Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
3. Abschnitt
eingestellt: 20.7.2007Es war ein schöner, sonniger Morgen, an welchem wir meinen Vater begruben. Mit einem stattlichen Gefolge, an dem er wohl seine Genugtuung haben mochte und wie es ihm da, wo man sonst wohl am wenigsten an so etwas denkt, auf seines Lebens Höhe, als etwas sehr Wünschenswertes, sehr Erstrebenswertes erschienen sein mag. Wie oft hat er von dem Fenster unseres Wohnzimmers aus die Kutschen gezählt, die bei solchen Gelegenheiten die Teilnahme der Besten im Volke leer, aber würdig zur Darstellung bringen! ... Und nicht, daß ich nun von einem erhabenern Standpunkt hierüber hinweggesehen hätte: o, als der rechte Sohn meines Vaters habe ich sehr genau darauf geachtet, wer ihm und mir die gebührende Ehre gab und wer nicht! -
Aber wo war das Fenster im Vogelsang, an dem die Krumhardts seit Generationen von Vater zu Sohn ihre statistischen Bemerkungen in dieser Hinsicht gemacht hatten, bis - sie selber für einen andern in gleiche hineinfielen? Ein vierstöckiges Haus hatte Arnemann auf das alte Familiengrundstück gesetzt, und vom Erdstock bis zum Dache kamen Dutzende von Gesichtern jeder Art an die neuen Fenster, um das »schöne Begräbnis« zu sehen. Und, was sonst ein lieber, zum Übrigen, Gleichen gehöriger Schmuck der Feld- und Gartengasse gewesen war, das Stück grüne Hecke der Frau Doktor Andres, das war nunmehr ein Etwas, das seine Zeit ganz und gar überlebt hatte und durch sein Nochvorhandensein nur kümmerlich-lächerlich wirkte.
Und wie an dem betrübten Tage, in dem traurigen Zuge mein Auge doch nur diesen grünen Punkt in all dem neuen, fremden Mauerwerk suchte und sich der Exbürger des Orts mit einer Art von Heimwehgefühl dort festzuklammern suchte! Und nun - grade vor dem Anwesen der Familien Krumhardt und Andres redeten die beiden würdigen geistlichen Herren, zwischen denen ich hinter dem Sarge schritt, so treulich und wohlmeinend das Passende auf mich ein, daß es eine rechte Unhöflichkeit von mir gewesen sein würde, wenn ich ihnen nicht nach rechts und nach links hin das Ohr geliehen hätte! So habe ich damals trotz allem nur flüchtig hingrüßen können nach der greisen Freundin und Nachbarin an dem zerfallenden morschen Gartentürchen und ganz außer acht gelassen, daß sie nicht allein an der Pforte zu ihrem so tapfer festgehaltenen Reiche stand, um den Familienfreund vorbeiziehen zu sehen. Es hätte auch doch wohl eine Störung im Zuge gegeben, wenn - Velten Andres an dem Morgen aus seinem Garten sofort an meine Seite getreten wäre! - - -
Er hat sich an das Ende des Zuges angeschlossen und mich also auf dem ernsten Wege davor bewahrt, Aufsehen durch eine augenblicklich unschickliche Aufregung über ein plötzliches, unvermutetes Wiedersehen zu erwecken. Auf dem Friedhofe selbst aber, wo die frühere Freundschaft auch jetzt noch nach Möglichkeit gute Nachbarschaft hielt und ihren Grundbesitz im Grundbuche, wenn auch nicht Hypothekenbuche, fest zusammen hatte schreiben lassen, konnte er mir die Überraschung nicht ersparen.
Dicht neben seinem Vater war dem meinigen die Grube gegraben (Nachbar Hartleben lag nur ein paar Schritte weiter ab, und der übrige Vogelsang, hier noch immer im Grün und mit der Aussicht auf den Osterberg und Schluderkopf, rundum) und standen die Schaufeln für die Liebes-, Ehren- und Achtungsgabe des Grabgefolges in die frisch aufgeworfenen Schollen fruchtbaren Gartenbodens gestoßen.
Und wenn man den gleichgültigsten Kanzleiverwandten, den langweiligsten Klub- und Stammtischgenossen so, mit einem dieser Spaten, die letzte Achtung erweist, liegt nicht nur die nächste Umgebung, sondern die ganze Welt in einer Beleuchtung, die für den Schreibtisch und den Lhombretisch kaum die rechte sein würde: begrabe aber deinen Vater, deine Mutter, dein Kind und achte dann in dem Licht, das eben kein Licht ist, darauf, wer dir zu dem »Erde zu Erde« das Werkzeug in die Hand gibt und an wen du es weitergibst! ...
In die Hand reicht es uns Christenleuten nach geschriebenem und ungeschriebenem Recht die Kirche, wenn es gewünscht worden ist; aus der Hand nahm es mir der Nächste mir zur Seite und sagte:
»Das war ein wohlmeinender, braver und kluger Mann, Krumhardt. Mögen deine spätesten Enkel noch süße Früchte mit seinen wackeren Knochen vom Baume des Lebens werfen ...«
Velten! ... Velten Andres! Nun verletzte ich doch den Anstand, indem ich zurücktretend den Chef des Entschlafenen, der nach mir nach der Schaufel hatte greifen wollen, auf den Fuß trat. Den Spaten reichte Velten ihm:
»Bitte, Herr Obergerichtspräsident!«
Später sind keine Störungen mehr vorgefallen. Es ist nur getan und gesagt worden, was bei solchen Gelegenheiten getan und gesagt zu werden pflegt. Ich, der ich mehr als ein anderer (auch als der Freund) von den Vorzügen des alten Herrn Kenntnis hatte und überzeugt war, kann es bezeugen, daß mir nichts über ihn gesprochen wurde, was nicht die volle Wahrheit war. Als wir ihn dann ließen und ein jeder, der ihm die letzte Ehre gegeben hatte, aus solcher Störung des tagtäglichen Tages- und Geschäftslaufs heimging oder -fuhr, hatten wir, der Vater und der Sohn, es freilich uns gleichfalls gefallen lassen müssen, was dann noch mehr oder weniger anekdotenhaft aus dem Lebensverlauf des Obergerichtssekretärs Krumhardt heraufgeholt wurde, bis noch näherliegender Tages- und Daseins-Gesprächsstoff den Ruhenden in seiner Ruhe ließ neben seinen nächsten guten Nachbarn: seinem Weibe und dem Doktor der Heilkunde Valentin Andres. - -
Er fuhr nicht mit mir nach Hause. Er sagte mir auf dem Kirchhofe nur noch: »Später, mein Junge! Wir haben für alles Zeit«, brachte mich aber doch an den Wagen an der Friedhofspforte, ließ den hohen Chef des weiland Obergerichtssekretärs Krumhardt und seinen Sohn einsteigen, drückte mir über den Schlag noch einmal die Hand: »Ich hoffe, dich schon heute noch gemütlicher sprechen zu können. Guten Morgen, Alter!«
»Was war denn das für ein eigentümlicher Herr, lieber Assessor?« fragte der hohe, amtlich dem Hause Krumhardt Vorgesetzte; und als ich ihn, soweit das möglich war, darüber in Kenntnis gesetzt hatte, sagte er:
»Hm, hm, ja, ich erinnere mich dunkel. Der Sohn eines Vorstadtarztes und ein toller Christ vor Jahren. Nahm nicht einmal Seine Durchlaucht einiges Interesse an ihm? Jawohl, jawohl, ganz richtig! Andres! Eine Zeitlang hatte der junge Mensch hier wirklich die besten Avancen. Sie und er waren Nachbarn, Herr Assessor, und scheinen noch in freundschaftlichem Verkehr mit ihm zu stehen. Man hielt ihn damals für ein junges Genie; aber er ist uns doch, wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt, dann bald gänzlich aus den Augen gekommen. Es würde wirklich auch mich ein wenig interessieren, zu erfahren, was jetzt eigentlich aus ihm geworden ist.«
Wahrscheinlich hat der würdige Mann es nur auf die Zeit und Umstände, unter welchen er seinen Wunsch äußerte, geschoben, daß ich ihm nur sehr ungenügend Aufklärung gab. -
Zu Hause fand ich, was man zu finden pflegt, wenn man von einem solchen Geschäft heimkehrt: das Haus nach Möglichkeit gereinigt und aufgeräumt - nach der Katastrophe so viel frische, sonnige Alltagsluft als möglich eingelassen - nach Möglichkeit alles in der alten Ordnung - so wenig als möglich Stearin-, Chlor- und Blumengeruch, das alte Geräte in gewohnter Ordnung, nur noch etwas peinlicher, um einen herum und - eine Lücke in sich, eine Leere, eine Öde um sich, die, natürlich je den Umständen nach, mehr oder weniger empfindlich empfunden werden. Aber ich konnte auch mein gutes kleines Weibchen in der schwarzen, ernstgemeinten Trauerkleidung in den Arm nehmen und »Schlappen«, dem jüngsten Regierungsrat des Landes und meinem Schwager, sowie einigen anderen, meiner Frau zum Trost und zur Aufrichtung gegenwärtigen Mitgliedern ihrer Familie für ihre Teilnahme danken.
»Es ist doch recht betrübt, daß du heute gar keine eigenen Verwandten hast«, sagte, nachdem sie alle ihre Pflicht getan hatten und gegangen waren, meine Frau, sich an meinem Schreibtische an meine Seite schmiegend und gottlob so dicht als möglich. »Armer Mann! Aber mich hast du doch, und nicht wahr, das ist doch auch ein Trost? Und nun wollen wir von jetzt an noch fester zusammenhalten und uns immer lieber haben - nicht wahr, du armer, lieber Mann? Und daß du dich gleich wieder in dein Arbeitszimmer gesetzt hast, das ist sehr unrecht von dir und gehört sich gar nicht! Deine Frau gehört heute zu dir, und wenn du nicht zu mir herüberkommst, so bleibe ich hier bei dir, und draußen habe ich schon Bescheid gegeben: sie sollen, wenn es nicht ganz und gar nötig ist, keinen Menschen mehr zu uns hereinlassen!«
Bei allem, was der Mensch auf Erden je der Götter Wohlwollen, die Güte Gottes genannt hat, konnte es mir noch deutlicher gemacht werden, was ich an sicherm Eigentum, an dem Reichtum dieser Erde gewonnen hatte, was mir davon gegeben worden war auf meinem Wege bis zu diesem betrüblichen Tage? -
Wir blieben den Tag über für uns allein. Als ich meiner Kleinen aber von der Heimkehr Velten Andres erzählte, sagte sie:
»Oh, der gehört natürlich zu uns, dein bester Freund! Ich kenne ihn ja eigentlich kaum; aber wie oft ist bei uns, in meiner Eltern Hause, von ihm, und was er an meinem Bruder getan hat, die Rede gewesen! Ich war zu jener Zeit, als er für uns sein Leben gewagt hat, noch ein zu junges Kind, um seine Heldentat ganz zu fassen; aber ich sehe heute noch meine Mutter in Ohnmacht und im Weinekrampf und meinen Vater außer sich. Nachher ist leider weniger gut von ihm gesprochen worden, und Papa hat ärgerlich gemeint, es sei schade, daß so ganz und gar nichts mit ihm anzufangen sei; und dabei bin ich denn, weißt du, auch so nach und nach herangewachsen und habe mir meine eigene Meinung gebildet, und du bist gekommen und hast mir dabei geholfen, das heißt, du weißt es wohl selber am besten, wie du mich nicht nur aus meines Vaters Hause, sondern auch in alle möglichen anderen Ansichten über Gott und die Welt hinein- und für dich zurechtgezogen hast. Nun weiß ich heute fast ebensogut wie du in eurem alten Vogelsang und um Helene Trotzendorff und die Frau Doktorin Andres und deinen Velten und alles übrige Bescheid - freilich, wenn ich auf einen Menschen gespannt sein muß, so ist das dein Freund Velten, aus dem keiner von euch je recht klug geworden zu sein scheint, nimm das mir nicht übel. Und ganz derselbe wie sonst, nach eurer Beschreibung, scheint er auch geblieben zu sein: ich wäre in seiner Stelle jetzt schon längst bei dir - noch dazu an solch einem bösen, schmerzlichen, traurigen Tage wie heute!«
So plauderte sie und versuchte es immer von neuem, mit dem lieben Zeigefinger mir die Stirnfalten wegzustreichen und mir über den »traurigen Tag« leichter hinwegzuhelfen.
Es war ein wunderlicher, gespenstischer Tag, ein unruhiger Tag, trotz der Stille, in der die Welt uns zwei ließ oder der Anweisung an der Vorsaaltür zufolge lassen mußte. Der frische Hügel auf dem Vogelsangkirchhofe war nicht schuld daran: so etwas drückt den Menschen nur in den Winkel und womöglich einen dunkeln, drückt ihn nieder in einen leer gewordenen Großvaterstuhl oder auch wohl auf ein niederes Kinderschemelchen, drückt ihm die schwere Hand auf die Augen, auf die Stirn. Unruhe in die Glieder bringt das nicht; ich aber hatte den ganzen Tag über Unruhe in den Gliedern, denn ich begriff noch weniger als meine Frau, wo Velten jetzt eigentlich blieb.
Es konnte doch keine Täuschung gewesen sein! Ich hatte ihn doch plötzlich auf dem Kirchhofe an meiner Seite gesehen! Er hatte zu mir gesprochen; ich fühlte noch immer den Druck seiner Hand auf der meinigen; und - ich hatte im Auf- und Abschreiten durch das Zimmer Momente, in welchen ich nicht mehr an ihn glaubte und einen Eid über seine Rückkehr in die Heimat nicht zu den Akten abgegeben haben würde. Als er dann in der Dämmerung kam, fand ich mich über dem Reichsstrafgesetzbuch, dem Paragraphen: Fahrlässiger Meineid und in der kopfschüttelnden Gewißheit, daß die meisten Justizverbrechen hierbei begangen werden und daß Jupiter, der über die Schwüre der Verliebten lacht, über die Urteile der hier zuständigen Richter sehr häufig mit den Zähnen zu knirschen hätte. - Daß ich solches aber jetzt hier niederschreibe, beweist nur auch, in welche Ferne mir heute, in dieser Winternacht, während der Schnee noch immer ununterbrochen niederrieselt, jener so dunkle, unruhvolle Sommersonnentag, der Tag, an welchem ich meinen Vater begrub und an welchem Velten Andres ihm vom Hause seiner Mutter aus die letzte Ehre erwies, gerückt ist.
Er aber, mein Freund Velten, steht wieder grade so gespenstisch wie damals neben meinem Sessel, legt mir die Hand auf die Schulter und fragt:
»Nun, Alter, noch nicht des Spiels überdrüssig?«
Da habe ich denn in dieser heutigen kalten, farblosen Winternacht, mit den ewig von neuem sich aufhäufenden Aktenstößen um mich her, mit all den Enttäuschungen, Sorgen, Ärgernissen, die nicht nur das öffentliche Leben, sondern auch das Privatleben mit sich bringt, und im grimmen Kampf mit dem Überdruß, der Enttäuschung, der Langeweile und dem Ekel an der schleichenden Stunde, doch noch einmal ein »Nein!« gesagt, dem stolz-ruhigen Schatten gegenüber, der so wesenhaft Velten Andres in meinem Dasein hieß.
Ich habe und halte meiner Kinder Erbteil. Das Spielzeug des Menschen auf Erden, das ja auch einmal meinen Händen entfallen wird, wollen sie aufgreifen, und ich - ich fühle mich ihnen gegenüber dafür noch verantwortlich! -
Doch jener Sommertag, an welchem sich der Freund über das letzte Stückchen lebendiger Hecke im Vogelsang lehnte, um dann seinem ihm vom Staate gesetzten Vormund oder »Familienfreund«, dem alten Obergerichtssekretär Krumhardt, auch die letzte Ehre zu erweisen, ist ja noch nicht vorüber in diesen Blättern. Die Dämmerung zieht sich in jener Jahreszeit weit in die Nacht hinein, und, wie gesagt, er kam erst in der Dämmerung, der Freund, und ein neuer Morgen leuchtete über dem Osterberge auf, ehe er wieder ging und beim Abschiednehmen lächelte:
»Nun, hab ich die Scheherazade oder den Märchenerzähler im Karawanserai zu Bagdad vergnüglich gespielt? Seht nur -
der Tag im bräunlich roten Mantel
betritt im Osten dort die tauigen Höhn!
Aber, ihr habt es ja so gewollt, Kinderchen; und eines ist sicher: in meinem Leben wißt ihr jetzt fast ebensogut Bescheid wie ich selber. Was meint die gnädige - die junge
Frau? Nicht wahr, sie faßt nachher ihr Stück bestes Eigentum fester und etwas ängstlich in die Arme: ›O Gott, Karl, und mit diesem entsetzlichen Menschen bist du aufgewachsen in eurem Vogelsang und hast mir von ihm so gut gesprochen, wenn einmal wieder in den letzten Jahren die Rede auf ihn gekommen ist? Oh, wie dankbar müssen wir dem lieben Gott beide sein, daß er noch früh genug ein Einsehen gehabt und ihn auf alle vier Straßen der Welt verwiesen und ihm nur Gras und Welle, Sonne und
Wind gelassen, aber dich Armen zu deinem Besten mir hier anbefohlen hat!‹«
»Sie bleiben doch nun auch, wenigstens für einige Zeit, hier bei uns?« fragte Schlappes Schwester; er aber wendete sich wieder zu mir:
»Die alte Heldin dort, hinter der letzten Hecke des Vogelsangs! Der Brief, in dem ich ihr meinen Besuch von Southampton aus anmeldete, ist erst heute morgen hier angelangt. So fand sie mich gestern abend an unserer Gartentür lehnend, als sie von dir und deines
Vaters Sarge nach Hause kam. Ich brauche ein Jahr mindestens, um ihr für den diesmaligen Schrecken, den ich ihr einjagte, Genugtuung zu geben. Du lieber Himmel, sie da in den Armen zu halten und die alten guten Redensarten im alten Ton wieder zu hören! O wie oft habe ich in der Fremde ihr: du dummer Junge! im Ohr gehabt - und nun es sich wieder zwischen Lachen und Weinen sagen lassen zu dürfen! Eine Stunde hatte ich am Zaun zu warten, bis sie mit dem Hausschlüssel kam, den verlaufenen Hund
einzulassen. Da habe ich Zeit gehabt, mir die neue Mauerwerksherrlichkeit zu betrachten, in der sie - sie allein das Ihrige - das Unserige festgehalten hatte; - und für wen? für wen? Da stand der Narr, der von der Schmetterlings- und Seifenblasenjagd heimgekommene Narr, und suchte nach rechts und nach links und nach gegenüber die alten Freunde und Bäume - fremde Gaffer und fremde Mauern um sich her. Sie haben es ihr zugebaut, das sonnige, grünende, blühende, lachende Familienerbe; sie aber hat
Freund und Freundin, Nachbar und Nachbarin, Busch und Baum gehen und fallen sehen, hat dem Schatten über ihren Aurikelbeeten standgehalten und ihren Sessel vor ihrem Nähtischchen an ihrem Fenster nicht weggerückt. Sie hat alle Tatzen weggeschlagen, und nicht ihret-, sondern meinetwegen. Gnädige Frau, Karl Krumhardt - meinetwegen! ... Meinetwegen hat sie wie weiland die Juden in Jerusalem die Riemen von den Sätteln und das Leder von den Schilden abgenagt und das Heiligtum gehalten unter dem
Fabriklärm von Hartlebens Grundstück her und der Tanzmusik aus dem Tivoli und der Zentralhalle. Ob ich als Bettler oder als Millionär wie weiland Mr. Charles Trotzendorff heimkam, ist ihr wohl recht gleichgültig gewesen; über ihrer Häkelnadel, ihrem Strickstrumpf, hinter ihrer lieben Brille hat sie nur die Gewißheit festgehalten: ›Den Schlingel, das arme Kind, kenne ich zu gut, um nicht zu wissen, wie das fest darauf rechnet, sich noch einmal hinter meiner Schürze zu verstecken und sich an
meinen Rock zu klammern und Mama! Mama! zu heulen. Wer sollte um den Narren Bescheid wissen, wenn ich nicht? Hätte er mir das Kind, die Helene, heimbringen können, so wäre es freilich etwas anderes gewesen; aber das ist wohl nicht seine schlimmste Fehljagd nach dem Glück gewesen, daß Mistreß Mungo nicht in das letzte Grün des Vogelsangs hineinpaßte.‹ - Jetzt laßt mich gehen, Leutchen; jawohl, gnädige Frau, für einige Zeit bleibe ich im Lande, und nun machen Sie kein zu bedenkliches Gesicht
hierzu. Ich lasse Ihnen Ihr wohlerworbenes Eigentum. Sehen Sie, da lächelt Freund Krumhardt - selbst nach seinem traurigen Tagesgeschäft. Es geht doch nichts über eine trauliche Abendunterhaltung, so bis in den nächsten Morgen hinein!«
Ob ich gelächelt habe, kann ich nicht sagen; aber das weiß ich, daß, als er gegangen war und wir nun wieder allein bei der schon in den Tag hineinglimmenden Lampe waren, meine Frau sich wie angstvoll an mich drängte, mir die Arme um den Hals warf und
rief:
»Welch ein Mensch, welch ein lieber und unheimlicher Mensch! Also das ist dein Freund? Mit dem bist du aufgewachsen in eurer Vorstadt, während in meiner Eltern Hause niemand von euch wußte? O jetzt begreife ich es, daß der einem Menschen das Leben retten kann, bloß um sich über ihn lustig zu machen, wie er über meinen Bruder Ferdi! Daß er um ein törichtes Mädchen seine Mutter, sein Vaterland, seine Aussichten in der Heimat aufgeben konnte, und - sieh - so recht sagen kann ich es
nicht, aber ich fühle es und weiß es sicher, daß, wenn er nachher scherzhafte Briefe an seine Mutter über seine Täuschungen und Enttäuschungen geschrieben hat, die ihm aus dem Herzen, und einem ruhigen, für mich als ein armes Frauenzimmer etwas zu ruhigem Herzen gekommen sind. Mit welchem Lächeln er von dir, mein bester Karl, als von meinem Eigentum sprach! Sieh, wir wissen nicht, wie er jetzt heimgekommen ist, ob mit Geld oder ohne; aber ein Eigentum hat der nicht mehr in der Welt und an der
Welt, und was für mich und unseresgleichen sehr trostlos ist: will es auch nicht haben. Was kann denn der von alledem, was uns anderen Freude macht, noch gebrauchen? Und was kann ihm noch Sorge machen und Schmerz und Verlust fürchten lassen nach allem, was er uns erzählt und wie er zu uns gesprochen hat in dieser Nacht? Der hat keines Menschen Hülfe und Trost mehr nötig - auch deinen nicht, Karl. O das ist ein sehr gefährlicher Mensch; jetzt begreife ich wohl, daß hier in unserer kleinen Welt
niemand etwas mit ihm hat anfangen können, daß nirgends für ihn ein Ruheplatz gewesen ist. Aber ist es ein Glück, so unverwundbar auf seinem Wege durchs Leben zu werden wie dieser, dein Freund Velten, der an allem, was uns anderen begegnen mag, jetzt nur Anteil nimmt wie wir auf unserem Theaterplatz, einerlei, ob es das Lustigste oder das Traurigste, das Dümmste oder das Klügste, das Häßlichste oder das Schönste ist, was vor ihm aufgeführt wird? Und was noch schlimmer ist, auch in ihm! Ich
schwatze wohl törichtes Zeug; aber wie hätte ich in meinen Kreisen je erfahren können, daß es so etwas in der Welt geben kann? Daß Menschen über das Leben und den Tod, über alles, was uns anderen wichtig, süß oder bitter ist, so ruhig werden könnten? Ach, Karl, der ist doch noch ganz anders, als wie du ihn mir geschildert hast. Und, weißt du, noch eines - eure arme Leonie in Berlin, von der du mir erzählt hast, begreife ich wohl; aber die andere - die hier aus dem Vogelsang, ganz und
gar nicht. Wenn sie, diese Helene Trotzendorff, nicht doch nur, euch närrischen, dummen Leuten gegenüber zum Trotz, eine ganz gewöhnliche dumme Gans gewesen ist, hat sie eine schwere Verantwortung auf sich genommen. Ich, für mein Teil, ich -«
»Nun, mein Herz?«
»Ich hätte auf diesen greulichen Menschen gewartet und mein Recht an ihn nicht so leicht hingegeben!«
Es war nach dem Begräbnistage meines Vaters. Die Kleine sah nach all den schlimmen, wunderlichen und
abenteuerlichen Aufregungen, zwischen der erlöschenden Lampe und dem kommenden Tageslicht, übernächtig, abgespannt, ja, völlig unglücklich drein, aber lächeln mußte ich doch über das mir scheu-trotzig zugerufene Wort. Sie aber sprang auf aus ihrer Sofaecke, blies die Lampe aus und rief:
»Ja, es ist mir ganz einerlei, ob du lachst oder brummig siehst: dein Freund Velten Andres gefällt mir ausnehmend, und ich kann das um so ruhiger sagen, als ich hier gar nicht für mich spreche.«
»Und für wen?«
»Für uns alle. Jawohl! Und da meine ich etwa nicht bloß, wie du mir natürlich abzusehen glaubst, uns arme, in die Konvenienz gebannte Frauenzimmer, denen da mal was Neues aufgeht, sondern euch mit, ja, euch Männer vor allem! Wir nehmen doch höchstens ein etwas tieferes Interesse an solch einem neuen Phänomen an unserem beschränkten Horizont; aber ich glaube, wäre ich ein Mann, und noch dazu einer aus der hiesigen Stadt und Gesellschaft, so müßte ich dann und
wann neidisch auf solch einen übrigens im Grunde gräßlichen Menschen werden.«
Ach, und er war so gut und hielt sich so still und tat keinem seiner hiesigen Mitmenschen was - fast ein volles Jahr im Vogelsang. Fast ein volles Jahr hindurch gab es in der fast zur Großstadt herangewachsenen Residenz keinen kleinbürgerlicher von seinen Renten lebenden Rentner (wenn auch nicht in Schlafrock und Pantoffeln) als wie Velten Andres. Das Interesse an ihm erlosch bald vollständig: wie Mr. Charles Trotzendorff war er wahrlich nicht heimgekehrt; übrigens wußte auch seine jetzige Nachbarschaft im Vogelsang kaum noch etwas von Josef, das heißt in diesem Falle von dem Doktor Andres und seiner Familie.
Gegen alte Schulfreunde und sonstige Jugendgenossen hatte er im Verkehr eigentlich nur das eine Wort:
»Schauderhaft müde.«
Wenn er dann gähnend vielleicht noch hinzugesetzt hatte: »Ausschlafen!« und der gute Freund mehr und mehr zu dem Bewußtsein gelangte, daß er seinerseits eigentlich nichts mitzuteilen habe, so war es denn freilich für beide Teile das beste, wenn solche Unterhaltung nicht fortgesetzt wurde, sondern der Verkehr überhaupt unterblieb. Helläugig, lebendig, wach und das Spazierstöckchen schwingend ging dann der »Besuch«, in der festen Überzeugung:
»Wieder einmal einer, der zu große Rosinen im Sack hatte und nachher das gewöhnliche Pech im Leben gehabt hat. Schade um den alten, lieben Kerl!«
Ich habe selber einigen solcher guten Leute von dem Fensterstuhl der Frau Doktern mit das Geleit gegeben bis zu dem morschen Türchen in der letzten grünen Hecke des Vogelsangs, ihnen, an dieser Hecke lehnend, nachgesehen und, wenn ich es konnte, meine Gedanken haben dürfen über das Wachen und das Schlafen in dieser Welt. -
Aber auch mir gegenüber verhielt der Freund sich schweigsamer, als es mir eigentlich recht schien. Ich erfuhr über seine Erlebnisse im Grunde jetzt aus seinem Munde nicht mehr, als was er im Laufe der Jahre darüber an seine Mutter geschrieben hatte. Auf einem Spaziergange gelangten wir auf dem Osterberge auch wieder einmal auf die Stelle, von wo wir drei Kinder: er, Helene Trotzendorff und ich, einst um den Laurentiustag die Sternschnuppen fallen sahen und unsere Wünsche für das Leben gehabt hatten.
Ich erinnerte ihn daran, und er legte mir die Hand gelassen auf die Schulter und sagte ohne alle Aufregung, ohne Lächeln, aber auch ohne Stirnrunzeln:
»Mir haben sie so ziemlich Wort gehalten, die fallenden Sterne. Einem bescheidenen Gemüt wird schon das Seinige zuteil, und weiß es sich zu bescheiden, wo es nicht anders geht. Was wünschte ich mir damals doch? Wenn ich nicht irre, den Heckepfennig, den Däumling und das Tellertuch der drei Rolandsknappen. Ich habe das alles gehabt und habe es noch, soweit es mir zum täglichen Gebrauch nötig ist. Auf das Vergnügen, Persepolis in Brand zu stecken, verzichtet man, wenn man sein letztes Schulheft in den Ofen gesteckt hat. Auch ein ›berauschter Triumphtod zu Babylon‹ erscheint mir nicht mehr als das löblichste Exit-homo-sapiens, Ab-geht-der-Narr. Ich wünsche nüchtern zu sterben, oder wenn du lieber willst - vollkommen ernüchtert. So eigentumslos als möglich. Übrigens habe ich ein gutes Gedächtnis, und es war kaum nötig, daß du mich eben auf diesem Platze an jenen Sommerabend erinnertest. Auch von der Tonne des Diogenes war ja wohl damals bei solch einem fallenden Stern die Rede? Nun, in der habe ich mich jetzt, der alten Frau da unten zuliebe, in ihren Ofenwinkel gewälzt oder wälzen dürfen. Man muß sich alles gefallen lassen, lieber Krumhardt. Und auch die Menschen nicht in ihren Illusionen stören. Die alte Frau da unten im Vogelsang zum Beispiel ist noch immer der Meinung, daß ihr Söhnchen die Welt durch seine Tatkraft überwunden habe und weiter überwinden werde. Die scherzhafte Idee, in mir einen Helden meinem Vater und dem Vaterland, der Hebamme und der Menschheit überliefert zu haben, hat sie so manches Jahr durch und vorzüglich jetzt während meiner längeren Abwesenheit so tröstlich und heiter aufrechterhalten, daß es eine Sünde wäre, ihr die Illusion zu nehmen. Hier hört auch für mich das Spiel mit der Welt auf: das wäre ein zu schlechter Spaß, der nun noch als Wolke vor die Abendsonne ziehen zu wollen! Beiläufig, ich habe ihr einen ihr ausreichend imponierenden Haufen Dollars auf den Tisch gelegt; soll ich vor ihr nun auch meine leeren Taschen umwenden und ihr sagen: ›Mama, du hast vergeblich das letzte Grün aus dem Vogelsang für das Geschöpf, das auch sehr, sehr dein Geschöpf ist, für den dummen Jungen, deinen Velten, festgehalten!‹? - Ich habe oft im Leben Komödie spielen müssen, vorzüglich in den letzten Jahren, und wie der Kaiser Augustus hätte ich mich meiner Begabung dafür wohl rühmen dürfen: jetzt und hier am Platze aber, dieser alten Frau gegenüber, fällt es mir schwer, das Wort vom Schlafen, Schlafen, dem Ausschlafenmüssen wie vor den anderen als ein Scherzwort, und um Fliegen - wollte ich sagen Narren abzuwehren, festzuhalten. Nein, nein, die Sonne ist ihr übergenug verbaut worden; das Licht, das ihr in ihrem stilltapfern, lieben, schönen Leben von mir ausgegangen ist, soll ihr nicht ausgehen, soweit das an mir liegt! Sie soll ihre Freude an mir behalten!«
Ich konnte dem Mann, über den also wirklich niemand etwas Genaueres wußte als ich, nur stumm die Hand drücken; eine mündliche Erwiderung gab es hierauf nicht.
Velten lächelte:
»Es war um das Jahr siebenzehnhundertsiebenundsechzig und der größte Egoist der Literaturgeschichte also achtzehn Jahre alt, da er seinem Freunde Behrisch den Rat zusang:
Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde;
und er hat selber sein Leben in Poesie und Prosa danach eingerichtet, und es ist ihm wohl gelungen. Es war im Salon der Mrs. Trotzendorff, als mir beim zufälligen Blättern in
allen möglichen Bilderbüchern jenes Wort des frühreifen Lebenshelden in Puder, Kniehose, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen in dem rechten Augenblick wieder vor die Augen kam. Unser Dämonium bedient sich viel öfter, als man merkt, solcher Mittelchen, um uns unter die Arme zu greifen, sowie auch um uns davor zu behüten, uns lächerlicher zu machen, als unbedingt zum Fortbestehen der Welt durch den Verkehr von Hans und Grete notwendig ist. Man kann auch von einem achtzehnjährigen Jungen was
lernen, zumal wenn der Genius dem Bengel die Stirn berührt hat. Es war der Gesellschaftsabend, an welchem mir unsere Kleine aus dem Vogelsang zum erstenmal ganz deutlich machte, was alles zu einem elenden Gut auf der wankenden Erde werden kann. Verse habe ich nie gemacht; aber die Fähigkeit habe ich doch, im Komischen wie im Tragischen das momentan Gegenständliche, wenn du willst, das Malerische, das Theatralische jedesmal mit vollem Genuß und in voller Geistesklarheit objektiv aufzufassen: ich
habe an jenem, der alte Goethe würde sagen: bedeutenden Abend dem Papa Trotzendorff das Blatt aus seinem Renommiertischexemplar gerissen, es fein zusammengefaltet und in die Brusttasche geschoben. Manchen Leck in meinem Lebensschiff habe ich bis zum heutigen Tage damit zugestopft, und - jetzt, meine ich, haben wir die schöne Natur von diesem Aussichtspunkt aus, auf dem wir voreinst unsere Wünsche an die fallenden Sterne knüpften, genug bei hellem Tage besehen, und wir können gehen.«
Wir gingen - stiegen noch einmal den Zickzackweg am Osterberge hinunter. Jetzt konnte da nicht mehr Elly unter der Armenmannsbuche über eine Wurzel stolpern und sich eine blutende Nase holen. Der Weg war »planiert« worden, und wo der schöne, alte, morsche Baum seine Zweige über ihn gestreckt hatte, stand jetzt eine weiß gestrichene Zinkfigur, eine Nachbildung der Canovaschen Hebe, und daneben deutete an einem andern wohlgepflegten Pfade eine Hand auf einer Tafel nach einem »Asyl für
Nervenkranke«, dessen Aufblühen in seinem Waldbesitz am Schluderkopf Vater Hartleben glücklicherweise auch nicht mehr erlebt hatte und also auch nicht deshalb keine Ruhe in seinem Grabe zu haben brauchte. Um die späte Nachmittagsstunde war die Gegend hier von Spaziergängern und Spaziergängerinnen recht belebt. Es begegneten uns mehrere, die uns grüßten oder die ich zu grüßen hatte und die öfters einen Blick über die Schulter nach meinem Begleiter zurückwarfen. Daß uns jemand begegnet wäre, der
etwas aus ihm »zu machen gewußt« hätte oder ihn nur annähernd richtig in seine Lebensordnung und seine Erfahrungen über menschliche Zustände und Schicksale hätte einordnen können, habe ich nicht in den Akten.
Am allerwenigsten konnte das mein Schwager »Schlappe«, der uns auch entgegenstieg, seinen Weg sich nach gewissen roten und gelben Zeichen - Kurzeichen - an den Bäumen regelnd, um ein ihm gottlob nur hypochondrisch angeflogenes Herzleiden im Keime zu ersticken.
»Siehe
da, die beiden Seelenverwandten! Die zwei Inseparables aus der Voliere da unten, eurem Vogelsang. Habe bei deiner Mama über die stadtbekannte, drollige letzte Hecke gesehen, Velten, und mich über die liebe alte Dame wieder einmal recht gefreut. Diese beneidenswerten Nerven! Unter der Konzertmusik aus dem Tivoli das Fürstliche Intelligenzblatt zu lesen und sich doch dabei freundlich nach der Gesundheit eines Nebenmenschen erkundigen zu können! Und mit solchem Behagen auf dem Gesicht! Wie
befindest aber eigentlich du dich, alter Mensch und Rätsel der hiesigen Menschheit? Velten, verantworten kannst dus beinahe nicht, wie du die ortsangehörige Alltagswelt, soweit sie noch zu dir hinreicht, intrigierst. Man sieht dich nicht, man hört dich nicht, du könntest allgemach die Wohlwollendsten dahin bringen, sich bei der Polizeidirektion nach dir zu erkundigen oder sogar das edle Institut auf dich aufmerksam zu machen. Kommen so die Welteroberer nach Hause, oder ist das nur eine neue
Weise von dir, der Residenz das Problem zu lösen, wie man Weltüberwinder wird?«
»Die älteste, einfachste und behaglichste Weise, sowohl was die Welteroberung als was die Weltüberwindung angeht, lieber Rat bei der Regierung«, sagte Velten Andres.
»Man trägt ein Wort von dir in der Stadt herum über Ausschlafenmüssen«, sagte der Schwager. »Der Freiherr von Münchhausen beim seligen Landgerichtsrat Immermann hat ein ähnliches. Nicht wahr, du machtest mich neulich darauf
aufmerksam, Karl? Unsereiner kommt ja zu dergleichen Lektüre leider zu selten, und ich habe wirklich noch nicht Zeit gefunden, in dem Buche nachzulesen, inwieweit deine Redewendung uns gegenüber eine scherzhafte Reminiszenz daraus ist. Nun, Andres, vielleicht bist du selber gelegentlich so freundlich, mir nähere Auskunft darüber zu geben. Aber ich habe die Herren wohl schon zu lange aufgehalten; - so geht das eben immer, wenn ältere Zeit- und Altersgenossen, Schulbankgenossen, auf solchen
altbetretenen Wegen einander begegnen! Schönsten guten Abend, liebe Leute, und meine Grüße an deine Gattin, Krumhardt!«
Im Vogelsang saß auch ich noch ein Stündchen unter der Konzertmusik aus dem Tivoligarten mit dem Freunde und seiner Mutter. Er wußte jedenfalls sein gefühllos gewordenes Herz wohl zu verbergen und auf der wankenden Erde an diesem festen Punkte es wie vordem leichtbewegt in all den Lichtern, Farben und Schatten, die Menschen im wahrsten Sinne miteinander verwandt
machen, spielen zu lassen. Wie da der Schatten der hohen Brandmauer, der jetzt von meiner Eltern und meinem Heimwesen auf uns fiel, wieder sich lichtete! Wie es wieder wie Abendsonne aus unserer, Veltens und meiner, Kinderzeit und aus der Zeit, da Amalie, Agathe und Adolfine auch noch Kinder, junge Mädchen, Bräute und junge Frauen waren, durch Baumgezweig nur tanzende Schatten auf die kleine Laube warf und den Tisch darin, auf welchem Veltens Vater noch seine Rezepte für die ganze Nachbarschaft
unter dem Osterberg schrieb! Da war freilich auch wieder nicht die Rede von großen Abenteuern; aber noch weniger von einem Blatt, das in der Fünften Avenue zu New York aus einem Salontischbuch gerissen worden war. Da gewann eine liebe Vergangenheit ihr Recht wieder und behielt es für eine gute Stunde von neuem mit seinem: Weißt du wohl noch, Mutter? und ihrem: Denkt ihr wohl noch daran, ihr bösen Jungen? - Der Nachbar Hartleben kommt in Hausschuhen mit der letzten Anklage gegen den Schlingel,
den Velten, über die Gasse, um sich von der Frau Doktern das Versprechen abnehmen zu lassen, seiner »Madam« Trotzendorff die Miete zu stunden und ihr eine neue Tapete in die Wohnung zu kleben. - »Und nun das Wurm da«, brummt der Nachbar, »ja, Frau Nachbarin, da drückt es sich an Sie an und macht fromme Augen, als ob es noch niemalen ein Wässerlein getrübt und heute meinen Pudel frisiert hätte. Ich hätte Ihnen das Vieh mitgebracht, aber es schämt sich seiner Verunstaltung, daß es kein Prügel und
keine Bratwurst unterm Sofa hervorkriegen. Mit ihrer Mutter Putzschere ist die Krabbe daran gewesen und hat das Beest verschnitten, daß kein Mensche es mehr herauskriegt, wo es in der Naturgeschichte hingehört. Jawohl, Frau Doktern, Gottes Lohn reicht hier nicht aus, da müssen Sie schon das Ihrige dazugetan haben, auf daß ich mir solche angenehme Inquilinenschaft von einem Jahre ins andere gefallen lasse und sogar noch dankbar bin.« -
Wir sind Kinder - junges Volk - und das schönste
Mädchen des Vogelsangs lehnt sich als Jungfrau über Veltens Mutter: »Bei dir bleibe ich auch in der weitesten Ferne und, bitte, bitte, nimm es Mama nicht übel, was sie dir heute wieder gesagt hat, nach dem Briefe von Papa. Sie kann ja nichts dafür, daß wir nirgends recht hinpassen. Ich auch nicht, liebste, beste Tante Andres! Und ich durch deine Güte und Liebe und Barmherzigkeit noch weniger als Mama!« ...
Ja, weißt du noch, Velten? Erinnerst du dich wohl noch daran, Krumhardt? - -
»Wie steht es denn mit euren Schularbeiten für morgen, Jungen, wenn ich fragen darf?« Es ist mein eigener braver, sorglicher Vater, mein seliger Vater, der in Schlafrock und Hauskäppchen mit der langen Pfeife an die Hecke gekommen ist, wo jetzt die hohe Brandmauer des Nachbarhauses sich erhebt. Und meine Mutter mit dem Strickzeug in der Hand und dem Garnknäul unterm Arm kommt auch aus unserer Laube heran. Es ist mehr und mehr wie eine Wiederbringung im Fleisch für den Vogelsang: in Fleisch und
Blut, mit jedem Gestus und Tonfall sind sie wieder da bei der Frau Doktorin Andres, alle sind sie wieder heraufgestiegen und - am lebendigsten für den Mann neben der heiter-schönen Greisin, der auf seiner Brust das Blatt trägt mit dem ersten Vers der dritten Ode an Behrisch:
Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde,
und im grimmigsten Ernst sein Leben nunmehr darauf eingerichtet zu haben glaubt.
Wenn ich dann nach Hause komme, finde ich vielleicht meinen Schwager bei meiner Frau sitzen, und er fragt mich:
»Nun sage mir, hast du noch immer nicht genug von diesem maulfaulen, bodenlos langweiligen, gänzlich verödeten Patron, diesem Mister, Senhor oder Monsieur
Andres, deinem Freund Velten? Sieh mich nur, bitte, nicht in der veralteten, vorwurfsvollen Weise an, lieber Krumhardt; auch das intensivste Dankbarkeitsgefühl muß sich allmählich einem solchen unnahbaren, unfaßbaren, ewig gähnenden und ewig grinsenden Burschen gegenüber abstumpfen. Weiß der Himmel, wir sind ihm seinerzeit mit den möglichsten Avancen nahe gegangen; aber wie er uns jetzt heimgekommen ist, möchte ich doch manchmal wünschen, es habe mich damals ein anderer aus der kühlen Pfütze
heraufgeholt und ich dürfe ihm, ohne im nächsten Abendblatt auf die Eselswiese getrieben zu werden, sagen: ›Mensch, laufen Sie mir noch einmal in den Weg, so mache ich den Verein für öffentliche Gesundheitspflege auf Sie aufmerksam und denunziere Sie als endemisch gefahrbringend!‹«
Er war nicht ohne Witz, mein armer seliger Schwager Schlappe. Durch ein Herzleiden ist er uns nicht entrissen worden vor einem Jahre.
Ich nehme wieder einmal über diesen Blättern die Stirn zwischen beide Hände und wundere mich von neuem und suche es mir zurechtzulegen, weshalb und warum in dieser Weise ich sie nun schon durch so manche lange winterliche Nacht mit solchen Zeichen und Bildern fülle.
Da ist mir aber heute aus Lessings literarischem Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über seinen »Ungenannten« schreibt:
»Ich habe ihn darum in die Welt gezogen, weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem Dache wohnen wollte.«
Ich glaube, das ists! - Oder doch ähnlich so. Mein ganzes Leben lang habe ich mit diesem Velten Andres unter einem Dache wohnen müssen, und er war in Herz und Hirn ein Hausgenosse nicht immer von der bequemsten Art - ein Stubenkamerad, der Ansprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit des andern nicht immer leicht in Einklang zu bringen waren, ein Kumpan mit Zumutungen, die oft den ganzen Seelenhausrat des soliden Erdenbürgers verschoben, daß kein Ding anscheinend mehr an der rechten Stelle stand. Ich hatte es versucht - wer weiß wie oft! -, während er draußen sich umtrieb und ich zu Hause geblieben war, ihn auf die Gasse zu setzen. Das war vergeblich, und nun - da er für immer gegangen ist, will er sein Hausrecht fester denn je halten: ich aber kann nicht länger mit ihm allein unter einem Dache wohnen. So schreibe ich weiter. -
Mein erster Junge wurde mir geboren, und ich bat selbstverständlich Velten zu Gevatter; er aber lehnte die Patenschaft ab, nicht bloß der kirchlichen Formeln wegen, die damit verknüpft sind.
»Kann ich dem Geschöpf irgendeinmal in seinem Leben nützlich sein, was ich übrigens, der Verschiedenheit der Jahre wegen, bezweifle, so wird das gern geschehen«, sagte er. »Ausgeschlossen ists ja nicht, daß wir einmal einander später im Leben begegnen und eine Strecke miteinander gehen; kann er mich dann gebrauchen, so soll er den Freund seines Vaters an mir finden. Jetzt nenne ihn nur ruhig Ferdinand nach deinem Schwager Schlappe. Das und du genügen, um ihm aus den Windeln in die Hosen zu helfen. Deine kleine, gute Frau hast du auch wohl nicht gefragt, ob sie wirklich und aufrichtig mich für ihr Würmchen als einen wünschenswerten Führer und Begleiter sowohl im wilden Walde der Welt, von dem sie gottlob nichts weiß, als auch im hiesigen geregelten Lebensverkehr, den sie zu eurem Glück ausgezeichnet kennt, in die Standesamtsliste und das Kirchenbuch eingetragen sehen möchte? Ich bezweifle beides - deine Anfrage und ihre Zustimmung.«
Was das eine anbetraf, irrte er sich, bei dem andern hatte er nicht unrecht.
»Herz«, war ich entgegengefragt worden, »hast du dir das ganz genau überlegt? Der Name Valentin schon ist jetzt so ungewöhnlich, und - Velten! ... Velten! Ach, wenn nur nicht von dem Namen grade hier in der Stadt und in meiner Familie immer so wunderlich die Rede gewesen wäre! Ich habe ja wahrhaftig nichts gegen deinen Freund - im Gegenteil, du weißt es selbst, wie interessant er mir ist, weil alles, wenn er zu Besuch kommt, alles, worauf die Rede kommen mag, in Fasson und Farbe so ganz anders ist, als wie ich und wir in unseren Kreisen es bis jetzt gesehen haben. Du bist ja auch und doch ein guter, verständiger Mensch und mein lieber Alter geblieben, trotzdem er dein bester Freund von Kindesbeinen an ist, - nein, nein, nein, in der Hinsicht habe ich gar keine Befürchtungen; aber komm und sieh dir das Kind an - bitte, komm und sieh es mit den Fäustchen vor seinem Herzensmäulchen im Schlaf in seinem Bettchen und, bitte, bitte, laß es nicht Velten taufen! Er ist ja so gut und klug und edel, dein Freund; aber hart ist er doch, oder doch hart geworden in seinem Leben, und ich möchte mein Kind, unsern lieben Jungen, doch hier bei uns behalten, in unserm gewöhnlichen, gewohnten Leben - ich weiß nicht, wie ich es sagen und ausdrücken soll, aber ich könnte jetzt das arme Würmchen nicht Velten rufen und es später mal als alte Frau so nach Hause kommen sehen wie die herzige alte Frau, eure Frau Doktor aus dem Vogelsang, deinen Freund Velten!«
Selbstverständlich hat mein Schwager Ferdinand meinen Erstgeborenen über die Taufe gehalten. - -
Und nun habe ich es auch mir selber wieder deutlich zu machen, wie es zuging, daß ich eigentlich nichts von Bedeutung über seinen letzten Aufenthalt bei uns in der Heimatstadt zu den Akten bringen kann als eben sein abermaliges und letztes Weggehen aus ihr. »Das macht sich so!« sagen die Leute, und ich habe auch für mein Teil nichts in der Hand, womit ich mich gegen dieses Wort urältester menschlicher Erfahrung wehren könnte.
Es machte sich auch zwischen Velten Andres und mir so. - Er hatte mir wenig zu sagen; ich ihm eigentlich gar nichts. Meine Amtsgeschäfte vermehrten sich grade in diesem Sommer sehr, und dazu kam das Kind im Hause, dem gegenüber er sich auf einen Standpunkt stellte, auf den ihm meine Frau noch weniger als auf irgendeinen andern folgen konnte.
»Wenn er sich gar nicht um es bekümmerte, wollte ich gar nichts sagen«, meinte sie oft vollständig entrüstet. »Das kann man von euch Mannsleuten eben nicht verlangen, wenn ihr nicht zufällig persönlich dazugehört. Aber die Art und Weise, wie er es mir aus den Kissen nimmt und es mir von hinten und vorn besieht und die Nase rümpft und lästerlich lacht und den Kopf schüttelt und seine Reden und Redensarten dabei, die lasse ich - die lassen wir - wenigstens Ferdi und ich uns lieber nicht gefallen. Und daß du das oft so ruhig anhörst, Männchen, begreife ich auch nicht. So ein armes, herziges Geschöpfchen, und noch dazu vor seiner Mutter Ohren, einen Ausbund von einem Esel, einen Narren zu nennen, der auch besser getan hätte, zu bleiben, wo er war, das schickt sich nicht, und mein Bruder Ferdinand mit seinen dummsten Witzen ist mir immer noch lieber als dieser dein Freund, dem, leider Gottes für ihn, sein Spaß so bitterer Ernst ist, daß ich ihn bedauere und mir ganz schlecht zumute wird und ich ihm meinen Jungen sofort aus den Händen risse, wenn er ihn, Gott sei Dank, nicht von selber gleich wieder hergäbe!«
Eine Frau, die einen Freund ihres Mannes nicht an der Wiege ihres Kindes leiden kann, ist ein gewaltig hindernder Faktor in so einem Verkehr von Haus zu Haus: ich erinnere mich nur eines einzigen freundlichen Sonnabendnachmittags, an welchem unser Kinderwagen auch in die letzte Gartenlaube der Nachbarschaft des Vogelsangs hineingeschoben wurde, um meiner Frau zu dem Ausrufe zu verhelfen:
»O Gott, diese liebe alte Dame! Ist es denn eine Möglichkeit, daß die deinen Freund Velten so in den Armen gehalten und so abgeküßt hat wie ich unsern Ferdinand, sowie wir wieder zu Hause sind?« -
Es war so um die Mitte des Septembers geworden. Seit vierzehn Tagen oder drei Wochen hatten wir uns wieder einmal nicht in unseren Wohnungen aufgesucht, waren uns auch auf Spazierwegen nicht begegnet, als mich an einem warmen, stillen Spätnachmittage plötzlich so ein Gefühl überkam, als sei ich schuld hier an einem Versäumnis und als brauche man im Vogelsang keine der mir möglichen Entschuldigungen gelten lassen. Dieses Gefühl wurde so peinlich, daß ich ganz ärgerlich nach dem Hut griff mit einem: »Dieser Mensch hat doch wahrhaftig mehr Zeit als unsereiner!«
Ich ging zu ihm und - schickte nach einer halben Stunde einen Boten zu meiner Frau mit der Benachrichtigung, daß sie mich nicht zum Abendtee zu erwarten habe; vielleicht werde ich auch ein wenig spät in der Nacht erst heimkommen. Was sollte ihr mit ihrem Kindchen an der Brust solch ein spätabendliches Erschrecken für eben diese Nacht? -
In dem alten schmalen Buchsbaumgang kam mir der Freund von dem Häuschen zu der letzten grünen Hecke unserer Jugendzeit entgegen, mit dem Gesicht, das er aller Welt machte, nachdem er sich wieder bei uns »eingewöhnt« hatte. Und solch ein Gesicht läßt sich denn auch einem guten oder besten Freunde gegenüber nicht leicht in andere Falten legen.
»Sieh, das ist freundschaftlich von dir«, sagte er. Ich blickte nach dem offenen Fenster der Frau Doktern hin, und da sie mir nicht wie gewöhnlich freundlich von dorther zunickte, fragte ich, wie man so fragt:
»Was macht die Mutter?«
»Auch die wird sich freuen, dich zu sehen!«, und so schüttelten wir uns die Hände und schritten dem Hause der Nachbarin Andres zu. »Noch einmal zu sehen, wäre wohl das richtigere Wort, lieber Alter!« sagte Velten Andres, und dabei faßte er freilich meinen Arm wie mit eisernem Griff - wie um mich bei sich festzuhalten und aufrecht in meinem Erschrecken, und sah nicht dabei drein wie einer, der die Welt für einen guten oder - schlechten Spaß hält, unter allen Umständen aber nur für einen Spaß! ...
»Die Mutter - deine Mutter -«
»Es geht ihr seit acht Tagen nicht zum besten, doch seit gestern -«
»Hat es sich zum Bessern gewendet? Aber Mensch, und wir haben von alledem nichts gewußt? Wie unrecht das von euch gewesen ist! Ihr wißt doch, welche Teilnahme -«
»Die alte Nachbarschaft sich schuldig ist. Selbstverständlich! Es war ihr freundlicher Wille. Weshalb wollen wir die lieben Leutchen in ihrem Behagen beunruhigen? meinte sie und hatte recht wie immer in ihrem sonnigen Leben. Es ist ein altes Unterleibsleiden, das sich von neuem gerührt hat; aber es hat sich in der Tat jetzt zum Bessern gewendet. Komm also und sieh selber. Ich habe unter meinen besonderen Freunden, den Chinesen in San Francisco, eine Zeitlang als Ati Kambang, zu deutsch der Herr Sanitätsrat, eine Rolle gespielt. Ja, sie ist auf gutem Wege!«
Ich verbiß, was ich von Unbehagen, Selbstvorwürfen und Ärger über den Menschen an meiner Seite in mir hatte, und trat wieder einmal über die ausgetretene liebe Schwelle des »Doktorhauses« des einstigen Vogelsangs.
Was für Schatten von draußen jetzt drauf hinfallen, was für Töne auf es hineinkreischen mochten, im Innern nichts verändert! Alles an seinem Platze wie vor Jahren. Da des Freundes Schülerpult neben dem Schreibtisch des Vaters. Sein Bücherbrett mit den abgegriffenen Schulausgaben der lateinischen und griechischen Klassiker und der Weihnachts- und Geburtstagsliteratur vom Robinson über den Steuermann Sigismund Rüstig und die Lederstrumpferzählungen bis zu den billigen Volksausgaben der deutschen Klassiker. An den Wänden zwischen und neben den Familienphotographien, und was sonst sich da zu finden pflegt, die selbstgefertigten Glaskasten mit den Käfer- und Schmetterlingssammlungen des letzten Velten Andres. Lauter Dinge und Sachen, die mir heute noch lebendiger sind als der Inhalt meines eigenen Hauses und der Stube, in welcher ich in dieser Nacht dieses aus meinen Akten hervorhole, um es revidiert ihnen von neuem beizufügen!
Wie hatte sich in den paar Tagen, da ich sie nicht gehört hatte, die teure, wohlbekannte Stimme verändert, die mir aus dem hinter der Familienstube gelegenen Schlafzimmer entgegenklang!
»Velten - um Gottes willen -«
»Aber du bist noch da, Junge? Der Zug geht um sechs Uhr. Steh auf, Velten, um sechs Uhr geht der Zug. Der Zug geht um sechs Uhr, und du mußt noch packen. Steh auf, Junge, der Koffer schließt nicht recht, du mußt aufstehen, Velten, der Zug geht um sechs Uhr. Du mußt deine Reisetasche packen, Velten! Junge, um sechs Uhr geht der Zug!«
»Seit gestern beschränkt sich hierauf ihre ganze Vorstellungsfähigkeit und ihr Ausdrucksvermögen. Sie hat ihr schönes, heiteres Leben durch still gesessen; nun ergreift auch sie die Unruhe. Wir Menschen in ihrem jetzigen Zustande haben das dann und wann so an uns, daß wir für uns oder andere zur Reise zusammenpacken lassen oder selber zusammenpacken, grade wenn die Fahrt zu Ende, der Weg zurückgelegt ist. Tritt näher und setze dich, du störst sie nicht durch deinen Besuch.«
»Armer Freund.«
»Ja, so verflüchtigt sich auch dieses liebe Bild!«
»Aber Junge, Junge, du versäumst den Zug, wenn du nicht aufstehst! Steh auf, Velten! Packe deinen Koffer, um sechs Uhr geht der Zug. Packe deine Reisetasche«, klang es aus den Kissen der Sterbenden, und die Wärterin, eine mir auch wohlbekannte alte Freundin aus dem Vogelsang, Riekchen Schellenbaum, meinte:
»Sie ist nur ein bißchen unruhig, die Frau Doktern, aber Schmerzen und Ängste hat sie gottlob weiter nicht mehr, Herr Velten.«
»Jawohl, das sind nun alle ihre Sorgen, Krumhardt, daß sie mich zur rechten Zeit aus dem Bett kriegt, daß ich meine Reisetasche, meinen Koffer packe, nichts vergesse und den Zug zum Glück nicht versäume«, sagte der Sohn, sich über die Mutter beugend und leise und zärtlich ihre Hand nehmend.
»Velten, Velten, du versäumst wahrhaftig den Zug, wenn du nicht aufstehst und deinen Koffer packst! Sieh, da kommt die Sonne schon!«
Leise strich der Sohn über die Stirn der Mutter und wendete sich zu mir:
»Das letzte war ein neues Wort. Die anderen wiederholt sie, wie gesagt, seit anderthalb Tagen.«
»Das wird ein schöner, aber heißer Tag«, murmelte die Sterbende mit einem tiefen Seufzer, und dann blieb sie still und schien in einen ganz vorstellungslosen, traumfreien Schlaf zu sinken, nur daß ihre Atemzüge schwerer und schwerer wurden.
»Einer der Schlimmsten, die ich gesehen habe, war der alte Hartleben, Herr Velten«, sagte, wie um ein tröstendes Wort dazu zu geben, Riekchen Schellenbaum. »Dem kam der ganze Schluderkopf, ich meine sein Waldbesitztum dran, in seinen letzten Tagen und Nächten über den Leib. Lauter gefällte Stämme! Und alles wollte über ihn hinrollen. Ja, das war ein schwerer Kampf! Aber, wie Herr Andres ganz richtig sagen, das sind so unsere Phantasien.«
»Das Lungenödem wird wohl erst in der Nacht eintreten«, sagte Velten. »Ihr Tag ist zu Ende, und es ist ein schöner, ruhiger und vor allem nicht zu heißer Tag gewesen. Alle ihre Sorgen sind von mir gekommen: dies, daß ich auch jetzt die Zeit nicht versäume, war nun ihre letzte. Ob das animalische Herz nun ein wenig schneller oder langsamer erlahmt, ist wohl von keiner Bedeutung. Mutter! Meine Mutter! Liebe, alte Mutter, du mein einziger, wirklicher Freund, was habe ich dir heimgebracht als meine Kunst, auch vor dir Komödie spielen zu können und dir deinen freundlichen Daseinstraum nicht zu stören? Jaja, Freund Karlos, und auch ich kann sagen, daß ich meine Rolle, dieses letzte Jahr durch, gut durchgeführt habe: sie schläft ein in der Gewißheit, mich mit einem Herzen so reich, so leichtbewegt, so fest, so siegessicher, so unverwundbar wie das ihrige zurückzulassen ...«
»Velten!«
Er wendete sich zu der greisen, sechzigjährigen Wärterin, dem »Riekchen Schellenbaum« all unserer Nachbarfamilien, mit einem stummen Wink; dann nahm er mich am Arm und führte mich aus der Kammer fort und bot mir eine Zigarre an. Er zündete eine an, und so lehnten wir wieder in dem kleinen Garten an der letzten grünen Hecke unserer Jugendzeit. Ich fröstelnd in dem kalten Mauerschatten von meiner Eltern Anwesen her, und ohne zu wissen, was ich ihm sagen sollte. So sprach denn auch ich, wie unbewußt, und nicht zu ihm, sondern für mich den furchtbaren Rat:
»Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde.«
»Der schickte seine Vulpius nach Frankfurt am Main, um den Hausrat seiner Mutter zu versteigern; aber der Tor hatte selbst sich schon längst einen neuen gesammelt und sammelte weiter daran, um ihn Erben zu hinterlassen, denen er schwer auflag. Ja, so seid ihr, Karl Krumhardt! Du hast es ebenfalls recht behaglich in deinen sicheren vier Wänden und doch aus dem alten,
verschwundenen Neste, weiland hier zur Linken, manches mit in das neue Haus hinübergenommen, was Kindern und Kindeskindern dereinst schwer aufliegen wird.«
Nun wendete er sich von der lebendigen, staubigen, gemeinen Vorstadtgasse ab und gegen sein Elternhaus, sagte jedoch weiter nichts: ich aber habe oft, oft an seinen Blick und die begleitende Bewegung mit der lahmen Linken damals denken müssen, und jedesmal waren dann meine vier sicheren Wände drohend, beängstigend auf mich
eingerückt, es war mir bänglich und asthmatisch zumute geworden, ich traute auch dem zierlichen Stuck des Plafonds nicht: ja, ich fühlte mich dann jedesmal recht unbehaglich in meinen vier Pfählen und im Erdenleben überhaupt.
Er hatte recht gehabt, der Freund. Am späteren Abend war das Todesatmen eingetreten, und gegen vier Uhr morgens hatte sich auch »dieses liebe Bild verflüchtigt«. Wer kann ein Lächeln, den Klang einer Stimme, das Neigen einer Stirn, die Bewegung, den Druck und die Wärme einer Hand in den - Akten festhalten?
Als ich gegen neun Uhr zu Velten kam, fand ich ihn ruhig bereits mit den nötigen Vorbereitungen und Formalitäten zur Beerdigung beschäftigt. Ich wollte ihn, auch im Auftrage meiner Frau, aus seinem leeren Hause mit in unsere Gastzimmer nehmen, aber er wollte nicht. Lächelnd wies er die dringende, wiederholte Bitte ab.
»Ich bin euch dankbar, Kinder«, sagte er, »und könnte wohl auch kommen, wenn die Kleine jetzt nicht ihren Buben hätte. Soll ich eine karthagische Mutter aus ihr machen, die ihr Wurm dem Moloch opfert? Ich glaube, sie sähe es in meinen Armen ebensogern wie in denen des feurigen Götzen. Sie hat mich nach braver Frauenart zu gut kennengelernt im Laufe der letzten Zeit, und ich müßte doch wohl einmal mich über eure Wiege beugen und dem Jungen den Finger hinhalten, daß er sich die Schneidezähne dran herausnage. Weißt du, Karl, wir wollen der Guten solches Schwanken zwischen Freundschaft und Mißtrauen, zwischen Neigung und Abneigung ersparen. Und übrigens ist auch - die da nebenan in ihrem stillen Frieden mir immer auch noch Gesellschaft und zu Rat und Trost da. Wir danken euch bestens, alter Freund; aber laßt uns nur unsere letzten Zwiegespräche in diesen Tagen allein miteinander halten. Wir haben noch einiges miteinander abzumachen, wobei selbst die freundlichst und freundschaftlichst gesinnten Dritten nur störend wirken können.«
Dagegen war nichts zu sagen; aber ein Achselzucken eigentlich auch nicht recht angebracht. Ich sah also den Freund nur am Begräbnistage wieder.
Wir gaben auch der Frau Doktorin Amalie Andres die letzte Ehre - diesmal ein kleines Geleit, doch um das Grab eine gar ehrenvolle Korona: die ältesten und älteren Leute (meistens geringen Standes) aus dem Vogelsang, die noch die ganze Nachbarschaft, wie sie da jetzt unter ihren Hügeln schlief, im Leben gekannt hatten. Und manche kamen mehr oder weniger scheu heran und gaben Velten und mir die Hand und sagten: »Das war eine liebe Frau, die Frau Mutter, und erst der Herr Vater, der Herr Doktor, Herr Velten! Bei uns Alten behalten sie ihr Andenken, wie sie jetzt da so beieinander liegen nach Gottes Willen, und nun nehmen Sie es sich nur nicht zuviel zu Herzen, Herr Velten, Herr Andres!«
Kinder spielten jetzt nicht mehr an Mondscheinabenden auf dem Friedhofe des Vogelsangs. Es war eine hohe, solide Mauer um ihn gezogen worden, ein schweres, eisernes Gittertor sperrte ihn ab, und eine strenge Kirchhofsordnung regelte den Besuch. Und -
- vor dem Tor lag eine Sphinx,
Ein Zwitter von Schrecken und Lüsten,
Der Leib und die Tatzen wie ein Löw,
Ein Weib an Haupt und Brüsten.
Der Morgen nebelig und grau und regendrohend - der erste Herbsttag des Jahres - werde ich je einen Leser haben, kann ich ihn auf eine Seite zu Anfang dieses Aktenkonvoluts verweisen, wo die
Sphinx auch auf dem Kirchhofe des Vogelsangs, nur vor dem mondbeglänzten, romantischen Zauberschloß des Daseins lag, nicht vor dem Leben selbst, vor Beth-Chaim, dem »Hause des Lebens«.
»Der Jude oder semitische Hellene hat von seinem Recht als Poet Gebrauch gemacht, als er, wie wir anderen Prosaiker auch, die löwentatzige Belle aux énigmes vor die falsche Tür als Hüterin und Rätselaufgeberin legte«, sagte Velten, als wir auf dem Heimwege vom Kirchhofe auf jene unsere Kinderspiel- und
Mondscheinabende kamen.
Als ich ihn dann noch einmal aufforderte und dringender bat, wenigstens jetzt meine Gastfreundschaft anzunehmen, erwiderte er:
»Ich bin da wirklich nichts nutz. Man nimmt zu leicht Leute, ohne es zu wollen, auf Wege mit, wo sie nicht hingehören; und du hast einen großen und angenehmen Verkehr, den ich nicht gern stören möchte. Aber, lieber Alter, du selber wirst mich nie stören: weißt du, komm du zu mir! Auch ich glaube demnächst für die beste
Gesellschaft und angenehmste Unterhaltung sorgen zu können.« -
Er blieb also in seinem Häuschen, und als ich ihn natürlich schon am folgenden Tage wieder dort aufsuchte und nach seinen Plänen für die weitere Zukunft fragte, meinte er lächelnd:
»Die ist gesichert. Beruhige dich und alle, die Interesse daran nehmen, in dieser Hinsicht völlig. Grade nicht hier am Ort, doch habe ich grade am Ort hier die schönste Gelegenheit, sie noch sicherer zu stellen, ich erwarte nur noch
das erste Ofenfeuer dazu.«
»Das erste Ofenfeuer?«
»Mir ist niemals ein Winter zu meinem Fortkommen im Leben mehr zupaß gekommen als wie der diesjährige. Jawohl, demnächst heizen wir, Krumhardt.« -
Ja, und er ist so gut wie sein Wort gewesen. Als das Wetterglas seines Vaters nach Reaumur unter zwölf Grad in der Wohnstube seiner Eltern sank, fing er an zu heizen, und zwar mit seinem Erbteil an und vom Vogelsang. Er heizte mit seinem Hausrat.
Es war
Riekchen Schellenbaum, die am Tage nach dem ersten Ofenfeuer nicht zu mir, sondern zu meiner Frau mit der Nachricht kam:
»Mit der seligen Frau Doktern ihrem Nähtisch hat er angefangen. Ich bin fast des Todes geworden, als er ihn im Hof entzweischlug und mich mit den Beinen Feuer anmachen ließ. Mit den Schubladen und allem, was darin war, hat er selbst weiter geheizt! Der arme Herr! Oh, wenn doch der Herr Assessor mal kommen würde und nach ihm sehen! Heute morgen hat er des seligen
Herrn Vaters Schreibtisch von der Wand abgerückt, und ich bin auch nur in der Stadt, weil er mich um eine Säge hineingeschickt hat.«
»Du weißt, wie ich ihm entgegengekommen bin, Karl!« rief meine Frau. »Ich habe ganz gewiß mein möglichstes getan, um ihn deinetwegen gern zu haben; aber hat mich nun mein innerlichstes Gefühl getäuscht? Jetzt magst du sagen, was du willst, ich sage: großer Gott, wie kann nur ein Mensch so sein wie dieser, dein Freund? Und dem hast du dein Kind, meinen
armen Jungen, am Altar in die Arme geben wollen! O Gott, wie kann ein Mensch, ich meine, Gott sei Dank, nicht dich, so ohne alles Gefühl sein?«
»Es ist ein unbezahlbarer Mensch«, meinte Schlappe, der dazukam, lachend. »Ob er je zu irgendeiner Zeit seines Lebens recht bei Troste gewesen ist, weiß ich nicht; aber sage mal, Schwager, würde es unter diesen neuen Schnurren nicht doch zu deiner Freundespflicht werden, ihn unter Kuratel stellen zu lassen? Eure Familie hat ja wohl schon seit
Generationen das Onus, das Haus Andres zu bevormündeln?«
Ich war den Tag über wirklich nicht in meiner Schreibstube zu entbehren und hatte mich durch vielfachen und vielfarbigen Menschenverdruß und viel Menschenangst und Elend durchzuarbeiten, aber ich wurde ihn nicht aus dem Sinne los, ja um desto weniger aus dem Sinne los, je mehr sich mir des Menschentums Anhängsel aufdrängten. Es waren meistens wieder nur Eigentumsfragen, zu denen auch ich mein lösendes Wort geben sollte, und das
Gezerr und Gebelfer, der Grimm und Hohn, mehr oder weniger unter der Maske des dem Menschen »eingeborenen« Gerechtigkeitssinnes zutage blühend. Und dann war es doch wieder ein anderer Übergang aus meinem ruhigen, behaglichen Heim, von dem Kamin, wo mein Weib mit ihrem Kindchen an der Brust auf niedrigem Schemel leise ihr Wiegenlied sang, zu dem Ofen im Vogelsang, vor dem der wunderliche Freund sich frei machte - nicht von den Sachen, sondern von dem, was in der Menschen Seele sich den Sachen
anhängt und sie schwer und leicht, kurz, zu dem macht, was wir anderen im Leben ein Glück oder ein Unglück zu nennen pflegen.
Ich konnte ihm bei meinem Eintritt weiter nichts sagen als:
»Es ist unheimlich warm bei dir, Velten!«
»Gemütlich! ... Deutsch-gemütlich, was? Ihr habt ja den Ausdruck, macht Anspruch drauf, ihn in der Welt allein zu haben, also bleib auch du ganz ruhig bei ihm, Krumhardt.«
»Laß uns nach Möglichkeit vernünftig sprechen,
Andres -«
»Ich habe die Jungfer Schellenbaum heute morgen um eine Säge in die Stadt geschickt; sie wird selbstverständlich bei euch gewesen sein, mit den Händen über dem Kopfe und sämtlichen Geisteskräften in Unordnung: Bringst du das Entmündigungsdokument für mich schon mit, mein Karlos?«
»Wir wissen wenigstens in unserm Alltage schon Bescheid über das, was du hier begonnen hast und wirklich weiter zu treiben scheinst; aber du könntest in unserer Alltagswelt doch einen
Unterschied zwischen mir und den übrigen machen. Velten, was soll dies sein?«
»Ein äußerliches Aufräumen zu dem innerlichen, liebster Freund! Ein leichtbewegtes Herz und so weiter - wozu nützen uns die weisesten Aussprüche großer Lehrer, wenn man ihnen nichts weiter entnimmt als eine Stimmung für den Augenblick? Ein Hinweis drauf, daß der Meister selber keinen Gebrauch von seinem Diktum gemacht habe, verschlägt nichts. Hat er sein leichtbewegtes Herz durch seine achtzig Jahre mit sich
geschleppt, so ist das seine Sache gewesen und hat auch vielleicht zum Vorteil der Literaturgeschichte - um sie interessanter zu machen - so sein müssen. Soll deshalb kein anderer die Fäden abschneiden dürfen, die ihn mit dem Erdenballast verknüpfen? Ja, ich heize in diesem Winter mit meinem hiesigen Eigentum an der wohlgegründeten Erde, mit meinen Habseligkeiten aus dem Vogelsang.« Er sprach das Wort »Hab-Seligkeiten« in einer Weise aus, die man im Werkeltagsverkehr nicht zu hören bekommt.
Ja, er heizte durch den seltsamen Winter mit alledem, wovon sich andere Leute nur sehr schwer, und wenn es gar nicht anders geht, und manchmal nur mit Tränen in den Augen trennen. Und er trieb das Ding äußerst systematisch und hatte dabei an mir einen Zuschauer und Teilnehmer, der nur durch seine Ruhe abgehalten wurde, mit einem: »Aber Velten, auch das?« mit beiden Händen dreinzugreifen und dem Autodafé Einhalt zu tun.
Ich wehrte mich vergebens gegen das Interesse, das ich von
Tag zu Tage mehr an dem seltsamen Zerstörungswerk nahm. Meinem Weibe gegenüber den abscheulichen, den »unsinnigen Menschen« noch zu rechtfertigen, hatte ich bald aufgegeben, aber bald auch wärs nötig geworden, daß ich mich nur noch verstohlen vom Hause nach dem Vogelsang weggeschlichen hätte.
»Karl, Karl«, jammerte meine arme, gute Kleine, »o Karl, bitte, bitte, werde mir nicht so wie der! Bitte, denke immer an uns, an das Herze da in der Wiege und auch ein bißchen an mich, wenn du
deinen Freund nicht lassen willst, nicht lassen kannst! Er hat ja freilich keine Familie wie du; aber ich habe doch noch erst die letzte Nacht geträumt, auch du habest mich mit unserm Jungen - ich meine unsere letzte Photographie - verbrannt wie er die Bilder seiner Eltern und seiner als ganz kleines Kind gestorbenen Schwester! O bitte, da nimm uns, Ferdi und mich, doch lieber jetzt gleich mit und schieb uns in euren Ofen in deinem Vogelsang!«
Worin lag nun der Zauber, der mich selbst
solche herzzerreißenden Klagelaute überhören ließ, mich gegen das einstimmende Winseln meines Erstgeborenen taub machte und mich jeden Tag nach der alten Heimstätte trieb, die jetzt zu einer Stätte der Vernichtung geworden war?
Wahrlich nicht ein unbewegliches, unbewegtes Herz, sondern ganz das Gegenteil!
Wohl selten ist je einem Menschen die Gelegenheit geboten worden, seine »besten Jahre« in die unruhvolle Gegenwart so zurückzurufen wie mir in Velten Andres Krematorium.
Wie wir im Vogelsang in der Nachbarschaft trotz allem doch wie eine Familie gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal im reichsten Maße und konnte meine Lebensakten in wünschenswertester Weise dadurch vervollständigen. Der Wanderer auf der wankenden Erde schob aus seinem Hausrat kaum ein Stück in den Ofen oder auch auf den Küchenherd, an dem nicht auch für mich eine Erinnerung hing und mit ihm in Flammen aufging und zu Asche wurde. Vom Keller bis zum Dache war in dem Häuschen kein
Nagel eingeschlagen, an welchem nicht auch für mich etwas aus den Tagen hing, wo wir die Rätselaufgeberin vor dem Tore des Lebens eben nur dem Haupt und den Brüsten nach kannten und noch nicht den Tatzen nach.
Es war ein Zurück- und Wiederdurchleben vergangener Tage sondergleichen. Die Woche, in der wir uns mit der Entleerung der Boden-Rumpelkammer des Hauses beschäftigten, vergesse ich in meinem ganzen Leben nicht, und ich schreibe nicht ohne Grund: wir! Was wühlten wir da alles auf
aus dem Familienplunder der »Frau Doktern«? Sie hatte sich von nichts trennen können, was je dem Gatten und dem Sohn lieb gewesen und überdrüssig geworden war. Sie hatte es ihnen aus den Augen gerückt und sich selber, sozusagen, ein Herzensmuseum draus gemacht. Wie wog der Sohn des Vaters Ziegenhainer in der Hand, wie holte er aus einem Kasten mit allerhand abgängigen chirurgischen Instrumenten seine Zerevismütze hervor und drehte sie in den Händen! Wie kam mir mit dem Schaukelpferd, das ich
unter dem Dachwinkel hervorzog, jener Weihnachtsabend zurück, an welchem wir es zuerst ritten und Velten meinte: »Ich hatte mir ein Tier mit Rädern und wirklichem Fell auf den Wunschzettel geschrieben; aber sage nur nichts davon.« Er hat es damals auch bald mir allein überlassen, es war nichts für ihn; ich aber hätte ihn auch nun noch gern gefragt: »Auch das in den Ofen?« und ihn gebeten: »Laß es mir für meinen Jungen!«
Es wäre eine psychologisch-philosophische Abhandlung
darüber zu schreiben, weshalb ich weder die Frage noch die Bitte tat, sondern selbst es mir auf die Schulter lud und es ihm die Treppe hinunter zum Küchenherd trug. Ja - er hatte mich auch jetzt wieder unter sich, es war von meiner Besitzfreudigkeit aus keine Abwehr gegen seine Eigentumsmüdigkeit: ich habe ihm geholfen, sein Haus zu leeren und sich frei zu machen von seinem Besitz auf Erden! -
Aber es ließ sich nicht alles verbrennen, woran für diesen grimmigen,
ruhebedürftigen, unstet gewordenen Gast im Leben, wie wir Juristen uns ausdrücken, ein pretium affectionis haftete. Metall, Glas und Porzellan brannten nicht, und doch wollte er auf seinen ferneren Wegen sich nicht mit der Vorstellung plagen, wer jetzt die Feder in seines Vaters Dintenfaß tauche und aus seiner Mutter Mundtasse trinke und auf welcher Kommode, im Trödel erhandelt, die Bronzeuhr stehe, auf die man nie rechnen konnte, wenn man einmal im Hause Andres die richtige Tageszeit zu wissen
wünschte, und die doch mit ihrem zirpenden Glockenschlag so viele gute Stunden ein- und ausgeläutet hatte. Wir kamen auch hierüber weg. Zerstören ist leichter als aufbauen: ein altes wahres Wort, das mein armer Freund seinerseits ebenfalls so in die Praxis übersetzte, daß, wenn ich zu Weib und Kind heimgekommen war, meine Frau mitten in der Nacht oder gegen Morgen sich auf dem Ellbogen aufrichtete, mir über die Stirn strich und rief:
»Mann, nun schläfst du ja wieder nicht! Großer
Gott, ist er denn nicht bald fertig? Ich halte dies nicht länger aus und du auch nicht!«
»Beruhige dich, mein Kind -«
»Wie kann ich mich beruhigen, wenn solch ein Unhold dich mir unter den Händen austauscht und allmählich zu einem andern macht? Oder ist das etwa nicht so? Glaubst du, ich merkte es nicht, wie dir jetzt von Tag zu Tag mehr so manches überdrüssig, einerlei und zur Last wird, was doch zum Leben gehört? Oh, mein bester Karl, wenn wir, Ferdi und ich, dir auf
einmal zur Last würden, wie deinem entsetzlichen Freunde sein Hausrat und sein Haus in eurem unheimlichen, schrecklichen Vogelsang!«
Nachher wurde es mir in dieser Nacht doch wieder etwas zweifelhaft, ob ein leichtbewegtes Herz ein elend Gut auf der wankenden Erde sei und der Freund im Rechte, sich davon frei zu machen.
Daß er sich wie Herostrat für das Pantheon der Weltgeschichte vorbereite, behaupteten gegen das Ende des damaligen Winters nur die alten guten geistreichen Bekannten vom Schlage Schwager Schlappe und Genossen und hatten ihren souveränen Spaß daran. Die Mehrzahl des Teiles der Stadtbevölkerung, der von ihm wußte, blieb dabei, er sei einfach für das Landesirrenhaus reif; und doch schlug die Stimmung mehr und mehr für ihn um. Und daran war dann wie gewöhnlich eine Minderzahl schuld, die meistens ihre Meinung nur so beiläufig über ihn aussprach, der er aber doch sehr im Kopfe herumgegangen sein mußte und auf deren Wort manche, ja viele etwas gaben. Als mir ein hoher Chef sagte: »Ein drolliger Patron; aber unter Umständen eigentlich zu beneiden und nachahmenswert!«, wußte ich, daß nicht nur völlige Billigung, sondern auch der Neid aus ihm redete und jedenfalls längere nachdenkliche Beschäftigung mit diesem Menschen, der »die thebaische Wüste in den Vogelsang übertragen zu wollen schien«. Letzteres Wort stammt jedoch nicht aus den juristischen Kreisen der Residenz, sondern aus den theologischen. Der augenblickliche junge Lieblingsprediger der Stadt (unverheiratet) sprach es. -
Zu Anfang März war alles vernichtet, woran für ihn und so sehr oft auch für mich eine Erinnerung gehaftet hatte, und was er nicht in anderer Leute Händen oder Besitz, sei es zu Nutzen oder Vergnügen, wissen wollte. An den Wänden deuteten auf abgeblaßten Tapeten dunklere Flecke an, wo Bilder gehangen hatten. Was die Bücherschränke und Regale anbetraf, so konnte es darin und darauf nicht öder aussehen als in eines andern, berühmteren Phantasiemenschen Studierstübchen, nachdem der Pfaffe, der Barbier, die Haushälterin und die Nichte dort Kehraus gemacht hatten. Der späte Enkel sehe sich in seinen eigenen vier Wänden um, denke sich alles fort, was in irgendeiner Weise was zu sagen, was vertraute und vertrauliche Form und Farbe für ihn hat, und erlasse es mir, von diesem Aufräumen malerisch weiterzuschreiben. Hat ihn sein Eigentum an und auf der Erde auch schon einmal in der rechten Art beängstet, so wird er auch wohl die richtige Art und Weise, den Kopf zu schütteln, herausfinden. Überhebung von gesichertem Besitz her und dürftiger Scherz aus momentanem Behagen wird kaum etwas damit zu tun haben. Aber er selber, Velten Andres, ließ dem Omnia-exeunt seiner Vogelsang-Tragödie sowohl nach griechischem wie nach englischem Muster noch ein Satyrspiel folgen, das ihn aber diesmal beinahe - nicht mit der Sanitätsbehörde, sondern wirklich mit der Polizei in Konflikt gebracht hätte.
Er lud den Vogelsang wie zur Plünderung eines abgerupften Weihnachtsbaums in sein Haus ein.
Er gab den noch vorhandenen alten guten Bekannten der Nachbarschaft alles das preis, was ohne eine Bedeutung für ihn war und erregte dadurch natürlich einen Zusammenlauf, der für einige Stunden den Verkehr in der Gasse beinahe völlig unterbrach.
Eingeladen hatte er mich nicht zu diesem letzten Kehraus; aber ich kam dazu, und zwar mit meiner Frau am Arm, von einem Nachmittagsspaziergang über den Osterberg.
»Was ist denn das da vor deines Freundes Hause, Mann?«
Sie hatte die ersten Anemonen und Leberblümchen da oben im Walde gefunden und gepflückt und drückte sich mit dem Frühlingsstrauß ängstlich an mich an:
»Siehst dus, da hat er es! Sie stürmen ihm das Haus! Was hat er nun wieder Neues - Schändliches angefangen - dein - Freund?«
Es sah in der Tat bedrohlich aus; und wir hatten Mühe, durch den menschenvollen Garten zu der Haustür zu gelangen, die er aus den Angeln hatte heben lassen und mit welcher auf der Schulter ein alter Holzknecht weiland Nachbar Hartlebens durch das Gewühl das Freie zu erreichen suchte. Nun fand es sich aber, daß es doch im ganzen lauter gute alte Bekannte und Freunde waren, die er sich aus den »letzten Gassen« und von den Zäunen des Vogelsangs mit dem Wort: »Seht zu, Kinder, was ihr von dem Kram gebrauchen könnt!« eingeladen hatte wie der König im Evangelium das Volk zu seinem Festmahl. Sie machten auch gern Platz, soviel es ihnen möglich war und zogen die Mützen, und einigen, denen ich zu hoch gestiegen war, als daß sie mir die Hand hätten reichen können, mußte ich sie hinhalten: »Na, alter Freund, das geht hier lustig zu!«
»Ja, sagen Sie mal, Herr Assessor! So was hat der Vogelsang gewiß noch nicht erlebt. Zu so was gehörte einzig und allein unsere selige Frau Doktern und unser Herr Velten, der Herr Sohn!« ...
Es ging freilich nicht bloß gierig, sondern auch lustig zu. Aus dem benachbarten Tivoligarten hatte das Getümmel nicht nur die Kellner und Kellnerinnen, sondern auch fast das gesamte Personal des eben dort vorhandenen »Théâtre-Variété« hergezogen, um sich »den Spaß anzusehen«. Miß Athleta, die stärkste Dame der Welt, und Signor Volcano, der Feuermensch, die »größte Sensationsnummer der Gegenwart«, John Arden, der Weltmeisterschaft-Springer, und die drei Schwestern Larsen, die internationalen Exzentrik-Sängerinnen, Fräulein Miranda, die Piston-Virtuosin, und Herr German Fell, von der Anthropologie genannt »das gefundene Mittelglied«, der unübertrefflichste Affendarsteller beider Hemisphären: sie waren alle wie von Velten Andres zu seinem Kehraus gerufen und traten mit den Geladenen aus dem alten Vogelsang die letzten Buchsbaumeinfassungen der »Rabatten« der Frau Doktern nieder und schienen von der neuzugezogenen, kopfschüttelnden Nachbarschaft und der verblüfften Polizei allein für die Sache das volle Verständnis mitgebracht zu haben.
Und Velten schien das auch zu wissen und behandelte sie als hochwillkommene Ehrengäste. Im Sturm der Plünderung behielt er Zeit für einen Händedruck mit dem von der Wissenschaft so lange und schmerzlich vermißten und endlich gefundenen Anthropomorphen mit nicht hervorstehendem Eckzahn, wie für einen Händedruck mit Miß Athleta, bei dem er aber schmerzzuckend das linke Bein hochzog und die Luft zischend zwischen seinen auf die Unterlippe gesetzten Zähnen durchblies.
Nimmer war mein Honoratiorentöchterlein, mein Weib, Schlappes Schwester, in so ausbündig zweifelhafte Gesellschaft geraten wie jetzt und hier. Immer ängstlicher drängte sich die liebe kleine Hand mit dem Schneeglöckchenstrauß vom Osterberg mir an, je weiter wir gegen die jetzt türlose Hauspforte vordrangen.
»O Gott, Mann!« flüsterte sie, als aus der Mitte der ihn lachend vertraulich umdrängenden Sisters Larsen, der drei internationalen Exzentrik-Sängerinnen, der Freund auch ihr lächelnd die Hand entgegenstreckte:
»Aber, gnädige Frau, wie freundlich von Ihnen! Doch weshalb so spät?«
»Der greuliche Mensch! Dachte er etwa auch, ich sollte ihm bei seinem letzten menschenfeindlichen Aufräumen helfen?« sagte meine arme Kleine auf dem Heimwege und nachher, trotz allem, noch öfter, wenn die Rede auf ihn kam. Augenblicklich stammelte sie nur:
»Wir kamen zufällig über den Osterberg, Herr Andres, und hier durch den Vogelsang.«
»O und wie Sie mir recht kommen, Frau Assessorn, gnädige Frau«, ächzte hinter uns eine halb durch Tränen, halb durch Lachen erstickte Weiberstimme. Eine harte, abgearbeitete Weiberfaust beförderte die größte Sensationsnummer der Gegenwart, den Feuermenschen Volcano, aus dem Wege, packte dann mich am Oberarm, schob uns, mein Weib und mich, gegen die Haustür der Frau Doktor Velten vor, und dann - auf den Sohn der besten Frau des Vogelsangs mit zitterndem Zeigefinger deutend, kreischte Riekchen Schellenbaum:
»Ja, Karl - Herr Assessor, wollte ich sagen; die ganze Stadt sollte man hierzu zusammenrufen! Ja, die Herrschaften kommen zur richtigen Stunde, um ihm, dem Herrn da, zu sagen, daß dies eine Sünde und Schande ist! Hier, der Frau Assessorin, Herr Velten, habe ich mein Elend ja wohl schon seit Monaten des Abends klagen dürfen; aber heute reicht das nicht mehr aus. Hier vor allen Leuten muß ich es ausrufen und ausschreien, was ich ausstehe und ausgestanden habe. Bin ich schon im Irrenhause, oder soll ich erst herein? O Gott, Herr Velten, wenn mich doch die selige Frau Mutter mit hinunter in ihr ruhiges Grab genommen hätte - zehntausendmal wäre mir das lieber gewesen, als wie daß ich diesen Winter durch das liebe Ihrige selber mit in meiner Schürze habe in den Ofen und auf den Küchenherd tragen müssen! Lieber Herr Assessor, Herzenskarlchen, ich habe ja auch zu Ihnen gehört und Sie auf den Armen getragen, und auch bei Ihren lieben Eltern bin ich ein und aus gegangen in guten Tagen und habe zugegriffen in bösen - Sie können es mir bezeugen, daß ich mich habe zusammennehmen können und ihm nicht die guten, lieben Sachen vor die Füße geschmissen habe und nicht die Schürze über den Kopf geschlagen habe und ihm nicht wie eine Verrückte aus dem Hause gelaufen bin! Nun gucke einer, wie mich das schwarze Mohrengesicht hier aus dem Tivoli angrinst! Nicht wahr, Herr Assessor, da von Spukmeyers seligem Grasgarten her und hier, wo ich auf Ihres Herrn Vaters Grundstücke als junges Kindsmädchen auch ihm das Laufen gelehrt habe, ihm, der sich jetzt diese Gesellschaft hergebeten hat, um sich mit anzusehen, wie er sein Vater- und Mutterhaus zu einer Brandstatt und Räuberhöhle macht. Da holt sich die lahme Brandten ihr ungesegnet Teil am Eigentum mit dem Waschfaß, in dem ich ihm seiner seligen Mutter Hemden gewaschen habe! Vor meinen Augen, als ob ich allein zu gar nichts gehörte und ich kein Herz im Leib hätte, was sich vor Wehmut und Gift umwenden könnte! Als ob ich allein in diesem Juchhe an meinen Tränen versticken müßte! Gehen Sie mal weg, Mamsell Luftspringersche, - da schleppt sich, wahrhaftigen Gottes, die Bande aus dem Hungerwinkel mit meinem - mit der seligen Frau Doktern Küchenschrank, als wenn ich nicht jetzt noch den Schlüssel dazu in der Tasche hätte! Nach dem soll mir aber wer kommen! Die guten Sachen! Und als ob man selber gar nicht vierzig Jahre lang damit hantiert hätte und sie kennte! - Alles wie vor die Hunde. Wer die besten Zähne hat, zuerst damit dran! - Oh, die Ruppsäcke! Wie beim Jüngsten Gericht! Jawohl, am Jüngsten-Gerichts-Tage, Herr Andres, da wird auch noch die Frau Mutter gegen Sie auferstehen und Ihnen sagen, daß dieses hier wirklich nicht in der Ordnung ist und nach Menschenordnung zugeht, nicht wahr, Herr Assessor, nicht wahr, Frau Assessern?«
Sie stand ihm jetzt dicht, Nase gegen Nase, gegenüber, dem Liebling des Vogelsangs, den sie voreinst auf den Armen getragen, dessen Mutter sie zu Tode gewartet hatte und der ihr nun solches antat. Giftig bohrten ihre Augen in seine ruhigen, freundlichen. Die Fäuste zitterten und zuckten ihr, wie vor dem Zuschlagen -
»Das ist nun leider so, Riekchen«, lächelte der Unmensch, »den Küchenschrank hat die Familie Steinbeiß aus dem Hungerwinkel, aber den Schlüssel hast du. Die Haustür hat auch schon einen Liebhaber gefunden; aber den Schlüssel dazu habe ich noch - es ist mein letztes von meinem Besitztum im Vogelsang. Willst du ihn?«
Er hob ihn in die Höhe, wie wenn man einem Kinde oder einem Hunde etwas Begehrenswertes zeigt; meine Frau klammerte sich immer fester an mich an und flüsterte: »Es ist scheußlich!«, aber die alte, treue Dienerin des Hauses Andres, erst mit beiden Armen weit um sich greifend, wie nach etwas im Leeren Vergangenem, reckte die dürre Faust auf und kreischte:
»Jawohl, zum Zeugnis von der Welt Dank und Lohn! Und zum Andenken an den Herrn Vater und die Frau Mutter, und mögen sie sich nicht in ihren Gräbern umwenden wegen Ihnen, Herr Velten, und das ist mein letzter Wunsch und Abschied, Herr Andres.«
Er legte den Schlüssel zu seinem leeren oder ausgeleerten Vaterhaus nun dem vor Gift und Galle zitternden alten Mädchen in die Hand, die ihn bei seinen ersten Schritten auf der Erde mitgehalten und ihm geholfen hatte, seine Mutter auf dem Totenbett für den Sarg zurechtzulegen. Die Schellenbaumen aber griff ihn und fuhr mit ihm ab, und zwar mit einem Laut wie ein verwundetes Tier, und der Vogelsang lachte ihr nach und das Théâtre-Variété aus dem Tivoli gleichfalls, als ob dieser »spaßhafte und kuriose Herr« jetzt seinen besten Witz zu seiner »Generosität« als Zugabe gegeben habe.
»Herrschaften, ein Schuft, wer mehr gibt, als er hat!« rief jetzt aber er, sich auf seiner Haustürtreppe hoch aufrichtend und seinen Festgästen freundlich aber fest die Tür in der Gartenhecke weisend. Und es ward leer um ihn, wie es in seinem Hause geworden war. Aus dem war freilich nicht das geringste mehr zu holen. Die letzten Nachzügler aus der alten Freundschaft des Vogelsangs waren schon belastet mit Sparren, Bohlen und Brettern, die auf den völligen Abbruch hindeuteten, an uns vorbeigeschlüpft; aber auch von ihnen hatten einige doch scheu, verlegen und wie verdutzt ob der Sache noch eine freie Hand hingehalten und gesagt: »Wir bedanken uns auch recht schön, Herr Andres.«
Auch das Théâtre-Variété hatte genug von dem Spaß und sich empfohlen. Alle sehr heiter bis auf den Affenmenschen. Der schien mit einem Male auf allen ihm von der Wissenschaft und den Herren Darwin, Häckel, Virchow, Waldeyer und so weiter auferlegten Wert verzichten zu wollen. Dieser Künstler zögerte noch einen Augenblick, verlegen, schüchtern, als ob er noch etwas zu sagen habe, aber nicht recht damit aus sich heraus könne. Plötzlich jedoch fiel der »Tierheit dumpfe Schranke« unter Gesten und Mimik, die den homo sapiens als Publikum zu hellem Jauchzen hätten bringen können; er stieg, sozusagen, aus dem Pavian oder Gorilla heraus, die geschmeidigen Muskeln steiften sich und - »Menschheit trat auf die entwölkte Stirn«: Herr German Fell aber trat auf Velten Andres mit einer Hölzernheit zu, die ihn in der Meinung verschiedener älterer Herren aus meiner Kanzleiverwandtschaft sehr gehoben haben würde, bot ihm die Hand und sagte:
»Mein Herr, Sie haben mir während der letzten Monate dann und wann nebenan die Ehre gegeben; Sie verzeihen also, wenn ich mir heute hier bei Ihnen das Vergnügen gemacht habe. Bei so kurzer und vager Bekanntschaft würde es - suchen Sie das bessere Wort -, würde es unangebracht sein, wenn ich um Ihre Freundschaft bitten wollte; Sie werden mich jedoch auch nicht verachten, weil ich dann und wann etwas mehr als andere Affe bin. In gedrückten Mußestunden pflege ich mich jedenfalls immer noch wie andere von uns Primaten mit transzendentaler Menschenkunde zu beschäftigen; ich habe ebenfalls einige Semester in Wittenberg studiert, ehe ich zu den Anthropoiden ging. Mein Herr, Ihr Ruf ist während der letzten Wochen auch zu uns und also auch zu mir gedrungen; ich habe dann und wann mit Interesse ein Stündchen mit vor Ihrem Ofen gesessen. Siehe da, habe ich mir gesagt, auch einmal wieder einer, der aus seiner Haut steigt, während die übrigen nur daraus fahren möchten! Mein Herr, ich wünsche einen recht guten Abend, und nicht bloß für den heutigen Tag.«
»Mein Herr«, rief aber jetzt Velten Andres, der seinen unheimlichen Wandnachbar aus dem Théâtre-Variété mit immer steigendem Erstaunen hatte reden lassen, »mein Herr, nun bitte ich doch, mir genauer zu sagen, mit wem ich eigentlich die Ehre habe -«
»Mit einem vom nächsten Ast, mein Herr. Vom nächsten Ast im Baum Yggdrasil. Man kann sich auf mehr als eine Art und Weise dran und drin verklettern, mein Herr. Mit unseren Personalbezüglichkeiten dürfen wir uns wohl gegenseitig verschonen. Auf bürgerlich festen Boden hilft wohl keiner dem anderen wieder hinunter; aber reichen wir uns wenigstens die Hände von Zweig zu Zweig. Mein Herr, ich danke Ihnen.«
Wofür er dankte, sagte er weiter nicht. Meine Frau hat es nie begriffen, ich aber habe mir auch nicht die vergebliche Mühe gegeben, es ihr begreiflich zu machen. Sonderbarerweise reichte auch unser Freund Velten seine Hand nur wie mechanisch und ohne eigentlich genaues Verständnis der Sache her. Herr German Fell drückte sie ihm, ließ sie fallen, sah dem verkletterten Nachbar in der Weltesche mit dem ganzen melancholischen Schimpanseernst in das verdutzte Gesicht, schurrte, sozusagen, ganz und gar wieder in seine Kunst, das Leben zu überwinden, hinab und folgte, runden Rückens, so sehr als möglich Vierhänder, den Théâtre-Variété-Genossen, die den halben Winter durch im Tivoli hinter meines Vaters Grundstücke auf Spukmeyers »seligem Grasgarten« meinem Jugendfreunde die verständnisvollsten Nachbarn in Stadt und Vorstadt gewesen waren.
Nun hatten wir sie für uns allein, die verwüstete Kindheitsidylle. Leise zog meine Frau an mir, doch wagte sie nicht einmal flüsternd ihren Wunsch, die Leere und Öde auch so schnell als möglich hinter sich zu lassen und mich mitzunehmen, auszusprechen. Ich aber konnte so noch nicht scheiden, ich konnte den armen Freund, dem eben so grimmig recht und unrecht gegeben worden war, nicht in seiner türlosen Hauspforte allein stehen lassen. Ich mußte noch nach Herrn German Fell ein Wort für unsern letzten Abschied vom Vogelsang finden, und ob der Ton mehr oder weniger gezwungen herauskam, ich schlug den Freund lachend auf die Schulter:
»Sieh auf, alter närrischer Mensch! Ein leichtbewegtes Herz ist ein elend Gut auf der wankenden Erde, und die vollgültigste Gegenzeichnung des Wortes hast du eben in wunderlichster Weise erhalten. Sie würden es rundum selbst nicht der Zeitung glauben, wenn man es ihnen durch die erzählte, daß es euresgleichen heute noch gibt und auch nicht bloß vor Zeiten mal in der thebaischen Wüste oder auf der Straße nach Olympia, Muster der sterbende Alte von Sinope, gegeben hat. Du hast deinen Willen gehabt und durchgeführt, nun tu aber auch uns den Gefallen und komm wenigstens für die letzten Tage und Nächte in der Heimat mit uns nach Hause.«
Wir standen jetzt in dem Wohnzimmer seiner Eltern, in dem er so gründlich mit seinem besten Eigentum aufgeräumt hatte, der eigentumsmüde Mann, der freie Weltwanderer. Und er sah auf und um sich her, wie einer, der einen Schlag vor die Stirn erhalten hat und sein Selbstbewußtsein nur mühsam wieder zusammenfindet. Er tat mir in tiefster Seele leid, und zu helfen war ihm nicht: er hatte aus seinem verödeten Vaterhause den Nachbar im Gezweig des Baums Yggdrasil mit sich auf allen seinen ferneren Wegen durch das Dasein zu schleppen. Mich und mein zitterndes, ihre Angst und ihre Tränen hinunterschluckendes Weibchen mochte er schon loswerden aus der Erinnerung an seinen letzten Abend zu Hause; aber Herrn German Fell nicht. Der blieb ihm drin! -
»Ich möchte doch heute abend noch einmal der Vorstellung da neben mir an beiwohnen. Wie man doch seinesgleichen, so was zu einem gehört, nur dadurch und dann kennenlernt, wenn es einem so im Gedränge den Ellbogen in die Seite setzt, nicht wahr, Karl? Den Affenmenschen aus dem Tivoli dürfte ich Ihnen doch wohl nicht als Freund, Gast und Gastfreund mitbringen, gnädige Frau? Also bitte, Kinder, laßt es dabei, daß wir einander so wenig als möglich durch unser Vorhandensein in dieser wimmelnden Welt genieren. In einer geschäftlichen Angelegenheit muß ich freilich auch vom Deutschen Hofe aus dich belästigen, lieber Karlos.«
Ich fühlte den Arm meiner Frau immer mehr an meiner Brust erzittern. Sie hielt in der heißen Hand noch immer ihr armes Sträußchen erster Frühlingsblumen; jetzt aber entfiel es ihr und verstreute sich auf dem schmutzigen, zerstampften Fußboden unter Scherben von zerschlagenem Geschirr, Tapetenfetzen und wertlosesten Trümmern von Hausgerät.
»Komm du mit nach Hause!« flüsterte sie. »Ich halte dieses nicht länger aus! Oh, mein armes kleines, liebes Kind zu Hause! Bitte, komm, ich muß zu meinem Kinde. - Das laß ich mir nicht nehmen, wenn er auch dich verwirrt. Ich halte mein Eigentum an der Welt fest! Bleib, wenn du willst, - ich will nach Hause und zu meinem Kinde! Ja, bleib, bleib und steige mit ihm und seinem andern Freunde, dem gräßlichen Affenmann, so hoch du willst aus unserm armen lieben Leben in die Höhe: ich will zu meinem Kinde und meinem Eigentum an der Welt!«
Sie ist uns fortgelaufen, mit dem Arm und Ellenbogen vor den Augen, selber wie ein Kind, das sich vor einem Schlage fürchtet.
»Gute Nacht, Velten.«
»Gute Nacht, Krumhardt...«
Ich holte meine Anna erst an der zweitnächsten Straßenecke ein. Als ich mein Eigentum wieder an mich nehmen wollte, weigerte es sich dessen durch mehrere Gassen. Mit fast bösem Blick wies die Kleine, statt meinen Arm zu nehmen, nach dem Vogelsang zurück:
»Ich habe dem Herrn Generalsuperintendenten versprochen, dir für Gut und Böse zu gehören, und ich habe mir selber versprochen, nur da zu sein und zu bleiben, wo du bist und gehst und stehst, Karl; aber - dahin bringst du mich nicht mit zehn Pferden wieder! Dahin setze ich in meinem Leben meinen Fuß nicht wieder. O lieber Gott, was machen deine Menschen aus deiner schönen Welt!« -
Ich habe den Freund im Leben nicht wiedergesehen. Als er am nächsten Tage nicht zu mir kam und ich am Abend im »Deutschen Hofe« nach ihm fragte, wußte man nur, daß er seine Rechnung berichtigt habe, aber nicht, ob er sich noch in der Stadt aufhalte.
Von London aus machte er es schriftlich mit mir ab, es unserm Riekchen Schellenbaum amtlich und gerichtlich glaubhaft zu machen, daß zu dem Hausschlüssel, mit dem es als mit seinem »einzigen Andenken« abgefahren war, auch der »neue Bauplatz«, einer der besten im neuen Vogelsang, gehöre.
Ich habe eine längere Pause in der Abfassung oder Niederschrift dieser Annalen und Historien des alten Vogelsangs machen müssen. Als ich das letzte Blatt zu den Akten brachte, schneite es noch; nun läuft wieder ein grüner Schimmer über den Osterberg, und meine Kinder tragen Hände voll von den nämlichen Frühlingsblumen, die ihre Mutter in Velten Andres verwüstetem, ausgeleertem Heimwesen aus der Hand gleiten ließ, ins Haus.
Wir hatten viel Sorge im Hause. Wir fürchteten, unsern ältesten Sohn, den seinerzeit Velten nicht aus der Taufe hatte heben wollen, am Typhus zu verlieren; aber der Junge ist uns erhalten geblieben und munter wieder auf den Beinen, und ich habe die Feder zum Besten seines Hausarchivs von neuem aufgenommen. Wir sind im März eines neuen Lebensjahres, und ich halte wieder den Brief in der Hand, den mir Mrs. Mungo im November des vorigen Jahres aus Berlin schrieb.
»Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er ist nun tot. Wir haben unsern Willen bekommen. Er ist allein geblieben bis zuletzt, mit sich selber allein, ohne Eigentum an der Welt ...«
Könnte ich ihr doch - könnte ich von hier an Helenen Trotzendorff die Feder in die Hand geben und sagen:
»Nun schreibe du weiter. Schließe das Aktenstück ab!« ...
Ich habe in den langen Jahren kaum etwas von dem Freunde gehört. Nach Hause, wenn man bei ihm nach seinem vernichteten Hause diesen Ausdruck noch gebrauchen könnte, ist er nicht wieder gekommen, und geschrieben hat er an mich auch nicht. Aber da mich meine Stellung in unserem kleinen Staatswesen dann und wann nach Berlin führte, so bin ich mit dem Hause des Beaux in einiger Verbindung geblieben. Kommerzienrat des Beaux - Leon des Beaux hält, trotzdem er längst zu den bedeutenderen Bankiers und Kapitalisten der Reichshauptstadt gehört, das alte gute Verhältnis aus »unserer Universitätszeit« noch aufrecht. Das väterliche Geschäft in der Dorotheenstraße besteht aber nicht mehr (aus einem Schneiderladen gelangt man ja wohl nicht zu dem Titel Kommerzienrat?), und Leon selber bringt die Rede nie darauf und sie gern auf etwas anderes, wenn sie darauf kommt. Da ich auch jetzt in seinen Geschäftsstuben nichts zu tun habe, kenne ich ihn nur in seinem Familien- und Gesellschaftskreise in seiner Villa einer vornehmen Vorstadt. Er ist auch verheiratet und hat eine gute, für ihn passende Frau bekommen. Er ist Vater von zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter. Der Junge wird Friedrich gerufen, das Mädchen Viktoria: die traditionellen altfranzösischen Familientaufnamen der des Beaux aus dem Languedoc figurieren nur noch in den Taufscheinen der Kinder. Die jetzige Madame des Beaux weiß nichts mehr von dem Familien-Wunderwinkel in der Dorotheenstraße, wo Leonie und Leon des Beaux ihr, ihres Vaters und ihrer Väter Eigentum in Angestammtem und Zuerworbenem festhielten und ihren Lebensstolz drauf gründeten. Sie, Frau Wera des Beaux, vordem zweite Liebhaberin am ***theater, hat sich in den guten Leon trefflich hineinzufinden verstanden; sie ist eine tüchtige Berliner Hausfrau und zugleich eine vornehme Frau, die die Stellung ihres Gatten wohl zu wahren weiß; aber von Albi, Simon von Montfort, Raimund von Toulouse, Peter von Castelnau weiß sie nichts, die Bartholomäusnacht kennt sie nur aus den Meyerbeerschen Hugenotten und das Edikt von Nantes -
»Für das muß ich eigentlich dem Himmel unbeschreiblich dankbar sein«, sagte sie mir einmal lachend an ihrem Teetisch. »Wie sollten ohne es Leon und ich uns wohl in der Welt zusammengefunden haben, Herr Oberregierungsrat?«
Fritz und Vicky, die beiden Kinder des lieben, harmlosen, freundlichen Paars, wissen nur von Sedan, Gravelotte, der dritten Einnahme von Paris und von Kaiser Wilhelm und seinen »Paladinen«; von den Paladinen der »Tante Leonie« aber wenig mehr. Sie sind eben eine geraume Zeit nach Sedan, Metz und der dritten Einnahme von Paris in die deutsche Welt hineingekommen, und das Eigentum ihrer Vorfahren väterlicher Seite hat kaum noch viel Bedeutung für sie. Was in der Dorotheenstraße noch pietätvoll zusammengetragen worden war, das dient in der jetzigen Villa des Beaux in den Gemächern nur noch hie und da zur Zier, und im Salon der Frau Kommerzienrätin schaut der erste brandenburgische Ahnherr, der Sieur Antoine des Beaux, dem der Große Kurfürst seinerzeit die Hand geschüttelt hat, von der Wand aus seinem Clair-obscur ernst, aber auch ruhig in das Plein-air des laufenden Tages hinein. Das Bild hat Kunstwert: von wieviel Wänden wird es wohl noch auf fremde Leute hinuntersehen?
Und Leonie? Leonie des Beaux?
Von der wissen die Kinder ihres Bruders nur zu sagen, daß sie sehr gut, aber nur einmal auf längere Zeit zu ihnen und Papa und Mama vom Rheine her gekommen sei, ohne daß einer im Hause oder sonst jemand sehr krank gelegen habe.
Leonie des Beaux hatte sich wie Velten Andres ihres Eigentums an der Welt entledigt, sie war Diakonissin zu Kaiserswerth geworden und diente dem Herrn jetzt auf einer »Arbeitsstation« in Deutsch-Lothringen. Da ich die Feder auch nicht in ihre Hand legen kann, hatte ich dieses zu den Akten zu bringen, ehe ich weiterschreibe in Sachen Velten Andres und - Helene Trotzendorff. - - -
Ich bin wieder auf dem ersten Blatt der Chronik des Vogelsangs.
»Du mußt und willst doch auch wohl als erster guter alter Freund von allen nach Berlin?« hatte meine Frau an jenem Novemberabend gefragt, und »Morgen, wenn es mir irgend möglich ist«, hatte ich ihr geantwortet. Dann waren wir beide, Anna und ich, zu unserem jungen Volk gegangen, um uns zu vergewissern, daß wenigstens da noch alles in Ordnung auf Erden sei. Am andern Mittag war ich in Berlin. Meine Stellung in unserm Staatswesen erlaubte mir, den nötigen Urlaub, wenigstens für einige Tage, mir selber zu geben.
»Erkälte dich nicht, Alter«, hatte meine Frau gesagt. »Bedenke deinen Rheumatismus und denke auch ein wenig an deine Jahre, und daß wir im November sind.«
Ich bedachte freilich manches in meinem Blitzzuge; auch nicht zum mindesten meine wohlgezählten achtundvierzig Lebensjahre. Würde ich aber noch einmal von meinen Türen, die ein Bedienter öffnete, von meiner behaglichen Luftheizung, meinen amtlichen Aussichten auf die Zukunft und darin den Titel Exzellenz, ja, würde ich auch nur noch einmal von Weib und Kindern reden, so liefe das nur auf eine Wiederholung von schon Gesagtem hinaus. Während einer unbehaglichen Wirtstafel hatte ich mir zu überlegen, ob ich am besten erst den Kommerzienrat des Beaux in seiner Villa oder Mistreß Mungo im Kaiserhof von meiner Ankunft benachrichtige und ihnen die weitere Führung überlasse. Zwischen drei und vier Uhr nachmittags aber stand ich allein in der Dorotheenstraße vor dem Hause, in welchem die alte Hugenottenfamilie zum letztenmal ihre Lebensandenken zusammengehäuft und Velten Andres eigentumslos seinen Weg über die Erde beendet hatte. Seit meinen Studentenjahren war ich nicht wieder in diese Gegend der Stadt gekommen, und von dem Hause war nur die Nummer geblieben, was die Gassenseite anbetraf. Vater des Beaux nahm nicht mehr das Maß der oberen Zehntausend der Stadt, und der Hofhufschmied beschlug nicht mehr die Hufe ihrer Rosse in der Dorotheenstraße: nach der Gassenseite hin hatte sich die Dekoration vollständig verändert, soweit ich meiner Erinnerung trauen konnte. An der Architektur der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des Jahrhunderts emporblickend, konnte ich, mit dem Briefe Helene Trotzendorffs daheim auf meinem Schreibtische, in meinem und des Vogelsangs Aktenkonvolut, mich nur fragen:
»Frau Fechtmeisterin Feucht? Ein Irrtum ist doch wohl ausgeschlossen?«
Ich habe auf meinem Wege durch meinen Beruf und vorzüglich während der zwei Jahre, in welchen ich zu Hause der Oberstaatsanwaltschaft als Mitarbeiter zugeteilt war, in mancherlei Örtlichkeiten mich zurechtzufinden gelernt. Hier hatte ich nur den Neubau zu durchschreiten, um merkwürdigerweise in dem neuesten Berlin das wenn nicht älteste, so doch ältere noch vollständig an Ort und Stelle zu finden. Das weite, lärmvolle Gehöft des Hofhufschmieds war freilich überbaut worden und bis auf einen brunnenartigen, lichtlosen Lichthof verschwunden. Doch der Frau Fechtmeisterin Feucht und ihrem Reich hatte die Zeit nichts anhaben können. Ich fand sie beide noch, wie sie vor Jahren gewesen waren: das Hintergebäude der großen Firma des Beaux und die Frau Fechtmeisterin. Sie hatten sich beide gar nicht oder nur ganz unmerklich verändert, das eine, rauchgeschwärzt, mit jetzt seinen hundertundzwanzig, die andere, weiß, zierlich, das richtige Märchenweiblein, mit fast ihren neunzig Jahren auf dem Nacken! -
Baissez-vous, montagnes,
Haussez-vous, vallons!
Mempêchez de voir
Ma mi Madelon -
wie kam es, daß auf den dunkeln, steilen Treppen, die zu der alten Frau hinaufführten, dieser Vers, daß die süße Stimme, die das Lied uns in dem vornehmen Salon des Vorderhauses so oft gesungen hatte, mir plötzlich wieder in den Sinn kam? Es waren doch eigentlich nur wenige Jahre her, daß wir dort in dem Zauberwalde Brozeliand zusammensaßen und über der Berliner Schneiderwerkstatt, aller romantischen Wunder voll, provençalische Minnesänger, altfranzösische Chroniken
und hugenottische Streitschriften und Liederbücher durchblätterten, und nun schien mir nichts davon übrig zu sein als dieser Ton, dieser Vers! Und schauerlich merkwürdig kam mir dazu eine spätere Winternacht in das Gedächtnis zurück und ein anderer Vers, aber nicht aus einem französischen Volksliede, sondern aus einem deutschen Klassiker. In seinem von seinem Eigentum an der Erde sich leerenden Vaterhause im Vogelsang murmelte ihn Velten Andres bei seinem Vernichtungs- und Befreiungswerk vor
sich hin:
Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde.
Dorotheenstraße Numero 0 - Hintergebäude - Frau Fechtmeisterin Feucht - Studiosus Valentin Andres! Ich zog im dritten Stockwerk wie ein eben Erwachender die Glocke und erkannte auch ihren Klang wieder.
»So etwas mußte es wohl sein, was uns zwei noch einmal im Leben zusammenbringen konnte, Herr Krumhardt«, sagte dann ganz dieselbe Stimme, die vor Jahren mich
so oft freundlich begrüßt und auch dann und wann gar mütterlich gewarnt und gescholten hatte. »Sie treten wohl erst einen Augenblick bei mir ein, ehe Sie in sein Zimmer hinübergehen, Herr Oberregierungsrat. Sie hat Sie wohl nicht so früh hier in Berlin erwartet; aber mir konnten Sie nicht früh genug kommen. In meinem Alter kann man ja wohl alles leicht nehmen, aber dieses wird mir doch zu schwer allein zu tragen. Seit dem Morgen sitzt sie wieder auf seinem Bett, mit den Ellbogen auf den Knieen
und dem Kopf zwischen den Händen.«
»Sie? Allein mit ihm? Helene? Helene Trotzendorff?«
»Die große amerikanische Dame. Haben Sie nicht auch von ihr und ihren Reichtümern in der Zeitung gelesen?«
Die alte Frau faßte mit ihrer dürren, altersharten, kühlen Hand meine heiße:
»Kommen Sie, Herr. Es hat Zeit, daß Sie zu ihr gehen. Sie scheint nichts mehr von Zeit und Stunde zu wissen; aber seit sie mir gesagt hat, daß Sie kommen würden, sind mir in der
Erwartung die Minuten zu Jahren geworden, denn gegen wen könnte ich so meiner Seele Luft machen, wem könnte ich hiervon so erzählen als wie Ihnen? Wem kann man denn so was begreiflich machen als wie einem, der auch mit dazu gehört hat vom Anfang an?«
Die Sonne geht um diese Jahreszeit gegen halb fünf Uhr unter. Die breiten Straßen, die großen Plätze der Stadt lagen noch in ihrem Lichte; in dem Stübchen der Frau Fechtmeisterin Feucht war es merkwürdigerweise noch hell, das Stückchen Himmelszelt vor dem Fenster für den Novembernachmittag lichtblau und wolkenfrei wie am schönsten Sommermorgen. Wohl ein Vierteljahrhundert war hingegangen, seit ich zum erstenmal zwischen diesen vier Wänden gestanden und verwundert umher und von der Bewohnerin auf die Wände gestarrt hatte. Nun stand ich wieder so; - während in den langen Jahren um mich her nichts an seinem Platze geblieben war, hatte sich hier nichts verändert. Die Zeit, die mit so leiser, sanfter Hand über die Stirn der kleinen, greisen Elfin gestrichen hatte, hatte auch in ihrer Umgebung nichts von der Stelle gerückt, nichts in den Winkel geworfen, nichts unter den Auktionshammer gebracht, nichts - in den Ofen geschoben. Die Frau Fechtmeisterin Feucht allein von uns allen hatte ihr Eigentum noch vollständig beisammen, und da stand sie nun wie damals mit dem Strickzeug in den Händen und dem Garnknäul unter der Achsel und deutete plötzlich um sich herum auf ihre Waffentrophäen und die ungezählten Schattenbilder vergangener Burschenherrlichkeit und seufzte:
»Weshalb mußte der, an den ich von euch allen als den Letzten mein ganzes Herz gehängt hatte, mir so was zuleide tun? Setzen Sie sich, Herr Oberregierungsrat.«
Da saß sie mir wieder gegenüber, am Fenster wie die Frau Doktern im Vogelsang, in ihrem Korbstuhl und mit ihrem Strickzeug, aber diesmal Gespinste und Knäul im Schoße, und sagte:
»Er hat drüben - jetzt bei der Frau Mungo, einen Vers über sich an die Wand geschrieben, den können Sie nachher lesen; jetzt aber muß ich es erst von der Seele los sein, was ich mit ihm erlebt habe - ich, das alte, alte Weib, mit dem Kinde, ja mit diesem Kinde, dem jungen Menschen!«
Sie hatte bei ihren Jahren wohl recht, so von Velten Andres und auch von uns anderen als Kindern zu reden, und sie sprach auch wie eine märchenerzählende Großmutter in der Dämmerstunde: ich konnte nur sitzen und hören.
»Was meinen Sie wohl, wie Ihnen zumute wird, Herr Oberregierungsrat, wenn plötzlich so ein unbekannter alter Mensch vor Ihnen steht und fragt: ›Frau Fechtmeisterin, nehmen Sie immer noch dumme Jungen in Kost und Logis?‹ und dann Ihnen sagt: ›Ich bin der und der!‹ und Sie nachher nur sagen können: ›Ja, Kind, dann komm herein!‹?«
Sie erwartete natürlich keine Antwort auf die Frage, sondern fuhr mit der Hand auf meinem Knie fort:
»Ich vergesse den Tag in meinem Leben nicht. Es ist am letzten fünfzehnten Juni gewesen, am Nachmittage, so um diese Tageszeit, wo es bei mir klingelt, und ich frage, mit wem ich die Ehre habe, und der Besuch sagt: ›Ich bin der Studiosus der Weltweisheit Velten Andres, wissen Sie, Frau Fechtmeisterin, und da Ihr Zettel noch immer aushängt und meine alte Bude zufällig frei ist, möchte ich sie noch einmal wiederhaben.‹ - Herr Oberregierungsrat, wenn ein Gespenst Sie am hellen, lichten Tage auf die Schulter klopft und Ihnen einen Namen wie vom Kirchhof her nennt, können Sie nicht heller als wie ich schreien: ›Was wollen Sie? Wer wollen Sie sein?‹ Eine gute halbe Stunde hats gedauert, ehe ich mich in ihn, meinen Schlimmsten und meinen Besten, gefunden und mich noch mal über den lieben Gott gewundert habe, daß er mich auch dieses noch bei Lebenskräften und gesunden Verstandessinnen erleben lassen will. Seine Zeit wollte es freilich haben, bis ich mir aus dem gegenwärtigen Spuk meinen alten, lieben Sohn von damals herausgeholt hatte und an ihn glauben konnte. Nicht daß er, mein Velten, etwa wie ein Spuk ausgesehen hätte; nein, ganz respektabel grau, nur mit ein bißchen zuviel Haut und zuwenig Fleisch auf den Knochen und müde, Herr Oberregierungsrat! Müde, müde! Wie einer, der seit einem Menschenalter nicht von den Füßen gekommen ist! Todmüde von seinem Wege durch sein junges Leben! Natürlich nötige ich ihn denn aufs Sofa, und da sitzt er und sagt nichts, aber lacht; und das, Herr, das Lachen hat meinem letzten Zweifel ein Ende machen müssen. ›Menschenmöglich ist es ja nicht; aber Ihre Stube ist frei, Velten‹, habe ich gesagt. ›Soll ich nach Ihrem Gepäck schicken, oder wollen Sie es selber holen - ich weiß nicht, woher!?‹ - ›Ja, das weiß ich auch nicht!‹ lacht er mich wieder an und reicht mir über den Tisch da seine Brieftasche. ›Meine Papiere für die Polizei und die Miete wie schicklich pränumerando; behalten Sie gleich den ganzen Bettel, ich gehe heute früh zu Bette.‹ - ›Und keine Wäsche? Und keine Bücher?‹ - ›Nichts!‹ - ›O du lieber, lieber Gott, so kommen Sie zu der Fechtmeisterin Feucht zurück?‹ - ›So!‹ sagt er nur und reicht mir über den Tisch die Hand, und ich fühle wohl, daß die ein bißchen fieberisch ist; aber meine ist ja desto kälter, und so fasse ich fest zu und rufe: ›Ja, wenn das so ist, bleibst du natürlich bei mir. Es ist zwar spät am Tage für mich; aber für einen langts wohl noch. Dich füttere und flicke ich mit unseres Herrgotts Hülfe noch heraus!‹ Jaja, Herr Oberregierungsrat, in dem Augenblicke habe ich den Mann du genannt, als hätte ich ihn wie ein Kind auf dem Arme! Daß das nicht so war, konnte ich damals ja noch nicht wissen. Aber drüben sitzt die Frau auf seinem leeren Bett; ich darf Sie wirklich nicht zu lange aufhalten hier bei mir, Herr Krumhardt; Sie sind nebenan wohl nötiger. Also kurz: er hat sein letztes halbes Jahr bei mir zugebracht und ist bei mir gestorben. Mühe hat er mir nicht gemacht und Unkosten auch nicht; aber (und hier leuchteten die Augen der fast Neunzigjährigen wie die eines greisen Feldherrn über ein Schlachtfeld) Freude hat er mir auch jetzt wieder gemacht: er war doch der Närrischste, aber auch der Tapferste von euch allen. Schade, daß er zu feine Nerven mitbekommen hatte und so, so, so sein Leben führen und so, so zum Ende kommen mußte, wenn er nicht als euer aller Narr oder im Irrenhause zugrunde gehen wollte.«
»Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde«,
murmelte ich, bis ins Tiefste durch das ruhige Wort der verstandesklaren Greisin erschüttert.
»Das ist es, was er drüben mit Kohle an die Wand geschrieben hat. Nun sitzt die Frau Mungo davor und hält den Kopf mit beiden Händen darüber - das arme Ding. Als ob sie die Schuld davon trüge, daß euer Velten eigentumlos über und
von der Erde gegangen ist! Was hilft es mir, daß ich der lieben Seele zurede: ›Du konntest nichts daran ändern, Herz‹; es mußte eben auch einmal einen solchen Egoisten zu euch anderen, wenn auch nur der Rarität wegen, in der Welt geben. In ein Kloster, wie meine liebe Leonie, konnte der nicht gehen. Mitleiden hat er wohl gehabt, aber ein barmherziger Bruder steckte nicht in ihm. Oh, wie die zwei sich zum erstenmal wiedersahen bei der Fechtmeisterin Feucht, die barmherzige Schwester
aus dem Diakonissenhause am Rhein und dieser von allen Straßen der Welt, beide ohne Eigentum auf und an der Erde!«
»Leonie des Beaux und Velten Andres?« stammelte ich.
»Ja, die beiden auch. Sie erinnern sich der Zeit wohl, wo das Vorderhaus noch stand und wir alle, selbst ich, noch jung waren. Nun war es im September, und er hatte sich vollkommen bei mir eingerichtet, das heißt eigentlich ich ihm alles. Nicht aus meinem Geldbeutel: in seiner Brieftasche hat er genug Scheine
aus aller möglichen Herren Ländern gehabt, daß ich ihm davon nicht bloß noch ein halb Dutzend Hemden, sondern auch alles übrige besorgen konnte - nach seinem jetzigen kuriosen Leben wohl noch auf Jahre hinaus. Auch in der Leihbibliothek hatte ich ihn abonnieren müssen; denn ausgegangen ist er kaum mehr - da entschuldigte er sich immer mit seinen kranken Füßen. Auf seinem alten Studentensofa und seinem Bett hat er gelegen und den lieben langen Tag und auch manchmal die Nacht durch gelesen, alles,
was ihm einmal gefallen hat in seiner Kindheit und Jugend, und immer aus den alten, schmierigen, ekligen, zerrissenen Bänden von Olims Zeiten. Brachte ich ihm ein neues Exemplar, ließ ers liegen und meinte: ›Mutter Feucht, das ist das rechte nicht.‹ - Jaja, man konnte sich bei allem irgend etwas denken, aber man mußte sich wirklich sehr in seine Grillen und Schrullen hineinfinden. Und sehen Sie mal, Herr Oberregierungsrat, das ist jetzt denn auch wirklich mein Stolz und meine Freude,
daß er mit denselbigen, ich meine die Schrullen und Grillen, nur bei mir eine Unterkunft gesucht hat. Ja, er ist freilich nicht der einzige von meinen alten Herren, dem gegenüber ich die Jüngere geblieben bin mit Gottes gnädigem Beistand. Aber da brauchen Sie nur auf die Straße hinauszugucken: wenn so eine von uns über ihre Jugendschwäche herausgekommen ist, da weiß sie schon ihren ihr vom Herrgott anbefohlenen Wackelkopf und Knickebein auch an der Linden- und Friedrichstraßenecke durchs Gewühl
zu dirigieren. Überheben Sie sich ja nicht über Ihre liebe Frau unbekannterweise, Herr Krumhardt. Wenn Sie die jetzt gut behandeln und handhaben, tut die Ihnen vielleicht auch noch mal das gleiche.«
Der letzte Schein der Herbstsonne war längst von dem Stückchen Himmelszelt vor unserm Fenster gewichen; die Dämmerung kam rasch, und ich hätte gern hier das Protokoll abgekürzt; aber wenn wer jetzt was zu den Akten zu geben hatte, so war das doch die Frau Fechtmeisterin Feucht, und ich
unterbrach sie nicht durch überflüssige Bemerkungen meinerseits, zumal sie selber sagte:
»Ich komme sofort auf die Hauptsache, Herr Oberregierungsrat, aber ihr Herz hat unsereine auch voll bei solcher Sache!«
Ich konnte, nachdem sie sich die Augen getrocknet hatte, nur die beiden lieben, tapferen Knochenhände fassen, in die sich Velten Andres zu seiner letzten Pflege gegeben hatte.
»Herrgott, wie habe ich dann seine und meine Stube voll gehabt von der vergangenen
Zeit. Wie er es erfahren hat, daß sein Freund wieder da sei und im alten Quartier, weiß ich nicht; aber er war auch sofort da, der Herr Kommerzienrat, und was es dann für Szenen zwischen ihnen gegeben hat, davon weiß auch niemand zu erzählen als ich. Wie haben sie in Güte und mit Gewalt an ihm gezerrt und gezogen, daß er mit ihnen kommen sollte! Als wenn es bei dem jemals der Welt Pracht und Herrlichkeit getan hätte! Sein Behagen hat er wie alle anderen Leute durch sein Leben haben wollen, aber
nur auf seine eigene, kuriose Art, und so hat er es zuletzt nur bei der Fechtmeisterin Feucht finden können. Und der Herrgott hat ihm Gnade dazu geschenkt; eigentlich so recht krank ist er gar nicht gewesen; sein Herz hat nicht mehr gewollt, haben dem Herrn Kommerzienrat seine Doktoren gesagt. Er ist auch gar nicht weiter vom Fleisch gefallen, sondern im Gegenteil. Er schob es auf seine Füße, daß er lieber lag als ging; aber die hätten wohl auch ausgehalten, wenn das dumme Herz gewollt hätte.
Das hatte aber alles, alles aufgegeben und so auch seine Füße. Sehen Sie, Herr Oberregierungsrat, an meinem armen Velten habe ich erst als Neunzigjährige gelernt, daß es eine Dummheit ist, wenn man sagt: der Mensch braucht nur zu wollen. Dieser wilde Mensch konnte nicht mehr wollen, und so hätte ihn auch Schwester Leonie mit dem besten Willen nicht wieder auf die Füße stellen und in den Tumult draußen in unserer Dorotheenstraße stoßen können, selbst - wenn sie gewollt hätte! Aber wenn eine auch
schon aus dem Menschenlärm heraus ist, so ist das meine Leonie, meine Leonie des Beaux! Sie ist zuerst mit ihrem Bruder gekommen; aber dann auch allein. - Oh, wenn ich an die alte Zeit in dem alten Vorderhause denke, wie schön sie war, ich meine meine Leonie, und wie schön sie spielte und ihre alten französischen Lieder sang und alles mitten in diesem Berlin wie ein fremdländisches Märchen war - oh! ... Aber nun war dies jetzt noch tausendmal mehr wie aus einer andern Welt heraus als wie das
Frühere. Stellen Sie sie sich nur vor, die beiden, grade die beiden, die so wieder aus ihren jungen Tagen und Phantasien sich so wieder bei der Fechtmeisterin Feucht zusammenfinden mußten, und nichts mehr um sich und in sich von der Erde Herrlichkeit, und was sonst der Mensch zu seinem Wohlbehagen und seiner Freude als sein Eigentum um sich festhält und für es nicht bloß mit dem Schläger, sondern auch mit Mund, Hand und Herzen auf die Mensur tritt! Sehen Sie, Herr Oberregierungsrat, nacherzählen
kann ich es nicht, aber verstanden und mitgefühlt habe ich, was da im letzten Monat zwischen diesen zwei Menschenkindern vorgegangen ist. Zusammen hätten die nie kommen können; aber sich darüber aussprechen, wie sie durchs Leben gekommen sind, das konnten sie und das haben sie getan und sind friedlich und ruhig voneinander geschieden - ganz ruhig, viel, viel ruhiger als damals im Vorderhause, wo sie das Leben noch vor sich hatten. Aber - großer Gott, das ist ja vollständig Nacht, und die arme
Frau da drüben hat noch immer kein Licht!«
Völlig Nacht war es wohl noch nicht; aber volle Abenddämmerung freilich.
»Bitte, gehen Sie jetzt hinüber; ich komme mit der Lampe nach«, sagte die Frau Fechtmeisterin, und zögernd, bangend erhob ich mich, betäubt, mühsam nach Atem ringend, stand ich und suchte vergeblich nach irgend etwas in mir, was mir den wunderlich schweren, schreckensvollen Weg zu der Tür da drüben leichter und lichter machen konnte. Es gibt so Augenblicke, Zeiten, Umstände im Menschenleben, wo man es vollkommen vergessen hat, daß sich in der Welt im Grunde nachher »alles von selber macht«.
Wie ist eben jetzt, da ich dieses bei offenem Fenster und Frühlingssonnenschein an einem geschäftslosen Feiertagsmorgen zu den Akten des Vogelsangs bringe, dem alten Gemeinplatz wieder sein volles Recht geworden! -
Der Frühlingsanfang fällt immer in den Monat März, aber in diesem Jahr sind auch die hohen Ostern hineingefallen. Ich schreibe am Morgen des ersten Ostertages, und über das Nachbardach sieht mir noch immer, unverbaut, die höchste Kuppe des Osterbergs auf den Schreibtisch. In der Frühlingssonne liegt der liebe Hügel schon, auf dem wir unsere glücklichsten und ahnungsvollsten Jugendträume träumten und die Sterne fallen sahen, - noch einige Wochen, und das junge Buchengrün wird von dem Osterberge herüberleuchten: wie sich auch das immer wieder von selber macht!
Aber was hilft es dem Menschen in seinem einzelnen Bedrängnis, daß Himmel und Erde jung bleiben und sein Geschlecht auch? Gegenwärtig blendet mich über meinem Protokoll der Glanz von Himmel und Erde, und ich muß dagegen mit der Linken die Augen verdecken, wenn die Rechte die Feder weiterführen soll. »Kind, erst nach der Kirche!« hat meine Frau glücklicherweise vorwurfsvoll zu meiner musikalischen Ältesten gesagt: ich würde sonst mich auch wohl noch selber gegen den Flügel und die junge Frühlingslust in Tönen im zu nahe gelegenen Nebengemach haben wehren müssen. -
Von selber hatte es sich trotz meines innerlichsten schaudernden Widerstrebens gemacht, daß ich in dem Gemache stand, wo Velten Andres gestorben war und Helene Trotzendorff auf seiner leeren Bettstatt saß.
Helene Trotzendorff! Unsere Elly aus dem Vogelsang - verwitwete Mistreß Mungo - unsere Helene. Mit den Ellenbogen auf den Knieen und dem Kopf in den Händen, im letzten grauen Tageslicht des Monats November - die Öde um sich her - eigentumlos, besitzesmüde in der Welt, sie, die in New York zu den reichsten Bürgerinnen der Vereinigten Staaten gerechnet wurde!
»Ellen!«
»Bist du das, Karl?« fragte sie, das Gesicht langsam aus den Händen erhebend.
Wie viele Jahre waren es her, daß wir unsere Stimmen nicht mehr gehört hatten? Und wie sie nun aus dem langen Zeitraum sich so fremd und doch so bekannt entgegenklangen!
Sie richtete sich auf - zu stattlicher Höhe. In der Erinnerung hatte ich sie, wenn nicht klein, doch von nur mittlerem Wuchs und zierlich gelenkig. Alle Hügel, Büsche, Mauern, ja, auch Bäume um den Osterberg herum konnten ja davon berichten, wie sie sich durchzuwinden, zu springen und zu klettern wußte. Nun stand sie in dem letzten grauen Licht des Novembertags so ganz anders als die, auf welche ich mich die letzten Tage vorbereitet hatte, um ihr hülfreiche Hand in einem großen Schmerz zu leisten. Später bei Tageslicht würde ich wohl gesehen haben, daß sie noch immer eine schöne Frau war, trotz dem Silber, in das sich ihr goldenes Haar verwandelt hatte, doch das geht zu den Akten wie so manches andere von geringer Bedeutung. Als die Frau Fechtmeisterin jetzt mit der Lampe kam, sah ich auch auf ihrer weißen, klugen, vom Alter nur leicht gefurchten Stirn das Wort geschrieben:
»Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde.« -
Sie reichte mir jetzt erst die eine Hand her, dann auch
die andere, und über die Schulter nach dem leeren Bett zurückblickend sagte sie:
»Wie gut von dir, daß du auf meinen Brief so rasch durch dein Kommen geantwortet hast. Ich hätte dich gern früher hier gehabt, aber - er wollte es nicht. Eure gute Leonie und mich hat er sich um sich gefallen lassen müssen, wohl oder übel. Da habe ich, da haben wir auch unsern Willen gehabt! Sie, eure Leonie, ist nun wohl schon wieder in ihren Frieden heimgekehrt; aber ich - ich habe noch nicht wieder
gehen können. Ja, Karl, ich habe hier gesessen und auf dich gewartet, um dir von uns zu sprechen - von ihm und mir, und wenn es auch nur wäre, um einen bessern Platz in deinem Gedächtnis zu bekommen, als ich ihn bis jetzt gehabt habe, seit er dir zuletzt bei euch - im Vogelsang von mir gesprochen hat.«
Nun hätte ich ihr sagen müssen, wie wenig von ihr zwischen uns die Rede gewesen war in der Zeit, da Velten Andres mit seinem Eigentum in der Heimat
aufräumte; aber die Frau Fechtmeisterin ließ mir glücklicherweise nicht dazu Zeit.
»Ja, sprechen Sie sich nur aus, armes, liebes Frauchen; der Herr Oberregierungsrat ist immer ein guter Zuhörer gewesen«, sagte sie und fügte kopfschüttelnd bei: »Wo die Leute aus so verschiedenen Welten kommen wie jetzt bei mir, da muß man ja wohl für jeden ein anderes Wort haben. Fräulein Leonie -«
Mistreß Mungo fuhr mit einem so wilden Schulterzucken auf, daß die Alte nur noch einmal den
Kopf schüttelte, die Lampe ein wenig weiter in die Mitte des Tisches rückte und - Helene Trotzendorff und Karl Krumhardt mit Velten Andres allein ließ. -
»Er wollte nichts mehr um sich haben, der verrückte Mensch«, hatte mir vorhin die Frau Fechtmeisterin noch mitgeteilt. »Nichts weiter brauche er als einen Tisch, einen Stuhl und ein Bett. Du lieber Gott, als ob hier jemals bei meinem jungen Volk von Überflüssigem hätte die Rede sein können! Er aber schob alles und jedes von sich ab
und mir vor die Tür. Ja, sehen Sie sich nur drüben um. Um ein festes Herz zu kriegen, hat er sich zu einem Tier, zu einem Hund gemacht; - sehen Sie sich nur bei ihm um, Herr Oberregierungsrat.«
Das tat ich nun bei dem trüben Licht der kleinen Lampe und empfand nichts von einer Befreiung von der Schwere des Erdendaseins in dieser Leere, sondern im Gegenteil den Druck der Materie schwerer denn je auf der Seele. Ich hätte freier geatmet im Staube, der aus hundert Fächern die Wände uns
verenget, unter dem Trödel, der mit tausendfachem Tand in dieser Mottenwelt uns dränget. Die Luft entging mir, und es war mir eine Erlösung aus traumhaft wüstem Bann, als mich doch noch eine Menschenstimme ansprach und die Freundin, unsere Freundin, sagte:
»Laß uns niedersitzen, lieber Karl«, und mit hartem Lächeln hinzufügte: »erzählen trübe Mär vom Tod der Könige.«
Sie sprach das Dichterwort englisch: »Let us sit upon the ground and tell sad stories of the death of
kings«, und als ich nach dem Stuhl griff, ließ sie sich wieder auf der eisernen Bettstatt nieder, von der sie sich bei meinem Eintritt erhoben hatte, und deutete auf den Platz ihr zur Seite:
»Dahin, mein Freund! Erinnerst du dich wohl noch der Bank auf dem Osterberge, von welcher aus wir vor hundert Jahren einmal die Sterne fallen sahen und die Götter versuchten, indem wir unsere Wünsche und Hoffnungen damit verknüpften?«
Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern fuhr
hastig fort, als fürchte sie sogar, durch eine Zwischenrede in ihrem wilden Drange, ihrer Seele Luft zu machen, aufgehalten zu werden:
»Seht« (sie sprach, als ob Velten noch wie damals zwischen uns sitze), »ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen als ganz wahr davon gesprochen, wie ich mir mein Lebensglück dachte. Und ihr kanntet das ja auch zur Genüge; meine arme Mutter hat gut dazu geholfen, und ich kannte euer Grinsen und Lachen. Das war euer albernes Jungensrecht, und er vor
allem hat Gebrauch davon gemacht - nicht bloß im Vogelsang und auf dem Osterberge, sondern auch im großen Leben, drüben in Amerika, in London, in Paris und Rom, wo wir nachher einander getroffen haben! Und wir haben einander wieder getroffen, Karl. Wie wir uns sträuben mochten, wir mußten einander suchen - bis in den Tod, bis auf dieses harte Bett, in allem Sturm und Sonnenschein des Daseins bis hinein in diesen Novemberabend. Das war noch stärker als er, und er hielt sich für sehr stark; ich
aber kenne ihn in seiner Schwäche. Da er sich nicht anders gegen mich wehren konnte und mich überall in seinem Leben, in seinen Gedanken und Träumen und in seinem Tun fand, da er mich nicht aus seinem Eigentum an der Welt loswurde, mußte er ja allem Besitz entsagen, alles Eigentum von sich stoßen und hat - doch vergeblich den Vers dort an die Wand geschrieben! Es war ja auch nur ein törichter Knabe, der mit seinem leichtbewegten Herzen zuerst in jenen nichtigen Worten Schutz vor sich selber
suchte!«
Sie wies auf die ärmlich weißgetünchte Wand, auf die letzte Spur von Velten Andres Erdenwanderschaft; dann nahm sie das Gesicht in beide Hände und senkte das Haupt tiefer, und ein Frostschauer schien ihr über den Nacken zu laufen. Nun griff sie nach meiner Hand und drückte sie zusammen, daß sie schmerzte:
»Sprich nicht zu mir, Karl! Was könntest du mir sagen? Laß mich sprechen! Wen habe ich denn auf der ganzen weiten Erde, zu dem ich von mir reden könnte? Ich, die
ich die ganze weite Erde zum Eigentum habe und nur die mit Gold gefüllte Hand hinzuhalten brauche, um meinen Willen zu haben, wie ich ihn auf dem Osterberge in mein Herz desto zorniger verschloß, weil ihr schon zuviel davon wußtet! Wäre ich doch wie andere, die sich damit trösten können und es auch tun, daß sie verkauft worden seien, daß es von Vater und Mutter her sei, wenn sie gleich wie andere auf dem Markte der Welt eine Ware gewesen sind! Aber das wäre eine Lüge, und gelogen habe ich nie,
und feige bin ich auch nicht, und wenn er was von mir wußte, war es das. Was ich geworden bin, ist aus mir selber, nicht von meiner armen Mutter her und noch weniger von meinem Vater. In unserm Vogelsang unter unserm Osterberge war ich dieselbe, die ich jetzt war, wo ich hier lag vor diesem Bett und ihn mit meinen Armen umschlossen hielt und auf seine letzten Worte wartete. Da strich er mir mit seiner Hand noch einmal über die Stirn und lächelte: Du bist doch mein gutes Mädchen! Das
war auch wie in unseren Wäldern zu Hause, wo er mich mit dem Worte tausendmal zum Küssen und Kratzen, zu Tränen und zum Fußaufstampfen brachte. Was wußte eure weiche, fromme Leonie von ihm und mir? Deine liebe Frau zu Hause, in deinem lieben Hause, Karl, könnte da vielleicht noch mehr von uns wissen, denn die lebt nicht allein im Traum, sondern hat dich und ihre Kinder und nicht bloß die Geschichte ihrer Väter von vor Jahrhunderten und ihr Reich Gottes von heute. Was hatte diese Fromme, Milde,
Sanfte sich zwischen mich und ihn zu drängen? Was wollte sie hier? Ich, ich, ich, die Witwe Mungo hatte allein das Recht, in diesem leeren Raum mit ihm den Kampf bis zum Ende zu ringen. Auch ihn zu begraben, hatte ich keinen von euch nötig, auch euren Herrn Leon nicht, obgleich ich mir dessen Freundlichkeit gefallen lassen habe. Was hättet ihr ihm in seine letzten Tage und Stunden hinsprechen können, was ihm den alten Glanz in seinen Augen festgehalten hätte? Lache nicht über meine greisen
Haare, über das verrückte alte Frauenzimmer. Vor zwei Jahren war ich, ich, die Witwe Mungo, mit meiner Jacht von Brindisi nach Alexandrien gekommen und er als Dolmetscher auf einem Pilgerschiff durch den Suezkanal von Dscheddah, da haben wir uns auch getroffen im Hotel an der Wirtstafel. Was wißt ihr hier im Land von uns beiden? Damals hat auch er mich seine alte Nilschlange genannt - oh, ich habe seinetwegen mir ja die ganze Gelehrsamkeit von Poughkeepsie zusammentragen müssen in mein armes
Hirn: sie waren auch in unserm Alter, der Mark Anton und seine ägyptische Königin. Sie waren auch alte Leute, er über die Fünfzig hinaus, sie vierzig Jahre alt, und haben doch ihren Kampf um sich kämpfen müssen bis zum Tode, bis sie beide tot waren. Sie zuletzt! Ja, auch ich lebe noch und habe noch meine ganze Herrlichkeit um mich her und sie nicht verloren wie die Ägypterin die ihrige bei Aktium. Ja, merkst du, ich habe seinetwegen Geschichte und auch Literaturgeschichte getrieben. Da ist noch
ein ander Paar aus euren Büchern. Am achtzehnten Oktober achtzehnhundertdreizehn hat euer alter Goethe - nicht mehr der junge, der uns den giftigen Vers gab, den Vers, der unser Leben vergiftet hat! - ja, was wollte ich sagen? ja, hat euer alter Goethe sein letztes schönes Gedicht gemacht - auf die Elisabeth von England, die ihrem Liebsten den Kopf abschlagen lassen mußte. Das konnte die Witwe Mungo - nein, das konnte Helene Trotzendorff nicht, wie gern sie ihm auch oft den Fuß auf das Herz, das
gefühllose Herz gesetzt haben würde! Sie hat ihm nur die Hand darunterlegen dürfen - hier auf seinem Sterbebett, in seiner Todesstunde, darunterlegen müssen! Wie konnte sie anders, die Witwe Mungo, da er sie nicht erwürgt und sie auch nicht angespieen hatte - da der arme Komödiant das elendeste Gut auf dieser Erde, das leichtbewegte Herz, trotz aller Reime eurer Poeten und aller Sprüche eurer Weisen in seiner Brust hatte behalten müssen, so süß und so bitter wie ich, die arme Komödiantin, das
meinige, trotzdem daß ich mit dem Vogelsang und dem Osterberg auch unser liebes fürstliches Residenzschloß im Tal und die ganze Stadt und das halbe Herzogtum aus meinen amerikanischen Eisenbahnen und Silberbergwerken kaufen könnte?! Sein weises, törichtes Haupt in meiner leeren Hand - meiner leeren, leeren, besitzlosen Hand: oh wie schade, daß du kein Versmacher bist, du guter Freund Karl, sonst solltest du über Velten Andres und Helene Trotzendorffs Sterne, Wege und Schicksale ein Lied machen.
Ob du ein Philosoph bist, weiß ich nicht; aber daß du ein kluger, guter, verständiger Mann bist, das weiß ich; und so, wenn wir jetzt, wohl auf Nimmerwiedersehen, voneinander scheiden, dann gehe heim zu deiner lieben Frau und deinen lieben Kindern und erzähle den letzteren zu ihrer Warnung von Helene Trotzendorff und Velten Andres, und wie sie frei von allem Erdeneigentum ein trübselig Ende nahmen. Schreib in recht nüchterner Prosa, wenn du es ihnen, der bessern Dauer wegen, zu Papier bringen
willst, und laß sie es in deinem Nachlaß finden, in blauen Pappendeckeln, wie ich sie immer noch unter deines guten Vaters Arme sehe; und da er darauf schreiben würde: Zu den Akten des Vogelsangs, so kannst du das ihm zu Ehren auch tun, ehe du sie in dein Hausarchiv schiebst - ein wenig abseits von deinen eigensten Familienpapieren.« - - -
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