres mußten sich im Leben treffen. Der Wohnungsnachweis: Frau Fechtmeisterin Feucht, war vom Schicksal nur für meinen Freund Velten berechnet gewesen, im Treppenhause der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. -
»So setze dich doch, Mensch«, sagte der junge Weise aus dem Vogelsang, der bereits die andere Sofaecke neben seiner Frau Wirtin einnahm; ich aber stand freilich noch und sah mich immer noch um. Die ganze Welt kam hier gar nicht in Betracht; aber in ganz Deutschland gab es kein Witwenstübchen, das diesem glich. Mitten in diesem Berlin diese ganze deutsche Jugend, soweit sie sich in Jena und auf ihren Verbindungsbildern zusammengefunden hatte! Alle Wände damit bedeckt; - dazwischen, wo nur ein Räumchen, alles voll von Schattenrissen mit allen Couleuren an Mütze und Band. Waffentrophäen statt des Spiegels, Schläger und Stulpen und was sonst dazu gehört, wo nur noch was aufzuhängen war. Keine Ritterdame des romantischsten Mittelalters hatte je zu der Ausstattung ihres Ahnensaales und ihrer Kemenate so gepaßt wie die Frau Fechtmeisterin Feucht zu dem Schmuck und der Zierde ihres Altweiberstübchens, wie gesagt: mitten in diesem Berlin!
»Sie sehen sich wie jeder zuerst bei mir um und wundern sich, Herr Krumhardt«, lächelte die feine Greisin. »Ja, wundern Sie sich nur. Seine Messer schärft sich unser Herrgott selber, aber den Schleifstein drehen ihm die Menschen. Da die alten Bilder - die Fliegen sind tüchtig drüber gewesen -, sie haben auch ihr Teil an den deutschen Geschichten der letzten Jahre. Es sind ein paar gute Klingen drauf, die unser Herrgott nötig gehabt hat; und da haben wir den Schleifstein ihm mit gedreht; das heißt nämlich mein Seliger! Ich habe nur an ihm und euch jungen Leuten meinen Spaß - Gott verzeihe es mir! -, meine Freude gehabt; denn ich bin auch mal jung gewesen, meine Herren.«
»Das ist recht, Frau Fechtmeisterin«, brummte Velten, »renommieren Sie nur dem alten Mann da mit Ihrer Jugend. Er kanns gebrauchen.«
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür und -
»Das ist mein Schneider!« lachte Velten Andres. »Nun hab ich ja meine ganze gegenwärtige Bekanntschaft in eurer Weltstadt vollständig beieinander.«
Der junge Herr aus dem Vorderhause, den ich gestern schon in der Stube des Freundes getroffen hatte, schob sich schüchtern herein in das Gemach der Frau Fechtmeisterin:
»Ich darf doch?«
»Ja, kommen Sie nur, Leon«, sagte die Frau Fechtmeisterin. »Weshalb haben Sie Ihre Schwester nicht mitgebracht? Aber freilich, die hat schon am Morgen bei mir gesessen, das liebe Kind, um mir Gesellschaft zu leisten.«
»Und um mal von was anderem zu hören als von des Lebens bezahlten und unbezahlten Schneiderrechnungen«, lachte Velten.
»Redet man davon soviel bei uns, Herr Andres?« fragte der junge Herr und reiche Haussohn aus dem Vorderhause ein wenig vorwurfsvoll.
»Nein! Wahrhaftig nicht. Soweit ich bis jetzt darüber urteilen kann, des Beaux. Ich habe im Gegenteil bereits meinem Freunde Krumhardt davon erzählt, wie kurios anders das da drüben bei euch rauscht, klingt und tönt. Wie das da bunt durcheinandergeht. Troubadourgeklimper, Albigenser-Schwert- und -Speergerassel, hugenottischer Orgelklang und Chorgesang. Der Knabe aus der germanischen Provinz ist schon fest überzeugt, daß er in diesem seinem Berlin keine zweite gleich großartige Schneiderbude finden wird. Da habe ich Ihnen natürlich schon vorgearbeitet, Leon; übrigens bürge ich auch für jeden Pump, den er bei euch anlegt.«
»Aber Herr Andres?«
»Jawohl, mein Herr Andres«, sagte die Frau Fechtmeisterin Feucht, »seien Sie nicht zu naseweis und ausfallend. Dafür kennen auch wir beide uns doch erst zu kurze Zeit, als daß ich für alle schlechten Witze hier bei mir den Fechtboden hergeben möchte.«
»Karl, ich werde wieder verkannt!« seufzte kläglich mein Schulfreund aus dem Vogelsang. »Was habe ich denn anders sagen wollen, als daß Sie ein famoser Kerl sind, des Beaux, - ein Prachtmensch, der allen seinen großen Ahnen vor und nach dem Edikt von Nantes die Stange hält. Hat denn der Große Kurfürst nicht seine Leute zu euch geschickt, um sich den Rock bei euch wenden zu lassen? He, und da soll ich nicht einmal meinen Freund Krumhardt in das Vorderhaus empfehlen dürfen, um ihn hier am Ort in die beste Gesellschaft zu bringen?«
»Das läßt sich wieder hören, Leon«, meinte die Frau Fechtmeisterin.
Leon des Beaux aber drückte Velten Andres mit Tränen in den Augen die Hand und sagte schämig zu mir: »Mein Herr, es wird mir eine große Ehre sein, auch Ihre Bekanntschaft zu machen. Herrn Studiosus Andres kenne ich schon, habe ich die Ehre zu kennen.«
»Lassen Sie das Vergnügen nicht aus«, brummte der »Junge aus dem Vogelsang«.
»Nun sage mir vor allen Dingen, wie bist du eigentlich zu der Bekanntschaft mit dem, wie es scheint, wirklich nicht übeln, scheuen Jüngling, diesem Schneider mit dem Namen Leon des Beaux gekommen?« fragte ich später am Abend auf dem Wege zur Kneipe den Freund.
»Wie man öfters zu allem Schönen, Nützlichen, Guten und Angenehmen sowie dem Gegenteil kommt - durch Zufall. Ich zog ihn wie damals Schlappen heraus; aber diesmal nicht unterm Eise weg, sondern aus dem Feuer - nämlich unserer schlechten Redensarten.«
»Unserer schlechten Redensarten?«
»Wenn dir dumme Witze, anzügliche Bemerkungen, rüde Anrempeleien lieber sind und besser klingen, mir auch recht. Die Fabel oder Wahrheit von der Krähe, die sich zum erstenmal zu Äsops Lebzeiten mit Pfauenfedern besteckte, kennst du wohl noch. Sie kam in diesem Abkömmling des Landes des Weins und Ölbaums, der Sonne und der Gesänge von neuem auf die Bühne der Welt, und ich natürlich ganz zur rechten Zeit, um meinen Spaß und nachher auch ein bißchen meinen Ernst dran zu haben. Das romantische Rindvieh hatte sich an einem der ersten Tage meines hiesigen Aufenthalts aus seiner Akademie für körperliche Bekleidungskunst im Roten Schloß in unsere Bude für geistige Maskierung dem Alten Fritz gegenüber verirrt, das heißt, sich als Hospitant in ein Kolleg über Ästhetik, in das ich auch die Nase steckte, eingeschlichen. Dummeres gab es gar nicht, ich meine nicht den lesenden Herrn Professor, sondern meinen Freund Leon des Beaux; doch das letztere wurde mir erst klar, als ich ihn zu Hause besucht hatte. Fürs erste war er für mich nur das in dem Dornbusch hängengebliebene scherzhafte Schafvieh. Philister über ihn! Der Hauptflegel, ein langer Bierlümmel mit der erbrechtlichen Anwartschaft auf den Landrat, Regierungspräsidenten oder sonst so was Schönes, der, wie sich nachher mir erklärte, mit dem Papa des Beaux hing, das heißt nach endlich bereinigtem Pump seine Rechnung noch mit ihm abzumachen hatte! Wie ich provinziales Unschuldswurm sofort in die Narrenteiding hineingeriet und mich sonderbarerweise auch der Situation gewachsen fühlen konnte, ist mir bis jetzt noch ein Rätsel. Es muß wohl so in mich gelegt sein, und im Grunde wars doch auch wieder nur der reine Vogelsang, wenn es da hieß: der Bengel muß doch bei jedem Unsinn und Skandal das Maul und die Faust im Spiel haben. Na kurz, du kannst dir das Ding jetzt schon ausmalen. Erst Hinhorchen, sodann ulkhaftes Vergnügen an dem Hauptwitz, Nähergehen, Umschlagen des Spaßes in sein Gegenteil, darauf die gewöhnlichen Redensarten bis zu dem: Herr, der dumme Junge sind doch nur Sie! ... Die Hauptsache war, daß ich meinen idealischen Schneider herausriß. Was sich nachher sachgemäß mit den Herren Kommilitonen an den Vorgang knüpfte, ist erledigt und Rechenschaft nach Goethes sämtlichen Werken Band eins gegeben worden. Selbstverständlich fühlte auch ich mich ein Mannsen und
... gedachte meiner Pflicht,
Und ich hieb dem langen Hansen
Gleich die Schmarre durchs Gesicht.
Wie sagt doch der andere Kerl aus Weimar? ... Die Blinden in Genua horchen auf meinen Schritt, oder so ungefähr. Fürs erste glaube ich mich in dieser Hinsicht hier bei euch im großen Weltleben gut genug gerauft zu haben. - Meinen zitternden Schneidersohn nahm ich unterm Arm: ›Nu, nur nicht ohnmächtig werden, Sie armes nasses Huhn! Sagen Sie mir um Gottes
willen, was wollten Sie hier in dieser gemischten Gesellschaft? Und dann, wo wohnen Sie? Mein Name ist übrigens Andres.‹ - ›Meiner des Beaux - Leon des Beaux‹, stammelte das Geschöpf. - ›Aus Paris?‹ - ›Aus der Dorotheenstraße.‹ Da wir denn so ziemlich unter einem Dache wohnten, wie sich auswies, benutzten wir ein und dieselbe Droschke nach Hause, denn der Knabe war zum Gehen nicht mehr ganz in der nötigen Beinverfassung. Daß er mir am folgenden Tage bei
meiner Frau Fechtmeisterin einen Besuch machte, war schicklich, würde meine Mutter sagen. Daß er mich einlud, nun auch zu ihm zu kommen und die Seinigen kennenzulernen, unnötig ... Krumhardt, ich kann jetzt auch dich dort einführen in der Familie! Würde es dir Vergnügen machen, das Haus des Beaux und Fräulein Leonie des Beaux kennenzulernen?« ...
Wenn ich heute an jene Redensart des Freundes denke und das Haus des Beaux, so wird es sehr licht um mich, und der Schein geht von den
Leuten aus, zu denen ich damals geführt wurde. Der Junge aus dem Vogelsang, von der Schulbank, aus dem Pandektenkolleg und der Korpskneipe lernte wieder ein Stück Erde oder Welt kennen, von dem er nichts gewußt hatte, von dem er ohne Velten Andres auch wohl nie etwas erfahren haben würde. Seine übrigen gleichalterigen Lebensgenossen würden ihm wohl nicht dazu verholfen haben; schon in der Befürchtung, sich vor ihrer Welt durch zu genaue Bekanntschaft mit ihrem Schneider lächerlich zu
machen. -
Sie kam uns von ihrem Flügel entgegen, Fräulein Leonie des Beaux. Ein hochgewachsenes, ruhiges Mädchen, ein schönes Mädchen, dessen freundlichem Gesicht es nichts tat, wenn sich über den großen, aber etwas kurzsichtigen schwarzen Augen die schwarzen Brauen dann und wann in eins zusammenzogen. Böse wollte sie dann nur selten hinsehen, nur etwas schärfer.
»Hinweise auf das Mittelmeer, Donjons, Falkenjagd, Zelter, Windspiele und König Renés Minnehöfe kannst du dir
sparen, Krumhardt«, sagte Velten. »Ich habe sie alle schon selber gemacht. Auch den auf den Kastellan von Coucy und die Dame von Fayel. Übrigens, Karl, standest du gestern vor der lieben Kleinen grade so dumm, wie wenn du in Obertertia die Uhlandsche Simpelei dem Oberlehrer Knutmann zu deklamieren hattest.«
Er sagte dieses natürlich nicht in ihrer Gegenwart, sondern als wir wieder vor der Tür waren, und fügte hinzu: »Nun, was meinst du zu den Leuten?«
Man kann bei dem, was
man »von den Leuten meint«, auch ein Gefühl haben von ihrer Umgebung, welches vollständig dazu gehört und nicht davon zu trennen ist. Dieses traf hier ganz und gar ein, und ich wußte nichts zu erwidern als: »Ausnehmend anständig.«
Heute würde ich sagen: es war ein vornehmes Haus, in welches wir gekommen waren; aber man hat ja so seine besondere Redensart für jede Lebensepoche. - Es war auch ein sehr wohlhabendes Haus, das auf dem besten Wege war, zu einem reichen zu werden. Mir
imponierte es sehr, meinem Freunde Velten nicht im mindesten; der war da sofort so bei sich wie früher bei Hartleben im Vogelsang und jetzt bei der Frau Fechtmeisterin Feucht. Und es war dasselbe wie zwischen den grünen Hecken des Vogelsangs: es kam wieder ein schönes Mädchen für ihn an den Zaun, nur diesmal nicht, um sich mit ihm zu zanken, zu vertragen und wieder zu zanken. Leonie des Beaux zankte sich mit niemand in der Welt und vor allem nicht mit einem, dem sie sich zu Dank verpflichtet
glaubte, weil er gegen »unser Kind«, ihren Bruder, gut gewesen war.
»Aber es sind ja auch beide ein paar Kinder«, sagte sie später, als wir zwei vertrauter und ganz bekannt miteinander geworden waren. »Ihr Herr Freund und mein armer Leon passen zueinander wie Hand und Handschuh. Herr Andres ist freilich die Hand. Ich freue mich recht, daß sie zusammengekommen sind, wenn auch durch eine so lächerlich-tragische Torheit meines närrischen Bruders. O Herr Krumhardt, bitte, nehmen Sie
meinen Bruder nicht lächerlich! Man kann auch in einer Stadt wie Berlin noch immer in einem stillen Märchenwinkel aufwachsen, und das sind wir beide, Leon und ich; und mein Papa hat dazu geholfen (meine Mama ist lange tot), daß wir so geworden sind - Leon besonders, denn er hat von uns zweien immer die unruhigste Phantasie und Seele. Übrigens ist er doch auch ein rechter, guter Kaufmann. Er führt die Bücher da unten in unserm Geschäft, und Papa ist recht mit ihm zufrieden. Aber Papa ist
eigentlich auch sehr mit daran schuld, daß wir so aufgewachsen sind in Einbildung und Träumen. Das hat sich so von einer Generation zur andern weitergegeben, seit wir unter Ludwig dem Vierzehnten nach Brandenburg zu dem Großen Kurfürsten gekommen sind. Ach, Herr Krumhardt, die Kinder des Schneiders des Beaux haben ihr Hausheiligtum und ihre Ritterbuchbibliothek wie der edle Junker Don Quijote von la Mancha. Hat Leon Sie noch nicht hineingeführt? Das wundert mich! Herr Vel- Herr Andres sitzt sehr
häufig dort und hat auch schon manches Merkwürdige da gefunden, wie er sagt. Soll ich für Sie da auch sagen: Sesam öffne dich?«
»Das würde sehr liebenswürdig von Ihnen sein, gnädiges Fräulein.«
»Oh, spotten Sie nur über die Firma des Beaux, Vater und Sohn!« -
Es war hier wirklich kein Grund zum Spotten. Das Haus des Beaux hatte nicht nur seinen Salon, seinen Konzertflügel samt reichen Teppichen, Kronleuchtern, schönen Ölgemälden, Kupferstichen und dergleichen,
was sonst zum laufenden Tag gehört; es hatte auch seine Bücherei, und in diesem nüchternen Berlin des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, heraus wie aus dem siebenzehnten Säkulum und in den Einzelheiten noch viel weiter zurück in den Zeiten und Historien, sein Museum. Wie die Leutchen es zusammengebracht hatten, war schon an und für sich ein historisches Wunder. -
»Von unseren angestammten Familienheiligtümern haben wir wenig mitbringen können in die Mark«, erklärte Fräulein
Leonie. »Vieles ist geerbt oder angeheiratet; aber echt ist alles. Papa kommt durch seinen Beruf nicht selten nach Paris, und dann reist er gewöhnlich auch nach Südfrankreich, und sein Vater und Großvater haben das auch so gemacht. Papa kommt nie nach Hause, ohne sich und uns Kindern etwas von dorther mitzubringen. Bitte, nehmen Sie Platz!«
Das sah man, als sie sich an dem schwerfälligen, kugelfüßigen, grünbehangenen Studiertische in der Mitte des Gemachs niederließ, daß nicht nur
alles umher echt war, sondern daß auch sie zu diesem Raume gehörte, und - ihr Bruder auch.
»Hier sitzen wir denn und denken uns zurück«, sagte Leonie. »Dann liegt auch für unsern Vater, oder grade für den erst recht, der Tag und unser Geschäft wie auf einem andern Weltball. Und hier ist an Leon und mich alles gekommen, was wir für unser Bestes halten und was den Leuten mit vollem Recht sehr komisch erscheinen muß, wenn wir damit unter sie geraten. Ich komme wohl nicht in die
Verlegenheit; aber mein armer Bruder von seinem Schreibpult im Kontor drunten leider doch dann und wann, und so neulich wieder in Ihrer Universität, wo Herr Andres so gütig war, sich seiner anzunehmen. Er, Leon, hat es noch nicht so recht gelernt, den Traum und das Leben auseinanderzuhalten, und kommt also nur zu oft wie ein geschlagenes Kind nach Hause, und es kostet Wochen in diesem unserm Phantasiestübchen, ehe er sich wieder zurechtgefunden hat in der Welt. Wir haben eigentlich da draußen in
der Zeitlichkeit einen großen Umgang, und darunter sucht er denn wie der alte Grieche nach Menschen, die zu ihm passen. Ach, wenn er dann nur ausgenutzt und gehänselt würde, so wollte ich gar nichts sagen; aber er wird auch gekränkt und bis ins Tiefste verwundet, und wenn ich auch die Älteste und die Vernünftigste bin - ein noch älterer Bruder von uns ist bei Mars la Tour gefallen -, so kann ich doch nur allzuoft ihm gar nicht helfen. Mich hat dieser grade für uns so schreckliche Krieg mit
Frankreich nun wohl schon lebensverständig und tagesnüchtern genug gemacht in unserm hiesigen französischen Altväter- und Kinderzauberreich; aber ach, wenn ein Mensch es noch nötig hat, einen echten Freund zur Seite zu haben, so ist das mein armer Bruder! Und jetzt, Herr Krumhardt, nehmen Sie es mir nicht übel, jetzt hält er wieder einmal Ihren Herrn Freund, Herrn Andres, für einen solchen, und ich, ich - ich weiß nicht, wie ich Ihnen das sagen kann und ob ich es Ihnen sagen darf: ich weiß
nicht, ob ich Freude oder Angst haben soll. Mein Bruder hat so viele Bekanntschaften gehabt, aber dies ist die erste, in der ich mich ganz und gar nicht zurechtfinden kann. O bitte, sagen Sie es sich selber besser, als ich es kann! Aber es wäre nicht edel und gut von Ihrem Freund, wenn er meinen lieben närrischen Leon noch mehr als ein anderer und bloß etwas feiner, also schlimmer, als ein armes Spielzeug behandeln würde.«
Es hat mein Freund Velten, von unserm ersten
Zusammenaufwachsen im Leben und Vogelsang an, mir nie so ganz und gar mit allem, was in und an ihm war, vor der Seele gestanden wie in diesem Augenblick. Ich hätte eine Monographie über ihn schreiben und Doktor darauf werden können; aber zu erwidern wußte ich hier und jetzt nichts als:
»Gnädiges Fräulein, da können Sie ganz ruhig sein. Lustig macht sich der nur über sich selber. Da fragen Sie nur im Vogelsang nach. Ich will grade nicht sagen, daß er einen guten Ruf dort hatte in
dieser Hinsicht; aber das war doch einfach bloß darum, weil ihn eigentlich nur drei Leute da ganz genau kannten. Seine Mutter, ich und - Ell- Fräulein Helene Trotzendorff.«
»Wohl eine liebe Tante von Ihrem Herrn Freunde?« fragte Leonie, und ich hatte mich wirklich erst einen Augenblick drauf zu besinnen, auf wen die Frage sich bezog. Aber es war ja auch richtig, damals ist Mistreß Mungos Mädchenname zum ersten Male in dem historischen Traumstübchen der Geschwister des Beaux genannt
worden.
Er ist noch oft dort erklungen. Er wurde ein sehr vertrauter Klang da.
»Siehst du, Karl, man findet überall die Leute, zu denen man paßt. Wie wir hier zusammenhocken, wir vier jetzt, ist das nicht grade dasselbe, wie damals, als wir drei aus dem Vogelsang auf dem Osterberge im Wald lagen und das niedliche Residenznest unter uns hatten? Haben wir heute abend nicht ebenso dies Berlin unter uns? Nur immer über den Dingen bleiben und möglichst wenig von ihnen haben wollen! Fragen Sie nur den Kandidaten beider Rechte hier, Fräulein Leonie. Der steht vor dem Referendarexamen und beantwortet Ihnen jegliche Frage aus und über Banausien mit Eins A. Leon, Sie sind und bleiben ein Riese, und wenn Sie mich noch so schafsmäßig anstarren. Was sagen Sie übrigens zu dem letzten New Yorker Briefe meiner Kleinen, Fräulein Leonie? Das arme Wurm scheinen sie drüben schon sauber eingeseift zu haben; ich wollte, ich hätte sie heute abend auch hier bei uns, um ihr den Kopf zurechtzusetzen. Und Sie würden mir dabei helfen, nicht wahr, Fräulein Leonie?«
»Sie hat Ihnen einen sehr hübschen Brief geschrieben, Herr Andres«, sagte Leonie des Beaux leise. »Sie scheint in einem großen Leben zu leben und gibt sich doch alle Mühe, treue - Freundschaft zu halten mit - mit -«
»Dem Vogelsang, dem Osterberge, kurz, der deutschen Kinderstube«, lachte Velten. »Das wollte ich ihr aber auch geraten haben«, setzte er ein wenig mit den Zähnen auf der Unterlippe hinzu, und dann kaum hörbar für sich: »Sie weiß es ja aber auch, daß ich sie ihr ganzes Leben lang nicht loslasse.«
Leonie hatte das letzte Wort aber doch gehört: »Gibt es solch einen festen Griff auf dieser Erde?«
»Was man will, kann man durchsetzen, meinte unser alter Oberlehrer Doktor Langemann auf unserm Gymnasium zu Hause. Fragen Sie nur Krumhardt, Fräulein, der hat sich in seiner Lebensauffassung auch nach dem Wort gerichtet und geht als Sieger zu den Toten.«
»Rede kein Blech, Velten!«
»Ich bin niemals mehr gediegenes Erz gewesen als an diesem Abend und unterm Auge des alten Hugenottenpastors und des jungen Albigenserritters da an der Wand. Die haben sie vielleicht ihrerzeit lebendig gebraten, aber haben die zwei nicht noch heute ihre Faust am Kragen hier meines intimen Freundes, Monsieur Leon des Beaux aus Albi? Übrigens haben wir, Lenchen und ich, schon lange vor Ihrer Frage, Fräulein Leonie, eine Wette auf dem Osterberge draufhin gemacht, wer von uns beiden den festesten Griff habe und den andern zu sich holen werde. Selbstverständlich und naturgemäß hat sie gegenwärtig die obere Hand, und ich werde es meiner Alten zu Hause nicht ersparen können: ich muß hinüber zu ihr nach Amerika.« - -
Es ist unaktenmäßig in den Akten: wir haben damals solche Unterhaltungen geführt in Leons und Leonies romantischem Zauberstübchen in der Stadt Berlin. Und es sind auch solche Briefe, von denen Velten Andres redete, - Briefe, die Helene Trotzendorff hinter dem Rücken von Vater und Mutter geschrieben hatte, dort von Hand zu Hand gegangen. Wie sehr erwachsene, verständige, vernünftige Leute wir draußen in den Gassen der Reichshauptstadt sein mochten, in Leonie des Beaux Reiche waren wir noch dergestalt unmündig Volk, daß wir die höchsten Ehrenstellen und Sitze im Kinderhimmel des Evangeliums hätten in Anspruch nehmen dürfen. Und wir wußten es natürlich nicht und hielten uns im Gegenteil für außerordentlich weltklug, Fräulein Leonie vielleicht ausgenommen.
Die achtete mit immer größeren, schärferen und - ängstlicheren Augen auf den neuen Freund ihres Bruders, auf den närrischen Velten Andres. Daß es mir freilich damals aufgefallen wäre, kann ich nicht sagen: ich kann es eben nicht genug wiederholen, daß das meiste aus dieser Vergangenheit mir selber erst klar und deutlich wird und einen logischen Zusammenhang gewinnt, wie ich diese Blätter beschreibe und - paginiere.
Ob er, der Junge aus dem Vogelsang, je in seinem Leben einen Begriff davon bekommen hat, was diese großen, anfangs so freudigen, dann mehr und mehr ernsten, traurigen Augen für ihn bedeuteten, weiß ich nicht. Wie viele treu besorgte Blicke aus lieben Augen gehen einem verloren, während man auf das Zwinkern, das Schielen und Blinzeln der Welt rundum nur zu genau achtet und sich sein Teil Ärger, Kummer, Sorgen, Verdruß und Verzweiflung draus holt!
Seltsamerweise hatte Leonie des Beaux das größeste Vertrauen zu mir, und durch mich wußte sie allgemach ebensogut als ich, wie es im Vogelsang aussah, oder vielmehr (schon damals) ausgesehen hatte. Sie kannte nicht bloß die Familie Krumhardt, Vater, Mutter und Sohn, sondern sie kannte auch den alten Hartleben und Mistreß Trotzendorff - letztere in ihrer Verdunkelung wie im blendendsten Glanze. Sie hatte an jeder grünen Hecke mitgelehnt, in jeder Gartenlaube mitgesessen; sie kannte den Osterberg und die zierlichen Promenadenwege und Bänke am Rande des Waldes und die Aussicht auf die kleine, zierliche Residenz drunten im Tal. Wovon sie aber am genauesten Bescheid wußte, das war - seine Mutter, die Frau Doktorin Andres und ihr Häuschen - neben uns an, hinter dem nächsten nachbarschaftlichen, lebendigen Liguster-, Stachel- und Johannisbeerzaun zwischen Mein und Dein im Hypothekenbuch. Ja, wie ich das jetzt schreibe, erfahre ich es erst, wie gut sie bei seiner Mutter Bescheid wußte - damals - und wie sie vom Keller bis zum Dache sich in dem kleinen Hause unter dem Osterberge zurechtgefunden haben würde, wenn man ihr den Türgriff in die Hand gegeben hätte. Ach, wie häufig geschieht das, daß wir seufzen: »Ja, wenn das und das gewesen wäre, so hätte sich alles so leicht zum Bessern - zum Besten wenden können! Es war ja so einfach, es lag ja so vor der Hand! Man brauchte in der und der Stunde, in dem und dem Augenblick nur zuzugreifen, um das Richtige für einen ganzen langen guten, glückseligen Lebensweg zu treffen. Eine Wendung von der Rechten nach der Linken, oder umgekehrt, genügte vollständig, wenn wir nicht so blind, so dumm gewesen wären!« - Was wissen wir aber eigentlich hierüber? - - - - - - - -
Das Verhältnis zwischen Velten und Leon, dem besten, klarsten Kopfe des Vogelsangs und dem besten, harmlosesten und verworrensten der Stadt Berlin, vertiefte sich ebenfalls immer mehr. Für dieses weiß ich kein edleres und schöneres Gleichnis als das sehr edle und sehr schöne: die Freundschaft zwischen einem lieben, klugen, bis in den Tod und das Lächerlichwerden getreuen Hunde und seinem Herrn, Eigentümer und - besten Freunde. Damals!
In Velten Andres hatte der arme, glückliche, reiche Haussohn aus dem Schneiderladen alles gefunden, was er bis dahin in Berlin und der weiten Welt außerhalb des Familienzauberturms vergeblich gesucht hatte - einen von der allgemeinen Heerstraße gleich ihm verlaufenen Genossen, der in der rechten Weise über ihn lachte und ihm mit jedem Lachen und Lächeln und durch jeden kameradschaftlichen Schlag auf die Schulter, jedes Zupfen am Ohr das Herz mit in seine Höhe hinaufnahm. Nein, das Herz nicht; nur den Kopf. -
Kein Hund und keine Liebende konnten um diese Lebensstunde auf den Geliebten, den Herrn und den Freund genauer achtgeben, besorgt-freudiger auf jedes Wort, jeden Wink, jede Bewegung beim stillen Nebeneinander und im menschenvollen Gesellschaftszimmer, kurz, bei jeder Lebenskomödienszene passen als Leon und Leonie des Beaux auf alles, was Velten Andres sagte und tat oder - nicht sagte und nicht tat. Daß er das so deutlich wußte wie ich, glaube ich nicht: sein späterer Lebensweg spricht dagegen. Er war es eben zu sehr gewohnt, daß die Leute ihm nachsahen und er nicht über sie hinweg, sondern durch sie durch in seine Welt hinein auf seine Weise, die nur sehr selten mit der - unsrigen übereinstimmte. Mit der unsrigen! Denn wie oft habe ich schon zu Hause, im Vogelsang, den Vernünftigen dort recht geben müssen, wenn sie meinten: »Der Junge ist rein verrückt!« -
Es war ein wunderlich behagliches Leben dort bei der Frau Fechtmeisterin Feucht in Veltens erstem Studentenstübchen und in des alten deutsch-französischen Schneidermeisters und seiner Kinder Zaubererinnerungsraum. Von außen sah man es dem Hause in der Dorotheenstraße wahrhaftig nicht an, was es in seinem innersten Innern barg. Daß ich, ein deutscher Studiosus der Jurisprudenz, nach Berlin gekommen sei, um mich in meiner Wissenschaft daselbst noch mehr zu vervollkommnen, ging mir von Tag zu Tage mehr aus dem Begriff verloren. In dieser Beziehung war es ein Glück zu nennen, daß mein Aufenthalt mir nur kurz von meinem Vater bemessen worden war. Die einzige, der ich zu Hause dieses Semester hätte begreiflich machen können, war die Frau Doktorin Andres. Die aber wußte natürlich schon sehr Bescheid, wies auf einen Haufen Briefe aus der Reichshauptstadt und lächelte trübe:
»Ja, ich weiß schon. Daß sich das Kind drüben in Amerika wieder zu den Seinen finden würde, wußte ich.«
Mit einem leisen Seufzer und seinem Blick über die nächste Nähe fügte sie hinzu und glaubte fest an ihr eigen Wort:
»Du kennst ihn ja, lieber Karl, und weißt, wie wenig Einfluß ich von jeher auf ihn gehabt habe.«
So reden die Weiber, wie sie das Glück und das Elend, das Beste und das Schlimmste auf diesem Erdball weitergeben! -
Er ist doch mein Freund gewesen, und ich der seinige. Ich habe sein Leben miterlebt, und doch, grade hier, vor diesen Blättern, überkommt es mich von Seite zu Seite mehr, wie ich der Aufgabe, davon zu reden, so wenig gewachsen bin. Ich habe alles erreicht, was ich erreichen konnte; er nichts - wie die Welt sagt - und - wie ich mich zusammennehmen muß, um den Neid gegen ihn nicht in mir aufkommen zu lassen! Was kann ich heute an seinem Grabhügel andres sein als ein nüchterner Protokollführer in seinem siegreich gewonnenen Prozeß gegen meine, gegen unsere Welt? Was aber würde erst sein, wenn ich auch nicht mein liebes Weib, meine lieben Kinder gegen diesen »verlorengegangenen«, diesen - besitzlosen Menschen mir zu Hülfe rufen könnte? - - -
Wie gesagt, ich mußte nach Haus ins erste juristische Examen und ließ ihn in Berlin, in einer Gesellschaft, oder besser Genossenschaft, die damals schon nicht mehr bloß aus der Familie des Beaux bestand.
Das Beste aus dem Vogelsang, der Form wie dem Gehalt nach, in der Dorotheenstraße zu Berlin! Wie in dem Stübchen der Frau Fechtmeisterin die Trophäen des alten seligen Jenenser Lanistra oder, wie Leon ihn in seinen Chroniken fand, Maistre escrimeur ihr innerlichstes Behagen durch ein leises Schütteln und Klirren ausdrückten! Wie die Frau Fechtmeisterin manchmal ihren »närrischsten und liebsten dummen Jungen« am Ohr nahm und rief: »Jetzt hören Sie aber auf, Sie junger Schulfuchs! Sind wir die sieben Schwaben an einem Spieß, oder sind wir die vier Haimonskinder auf einem Gaul? Ich weiß es wirklich nicht. Und Sie, Fräulein Leonie? Geht es Ihnen auch so wie mir, daß Sie nie recht wissen, was das Menschenkind eigentlich für Ernst nimmt? Ja, ob er jemals in seinem Leben schon irgendwas für Ernst genommen hat? Ich für mein Teil habe mir seit lange nicht so oft wie jetzt meinen Seligen hergewünscht, um diesem jungen Leichtsinn und Phantastikus den richtigen Waffensegen zu geben, daß die Philister ihn uns nicht auf seinem Lebenswege zum Krüppel geschlagen im Chausseegraben liegenlassen. Velten, Velten, nehmen Sie das Wort der Fechtmeisterin Feucht drauf an, daß sie ihrerzeit manche gute Klinge aus mancher festen Faust hat schlagen sehen. Nicht alles, was auf der Mensur in den Lüften blitzt und leuchtet, sitzt nachher auf die richtige Weise und bringt eine saubere Abfuhr zuwege. Da mag man doch aufs Tapet bringen, was man will, Herr Andres: solch ein armer, unschuldiger, pudelnärrischer Draufgänger, mit der Gabe, den Spieß zu ärgern, wie Sie ist mir weder in Jena noch hier in Berlin noch sonst in meinem lieben, langen Leben vorgekommen. Den Herrn Leon frage ich nicht um seine Meinung; aber was ist Ihre Ansicht, Fräulein des Beaux?«
»Man kann auch unter den Fußtritten der Leute auf der Landstraße und in der Gasse auf Salas y Gomez sterben«, sagte Leonie des Beaux leise. Damals ging das Wort an mir vorüber in der lachenden, lustigen Unterhaltung, wie das so gewöhnlich ist, und ich habe mich vielleicht höchstens einen kurzen Augenblick darüber verwundert, wie das Mädchen dazu kam. Heute haftet mein Blick, von meinem Schreibtisch aus, über das benachbarte Hausdach hinweg auf einer bewaldeten Hügelkuppe. Das ist der Osterberg, auf dem wir, da wir noch Kinder waren, die Sternschnuppen, die Tränen des heiligen Laurentius, fallen sahen und es versuchten, bei jedem fallenden Funken einen Wunsch zu haben, um ihn in Erfüllung gehen sehen zu können.
Einen Tod auf Salas y Gomez, das heißt einen einsamen Tod, aber - nach dem Wege und Siege des Welteroberers wünschte sich Velten Andres damals.
Sein Wunsch ist ihm erfüllt worden! Er hat die Welt überwunden und ist mit sich allein gestorben. - - -
Also, wie gesagt, ich ließ ihn in Berlin, bestand zu Hause ehrenvoll, und wie es mein Vater auch gar nicht anders erwartet hatte, mein erstes juristisches Examen, wurde der nächsten Behörde, die eine Lücke für mich aufzuweisen hatte, als rechtskundiger Katechumene zugeteilt, entsprach den Anforderungen meiner Vorgesetzten und sah, wie mein Papa, dem zweiten »stärkern Licht«, das heißt der nächsten Prüfung, mit nicht ungerechtfertigtem Vertrauen entgegen. Er kam einige Male in den Ferien zu seiner Mutter heim und - stellte dem Vogelsang sowie der Residenz seinen Freund, Herrn Leon des Beaux, vor, indem er ihm sein Bett in seinem Schülerstübchen unterm schrägen Dache der Frau Doktorin abtrat, selber auf dem Sofa kampierte und (auch durch mich) in der Hauptstadt verbreitete: den Titel »Vicomte« habe die Familie im Laufe der Jahrhunderte einschlafen lassen, aber die französische Republik erkenne ihn heute noch an, und der schüchterne junge Mensch habe für jeden, der ihn zu nehmen wisse, einen unbegrenzten Kredit bei seinem Herrn Vater in der Tasche.
»Das geht ja noch über Schlappe!« seufzten unsere Zeitgenossen in der Heimat, fügten jedoch beruhigt hinzu: »Na, er wird wohl wieder nichts damit anzufangen wissen und seine guten Karten nicht aus Dummheit, sondern purer Suffisance abermals aus der Hand geben.«
»Was haben Sie den Herrschaften hier eigentlich über mich aufgebunden?« fragte wohl (und hatte das Recht dazu) der Sohn und Erbe des jetzt wohlhabendsten und berühmtesten Schneidermeisters von Berlin an der Spree, in gewohnter schüchterner Verlegenheit die Hände aneinander reibend. »Die Leute sind doch ganz gewiß nicht meinetwegen so liebenswürdig gegen mich an diesem entzückenden Orte.«
»Bloß Ihretwegen, Leon! Ich habe nur beiläufig fallen lassen, daß Sie mein guter Freund sind und daß mir Ihr Herr Vater sein Haus und einen Crédit illimité, das heißt Riesenpump, bei sich eröffnet habe. Krumhardt kann das bezeugen und unsere Alte da auch, Monsieur le vicomte.«
»Jaja!« lachte die Frau Doktorin Andres. »Beruhigen Sie sich aber nur, mein lieber Freund; solchen schlimmen Ruf unter den Leuten können Sie sich schon gefallen lassen. Es ist noch nicht die schlimmste Art, um verlegen zu werden, wenn einem die Leute in den Gassen nachgucken.«
»Monstrari digito«, entfuhr mir selbstverständlich, und ebenso selbstverständlich fuhr Velten Andres fort im Zitat:
»Et dicier Hic est!«, fügte aber natürlich hinzu, und zwar grinsend: »Herrje, er weiß auch hierfür ein Zitat! Leon, wünschen Sie heute nachmittag im Kasinokonzert den vornehmen Fremden zur Darstellung zu bringen, oder legen Sie sich lieber mit mir in den Wald am Schluderkopfe und wehren mir die Fliegen ab?«
»Aber Velten?!« murmelte selbst die Nachbarin Andres; doch ihr Sprößling meinte:
»Ich arbeite ja dabei an seiner Bildung, Mama. Na, wie ists, Leon? Und wie ists mit dir, Auskultatore oder zu deutsch: Aufmerker, auch, nach Heyses Fremdwörterbuch, Sitzungszuhörer?«
Auch ich verzichtete auf das Gartenkonzert der bessern oder besten Gesellschaft des Städtleins, und so durchstreiften wir die Wälder auf den Hügeln auch diesmal wieder wie in unserer Knabenzeit, und unsere Kameradin, Helene Trotzendorff, ging wieder mit uns. Velten hatte wieder einen Brief von ihr in der Tasche, über den er mit seiner Mutter schon manches gesprochen hatte und von dem er nunmehr auf dem Schluderkopfe auch uns genauere Mitteilung machte. -
Wir hatten heute alle unsere Kindermärchenwinkel in unserm frühern Zauberreich wieder aufgesucht, der Freund und ich, und uns vor dem »hohen Gast aus der Reichshauptstadt« nicht im mindesten geniert. Vor wem hatte sich übrigens Velten Andres auch je in irgendeiner Weise »geniert«?
Er hatte uns geführt. Von Busch zu Baum, vom Fels zum Weiher, durch den ganzen Zauberwald mit einem fortwährenden »Weißt du noch, Karlchen, hier? Erinnerst du dich noch, Krumhardt, da?« bis auf den Schluderkopf zu einem kurios verästelten, hohen Eichenbaum, an dem freilich für die drei Nachbarkinder aus dem Vogelsang ein wirkliches Abenteuer hing -
Hier hatte sie sich einmal verklettert, und ihm war es nicht möglich gewesen, sie aus den Lüften und schwankenden Zweigen wieder herunterzuholen und ihr zu festem Boden unter den Füßen zu verhelfen: ich hatte in die Stadt hinunter nach Beistand laufen und den Nachbar Hartleben mit seinen Leuten und mit Stricken und Leitern zu Hülfe rufen müssen.
Die Sonne war schon im Untergehen; sie leuchtete aber auf dieser Höhe noch durch den Buschwald, und die Wipfel glühten in ihrem Schein. Wir zwei aus dem Vogelsang lagen in dem hohen Grase, Leon des Beaux saß auf einem Baumstumpf, hatte auf den Knieen die feinen Aristokratenhände zusammengelegt, blickte zum Zenit und träumerisch in die Runde, sah auf den Freund und seufzte:
»Oh, Herr, - wenn ich es doch nur sagen könnte, wie mir zumute ist. Welch ein wundervoller Tag das wieder war -«
»Für einen Menschen, der mit Stangen im Land der Goldorangen und Zitronen, im Orient und am Nordkap war, aus Albi stammt, den Großen Kurfürsten in Germanien zum Paten hat, den geschmackvollsten und nahrhaftesten Schneider von Berlin zum Papa, sich Leon des Beaux nennt und als Königlich Preußischer Kommerzienrat dermaleinst einen wirklichen Künstler mit der Schöpfung seines Grabdenkmals beauftragen wird! Leon, das Wundervollste ist doch noch für Sie zurück und kommt jetzt erst. Der Abend ist freilich schön genug dazu.«
Er, Velten Andres, sprach das so mürrisch, so verbissen-giftig, daß ich mich auf dem Ellbogen emporstemmte, um ihn besser betrachten zu können, und Leon ihn fast ängstlich anstarrte.
Er, im Grase liegend, die Hände unterm Kopf, zog die bei der Rettung meines Schwagers »Schlappe« halbgelähmte drunter hervor, wies in die Höhe:
»Der Ast da oben war es, Karlos! Da hatte sie sich verklettert, hing, klammerte sich an und kreischte. Ich schlafe ziemlich traumlos, aber meine Blamage von dem Tage kommt mir doch dann und wann immer noch nachts im Schlafe. Das war der meinige - mein Ast meine ich! Was durch Nachklettern und naturhistorisch als Wickelaffe zu leisten war, glaube ich möglich gemacht zu haben. Meine erste wirklich verlorene Lebensschlacht, des Beaux! Den Krumhardt da höre ich noch zetern, ehe ihm der einzig richtige Philistergedanke kam und er zu Tal stürzte, den Nachbar Hartleben herauf- und uns herunterzuholen. Wißt ihr, Kinder, so ist der Mensch: diesen Baum und was dran hing und hängt, werde ich bei keiner Lebens-Haupt- und Staatsaktion mehr los: es ist das erstemal gewesen, daß ich des Menschen Unzulänglichkeit auf dieser Erde auch an mir in die Erfahrung gebracht habe. Kein geschlagener Held, kein verblüffter Philosoph hat mich auf seinem Schlachtfelde oder in seinem System seit dem Nachmittag was Neues zu lehren. Es ist nichts mit dem Heroentum in dieser Werkeltagswelt, Leon, und deshalb bin ich seit heute morgen fest entschlossen, Helm und Harnisch an den Nagel zu hängen, jeglichen Federbusch als Staubwedel zu vergeben und vor allem das gelahrte Dintenfaß in den Gossenstein zu gießen, den Plato und den Aristoteles zuzuklappen und Schneider zu werden! Meine Alte billigt meinen Entschluß; an Ihren Papa habe ich bereits geschrieben, des Beaux. Was fällt euch an? Entzückung oder Schmerzen?«
Wir standen aufrecht auf den Beinen, Leon und ich, und stierten auf ihn herunter.
»Bist du nicht bei Troste, Velten?«
»Wie gewöhnlich! Sonst aber nur ein neuer Unsinn von dem Schlingel! würde der Vogelsang sagen«, lachte der wirkliche Heros des Vogelsangs, sich nur noch etwas behaglicher unter der Eiche, in der sich einst Fräulein Helene Trotzendorff verklettert hatte, zurechtlegend. »Ja, so ist es, meine Herren! So halten wir uns für frei und werden an Ketten geführt. Und die eisernen sind nicht die unzerreißbarsten; jeder im Spinnweb zappelnde Brummer kann darüber nachsagen. Sie und Ihre liebe Schwester, Leon, ebenfalls, aber gottlob mit frommseligen, närrischen Traumaugen - ich bitte Sie, des Beaux, sehen Sie nicht so dumm aus: es verhält sich so! Es ist wahrlich keine kleine Vergünstigung der Götter, wie ihr guten Kinder im blauen Himmel der Provence an euren Goldfäden über der Mark Brandenburg und der Stadt Berlin schwingen zu dürfen! ... Krumhardt, dein Protokollführergesicht ist mir niemals so sympathisch gewesen wie in diesem Augenblick! Wenn du dereinst deinen Kindern von deinem Jugendfreunde erzählst, so vergiß nicht, mit melancholischem Kopfschütteln zu seiner Entschuldigung anzuführen: Der arme Tropf konnte nichts dafür; das Mädel hatte ihm eben eines ihrer Goldhaare durch die Nase gezogen und zog ihn daran sich nach; - so wurde er zum Schneider und ging für die Wissenschaft verloren drüben in der Atlantis. Der Baum steht nicht umsonst da, und ich liege nicht ohne Grund hier unter ihm. Drunten im Vogelsang sitzt meine Alte vor ihrer Korrespondenz mit Amerika, und hier in der Tasche trage ich den letzten Brief Miß Ellens aus Saratoga: das Mädchen verklettert sich noch einmal, und ich muß ihr wiederum nach; es ist keine Hülfe und Abwehr dagegen!«
Auch er stand jetzt auf den Füßen. Ich hatte ihn nie so schön, stolz und grimmig gesehen. Er hob wie drohend die gesunde rechte Faust zu dem schicksalvollen Geäst über uns auf, zu der luftigen Höhe, in der sie voreinst gehangen hatten, die zwei Kinder aus dem Vogelsang, sie in zitternder, wimmernder Todesangst und er im ohnmächtigen, vergeblichen Ringen mit der Unmöglichkeit, Hülfe zu schaffen.
»Willst du uns den Brief nicht lesen lassen oder vorlesen, Velten?«
Er holte ihn zögernd aus der Tasche, hielt ihn mir hin und zog ihn rasch zurück.
»Nein! Man muß zuviel zwischen den Zeilen lesen. Was könnt ihr davon wissen? Du gar nichts, Karl; - vielleicht noch eher etwas der Träumer Leon da. Es ist eben Unsinn; - schade, daß wir nicht Ihr Fräulein Schwester hier mit uns haben, des Beaux. Die würde freilich mit ihren lieben, treuen, klugen Augen am klarsten sehen. Meine Mutter meint, das Kind sei für uns verloren, der Aff habe sich schon zu hoch für den Vogelsang verstiegen und Mr. Charles Trotzendorff sein Recht an ihm mit Zinsen genommen. Möglich! Aber was hilft ihre Überzeugung mir? Ich höre das arme Ding zwischen seinen lachenden Zeilen kreischen und meinen Namen rufen wie damals dort oben auf dem Ast. Wie damals muß ich ihr nach! Aber diesmal wirst du nicht zum Nachbar Hartleben um Stricke und Leitern herunterlaufen dürfen, alter Junge. Ich hole sie mir aus ihrer Verkletterung diesmal ohne fremde Hülfe. Niemals habe ich in meinem Leben etwas so sicher gewußt wie das! Jawohl, wenn Ihre Schwester, wenn Leonie hier wäre, die würde mit den rechten, mit meinen Augen zwischen den Zeilen des albernen Geschmiers lesen und mir den rechten Waffensegen geben. A la rescousse, mon preux chevalier! Und somit bleibt es dabei: ich werde dem fernen Westen nicht bloß als deutscher Doktor der Weltweisheit, sondern auch als internationaler Reisender in Herrenkonfektion imponieren. Für ein halbes Jahr müssen Sie mir schon Ihren Kontorstuhl im Geschäft Ihres Herrn Vaters überlassen, Messire Leon des Beaux. Bei der Frau Fechtmeisterin Feucht reden wir demnächst noch des weiteren hierüber. Jetzt aber sage ich dir, Krumhardt, sieh du nicht so dumm aus!«
Drunten im Tal sagte seine Mutter zu mir:
»Der arme Junge! Er hat dir erzählt, was er jetzt vorhat, Karl, und es nutzt nichts, ihm dagegen mit tausend Gründen zu kommen. Und ich lasse mich leider Gottes nur zu gern mit meinem Besserwissen beiseite schieben. Da liegt der Briefwechsel, den ich mit meinem armen Kinde geführt habe, die Jahre durch: es ist die gewöhnliche tragische Posse. Die Welt der Gewöhnlichkeit, der Gemeinheit gewinnt es uns wieder ab, die Firma Trotzendorff behält ihr Recht; aber der Geist Gottes schwebt zu allen Zeiten über den Wassern und bezeugt sein Recht auf jede Weise, auch die wunderlichste. Auch die Illusion gehört eben zu seinen Mitteln, die Erde grün zu machen und schön zu erhalten, und dein närrischer Schulgenoß läßt nicht von seinen Illusionen, lieber Karl. Er kann das Mädchen noch nicht aufgeben, und er sagt die Wahrheit, wenn er meint, daß auch sie noch immer nur auf ihn wartet und nach ihm um Hülfe aussieht. Möchte ich das ändern, wenn ichs könnte? Nein, nein! Ganz gewiß nicht! Auch ich halte ja, Gott sei Dank, meine Illusionen noch immer fest, wenn auch nicht mit seinem lachenden Herzen. Sie ist ja auch in eurer Kinderzeit zu meinem Kinde geworden, und ich weiß, was sie wert ist und unter allen Umständen - ja allen - wert bleiben wird. Auch wenn sie ihm verlorengeht. Wenn er fern sein wird, habe ich Zeit, mir das, nicht bloß in schlaflosen, sorgenvollen Nächten, sondern auch da, an meinem Fensterchen im Sonnenschein, zurechtzulegen. Dein guter, treuer Vater, lieber Krumhardt, sitzt hier jetzt häufiger als sonst bei mir und erzieht noch wie sonst an mir und meinen Kindern; jetzt meint er, mein Junge habe nun den ersten praktischen Einfall in seinem Leben gehabt. Soll da unsereine trotz ihrer Sorgen und Ängste nicht lachen? Euer netter, reicher junger Freund aus Berlin, mein lieber Freund, euer Herr Leon, hat uns auch in dieser Hinsicht einen großen Dienst erwiesen. Er hat ihn, ich meine deinen guten Papa, wenigstens zu einem kleinen Teil mit der Unzurechnungsfähigkeit meines Velten ausgesöhnt. Ach Gott, von welchen Mächten werden wir doch beherrscht und hin- und hergezogen? - ›Ich hätte den Burschen nie für so praktisch gehalten, und es soll mich schon freuen, Frau Nachbarin, wenn ich mich wenigstens zur Hälfte geirrt habe‹, sagt er, dein Herr Vater, seit er in Erfahrung gebracht hat, daß auch große, wirkliche Geschäftsmänner etwas von ihm halten und ihn gern auf seinen närrischen Wegen fördern. Sieh, Kind, ich rede ja nur so offen und frei mit dir, weil du von uns allen hier im Vogelsang der einzige wirklich Verständige bist und mit deinem Herzen und Gemüte doch auch zu mir und Helene und deinem Freunde gehörst - weil du zu meinen Vogelsangkindern gehörst! Also nimm dir aus dem Unsinn, den ich schwatze, heraus, was du dermaleinst vielleicht brauchen kannst, um uns unser hiesiges Recht, wenn nicht vor der weiten Welt, so doch vor dir selber angedeihen zu lassen. Denn sieh, eben weil ich nicht an das Glück meines Velten im Sinne der Welt glaube, so möchte ich grade deshalb, als seine arme, angstvolle Mutter, einen haben, der in der richtigen Weise, wenn keinem anderen, so doch sich selber von uns mit vollem Verständnis erzählte und sich all unser Schicksal zurechtlegte.«
Es ist kein größeres Wunder, als wenn der Mensch sich über sich selbst verwundert.
Wie habe ich dieses Manuskript begonnen, in der festen Meinung, von einer Erinnerung zur andern, wie aus dem Terminkalender heraus, nüchtern, wahr und ehrlich farblos es fortzusetzen und es zu einem mehr oder weniger verständig-logischen Abschluß zu bringen! Und was ist nun daraus geworden, was wird durch Tag und Nacht, wie ich die Feder von neuem wieder aufnehme, weiterhin daraus werden? Wie hat dies alles mich aus mir selber herausgehoben, mich mit sich fortgenommen und mich aus meinem Lebenskreise in die Welt des toten Freundes hineingestellt, nein, -geworfen! Ich fühle seine feste Hand auf meiner Schulter, und sein weltüberwindend Lachen klingt mir fortwährend im Ohr. Ach, könnte ich das nur auch zu Papiere bringen, wie es sich gehörte; aber das vermag ich eben nicht, und so wird mir die selbstauferlegte Last oft zu einer sehr peinlichen, und alles, was ich über den Fall Velten Andres tatsächlich in den Akten habe und durch Dokumente oder Zeugen beweisen kann, reicht nicht über die Unzulänglichkeit weg, sowohl der Form wie auch der Farbe nach.
Als ich als Assessor an unserem heimatlichen Stadtgericht ihn wieder in Berlin aufsuchte, hatte er sein Lebensmärchen ferner wieder richtig wahr gemacht und saß über den Geschäftsbüchern des Vaters des Beaux als der »merkwürdigste Volontär, der mir jemals vor Augen und ins Kontor gekommen ist«, wie der alte liebenswürdige Herr meinte.
»Sie glauben es aber nicht, Herr Assessor«, fügte er hinzu, »wie mein Sohn an ihm hängt, aber noch weniger, daß meine Tochter, meine Leonie, es gewesen ist, die für alle meine Bedenklichkeiten das Gegenwort hatte und stets behauptete: was der junge Herr vorhabe, sei keine Torheit, Schnurre und Grille, sondern er wisse wohl, was er wolle, und sie würde an seiner Stelle ganz gewiß ganz dasselbige wollen. Er will es nämlich versuchen, in den Vereinigten Staaten sein Glück zu machen, und da hat er ja auch wohl recht. Mit unserm deutschen Doktor der Philosophie würde es da drüben in dieser Hinsicht wohl etwas langsam gehen. Dergleichen geistigen Überfluß schickt ihnen das alte Vaterland schon etwas sehr reichlich hinüber, und so ein alter deutscher Schneidermeister hat vielleicht auch seine Verbindungen in der neuen Welt und kann einem armen, strebsamen Teufel möglicherweise eher zu einem auskömmlichen Unterkommen verhelfen. Als von einem armen Teufel darf ich freilich meinen Kindern nicht von Ihrem Herrn Freunde sprechen, Herr Assessor; also, bitte, erwähnen Sie von diesem meinem Ausdruck nichts gegen sie. Wir sind eben eine wunderliche Gesellschaft in diesem Hause, das Hinterhaus eingeschlossen. Manchmal denke ich, die einzige Vernünftige von uns allen sitzt da hinten hinaus, nämlich diese Frau Fechtmeisterin. Na, schlägt die aber auch die Hände über unsern Doktor zusammen! Sie habe doch in Jena und sonst auf ihren Universitäten manchen kuriosen Gesellen kennengelernt, aber so einen verrückten wie Ihren Freund Andres noch nicht, meint sie. Das einzige Glück ist, daß sie sich doch nicht ausnimmt, wenn sie von der Kolonie - der Narrenkolonie redet, die sich hier in der Dorotheenstraße zusammengefunden habe. Die einzige übrigens, die mir bei der Geschichte wirkliche Sorge macht, Herr Assessor, das ist meine Leonie. Mein Junge findet sich schon noch zurecht im praktischen Leben, denn auch dazu haben wir von der Kolonie, diesmal meine ich unsere französische, die Anlage unserm Kurfürsten seinerzeit mitgebracht und zur Verfügung gestellt. Wird er nicht Kommerzienrat, so wird er doch Kommissionsrat, oder das Geschäft macht ihn dazu, ob er will oder nicht. Aber das Mädchen - was von eu- unserm deutschen Blut in das im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte hereingekommen ist, das entzieht sich vollständig meiner Berechnung. Meinen armen Leon verstehe ich zur Not noch ziemlich genau aus mir selber; aber meine Leonie - lieber Herr Assessor, ich wollte viel drum geben, wenn ich sagen dürfte, daß ich auch ihren Sprüngen folgen könnte. Hieße sie nicht noch wie wir anderen des Beaux, so merkte es der doch keiner von uns königlich preußischen Staatsbürgern mehr an, daß sie auch eurer sogenannten Tanzmeisternation entsprungen sei. Ich habe ja gegen den Verkehr mit dem Hinterhause nicht das geringste einzuwenden; aber etwas zu viel ists mir doch, daß sie nur bei der Frau Fechtmeisterin zu finden ist, wenn man nach ihr fragt und sucht. Ich nenne sie oft nur la Belle au bois dormant, wenn ich wieder einen von meinen Jungen oder Leuten habe hinschicken müssen, um sie in das gewöhnliche Leben heimzuholen.« - -
Da war wieder der lärmvolle Hof, auf dem die vornehmsten Rosse der großen Hauptstadt dem berühmtesten Hufarzt und seinen Gehülfen in die Kur gegeben wurden. Da war wieder der dunkle Eingang und die steile, enge Treppe, die zu der Frau Fechtmeisterin Feucht und ihrer wechselnden studentischen Mieterschar hinaufführte. Die Türglocke hatte noch denselben schrillen Klang wie früher, und was die Tür öffnete, war noch dasselbige ritterliche Zwergenweiblein wie früher, und wer sich am wenigsten verändert hatte, das war die Frau Fechtmeisterin Feucht, und wie immer mit dem Strickzeug in den Händen und dem dazugehörigen Garnknäul unterm linken Arm: wohin kommen alle die Strümpfe, die solche liebe, auf dem Altenteil und ihren Erinnerungen sitzende alte Damen stricken? Von denen, die aus den Händen der Frau Fechtmeisterin hervorgingen, hätte es manch ein akademischer Bürger der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin durch manch ein Semester statistisch ganz genau nachweisen können. -
Sie erkannte mich nicht gleich. Es lagen ja zwei Staatsexamina zwischen unserm letzten Zusammensein und dem heutigen Besuch.
»Sie?« rief sie dann. »Also endlich? Wenn ich nach einem Menschen auf Erden ausgesehen habe, so sind Sie das.«
Und mir die Tür ihres Stübchens öffnend, schob sie mich hinein:
»Da haben wir den zweiten aus dem Vogelsang, Leonie. Jetzt aber auf die Mensur mit mir, Assessor Krumhardt. Sehen Sie wohl, daß Ihnen die Schmarre über der Nase daheim bei Ihren Leuten am grünen Tisch nichts geschadet hat! Und der andere Tresenhüpfer und Ellenreiter drunten bei des Beaux Sohn und Nachfolger! Sie kennen doch Fräulein Leonie des Beaux noch, Herr Kommilitone?«
Oh, wohl kannte ich sie noch! Das liebe Mädchen erhob sich wie sonst aus ihrem Sessel, der absonderlichen, greisen Freundin gegenüber, sie schien mir noch ruhig-schöner, stattlich-vornehmer geworden zu sein und lächelte:
»So leicht vergißt man doch wohl seine guten Freunde nicht, Mama Feucht! Vorzüglich wenn man aus dem Vogelsang -«
»Nach Berlin kommt und endlich einmal wieder die weißeste Hand aus dem Roman von der Rose küssen möchte.«
Sie reichte sie mir lächelnd, aber nicht zum Kuß, und sagte: »Hier, Herr Assessor, wie sonst aus der Schneiderwerkstatt und dem Herzen der Romantik heraus; seien Sie uns willkommen, da mit der alten Treue unser altes, närrisches Spielzeug doch auch sein Recht bei Ihnen behalten hat, Messire Charles du Pré-aux-Clercs.«
»Von der Schreiberwiese!« rief ich, die feine Ironie wohl verstehend. »Jawohl, jawohl, gnädiges Fräulein! Und der Chevalier sans peur et sans reproche da unten im Vorderhause hinter den Geschäftsbüchern des Herrn Kastellans sitzt heute besser zu Roß auf seinem Dreibein, mit der Feder hinterm Ohr, als je ein Rittersmann, der in Stahl und Eisen auszog für das Trecrestien, franc royaume de France; und die Frau Fechtmeisterin Feucht ist schon abgef- geschlagen, noch ehe sie sich recht ausgelegt hat für ihr Rittertum von der Saale.«
»Wenn ein junger Mensch zuerst doch nach Jena gehörte und vom Hausberge und dem Fuchsturm in die Welt hätte hineinsehen müssen, so war das doch mein Herr Velten«, seufzte, zugleich verdrossen und betrübt, die Frau Fechtmeisterin. »Oh, dies Berlin! Wie kann ein deutscher Student mit Berlin sein Dasein anfangen und in Berlin hängenbleiben? Und noch dazu ein Kind mit solchen Naturgaben wie dieses, das meinen Seligen zu Rührungstränen gebracht haben würde, - trotz seiner lahmen Linken der beste Schläger, den sie jetzt hier haben, und - verkriecht sich nun hinter einem Kontortisch! Der Kalk fällt mir darüber von den Wänden.«
»Da hat die Frau Fechtmeisterin recht«, lächelte Leonie. »Die Wände drüben in Ihres Herrn Freundes Stube erzählten freilich mit Jammer von den Triumphen, die dort die hohe Kunst gefeiert hat! Und versuchen Sie sich nur mit meinem Bruder, Herr Assessor. Die Welt kehrt sich freilich gänzlich um: der Schneider geht auf die Mensur, und Germaniens Heldenjugend, wenn nicht auf den Schneidertisch, so doch in die doppelte Buchführung und -«
Eben hatte sich draußen in der Vorsaaltür ein Schlüssel gedreht, und ein Schritt erklang im Gange. Die junge Dame, errötend und wie erschreckt, brach ab in ihrer Rede.
»Baissez-vous, montagnes,
Haussez-vous, vallons!
Mempêchez de voir
Ma mi Madelon«,
klang es draußen aus einem französischen Volksliede, das uns vordem Leonie des Beaux in ihrem Salon im Vorderhause dann und wann zum Flügel gesungen hatte.
»Da haben wir ja die Tafelrunde aus den Contes de ma Mère lOie wieder einmal beinahe vollständig beisammen«, rief Velten Andres; und ich sehe ihn wieder vor mir in seiner Pracht, wie man sich in der
Jugend den Lord Byron und im Alter den jungen Goethe vorstellt. Mit dem treuen, lachenden, siegessichern Auge und dazu dem Schelmenzug um den Mund - den Liebling der Götter und des Vogelsangs, den Weltüberwinder von Leichtsinns Gnaden. Ich habe ihn nie so wieder gesehen wie jetzt unter den Trophäen der Frau Fechtmeisterin Feucht, wo er uns nunmehr wie ein Kind von seinen Plänen für die nächste Zukunft sprach, als von dem Selbstverständlichsten, was auf dieser Erde von jedermann vorgenommen
werden könne.
Er schob es alles aus dem Wege, was ich einzuwenden hatte; - die alte ritterliche Frau und Leonie hatten keine Waffen gegen ihn: das schöne Mädchen übrigens auch keine anderen als ihre melancholisch-scheuen, ihre großen, sehnsüchtigen Augen, die ihre liebe Gewalt nur hinter seinem Rücken kundgeben konnten und von deren ihm gehörenden Wunderreichtum er nichts wußte.
Wir waren sehr »heiter« an dem Morgen, vorzüglich als auch Leon, der um diese Lebensstunde zu
der elegantesten Tiergartenritterschaft der jungen Weltstadt gehörte, in Stiefeln und Sporen dazukam.
»Als ich vorhin von Ihrem dreibeinigen Roß hinter Ihrem Pult mich herabschwang, lieber Freund, habe ich doch auch eine Genugtuung gehabt«, sagte Velten. »Ihr Papa hat mich auf die Schulter geklopft und gemeint: ›Sehen Sie, cher ami, nicht bloß Ihre Herren Professoren können Vorlesungen halten und Examina anstellen und Diplome verleihen, auf welche hin selbst son Belletriste wie
Sie sich durch die Welt schlagen und es in ihr zu etwas bringen kann. Meinem eigenen Jungen sind Sie wahrhaftig schon um mehrere Nasenlängen vor im Weltverständnis. In einem halben Jahr schicke ich Sie dahin, wohin ich ihn befördern wollte, offen gestanden, Herr Andres, um ihn Ihren übeln Einwirkungen zu entziehen. In tailor made suits drüben überm Ozean Ihr deutsches Gemüt zur Sache hinzugetan, und Sie können dreist dort den Laden aufmachen, wie hier am Ort mein Großpapa, Monsieur Raymond Guy
des Beaux, dessen Papa, wie wir in unserm Familienarchiv haben, dem Alten Fritz nach Kunersdorf auf den Ruinen von Küstrin in Chorrock und Beffchen französisch predigen und ihn trösten durfte.‹«
Wie schade, wie schade war es, daß er auch jetzt von den Augen, die ihn aus dem Verborgenen auf allen Wegen und bei allen Worten begleiteten, nichts wissen sollte, nach dem Willen des Geschicks! ...
Wir haben, seit ich angefangen habe, diese Akten des Vogelsangs zu kollationieren, das bekommen, was man einen schönen Winter nennt, - erfrischenden, jahreszeitgemäßen Frost, wenig Heulstürme, aber viel Schnee.
Auch in der Nacht, in der ich jetzt weiterschreibe, schneit es wieder. Unaufhörlich rieselt seit dem Nachmittag das weiße Gewirbel nieder und macht die Erde still, glatt und rein. Wenn ich ans Fenster trete und nach der nächsten Gaslaterne hinübersehe, kann ich mich nur schwer von dem schönen Schauspiel losreißen: von allen Naturerscheinungen bringt der Schneefall (vom warmen Zimmer aus gesehen) die behaglichsten Bilder und Traumminuten mit sich. Der Schnee wärmt. Ich kenne Leute, egoistische Zärtlinge, die es sich behaglich vorstellen, von ihm zugedeckt als haus- und heimatloser, hungriger Wanderer auf der Landstraße müde einzuschlafen und sich aus der ungemütlichen, bitteren Wirklichkeit sanft hinauszuträumen:
Erhebt euch, ihr Täler,
Sinkt nieder, ihr
Höhn;
Ihr hindert mich ja,
Meine Liebste zu sehn; -
wie kommt es nur, daß mir das alte welsche Lied, schön wie irgendein deutsches - den ganzen Abend durch nicht aus dem Sinn will? Daß ich es immer von neuem summen muß, während der Schnee fällt, die Täler ausfüllt und die Berge niederdrückt, indem er sich weiß, farblos auf sie legt?!
Es ist nun schon lange Jahre her, seit uns Leonie des Beaux das Lied in der Dorotheenstraße zu Berlin zum erstenmal sang. Die
hohen Berge, die tiefen Täler, die weiten Meere der Erde haben es nicht verhindert, daß Velten Andres und Helene Trotzendorff wieder zusammenkamen; sie sind auch nicht schuld daran gewesen, daß sie sich nicht wiederfanden für das Erdenleben.
Der Jugendfreund aus dem Vogelsang hat sein Wort gehalten, daß er von dem Mädchen nicht lassen werde, daß er ihr nachsteigen werde, wohin sie sich auch verklettert haben möge, daß er aber freilich jetzt nicht mehr den Freund aus dem Nachbarhause
zu Tal laufen lassen werde, um den Vogelsang zu Hülfe heraufzurufen auf den Schluderkopf.
Er war vor dem Beginn seiner Weltfahrten nur noch einmal zu Hause, um Abschied von seiner Mutter und uns zu nehmen. Ich ging damals auch schon auf Freiersfüßen, und da weiß man ja, wie das dann geht mit dem verliebten jungen Menschen und seinen Gefühlen für seine liebsten und treuesten Schulbankgenossen. Ihre Sorgen und Hoffnungen, Leiden und Freuden sind wahrlich um solche Lebensstunde nicht
mehr die unserigen. Mit einem »Na, denn machs gut, Alter!« ist der Abschied, auch unter den besten Freunden, an einer Straßenecke, am Bahnhof oder auf einem Hafenkai rasch abgetan. Es ist eine Seltenheit - (immer unter besagten Umständen!) -, daß einem von beiden, dem Orest oder dem Pylades, dem Kastor oder dem Pollux, dem David oder dem Jonathan, die Zigarre der Rührung wegen ausgeht, und ist es ausnahmsweise mal der Fall, so ist der Bewegteste, und das ist fast immer der Zurückbleibende,
imstande, den Scheidenden noch um Feuer zu bitten. -
Es war diesmal nicht mehr die ganze Nachbarschaft, welche diesem Scheidenden nach dem Bahnhof das Geleit gegeben hatte. Meine greisen Eltern fühlten, kopfschüttelnd, nicht mehr die Verpflichtung dazu. »Es ist doch zu sehr eine Narrenfahrt, und ich bezweifle, daß ich sowohl dem Jungen wie der Alten das für die Gelegenheit gewünschte Gesicht ziehen kann«, hatte mein Vater gesagt; und meine Mutter hatte gemeint: »Ich glaube auch nicht,
daß Amalie dieser Aufmerksamkeit und Anteilnahme von unserer Seite bedarf. Hat sie sich jemals im Guten und im Bösen das geringste von uns sagen lassen? Sie haben eben beide immer ihren eigenen Kopf.« -
Was bedeuteten diese Blätter, wenn ich nicht wahr auf ihnen wäre? Im tiefsten Grunde war ich vollständig der Meinung meiner Eltern - solange sie das Wort hatten und Vernunft sprachen, und verfiel ebenso gründlich immer von neuem schon der wortlosen Überredungskraft der zwei anderen aus
der nächsten Nachbarschaft. Es genügte schon vollständig, daß Velten mich lachend auf die Schulter schlug und seine Mutter dabei mir zunickte. Eindringlicher wars natürlich, wenn die weise alte Frau noch hinzufügte:
»Höre ja nicht auf den Narren, Freund Karl. Bleibe du ruhig auf deinem Wege und halte die Welt aufrecht; nicht bloß hier im Vogelsang, sondern auch für den Vogelsang!«
So war es auch bei dem diesmaligen Abschiednehmen auf dem Bahnhofe. Der Lebensmut und die
Siegesgewißheit des scheidenden Freundes überwältigten das nüchterne Besserwissen, das ich noch mit dorthin genommen hatte, völlig. Und als mir Velten noch sagte:
»Ich verlasse mich fest darauf, daß du wie gewöhnlich meine Stelle bei der Alten vertrittst und dich ihrer gegebenenfalls nach Kräften annimmst«, - konnte ich mich nur fragen:
»Ja, wird das möglich sein und je nötig werden können?«
Ich versprach es aber, wahrhaftig mit feuchten Augen und stockendem
Herzen - mit dem besten Willen, seinen Platz am Herde meines Nachbarhauses festzuhalten und die »alte Frau« nicht einsam dort sitzenzulassen, während er seine Siege in der Welt erfocht. -
Wir sahen ihn abfahren, wie damals Helene Trotzendorff. Es war eben ein anderer Zug, ein Vergnügungszug, angelangt, und ein Gewühl aufgeregten und dem Anschein nach sehr vergnügten Volkes, das unserer Stadt und ihrer hübschen landschaftlichen Umgebung seinen Besuch zugedacht hatte, quoll uns daraus
entgegen. Der Morgen war schön, die Sonne schien, ein fröhlicher Schenktisch war von einem sorglichen Komitee errichtet worden; die fremden Liedergenossen oder Sangesbrüder kamen nicht nur mit ihrem musikalischen Hoch, sondern auch mit viel Durst bei uns an, und eine einheimische Blechmusikbande brach mit schmetterndem Hall zum Willkomm los: die Stadt und Residenz hatte sich sehr vergrößert und verschönert seit dem Tage, an welchem Mr. Charles Trotzendorff sein Weib und sein Kind aus ihr weg und
zu sich holte, und der jetzige Bahnhof, von welchem ich nun die Frau Nachbarin, die Mutter des Freundes, nach Hause führte, stand damals auch erst auf dem Papier und lag noch auf den Tischen der Fürstlichen Landesbaudirektion. -
Die »Frau Doktorin« hatte ihren Arm in den meinigen gelegt, und sie, die bis in ihr höchstes Alter hinein einen leichten, schwebenden Schritt gehabt hat, bedurfte auf diesem Heimwege doch einer Stütze; ich wiederholte mir im Innersten das Versprechen, welches
ich dem Freunde gegeben hatte.
Als wir das Getümmel hinter uns hatten, sah sie sich wie erschreckt um, wie man sich umsieht, wenn man etwas sehr Wichtiges hinter sich vergessen oder etwas sehr Wertvolles verloren zu haben glaubt. Dann aber faßte sie meinen Arm mit beiden Händen, indem sie stehenblieb, zu mir glanzvoll aufsah und rief:
»Und das mußt du doch selber sagen, bester Karl, daß ihr alle bis jetzt ihm gegenüber doch immer unrecht behalten habt! O bitte, sprich mir
nicht dagegen! Ich habe meine Lust an ihm, meinen Glauben an ihn, meine Hoffnung auf ihn von jetzt an freilich nötiger denn je. O ihr alle, alle! Wir sind so gute Nachbarn gewesen unser ganzes Leben lang - laßt es uns bleiben - wir sind ja nur noch so wenige beisammen! Sieh, da ist nun mein dummer phantastischer Kopf: jetzt ist es doch wieder ganz anders mit der Welt in Licht und Farbe, als wie es noch vor fünf Minuten war! Da sah ich ihm noch in die Augen und mit seinem Sieg über die Welt auch
den meinigen drin. Diese entsetzliche Blechmusik da hinter uns! ... Wie die Leute doch so vergnügt sein können und so geschäftig-eilig! Bitte, laß uns etwas rascher gehen! - Wozu denn dieser Lärm, diese fürchterliche Eile in der Welt? Wie wird er darin zurechtkommen? Er hat das ja leider von mir, daß er es mit nichts, wie andere Leute, eilig hat und sich Zeit zu allem nimmt und gern allein für sich sitzt, wie seine törichte alte Mutter. O bitte, sage es auch deinen Eltern, bitte sie, daß sie
mich fürs erste wenigstens allein für mich lassen, bis ich mich wenigstens etwas wieder in mir zur Ruhe gefunden habe. Mein Gott, sind wir Mütter schuld daran, wenn wir unsern Kindern unser Bestes mit auf den Weg geben und sie elend dadurch machen? Wenn wir uns getäuscht hätten! Es wäre zu trostlos, wenn er seinen Willen durchsetzte und den meinigen mit und es doch nichts weiter als ein Märchengespinst, ein höhnisch-hübsches Schattenspiel an der Wand wäre! Wenn er mir das Kind heimbrächte und es
doch seine Lebensbedingungen drüben hätte! Komm rasch - rasch nach Hause, bester Junge: der Strauß pflegt seinen Kopf in den Sand zu stecken, und die alte Doktern Andres steckt ihren in den Vogelsang. Aber bitte, halte mir für die nächste Zeit deinen lieben, guten Vater vom Leibe! Ist das nicht der Nachbar Hartleben, der sich dort in seinem Rollstuhl in die warme Sommerluft fahren läßt? ... Jawohl, Nachbar, er läßt Sie vor allen anderen noch einmal herzlich grüßen, und Sie tun mir einen
Gefallen, wenn Sie sich heute abend noch auf ein Stündchen zu mir herüberschieben lassen, daß wir noch ein wenig über ihn zusammen schwatzen können. Wir zwei müssen jetzt mehr denn je treulich und fest zusammenhalten, Herr Nachbar.«
»Jawohl, Frau Nachbarin! Zumal da ich heute mein Grundstück meiner kümmerlichen Gesundheitsumstände wegen abgegeben habe, bis auf das Haus und den Morgen Gartenland dabei, um doch wenigstens noch ein bißchen was Grünes vom Fenster aus im Auge zu haben. Das
wird eine großartige Konservenfabrik grade Ihnen gegenüber, Frau Doktern. Jaja, die Welt verändert sich um einen her, ohne daß man es eigentlich merkt, wie das ja auch in der Bibel steht. Hat mir recht leid getan, Frau Nachbarin, daß ich unsern Herrn Velten nicht mit nach dem Bahnhofe bringen konnte, zumal wie diesmal vielleicht auf Nimmerwiedersehn, denn davon hilft uns niemand, Frau Doktern, die Jüngsten sind wir Alten hier im Vogelsang nicht mehr, und was einem drüben über dem großen Wasser
alles passieren kann, davon liest man ja tagtäglich das Menschenmöglichste von Glück und Unglück in der Zeitung. Na, ist der Lump - nichts für ungut, liebe Frau - dorten ein allmächtiges Tier und unzähliger Millionär geworden, so wirds unser junger Herr ja auch wohl machen; und wenn der mal, und vielleicht gar noch dazu mit einer jungen Frau, heimkommt, denn stellt sich das, was vom Vogelsang noch vorhanden ist, sicherlich auf die Zehen und bringt ihm ein musikalisches Hoch, dreimal doller als
wie das, womit sie da eben wieder mal vom Bahnhofe in die Berge ziehen. Aber wie es ausfallen mag, dabei bleibts Frau Nachbarin, wie sie uns auch den Vogelsang verbauen mögen: die Aussicht zwischen uns aufeinander sollen sie uns nicht verbauen. Er hat auch mir versprochen, mal an mich zu schreiben, mein ewiger Sappermenter, unser Tausendsassa! Ich habe ihn so manches Mal auf den Trab bringen müssen und sein Mädchen, ich meine die kleine Himmelskröte aus meiner Erkerwohnung, mit, und zwar nicht
immer mit den lieblichsten und höflichsten Worten. Aber winken Sie mir nur mit einem Briefe von ihm, Frau Doktern, ich lasse mich ranrollen mit meinen jetzigen verdammten gichtbrüchigen Knochen und heule mit Ihnen oder reibe mir die Hände mit Ihnen, wies ihm beliebt und er sich sein Leben bei den Antipoden einrichtet. Daß da wieder eine Kuriosität herauskommt, das steht mir baumfest. Diese Gewißheit ist mir doch natürlich aus meiner Bekanntschaft und Freundschaft mit ihm herausgewachsen wie je
ein Stamm da oben in meinem Waldeigentum, und da kann ich mich wirklich schon jetzt vor dieser neuen Fahrt im Geäst mit meinen Gedanken verklettern und mir die Frage stellen: was wird das unsinnige Menschenkind nun jetzt wieder anstellen? Na, na, liebste, beste Frau Nachbarin, jetzt machen Sie mir kein böses Gesichte! Den Trost haben wir doch jedenfalls aus tausendfältiger Erfahrung: neun Leben hat ihm ja auch die Mutter Natur mitgegeben. Sie mögen ihn alle besser kennen als ich; aber wenn ihn
einer ganz genau kennt, so ist das der alte Hartleben, denn wie oft bin ich hinter dem Burschen her gewesen, mit der hellen Wut über ihn, dem ersten besten Knüppel und Holzscheit oder mit beiden Händen vor dem Bauche, um mir mein Pläsiervergnügen an ihm zusammenzuhalten und es den Spitzbuben nicht zu sehr merken zu lassen. Jawohl ist dem keine Mauer, hinter der es für ihn in allen fünf Weltteilen was zu holen gibt, zu hoch. Und was die Mauern anbetrifft, durch die man auf Erden vor Verdruß mit
dem Kopfe rennen möchte, na, die rennt er eben ein oder weiß auch nen Weg um sie herum zu finden, wovon ich ebenfalls hier im Vogelsang und auf meinem seligen Grundstücke die allermöglichsten Erfahrungen habe. Also machen Sie sich nur nicht zu viele Sorgen um ihn, Frau Nachbarin. Mit dem hats keine Not, ob er als ein reicher Mann wie der Halunke Karlchen Trotzendorff uns nach Hause kommt oder ob er eines Abends anklopft und sagt: ›Da bin ich wieder, Herr Hartleben; es ist mir diesmal nicht
geglückt, und es wäre mir ein Gefallen, wenn Sie diese Nacht einen Platz auf dem Stroh und morgen früh einen Tausendmarkschein zum neuen Anfangen für mich hätten.‹ Aber zu dem letztern noch eines zu Ihrem Trost, Frau Doktern! Wenn einer hier im Vogelsang im stillen auf Ihren Herrn Sohn gepaßt hat, so bin ich das und weiß: er klopft niemalen so an. Ein Kopfkissen auf dem letzten Stroh müßte man dem schon mit vielen Finessen und Höflichkeiten ankomplimentieren. Der junge Satan hatte das
weichste Herz hier im ganzen Vogelsang - nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich auch vor Ihnen so rede, Herr Karl, Herr Assessor! -, aber wenn es dem einmal gefriert, so wird ein Eisklumpen draus, mit dem man der ganzen Menschheit den Hirnkasten einschmeißen könnte! Und nun nehmen Sie es nicht übel, Frau Nachbarin und Herr Krumhardt, daß ich Sie so lange aufgehalten habe, aber ich habe ja heute auch von einem Eigentum Abschied genommen, das mir mein ganzes Leben durch ans Herz gewachsen gewesen
ist, und so bin ich denn bei Ihnen mit auf dem Bahnhof in Gedanken gewesen mehr als ein anderer hier im Vogelsang, und weiß Sie zu erkennen, liebste Frau Nachbarin. In früheren Jahren hätten Sie mir ein Wort wie mein jetziges nicht angesehen und geglaubt, Herr Assessor. Da hätten Sie wohl nur gelacht über den Nachbar Hartleben, den alten Grobian. Aber so in einem solchen Jammerrollstuhl, da hat es sich was mit der Menschen Arm- und Beinkräften und gesunder Lunge; da scheniert sich auch
unsereiner nicht, mit seinen intimeren Meinungen herauszugehen; und nun, Herr Assessor, sehe ich, daß die Frau Doktern am liebsten mit ihren Gedanken allein sein möchte, also bringen Sie sie still nach Hause und grüßen Sie auch Ihre Eltern. Ich als neugebackener Rentner lasse mich noch ein Stück um die Promenade kutschieren - Herrgott, wer mir dies Vergnügen noch vor fünf Jahren prophezeiet hätte! Recht guten Morgen, liebe Herrschaften ...«
So bringe ich es zu den Akten, wie der
Vogelsang sprach, indem ich hundert Worte in eines ziehe, während der Schnee der heutigen Winternacht unablässig weiter herabrieselt. Und ich muß dabei die linke Hand übers Auge legen, während ich schreibe; als ob mir die Sonne zu hell und blendend drauf läge. Es ist nicht das und ist es doch. Was trübt das Auge mehr als der Blick in verblichenen Sonnen- und Jugendglanz?
Ich habe sie häufig in meinem Berufe zu suchen, die Verschollenen in der Welt; sie zu einem bestimmten Termin zu zitieren und sie, wenn sie nicht erscheinen, für tot zu erklären und ihren Nachlaß den Erben oder dem Fiskus zu überantworten. Meistens ist es armes, kümmerliches Volk, das so verlorengeht und gesucht werden muß, doch von Zeit zu Zeit ist da auch einer oder eine verschollen, auf deren Wege auch den abgehärtetsten Beamten die Phantasie und das Bedürfnis des Menschen, Wunder, wenn nicht an sich, so doch an anderen zu erleben, unwiderstehlich nachlockt.
Das ist nun bei meinem Freund Velten Andres nicht im mindesten der Fall gewesen. Von Mysterien und Romantik habe ich nicht das geringste zu notieren. Er ist stets mit uns in Korrespondenz geblieben; hat alle Verkehrswege via Southampton, Bremen und Hamburg, ja auch den unterseeischen Telegraphen benutzt, um in möglichster Verbindung mit dem Vogelsang zu bleiben. Ich bin eben in seinem Leben über nichts im Dunkel geblieben als - über ihn selber. Das war aber ja nicht seine Schuld! Diese lag hier nur an mir, und solches ist öfters der Fall, als die Leute glauben.
Schreibe ich übrigens denn nicht auch jetzt nur deshalb diese Blätter voll, weil ich doch mein möglichstes tun möchte, um mir über diesen Menschen, einen der mir bekanntesten meiner Daseinsgenossen, klarzuwerden? Aber es ist immer, als ob man Fäden aus einem Gobelinteppich zupfe und sie unter das Vergrößerungsglas bringe, um die hohe Kunst, die der Meister an das ganze Gewebe gewendet hat, daraus kennenzulernen.
Wenn je ein Mensch für das Leben unter allen Formen und Bedingungen ausgerüstet war, wenn je einer das Seinige dazu getan hatte, sich seine Schutz- und Angriffswaffen zu schmieden, so war das Velten Andres. Mit allen den Vorzügen und Tugenden begabt, die Ophelia aufzählt und von denen der dänische Prinz so schlechten Gebrauch machte, ging er wahrlich nicht von »Wittenberg« nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika und später seines Weges weiter.
Man hat einen guten Ausdruck dafür, wenn einem das mühelos, oder anscheinend mühelos, zufällt, um was andere sich sehr quälen müssen. »Es fliegt ihm an«, sagt man und beneidet den Glücklichen, zuckt auch wohl bedenklich die Achseln dabei und zieht »im ganzen ein solides Sitzfleisch doch vor«. Letzteres hat auch seine Vorzüge und nimmt seinen gebührenden Platz später im Lehnstuhl am warmen Ofen oder in der Julisonne fröstelnd, aber behaglich mit vollstem Recht ein. Er, mein Freund, ist in seinem kurzen Leben alles gewesen: Gelehrter, Kaufmann, Luftschiffer, Soldat, Schiffsmann, Zeitungsschreiber - aber gebracht hat er es nach bürgerlichen Begriffen zu nichts, und ich kann es auch nicht zu diesen Akten beibringen, daß er sich je um etwas anderes richtige Mühe gegeben habe als um das kleine Mädchen aus dem Vogelsang, die heutige Witwe Mungo aus Chikago. -
Baissez-vous, montagnes,
Haussez-vous, vallons!
Mempêchez de voir
Ma mi Madelon -
Es läuft immer auf wenn auch melancholische, so doch nüchterne Nachüberlegungen hinaus; aber auch an diesem Abend muß ich wieder seufzen: Wie anders hätte doch sein Leben werden können, wenn er ein Ohr gehabt hätte für die süße Stimme aus der Heimat und Augen für die tiefen, treuen, traurigen Blicke, die scheu, angstvoll verstohlen ihm hier folgten und so gern bis zum
Ende, mochte das auch werden, wie es wollte, über ihn gewacht hätten.
Mit dem Hause des Beaux, das heißt dem alten Herrn und Freund Leon, ist er übrigens im regen Verkehr geblieben; und wenn er einmal, wie des Spaßes wegen, als ein recht wohlhabender Mann, für Deutschland wenigstens, aufgetreten ist, so ist ihm wirklich das zum größten Teil angeflogen aus dem großen Geschäft in der Dorotheenstraße zu Berlin. Daß Religiosität und Geschäftssinn nicht feindliche Geschwister sind, hat
nicht allein das Haus Israel bewiesen; auch die frommen Vertriebenen, die auf der Mayflower »drüben« landeten, haben das ebensowohl bewiesen wie diese alten Hugenotten des Edikts von Nantes in der Mark Brandenburg. Und sie reichen sich auch heute noch die Hand durch die ganze Welt: Synagoge, Kirche und Börse! Das Haus des Beaux konnte einem Freunde schon Empfehlungsbriefe nach New York oder New Orleans mitgeben, die ihm die Wege ebneten und seinen Aufstieg erleichterten, selbst wenn er nur kam,
um zum zweitenmal den Versuch zu machen, ein armes Mitgeschöpf aus der Verkletterung herabzuholen, sonst aber sich wenig aus den Herrlichkeiten der Zeitlichkeit machte.
Es ist ihm zum zweitenmal nicht gelungen, und mit der Hülfe aus dem Vogelsang war diesmal gar nichts getan. Was half es, daß ihm, wie ihm damals der alte Hartleben mit Leitern und Stricken beisprang, jetzt seine Mutter ihre auch in Sorgen, Angst und Kummer immer sonnigen Briefe schrieb und die seinigen, nach seiner
Weise, immer scherzhafter, immer lustiger, immer siegesgewisser wurden, je tiefer er »in den Quark hineinwatete« und in der Puppenkomödie die Fäden mit ziehen half? Sie spielten sich da nur selber eine liebe, rührende Komödie vor, die, was die Nachbarschaft anging, niemand zum Lachen oder Lächeln brachte.
»Ich hätte es nie geglaubt«, sagte mein Vater sehr ernsthaft, »der Mensch scheint sein bisheriges Narrenwesen doch nicht ganz unnützlich getrieben zu haben. Da hält mich eben, auf
dem Wege vom Gericht her, der Prokurist von Seligmacher und Söhne mit einem Privatbriefe von drüben, aus der Firma Charles Trotzendorff und Kompanie, weißt du, Mutter, unserm Karl Trotzendorff, an, und darin ist von ihm, ich meine dem Jungen drüben, in einer Weise die Rede, die ich niemals für möglich gehalten haben würde. Der poetische Hanswurst scheint völlig ins Gegenteil umgeschlagen zu sein. Ja, er scheint sich eine Stellung in der dortigen Literatur gemacht zu haben und an einem
Handelsblatt in einer Art sein Maulwerk schriftlich betätigt zu haben, daß es ihm, wenn auch wohl nur zufällig, die Bekanntschaft und, wie es scheint, Achtung eines ihrer Allergrößten dorten, nämlich was das Geld anbetrifft, zugezogen hat. Das wäre denn ja recht gut und erfreulich, und so wird er sich darein ergeben, daß es mit dem Mädchen, der jungen Dame, nichts geworden ist. Bei Seligmacher und Söhne haben sie heute morgen von der Familie drüben, ich meine den Trotzendorffs, die
Verlobungsanzeige der Tochter zugeschickt gekriegt. Du mußt doch mal zu der Nachbarin hinübersehen, ob die schon was Genaueres weiß und wie sich der Junge jetzt zu der Sache verhalten wird. Doch dieses nur beiläufig. Ich war auch bei Arnemann; - er ist nicht mehr abgeneigt, auf meine Bedingungen einzugehen. Man trennt sich ja zwar nicht gern von der hiesigen Gemütlichkeit, aber es hat sich doch allmählich zu viel hier im Vogelsang um uns her verändert. Die Fabrik auf Hartlebens Grundstück
versperrt mir den letzten Blick auf den Osterberg, und dann halte ich es auch für unsern Assessor besser, daß ihn unter jetzigen, veränderten Lebensverhältnissen die Residenz nicht hier unter den kleinen Leuten aufsuchen muß. Ich meine, Mutter, wir machen in nächster Woche den Kontrakt über den Verkauf von Haus und Garten perfekt.«
»Wenn du meinst, Krumhardt«, sagte meine Mutter mit zitternder Stimme.
»Ich meine, daß wir diese freilich ernste Sache schon so reiflich
überlegt haben, daß wohl wenig mehr dazu zu sagen ist. Was gibt es denn eigentlich noch, was uns hier festhalten könnte? Schon der Schatten allein, den mir da hinten die neue Feuermauer auf meine Rosenplantage wirft, verdirbt mir das ganze Pläsier an der Liebhaberei. Mit dem Kaffeetisch im Garten unter diesen Fabrikgerüchen ists auch nichts mehr. Unsere Plätze im letzten Grün des Vogelsangs haben wir sicher auf dem Papier bei der Friedhofverwaltung. Also, Junge, Karl, Herr Assessor Krumhardt, es
bleibt dabei: der alte Pelikan hackt sich noch mal die Brust seiner Nachkommenschaft wegen auf. Wir ziehen in die Stadt, der veränderten Verhältnisse wegen. Laß es mich erleben, daß ich an dir einen Herzoglichen Regierungsrat herangezogen habe, so soll es mir auch nicht drauf ankommen, auf meine Rosen- und Aurikelnzucht zu verzichten. Man kann auch im Notfall an den Hyazinthen und Geranien seine Befriedigung finden, und dafür, denke ich, mein Sohn, wirst du eben immer, wie für deine alten
Eltern, ein sonniges Gelaß in deinen neuen Gesellschafts- und Wohnungsverhältnissen übrig haben. Die Gelegenheit in der Archivstraße, die Mutter und ich uns zum Beispiel neulich angesehen haben, hat nach hinten heraus und doch nach der Sonnenseite ein Altenteil, was für so einen subalternen, quieszierten Obergerichtssekretär mit so einem ihm Freude machenden Sohne - jetzt kann ich dir das wohl sagen, mein Junge! - paßt, als ob der Bauherr seinerzeit ihn mit seinen Bedürfnissen eigens dafür ins
Auge gefaßt hätte. Nicht wahr, Mutter, wir finden uns schon unserm Jungen zuliebe in die veränderten Verhältnisse?«
»Ja, ja, ja! obgleich es mir doch schwer ankommen wird«, schluchzte die gute alte Frau. »Freilich rückt uns hier das Neue zu arg auf den Leib, und wo man aus dem Fenster guckt, ist es das Alte nicht mehr; aber weißt du, Mann, es wird mir doch sein als wie damals, wo man den Sargdeckel auf unser kleines Mädchen legen wollte und ich auch nicht glauben konnte, daß es
möglich und nötig sei. Kein eigenes Waschhaus mehr und keinen Platz zum Wäschetrocknen im eigenen Garten! Aber es ist ja richtig, das schlechte Tanzlokal, das da dicht an unserer grünen Hecke aufgewachsen ist, paßt nicht einmal mehr zu unseren Verhältnissen, also zu unserm Karl seinen gar nicht. Und du hast recht, Krumhardt, die Eltern sind dazu da, daß sie ihre Kinder in die Höhe bringen und in immer bessere Gesellschaft, bis in die beste, wenns möglich, und das ist freilich hier im Vogelsang
niemals möglich gewesen, also - wie Gott will. Ich habe mich in so vieles im Leben finden müssen und werde mich auch hierein finden. Das Kind wird es ja auch, und vielleicht auch mit seinen Kindern, einsehen, was Vater und Mutter an ihm getan haben, und es ihnen noch in ihrem Grabe gedenken.«
Nun hätte ich noch einmal hiergegen einreden können, um die Sache in die rechte Beleuchtung zu rücken; aber was würde es geholfen haben? Wahrhaftig, ich bin es nicht gewesen, der die
zwei treuen, wackeren Seelen mit ihren Wurzeln aus dem Boden hob und sie so in ihren greisen Tagen in ein fremdes Erdreich versetzte! Ihre liebe menschliche Torheit wars, die da Pflicht, Pflichten, Vorzug, Gewinn, Ehre, Lob, Ruhm und Glück sah, wo die übrigen Millionen unserer Brüder und Schwestern im Erdenleben - ebendasselbe sahen. Sie hatten ihren Kopf und Sinn drauf gesetzt, daß der Vogelsang nicht mehr zu ihnen »passe«, und sie nicht zu dem Vogelsang.
»Aufgesetzt ist der
Kontrakt, Frau«, sagte mein Vater, »und wenn es dir recht ist, kann Arnemann heute noch zur Ausfertigung und Unterschrift kommen, zu einem ruhigen Schlaf kommen wir jetzt doch nicht anders mehr.«
Meine Mutter ist also an diesem Tage nicht mehr bei der Nachbarin Andres gewesen, um das Genauere über das Privatschreiben aus Amerika an Seligmacher und Söhne und Velten und Helene Trotzendorff zu hören, ihre Teilnahme zu beweisen und, wenn möglich, Trost zuzusprechen. Ich aber habe mich
gegen Abend noch einmal durch das Schlupfloch aus unserer Kinderzeit, das wunderreiche, damals freilich längst wieder zugewachsene Schlupfloch in der lebendigen Hecke zwischen den Nachbargärten gezwängt und die alte Türklinke, deren Griff einem seit Menschengedenken so häufig in der Hand blieb, von neuem aufgedrückt, um hier, bei der Frau Doktorin, wo die Welt sich doch eigentlich am meisten verändert hatte, mich an das sonnig unverwüstlich Bleibende im Wechsel der Witterung des Erdentages zu
halten. Ich fand die Frau Doktorin allein im Vogelsang über ihrem Brief aus den Vereinigten Staaten.
Die Abendsonne schien der Nachbarin in das Fenster, als ich mit sorgendem, schwerem Herzen zu ihr kam, und sie hatte auch geweint, die Frau Nachbarin Andres. Die elegante Karte, die mein Vater bei Seligmacher und Söhne gefunden hatte und auf welcher Mr. and Mrs. Mungo sich allen Freunden und Bekannten in den Vereinigten Staaten als miteinander für Glück und Unglück, für Gesundheit und Krankheit, für Leben und Tod Verbundene empfahlen, lag auch auf dem Nähtischchen der Frau Doktorin, und der Begleitbrief Veltens daneben.
Die Mutter des Freundes reichte mir die Hand, nachdem sie ihr feuchtes Taschentuch zwischen die Blumentöpfe in ihrer Fensterbank geschoben hatte, und sagte: »Sieh, das ist freundlich von dir, Karl. Wenn sich die Welt um einen her verändert, hält man sich am besten an die Jungen aus seiner alten Bekanntschaft, an die, welche ihr Recht noch vom nächsten Tag erwarten, lustig in der neuen Flut schwimmen und aus ihrem jungen Recht an die Zeit den Alten wenigstens den Kopf ein wenig zurechtsetzen können, wenn auch nicht das Herz. Elly hat sich verheiratet, Velten hat geschrieben. Da ist sein Brief, und du kannst ihn lesen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß sich der Vogelsang so sehr für mich verändern könnte. Aber so geht es eben, wenn der Mensch es nicht glauben kann, daß ihm seine liebsten Hoffnungen aus dem Leben weggewischt werden können.«
Sie sah sich hier in ihrem Stübchen, in welchem sie unter all ihren Erinnerungen saß wie die Frau Fechtmeisterin Feucht in der Dorotheenstraße zu Berlin unter den ihrigen, mit einem kummervollen Blicke um: »Wie doch alles dem Menschen auf einmal so ganz andere Gesichter schneiden kann! Und doch ist es nur das eine Bildchen dort, das kleine Lichtbild da über der Kommode, dessen liebe, lachende Augen mir mein Altfrauenheim verwüstet und alles über- und durcheinandergeschoben haben wie bei einem Umzug oder nach einem Brande. Da - lies seinen Brief! Was er dazu tun kann, daß die alte Frau im Vogelsang nicht ganz aus ihrer Fassung kommt, das besorgt er natürlich auf seine alte Weise. Unter kriegt ihn auch das nicht; aber man müßte eben nicht zwischen den Zeilen lesen können, um sich von ihm auf diese seine Weise unterkriegen zu lassen.«
Ach, wie diese beiden Leute bis in die feinsten Nervenfädchen, bis in die flüchtigsten Seelenstimmungen hinein sich nachzutasten, sich nachzufühlen wußten! Sie machten einander nichts weis, und das war, ausnahmsweise, für sie ein großes Glück: für andere, und leider die Mehrzahl der auf dieser Erde sich näher und nächst Angehenden, wäre es freilich das Gegenteil gewesen. Es ist nicht immer das Behaglichste, wenn zwei oder mehrere, die zusammengehören, sich zu gut verstehen. Die einzige Möglichkeit für ein wenigstens gedeihliches Hüttenbauen und Zusammenwohnen liegt dann einzig und allein in dem Sichaufeinanderverstehen. Ich habe das auch aus meiner Amts- und Geschäftspraxis sehr, sehr in den Akten. -
Velten schrieb:
»Sie haben sie uns genommen, Mutter, und sind völlig in ihrem Recht, da sie das nach ihrer Meinung beste Teil für sie gewählt haben. Ich habe sie verloren; aber diesmal bin ich nicht schuld daran, das Glück der Erde verpaßt zu haben. Du weißt, wie oft man mir das bei Euch zu Hause aufzuriechen gab und, wenn die beleidigte Nase darob nicht lief wie die eines geschlagenen Schuljungen, sondern sich nur trocken-tückisch krauste, nicht nur von allen Schlechtigkeiten menschlichen Charakters, sondern auch von absoluter, bodenloser, randundbandloser Charakterlosigkeit sprach. Ich habe das Meinige getan, durch Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre, bei Tag und Nacht, bei allem, was ich getan, überdacht und gedacht habe, den schönen Schmetterling für mich - für uns festzuhalten: nun stehe ich wieder wie ein Schuljunge und besehe an den Fingern den bunten Farbenstaub von den Flügeln des entflatterten Buttervogels und denke vor allem an die alte Frau zu Hause, die da sitzt und sich fragt: Was für eine Nase wird er diesmal machen? - Mutter, mein - unser liebes, armes, kleines Mädchen, was würde dem jetzt mit einem zerfließenden Liebhaber gedient sein? Also - trocken überschlucken und ein Kreuz über eine närrische Lebensepoche ziehen wie über eine Kalenderwoche, die bis Donnerstag im Sonnenschein lag und am Freitag in einen Landregen überging! Unserm lieben Wildfang gebe ich gar keine Schuld; - kann man überhaupt einem Menschenkinde Schuld an seinem Schicksal geben? Was kann die Lerche gegen den Spiegelblitz, der sie aus der blauen Luft in die Versandschachtel und die Bratpfanne holt? Mit ihrem tückischen Glanz haben sie auch unser liebes Singvögelchen aus dem Vogelsang hernieder in ihr Netz stürzen machen und ihr nicht nur das arme, dumme, kleine Schädelchen und Gehirnchen, sondern auch das schöne, weite Herz eingedrückt. Sie wird eine stattliche Mistreß Mungo: die Nadel der Kleopatra, jetzt im hiesigen Zentralpark, die doch schon in Ägypten viel gesehen hat und hier im Lande täglich auch noch manches sieht, sah nimmer ein schöneres, vornehmeres Weib an sich vorbei und durch ihren Schatten gleiten. So wächst das immer aus dem Schlamm empor, einerlei ob am Nil oder am Hudson! Mir fehlen wieder mal die Knöpfe am Hemdärmel, alte Mutter zu Hause; aber Elly wird sie mir nicht annähen, worauf wir doch so fest gerechnet und des Lebens Seligkeit vom Vogelsang aus gegründet hatten; und das erinnert mich nun grade erst recht an Deinen alten Nähtisch, auf dem dieser Brief, wenn der Ozean ihn nicht verschlingt, demnächst liegen wird, und erinnert mich an Deinen Sessel dabei und das leere ›Schawellche‹ daneben und den Blick durch die Efeuranken, über den Garten weg, auf den Nachbar Hartleben und sein Anwesen (Strohwitwe Trotzendorff und Töchterlein eingeschlossen) hinein in den ganzen Vogelsang, und - ich bin wieder allein auf die alte Frau im Korbsessel an dem Fenster angewiesen und ein Vagabund - ein Wanderer im Leben - zerlumpter denn je. - In die hiesigen Verhältnisse habe ich mich übrigens eingelebt, daß ich meinen jüngsten Freunden keinen Grund zur Verwunderung mehr gebe. Wünschest Du mich auch als Millionär wiederzusehen wie Mr. Charles Trotzendorff? Oder ziehst Du den deutsch-amerikanischen Staatsmann, Muster Karl Schurz, vor? Meine Vogelsangstudien im Englischen, unserer Kleinen zuliebe, kommen mir jetzt wundervoll zustatten. Die Phrasen und den Tonfall, um eine ›Mäh‹ jauchzende Menschenansammlung zum ›Bäh‹jammern zu bringen und das politische Tier, Mensch genannt, mit einem Strick durch die Nase oder um den Hals für Klios ewige Tafeln und vergänglichen Griffel als notierungswert zu dressieren, lernt sich bald. Sollte Freund Krumhardt, ich meine unser Karlchen - nicht den Alten, aus seiner Geschäftspraxis demnächst mal einen neuen edlen Kinkel nebst Spulrad und Märtyrerglorie in der lieben Heimat für einen überseeischen Heros-Befreier zur Verfügung haben, so reflektiere ich darauf und bitte, aus guter alter Kameradschaft mir die Vorhand zu lassen. Eine republikanische Bürgerkrone für einen Märtyrer aus dem neuen Deutschen Reich! Das Ding wird leider schwer zu finden sein, denn den alten wahren Otto den Schützen von seinem Wergzupfen und Wollespulen im Reichstage zu entführen, würde ihm doch selber auch jetzt noch nicht recht in die gelbweiße Kürassiermütze passen. Aber wie sang Fräulein Leonie des Beaux in der Dorotheenstraße zu Berlin?
Je ne dors ni ne veille;
Cet enfant me réveille.
Da bin ich doch wieder bei meinem in der Fifth Avenue verzauberten armen Mädchen! Siehe Goethes Epilog zu dem Trauerspiele Essex:
Hier ist der Abschluß! Alles ist getan,
Und nichts kann mehr geschehn! Das Land, das Meer,
Das Reich, die Kirche, das Gericht, das Heer,
Sie sind verschwunden, alles ist nicht mehr!
Jaja, was nimmt man sich alles vor zu Glück und Ruhm und zum Besten der Welt in der Welt, bis der Narrenkönig, dem diese Welt gehört - siehe Schillers Jungfrau von Orleans - einem das Bein stellt und alle Weisen, Helden und weggelaufenen Schuljungen auf die Gefühle eines Zahnarztes, der selber Zahnweh hat, hinunterdrückt! Du weißt es, Mutter, und Du kannst es mir bezeugen, daß die Scheu der Leute, sich vor der Menschheit, das heißt den nächsten ihresgleichen, lächerlich zu machen, mir leider immer nur zu sehr gemangelt hat; aber die Sehnsucht, mir selber endlich einmal wieder lächerlich vorzukommen und somit das richtige Maß für die Dinge dieser Erde wiederzugewinnen, ist mir bis jetzt auch nicht in solcher Fülle und Üppigkeit zuteil geworden. Zu Hause, im Vogelsang, würde das wohl noch am leichtesten zu erreichen sein, Deinem lieben Korbstuhl gegenüber und mit des seligen Vaters geliebter ersten Originalausgabe des Wandsbecker Boten auf Deinem Nähtische und mit der einzigen Aussicht über Deine Buchsbaum- und Blumenbeete, meine Stachelbeerbüsche und unsere grüne Hecke auf den Nachbar Hartleben und sein Anwesen. Da ginge es wohl noch am leichtesten an, dem teuren Ahnherrn in dem Buche, dem Vetter Andres, und dem braven Vetter Michel im eigenen Busen sein Recht wiederzugeben; aber - + ! ? + -
Frage Karl um seine Meinung hierüber, doch - laß es lieber auch nur. Daß der Frager bei solchen Gelegenheiten den Gefragten und seine Antwort im voraus ziemlich genau kennt, würde auch diesmal und hier nichts zur Sache tun; aber aus Deinen Briefen weiß ich ja, daß auch um Euch dort im Vogelsang allgemach die Dekoration sich so sehr verändert, daß er - der Freund - sich da binnen kurzem am allerwenigsten noch zurechtfinden wird. Aus Büschen werden Bäume, aus Bäumen Hausmauern, aus Grün Grau. Aus obststehlenden (freilich meistens dazu verführten) Schuljungen werden die besten Verwaltungsbeamten und Regierungsräte, sowie die schärfsten Staatsanwälte, und - aus dem nichtsnutzigsten Schlingel des Vogelsangs wird (wenigstens was ich dazu tun kann) the most glorious tramp, der glorioseste Landstreicher, der je auf den Wegen der Welt den anständigen Passanten einen Schauder und Schrecken eingejagt hat, wenn er an einem Stadttor nach seinen Papieren gefragt wurde, nimmer dergleichen aufzuweisen hatte und vielleicht auch erst in irgendeinem Bedford gaol als alter Kesselflicker anfangen wird, sich über the Pilgrims Progress, über seines Lebens Pilgerfahrt, die letzte Rechnung abzulegen.
Meine liebe, liebe Mutter, Du kannst nichts dafür, und mein Vater auch nicht. Solches war mir an der Wiege gesungen, aber nicht von Dir mit Deinem: ›Buko von Halberstadt‹ oder: ›Schlaf, Kindchen, schlaf, da draußen geht ein Schaf‹. Es kauert immer eine andere Sängerin auf der andern Seite des ersten Schaukelkahns menschlichen Schicksals und summt ihren Sang in ihre Hexenbartstoppeln, und der stammt von den Müttern viel weiter hinabwärts und ist der allein maßgebende.
Also streich Dir die Sorgen- und Unmutsfalten wieder einmal aus dem lieben tapfern Gesichte und halte Dich weiter an der Väter Erfahrung, daß Unkraut so leicht nicht vergeht. Sage mit dem alten Vertrauen auf unsern eigentümlichen, unveräußerlichen eisernen Bestand von Familienadel: ›Oh, dieser dumme Junge!‹ - Und halte fest: wir sind doch die zwei gewesen, welche die wenigsten Sorgen im Vogelsang auf unserm Hirn und Herzen geduldet haben, und so soll es bleiben! Veränderte Dekorationen sollen uns nie etwas anhaben; halte Deinen Platz an unserm Herde fest und mir den meinigen: ich komme ebensosehr als Sieger wieder wie - Mr. Charley Trotzendorff. Es gibt ein verschiedenartiges Achselzucken der Leute in der Welt: ich hoffe mir das meinige, nach meiner Weise, mit ebenso gutem Recht zu verdienen wie er das seinige und das Nachgaffen und den Neid der Welt auch. Ziehe meinetwegen hier auch Freund Krumhardt über unsere Hecke als Kommentator bei, wenn Dir ob solchen beglückenden Aussichten in die Zukunft doch etwas nüchtern und unheimlich zumute werden sollte. -
In der Heimat und zumal im Vogelsang bin ich fürs erste nichts nutze - und auch Dir nicht, armes, tapferes Mütterchen. Übrigens sind und bleiben wir zwei immer beisammen, ob auch ein paar Tropfen Wasser und einige Krümel Erdboden mehr uns trennen. Zu den Füßen der Treue bleibe ich sitzen, wenn es mir auch nicht vergönnt wurde, zu den Füßen der Liebe Werg zu spinnen. Nach dem Wocken der Omphale freut man sich ordentlich auf den Nemeischen Löwen, die Lernäische Hydra, den Erymanthischen Eber und vor allem andern auf die Stymphaliden und die Ställe des Augias. Daß ich Dir grade die goldenen Äpfel aus den Gärten der Hesperiden heimbringen werde, ist mir selber etwas zweifelhaft; aber darauf verlaß Dich, und Du kannst auch in der Nachbarschaft davon erzählen und damit renommieren: den Zerberus hole ich mir sicherlich aus der Unterwelt herauf, wenn auch nur, um das große Schrecknis der ewigen Nacht mir beim kurzen Lebenstageslicht so genau und gemütlich wie möglich zu besehen. Philosophie studieren nennt man das vor den Kathedern nach geschriebenen Heften - frage nur Freund Krumhardt danach, der sich des bürgerlichen Anstands wegen sein Teil davon hat in die Feder diktieren lassen. Und vom Lehrstuhl des Professors der Weltweisheit bis zum Schneidertisch des Hauses der des Beaux ist auch wieder einmal nur ein Schritt. Hab ich mir meinen Freund Leon auf den Buckel geladen, so soll ich ihn natürlich auch darauf behalten. Vater des Beaux schreibt mir, der Junge werde ihm, ohne meine Beaufsichtigung, von Tag zu Tage unter den Händen mehr zu einem Narren und es bleibe ihm nichts übrig, als den Knaben mir nachzuschicken; eine Reise um die Erde unter meiner Führung erscheine ihm als das letzte Mittel, den Phantasten für den künftigen Kommissions- oder Kommerzienrat zu ernüchtern. Ich werde also nicht umhin können, das, wenigstens für die ersten Stationen meiner eigenen Weltwanderung, noch einmal zu meinem Gepäck zu legen; habe also zurückgeschrieben: das Kind möge kommen, ich würde das Zutrauen zu verdienen suchen. Jawohl, das Zutrauen unter den Leuten! Erhalte mir das Deinige, alte Frau!
Dein Sohn und Erbe
Velten Andres.«
Es ist eine kalte Nacht, in der ich dies zu den Akten hefte; aber ich habe das fröstelnde Zusammenziehen der Schulterblätter doch mehr dem klareisigen Hauch, der von der letzten Seite dieses Briefes ausgeht, zuzuschreiben als der Winterwitterung draußen vor dem Fenster. Und wenn man - damals - dieses Schreiben in der Stadt unter den Bekannten, den Leuten, herumgezeigt hätte, würden sie alle gesagt
haben:
»Der alte, ewig überhitzte Wirrkopf! Es bleibt dabei, er kann auf nichts zu seinem Fortkommen rechnen als auf das Glück der Betrunkenen und die Vorsehung, die über die Unmündigen wacht.« -
Ich habe weiter zu berichten, was sich in der nächsten Nähe um mich her zutrug.
Der erste, der nach Velten den Vogelsang verließ und auch nie wieder, was der Freund doch tat, darin vorsprach, war Nachbar Hartleben. Er sagte, als er zum letztenmal in seinem Rollstuhl vor unserer Gartentür hielt:
»Weißt du, Junge, Herr Assessor Krumhardt sollte ich sagen, weißt du, ein Vergnügen ist es nicht, so als ein Sack voll Elend, schlechtem Appetit und nächtlicher Wehklage und Schlaflosigkeit sich um sein zerstückelt Anwesen rumrollen zu lassen; aber so ist der Mensch: solange er Luft schnappen kann, gibt er den Atem nicht gern auf. Also da bin ich noch und mache so lange Gebrauch von dem alten Freundschaftsverkehr über die Straße, als es angeht. Noch pläsierlicher hielte ich den Jammer natürlich aus, wenn mir mein Wald da oben hinterm Osterberge nicht immer im Kopfe herumginge. Das ist der leidige Satan! Und vorzüglich jetzo so im angenehmsten Sommer, wenn das so grün da herunterwinket und einer mit seinem Holzverkehr und Handel, von seinen Sägemühlenabnehmern gar nicht zu reden, nur eine lahme Faust zurück und aufwärts machen kann. Da gucken Sie nur, Herr Obergerichtssekretarius, wie das da oben auf meinem Schluderkopf im Sonnenschein liegt und einem unter Gottes blauem Himmel den Esel bohrt und sackermentsch einen jetzt nur noch dazu verlockt, eben unserm lieben Herrgott einen bösen Leumund bei den Erbberechtigten zu machen. Es ist ein Elend - ein Elend - ein Elend, Frau Obergerichtssekretärin, und Sie haben ganz recht gehabt, daß Sie die Sache über Ihr Anwesen mit Arnemann in Richtigkeit gebracht haben. Sie ziehen nun demnächst, und ich habe Ihnen wie der anderen guten alten Zeit nachzusehen. Nun bleibt mir nur für meine noch übrigen paar Jahre die Frau Doktorn. Jaja, so wird der Mensche allgemach von allem Guten und Angenehmen entwöhnet! Manchmal kommts mir wirklich so vor, als sei auch das nur zu unserm Besten von da oben so eingerichtet, um uns den Abschied von hier unten nicht so schwer zu machen. Und wenn man denn wieder von den Jüngeren und Jüngsten hört! Da hat ja wohl unser Herr Velten - da kann ich wohl eher als hier bei unserm Assessor sagen: unser Junge - von den Japanern her geschrieben, daß er sich jetzt mit seinem vornehmen Berliner Freunde, den wir seinerzeit hier auch im Vogelsang hatten, dort aufhalte und vergnügt grüßen lasse. Passen Sie auf, Herr Nachbar, der bringt es gradesogut wie unser Karlchen Trotzendorff, unser Zeitgenosse, zu was Ordentlichem da draußen; - wenns nur nicht immer auf ein und dasselbe hinausliefe am letzten Ende! Was dieses anbetrifft, so muß man sich erst so, wie ich mich jetzt in diesem Einspänner von hinten, rumkutschieren lassen müssen, um zu dem richtigen Taxat von allem Pläsiervergnügen im Leben zu kommen. Die Erinnerung an das Gute, was man seinerzeit genossen hat, ist immer noch das Beste, wenn auch leider Gottes Verdrießlichste. Auch mit dem kleinen Mädchen, das hier bei mir und zwischen uns im Vogelsang aufwuchs, und unserm Velten scheint das nichts geworden zu sein. Schade drum! Die Madam oder Mistreß war zwar die richtige Gans; aber das Wurm, das jetzt da drüben überm großen Wasser sechsspännig fährt, gehört immer auch noch zu meinen angenehmen Erinnerungen. Karlch- Herr Assessor, Kinder, Kinder, in welche vergnügte Wütenhaftigkeit habt ihr öfters den Nachbar Hartleben gebracht, und was gäbe er heute drum, wenn er euch nur noch einmal mit dem Peitschenstiel durch seinen Garten nachsetzen und aufs Nachbargrundstück oder in den Wald hinaufjagen könnte! Aber ich sehe, Sie haben Ihre Akten unterm Arm, Herr Assessor, und müssen in Ihr Geschäft. Nehmen Sie es nicht für ungut, wenn ich Sie mit meinem Geschwätz aufgehalten habe. In so einem Marterstuhl ist man ja einzig und allein nur auf sein Maulwerk angewiesen. Wenn ich Ihnen, Herr Sekretär und Frau Sekretärin, mit meinem andern noch übrigen Fuhrwerk beim Auszuge zu Diensten sein kann, solls gern geschehen. Dem alten Hartleben, dem Grobian, soll mans nicht nachsagen aus der Stadt, daß er nicht doch alles in allem ein guter Vogelsänger Nachbar gewesen sei. Mit dem freundschaftlichen Verkehr später, aus der Stadt heraus und hinein, wirds wohl ein bißchen hapern. Na, ich denke immer noch ein paar Jährchen es zu machen, daß Sie mich hier auf den Rädern finden, wenn Sie aus dem neuen Leben heraus das alte hier am Ort mal wieder aufsuchen wollen. Recht schönen guten Abend, liebe Herrschaften! Schieb den Krüppel um ein Haus weiter, Lümmel da hinter mir; die Frau Doktern hat mir versprochen, mir noch ein Weniges mehr aus ihrem Velten seinem letzten Brief vorzulesen, und der Satansjunge hat das immer so an sich gehabt, daß er einem mit seinen Schnurren, Abenteuern, Meinungen und Ansichten wie mit einem Schnaps aufwartet. Ich meine immer, einmal mußt du den auch noch wiedersehen, Hartleben, und wenn er auch noch so lange seine Mutter und den Vogelsang auf sich warten läßt!« -
Vier Wochen später mußten wir ihn begraben, den Nachbar Hartleben, und zu Ostern des folgenden Jahres verließen auch wir, die Familie Krumhardt, Vater, Mutter und Sohn, den Vogelsang. Meine Eltern fügten sich den höheren Ansprüchen, die ihrer Meinung nach meinetwegen das Leben an sie machte, und ich fügte mich meinen treubesorgten Eltern. Wer wehrt sich gegen die Liebe seines Vaters und seiner Mutter, und wenn sie auch noch so sehr mit Sorglichkeiten, die man nicht mehr kennt, mit Torheiten, über die man hinaus ist, und mit mancherlei anderem, was einem im Grunde lächerlich, ja ärgerlich vorkommt, verquickt ist?
Und wenn mir etwas ferne sein muß, so ist das Überhebung über die subalterneren Gefühle und Stimmungen des Menschen in seinem Dasein auf Erden grade an dieser Stelle! In den Akten habe ich es nicht, aber tief in meinem innersten Bewußtsein, daß ich die teure, altgewohnte Heimatstelle mit allem, was mir heute mit schaudernd-wehmütigen Heimwehgefühlen in dieser kalten Winternacht nahetritt, damals leichter, viel leichter und freier atmend aufgab als die zwei armen Alten.
Auf der Bühne des Lebens hört man eben nicht vor jedem Szenenwechsel die Klingel des Regisseurs. Man findet sich zwischen den gewechselten Kulissen und vor dem veränderten Hintergrund und verwundert sich gar nicht. Ob man sie gut oder schlecht spielt, seine Rolle ist jedem auf den Leib gewachsen und das jedesmalige Kostüm gleichfalls. Nur in seltenen stillen Augenblicken gelangt wohl ein und der andere dazu, sich vor die Stirn zu schlagen: »Ja, wie ist denn das eigentlich? War das sonst nicht anders um dich her und in dir? Wie kommst du zu allem diesem, und gehörst du wirklich hierher, und ist das nun Ernst oder Spaß, was du jetzt hier treibst oder treiben mußt? Und wem zuliebe und zum Nutzen?«
Das sind dann freilich sehr kuriose Gedankenstimmungen. Wie aus einem unbekannten schauerlichen Draußen haucht das vor den Theaterlichtern einen fremd und kalt an, meistens, wenn die Bühne einmal um einen her leer geworden ist; aber dann und wann bei gefüllter Szene im Gewühl der Edlen, Ritter, Bürger, Damen des Hofes, der Mönche, Herren und Frauen, Herolde, Beamten, Soldaten, kurz des ganzen zu dem ewig wechselnden und ewig gleichen Schauspiel gehörigen Volksspiels. Und so rasch als möglich fort damit! Dergleichen Nachdenken stört sehr bei der Durchführung der zugeteilten Rolle, bringt nur Stockungen hervor und ein verehrliches Publikum, von der Hofloge bis zu den höchsten Galerien, zu einem ironischen Lächeln, bedauernden Achselzucken, wiehernden Hohnlachen, Pfeifen und Zischen. Und mit vollem Recht! Es ist ein schweres Eintrittsgeld, das man für die Tragikomödie des Daseins zu erlegen hat. »Paß auf dein Stichwort, du da, König oder Narr da auf den Brettern, und störe uns das Behagen nicht, von Vergnügen kann ja so schon wenig die Rede sein!« -
Leider recht bald wurde um mich her die Bühne, wenigstens für einen Augenblick, sehr leer und gab ungestörten Raum zu jeglichem Monolog über Sein und Nichtsein, und ob es besser sei und so weiter und so weiter. Nämlich meinen Eltern bekam die veränderte Umgebung durchaus nicht; und hier beuge ich die Stirn tief über dieses Blatt: hätte ich nicht doch mehr dazu tun müssen und sollen, daß sie in ihren Greisentagen ihr An- und Einfügungsvermögen in das Ungewohnte mir zuliebe nicht zu sehr überschätzten? Und die Braut, die ich ihnen dann in das Haus, nein, nicht in das Haus, sondern die Mietwohnung inmitten der Stadt, wenn auch der »besten Gegend« der Stadt, brachte, die wußte nichts von dem Vogelsang und brachte ihren Sonnenschein nur für mich mit in die Archivstraße. Die Blumenzucht in der Fensterbank konnte meinem Vater seinen Vorstadtgarten nicht ersetzen und noch viel weniger die vornehme Stadtgegend meiner armen Mutter den Verkehr über die lebendige Hecke und die von einem blühenden Apfelbaum zum andern auf eigenem, sicherm Grund und Boden ausgespannte Waschleine und, was sich an behaglichem Verdruß und verdrießlichem Wohlbehagen daran knüpfte. Wenn ich mir jetzt, mit dem Kopfe in der Hand, überlege, was ich dagegen tun konnte, daß sie ihren Willen, auf ihrem und - meinem Wege aufwärts als grämliche Sieger zu fallen, nicht bekamen, und mir sagen darf: »Wenig!«, so ist das auch ein Trost, aber nur ein geringer, und man hat erst an seine eigenen Nachkommen und deren Tröstungen zu denken, ehe man sich wieder beruhigter, gelassener vor solch einem Aktenbündel wie dieses hier vorliegende im Sessel zurechtrückt. -
Jawohl, mein Weg ging aufwärts in der Rangordnung des Staatskalenders und der bürgerlichen Gesellschaft: meine Eltern starben - die Mutter zuerst und der Vater ihr bald nach; und ich heiratete. Daß ich ihnen »Schlappes« Schwester als liebe Braut und gute Tochter zuführte, war der beiden guten und lieben alten Leute letzte Freude und drückte ihnen das letzte Siegel auf die Gewißheit, daß auch ich ein guter, braver Sohn gewesen sei, daß ich allen ihren Erwartungen entsprochen habe und mich auch fernerhin aller hohen und höchsten Ehren und Genugtuungen unserer Welt im kleinsten würdig erweisen werde und also aller durch zwei ganze treusorgliche Elternleben aufgewendeten Ängste, Mühen, Kümmernisse und Entsagungen wert.
Wahrlich, ich schreibe nicht, um in diesen Blättern Komödie zu spielen und von Tränen zu fabeln und zu faseln, die auf irgendeine Seite der Handschrift gefallen seien (ich weiß es ja eigentlich selber nicht, wie sich dieses alles plötzlich infolge jenes Briefes aus Berlin, den Helene Trotzendorff, den Mrs. Mungo schrieb, in den tagtäglichen Aktenwechsel auf meinem Schreibtische schiebt!), aber ich nehme mir wieder die Muße, zu dem Bildnis über diesem Schreibtische, dem alten, teuren Herrn mit dem verkniffenen deutschen Schreibergesicht und dem zu dem Landesorden hinzugestifteten Ehrenkreuz Erster Klasse auf der Brust, melancholisch-dankbar aufzuschauen.
»Wer hatte es besser mit dir im Sinne als der?« - - -
Der Weg nach dem Friedhofe jenseits des Vogelsangs führte noch immer durch unsere vordem so grüne Kindheitsgasse. Jetzt vorbei an den Plätzen, wo vordem Hartlebens weitgedehntes Anwesen gewesen war und meiner Eltern Haus, mein Vaterhaus und ihrer Väter Haus, gelegen hatte.
Es ist eine Redensart: »Ich komme selten mehr in die Gegend!« Wie schwer sie einem aufs Herz fallen kann, das sollte ich am Begräbnistage meines Vaters im vollsten Maße erfahren.
Ich war nicht so häufig in die Gegend gekommen, wie ich gesollt hatte, und nun war grade die rechte Gelegenheit, um zu erkennen, wie sehr sie sich verändert hatte, nicht seit unseren Kinderjahren, sondern seit dem Tage, an welchem die Nachbarin Andres, die Frau Doktern, dort von uns allen allein zurückgelassen worden war.
Es gibt auch eine Redensart: »Das ist mir bis jetzt nicht aufgefallen!«, und dann kommt plötzlich die Gelegenheit, der Augenblick, die Stunde, der Tag, wo das um so eindringlicher einem ans Herz gelegt wird. Ich hatte wirklich so viel mit meinen persönlichen Lebensangelegenheiten, mit mir selber zu schaffen gehabt, daß ich mich um das, was hinter mir lag, und wenn auch in nächster Nähe, wenig bekümmern konnte, und der Vogelsang war mir davon nicht ausgenommen gewesen. -
Zwischen den neuen Mauern der Fabriken, Mietshäuser, Tanzlokale wars allein die alte Frau, die Mutter Veltens, welche, wie sie es dem Sohne versprochen hatte, nicht von ihrer Heimstätte gewichen war und trotz des neuen Lebens, das ihr von allen Seiten unbehaglich, spöttisch, ja drohend sich andrängte, ihr Häuschen, ihr Gärtchen, ihre lebendige Hecke festhielt. Wieviel Vernunft hatten meine Eltern deswegen die letzten Jahre hindurch vergeblich auf sie hineingeredet!
»Er hat seinen Willen gewollt und hat ihn nun in aller Herren Ländern zu Land und Meer: ich habe den meinigen hier im Vogelsang, und wenn es auch nur des Kitzels wegen wäre, der mir zukommt, wenn er heimkommt und ich ihn frage: ›Na, Velten, wie wars denn draußen?‹« antwortete in den verschiedenartigsten Variationen (auch je nach Jahreszeit verschiedenen) die Frau Doktorin Andres im Vogelsang auf alles, was ihr Häuserspekulanten, sachverständige Freunde und wohlmeinende Freundinnen vortragen mochten, um ihr den Sinn zu brechen und ihr zum Besten zu raten. Es war mit der Frau jetzt immer noch ebensowenig anzufangen wie vor Jahren, wenn mein Vater als »Familienfreund« von einer Erziehungskontroverse mit ihr nach Hause kam.
Und nun war es kaum acht Tage her, daß er zum letztenmal in dem kleinen hartnäckigen Häuslein gewesen war, um sich in der altgewohnten, treufreundschaftlich-nachbarschaftlichen Weise zu ärgern und sich wieder zu vertragen mit der Frau »Exnachbarin«. Nun stammte der werteste Kranz auf seinem Sarge aus dem letzten Hausgarten des Vogelsangs, und Veltens Mutter hatte ihn selbst gebracht und mit mir und meiner jungen Frau, die nichts mehr von dem Vogelsang wußte, neben dem schwarzen Schrein gesessen und mir mehrfach die Hand aufs Knie gelegt und geseufzt:
»Ich werde ihn sehr, sehr vermissen, deinen guten Vater, bester Karl! Nun bin ich die letzte von den Alten unterm Osterberge. Manchmal in dem jetzigen Lärm dort um mich her, wenn ich so von meinem Strickzeug am Fenster aufsehe, kommt es mir doch wirklich vor, als gehöre auch ich nicht mehr dahin; aber ich habe es ihm ja versprochen, daß er mich jederzeit dort in seines Vaters und seinem eigenen alten Wesen noch vorfinden soll, und so muß ich noch etwas bleiben. Wer verdunkelt einem nun noch mit einem: ›Auf ein Wort, Frau Nachbarin!‹ das Fenster, um einen fester in der Gewißheit, zur Seite und gegenüber die beste, liebste Nachbarschaft zu haben, nach dem Vorgucken und Besuch wieder sich selbst zu lassen? Kommt ihr jungen Leute, so könnte man sich so vorkommen wie ein ein halb Jahrhundert vor der Erlösung für einen Augenblick aufgewachtes Dornröschen, das sich nicht seinem Prinzen in Mantel, Federbarett und Trikot, sondern einem durch die Hecke gedrungenen Liebhaberphotographen gegenüber findet. Ja, sieh, lieber armer Junge, so schwatzt die alte Doktern Andres ihren gewohnten Unsinn selbst am Sarge deines Vaters, ihres guten, treuesten Freundes! Aber glaub mir, wenn ihr ihn morgen früh durch den Vogelsang geleitet, so sieht ihm über ihren Zaun dort eine Freundin mit nassen Augen und vollem Herzen nach und sagt: ›Da begraben sie einen Mann, den dir das Schicksal dort an die Hecke gesetzt hatte, um dir ein Muster an ihm zu nehmen, dein ganzes Leben lang, Mutter Andres!‹ Alles für unsere Jungen! Natürlich er auf seine Weise, ich auf die meinige. Und daß seine Art gut war, das bezeugt ihm am besten die kleine Frau hier hinter ihrem feuchten Taschentuch, Karl. Ziehen Sie es mir noch einen Moment herunter, Kindchen, und geben Sie mir einen Kuß, und nun gute Nacht, und habt ferner euren Trost aneinander und gönnt uns Alten unsere Ruhe, wenn unsere Schlafenszeit gekommen ist!«
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