Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
4. Abschnitt
eingestellt: 20.7.2007Diese Blätter beweisen es, daß ich - diesmal ein wenn auch treuer, doch wunderlicher Protokollführer - nach ihrem Willen getan habe, doch abseits von meinen und der Meinigen Lebensdokumenten werden sie nicht zu liegen kommen. Die Akten des Vogelsangs bilden ein Ganzes, von dem ich und mein Haus ebensowenig zu trennen sind wie die eiserne Bettstelle bei der Frau Fechtmeisterin Feucht und die Reichtümer der armen Mistreß Mungo. Der Menschheit Dasein auf der Erde baut sich immer von neuem auf, doch nicht von dem äußersten Umkreis her, sondern stets aus der Mitte. In unserm deutschen Volke weiß man das auch eigentlich im Grunde gar nicht anders.
So habe ich wenig mehr zu der Sache beizubringen. -
»Du solltest mit mir nach Hause kommen, Helene«, sagte ich wieder, nachdem wir von unserm traurigen Sitz aufgestanden waren. »Wenigstens für einige Zeit. In meiner Frau würdest du eine liebe Freundin finden, und auch die Kinder würden dir nicht mißfallen. Laß uns nicht so, laß uns nicht hier scheiden. Komm zu uns, komm mit mir in die alte Heimat und erwarte dort den Frühling! Die Bank auf dem Osterberge steht noch, und wir sollten da noch einmal zusammen sitzen in der Abendsonne und die Wälder, die Hügel, das Tal, die Stadt und den Vogelsang auch noch einmal zu uns reden und uns raten lassen auf der wankenden Erde. Glaubst du nicht, daß sie auch dir eine andere Sprache sprechen werden als diese dunkelen Wände und der nichtige Spruch dort, dem kein Mensch weniger Folge gegeben hat als sein Verfasser?«
Sie hat den Kopf geschüttelt, die arme reiche Frau, die Witwe Mungo, wie seinerzeit Velten in seinem tür- und fensterlosen Hause im Vogelsang.
»Laß mich, bester Freund«, sagte sie. »Was sollte die Witwe Mungo bei deinen lieben Kindern und deiner guten Anna? Ich wollte dich ja auch nicht bei seinem Begräbnis haben, Karl. Frage die alte Frau da draußen, wie glücklich ich hier - jetzt - in meinem Besitz, meinem Eigentum, meinem Reichtum in der Welt gewesen bin. Was hätte die Heilige, die Französin, eure - seine Leonie ihm noch in sein totes, taubes Ohr flüstern können? Aber ich, ich habe das gekonnt, nachdem ich ihm die Augen zugedrückt hatte und ihn im Arm hielt, die Nacht durch. Ich habe ihm viel zu erzählen gehabt, wie es mir ergangen ist im Leben, seit dem Abend, an welchem er in meines Vaters Hause das Blatt aus dem Buche riß, und da hat er mir vergeben; denn weißt du, wie er jetzt gelächelt hat in seinem befriedigten Willen, das hat aus meinem wilden, albernen, kranken Hirn das Lächeln verscheucht, mit dem er mir in New York das Blatt hinhielt: Sei gefühllos! Siehst du, das - sein Gesicht, sein gutes Lachen eine Stunde nach seinem Tode, das gehört nun mir für alle Zeit, mein einziges Eigentum für alle Zeit. So mein Eigentum, daß auch niemand mit mir nur darüber reden soll, und deshalb kann ich auch mit dir nicht nach Hause gehn: die Heimat würde mir und ihm nur zu verwirrend dreinreden und mir an meinem einzigen Besitz auf Erden zerren und zupfen. Auch die Berge und Täler der Heimat würden sich nur zwischen uns, zwischen Velten Andres und Helene Trotzendorff, drängen. Ich kann sie nicht wiedersehen, und sie sollen mir sein Gesicht so lassen, wie ich vorgestern das Tuch darüber gedeckt habe.« -
Da habe ich es auch ihr wie seinerzeit Velten gegenüber aufgeben müssen, die im Alltage Fremdgewordene in mein Haus einzuladen als lieben und kranken Gast; sie aber hat die Frau Fechtmeisterin Feucht geküßt und ihr weinend den Kopf auf die Schulter gelegt und geschluchzt:
»Mutter, daß du nicht mit mir kommen wirst, das weiß ich; also, sieh, damit man uns, dich und mich, nie von hier austreiben könne, habe ich dieses Haus gekauft, deines lieben Stübchens und dieser vier Wände wegen. Euer Freund, Herr Leon, ist mir auch dabei behülflich gewesen, lieber Krumhardt. Sie mögen wohnen bleiben und ihr Leben und ihre Geschäfte treiben da draußen, der Gasse zu; was kümmert uns das?! Aber hier soll niemand weiter ein Recht haben als die Frau Fechtmeisterin Feucht und Helene Trotzendorff. Ich werde wohl noch oft und weit in die Welt hinaus müssen, ihr Guten; aber wo ich auch sein mag, will ich die Sicherheit dieses meines Eigentums haben; denn nicht wahr, Mutter, du läßt mir diesen Raum und duldest nicht, daß sie die Worte da an der Wand übertünchen! Und wenn ich zu dir komme, nimmst du mich auf wie - ihn?«
»Aber Kind, ich bin neunzig Jahre alt -«
»Wenn ich nicht zu dir komme wie Velten Andres und du hast mich nötig wie er dich, so merke ich das und erfahre es, wo ich auch sein mag. Fürs erste gehe ich ja auch nicht weit von hier weg. Laß es so sein, wie ich sage!« - - -
Nun schritten wir durch die menschenvollen Gassen der Stadt, die Witwe Mungo und ich. Um uns her schienen sie wirklich noch ein anderes, heftiges, leidenschaftliches Interesse an dem Besitz und Eigentum der Erde zu nehmen. Ich weiß es in der Tat nicht, um was für ein staatliches, politisches, soziales Problem es sich unter den Leuten handelte, welche Menschenversammlung einberufen oder auseinandergetrieben worden war und über welche Frage man wieder mal nicht einig hatte werden können. Namen von Führern im Gezerr klangen um uns her - sehr berühmt für den Tag, sehr zeitungsgerecht - mit Wut, Hohn, Spott oder jubelndem Beifall ausgesprochen oder herausgeschrieen. Es handelte sich sicherlich um hohe Dinge; aber wie viele Leute gab es da in dem Gedränge, die der Witwe Mungo höflich Platz gemacht haben würden, wenn sie gewußt hätten, wer die Frau in Trauerkleidung an meinem Arm war und über welche Mittel sie verfügte, den Neid der Menschheit zu erregen und Menschen glücklich zu machen!
Sie wohnte natürlich im berühmtesten Gasthause der Stadt, und ich brachte sie bis zu dessen Tür:
»Was tun wir weiter mit der Nacht?« fragte sie in dem Lichterglanz, inmitten der herbeieilenden Dienerschaft. »Willst du noch ein Stündchen mit heraufkommen, und sollen wir noch ein wenig von anderen Sachen plaudern? Unsere Gesandtin hat mir heute morgen geschrieben und mich dringend gebeten, den heutigen Abend bei ihr nicht zu versäumen. Willst du mich dahin begleiten? Wir werden sehr willkommen sein, und Mr. Irving, der berühmte Komödiant, ist aus London inkognito hier. Willst du den Monolog: ›To be, or not to be‹ von ihm hören? Der Herr wird mir einer Tournee drüben bei uns zuliebe gewiß gern den Gefallen tun.«
»Lebe wohl, Helene. Laß uns beide dazu tun, daß wir einander noch einmal wiedersehen, gefesteter in uns auf der wankenden Erde.«
»Können wir das? Ja, so lebe wohl für heute, mein Freund, und habe Dank dafür, daß du zu mir gekommen bist. Ich wußte keinen andern, den ich rufen konnte!«
So haben wir wieder Abschied voneinander genommen. Ob für immer, wer kanns sagen? Ich hätte nun noch auch diesmal Freund Leon aufsuchen können in Berlin, aber ich wußte es ja, daß ich die Schwester Leonie nicht mehr bei ihm finden würde. Es war mir wirklich unmöglich, seinem Lebensbehagen jetzt die rechte Teilnahme entgegenzubringen, seine Wera singen, seine Viktoria Klavier spielen zu hören und mit ihm den Erben der Troubadourharfe, der Albigenserlanze und des Hugenottenschwerts der Ahnen, seinen braven Friedrich, vom Kadettenhause zu Lichterfelde durch alle möglichen neuen kriegerischen Ehren der Familie bis zu dem Prädikat Exzellenz zu begleiten.
Eine schlaflose Nacht in meinem Gasthause; dann der Morgen und die Heimfahrt! »Trüber Tag. Feld«! Die Wälder, Felder, Dörfer, Städte und die Bahnhöfe mit ihrem Getreibe im triefenden Novemberregen und -nebel. Am Spätnachmittag, vom Regen und Nebel gleichfalls verhangen, der Osterberg und - ein erstes Aufatmen!
Das Haus, die Frau und die Kinder! ... Und so gegen Mitternacht am warmen Ofen, in allem Behagen Leon des Beaux, Annas Seufzer:
»Mein Gott, und sie weiß gar nichts mit ihren ungezählten Millionen anzufangen?«
»O doch! Sie hat Land und Meer um den Erdball zur Verfügung. Sie baut Paläste, Krankenhäuser, kauft Bücher, Bilder, Bildsäulen, unterstützt -«
»Aber das ist doch gar nichts! Das ändert an ihr und an der Welt nichts. Ach, ich sollte an ihrer Stelle sein!«
»Du?« fragte ich gespannt. »Was wolltest du denn mit ihrem vielen Gelde beginnen?«
»Nun - ich habe doch meine Kinder?!« -
Es ist ein lichtgrüner, schöner Frühlingstag, an welchem ich dieses zu Papiere bringe. Ich könnte auf dem Blatte den spätesten Nachkommen noch einmal mit hinaufnehmen auf die Bank im Sonnenschein von heute auf dem Osterberge; aber ich schließe
die Akten des Vogelsangs.
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