Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Viel Schutt und Trümmer fallen auf Helene Wienands Gärtchen, sowie in den Hof von Nummer zwölf in der Musikantengasse
eingestellt: 5.7.2007
Mitternacht! Dunkelheit auf Erden! Ein heftiger Wind blies seit einigen Tagen, Herbstahnungen bringend, über die Stadt; aber droben am Himmelsgewölbe gingen die Sterne ruhig ihren Gang, und wie Ihr Lauf bestimmt war, so waren auch die Geschicke der Menschen bestimmt, eins durch das andere, alle durch den mächtigen Willen, welcher darüber »regiert« und welcher ad libitum den einen zum Atheisten, den andern zum Akosmisten macht. Zwischen Tag und Nacht laufen sich die
Menschen zu Tode, wie die Maus in der Rolle; o Mitternacht, wie feierlich und ernst klingt dein dröhnender Fußtritt ins Ohr – ein neuer Tag! – und noch immer will das Rad nicht zur Ruhe kommen. Lauf, lauf, arme Maus!
Mitternacht! Der Polizeischreiber Fiebiger hatte einen Tag voll drängender, häßlicher Arbeit zurückgelegt; der Jammer der Menschheit war ihm fast an die Kehle gestiegen und hatte ihm den Atem bis zum Ersticken geraubt. Nun lag er auf seinem harten Lager und
wehrte sich wieder einmal gegen die Gebilde des Tages, welche ihn bis in den Schlummer verfolgten, gegen die Geister der großen Foliobände, die noch viel, viel inhaltvoller waren als die Folianten im Arbeitszimmer des Bankiers Wienand, obgleich auch in den Zahlen der letzteren für das Auge des Kenners, des Eingeweihten manch ergreifender Bericht über menschliches Glück oder Unglück niedergelegt war.
Robert Wolf lag wachend; er hatte sich halb aufgerichtet, indem er sich auf den
Ellenbogen stützte, und blickte durch die Risse im alten Fenstervorhang nach den Sternen, vor welchen der Wind die Wolken herjagte. Vor einem Jahre noch hatte er den Septemberwind durch die Bäume des Winzelwaldes rauschen gehört. Wie anders war alles seit den Tagen geworden! Der Jüngling blickte nach denselben Gestirnen, welche der Sternseher Heinrich Ulex in der nämlichen Stunde durch seinen Tubus beobachtete. Sie hatten beide das Recht zu wachen, der Forscher wie der Jüngling, jeder hatte
Rätsel in sich und außer sich zu lösen. Die Liebe ist auch eine Wissenschaft, ein Streben, Forschen, Suchen nach dem Wahren, die Wissenschaft ist auch Liebe; beide blicken empor im Streben und Suchen und Sehnen – beide blicken nach den Sternen.
Aber der Wind ballte die Wolken immer mehr zusammen und jagte sie in immer schwärzern Massen vor die Sterne. Der Forscher schob sein Rohr zusammen und strich über die heiße Stirn; der Bankier Wienand schloß das schwere Hauptbuch und
schrob die Lampe nieder; auch ihm fielen die Augen zu; der Polizeischreiber murmelte ängstlich im Schlaf: »Da, da, haltet ihn – zu spät – schickt nach dem Henker.« Stern auf Stern verschwand am Firmament, erregt und schmerzlich beängstigt beobachtete Robert, wie die Finsternis ein blitzendes Licht nach dem andern auslöschte. Die späten Schwärmer im Café de lEurope wurden allmählich immer stiller; sie gähnten in den Kissen der türkischen Diwans, streckten die Beine immer weiter von
sich und bliesen immer apathischer den Rauch der feinen Zigarren von sich. Der Kellner war im Winkel eingeschlafen.
Mitternacht! Noch stand der Sternseher am offenen Fenster und atmete das wilde, aber nicht kalte Wehen ein; er lauschte den zwölf Schlägen, die eine Uhr nach der andern bis in weite Ferne wie ein Echo aufnahm und wiederholte. Robert schob den Vorhang ganz zurück; kein Stern, nicht das winzigste Fünkchen war mehr zu erblicken am Himmel und auf Erden. Das Sausen in den
Lüften wurde immer stärker, es fuhr durch die Höfe, um die Ecken, es fing sich in den Winkeln, umtanzte die Wetterfahnen, klapperte mit den Ziegeln, neckisch mutwillig und leichtfertig, doch nicht boshaft. Nun schlief der Bankier bereits sicher und fest; er war ein starker Mann, und wenn er sein Hauptbuch geschlossen hatte, so waren die Sorgen selten so kühn, sich an sein Kopfkissen zu wagen; Herz und Hirn waren bei ihm aus gleich fester Masse, sie waren beide aus dem Kitt geformt, welcher die
Gesellschaft zusammenhält.
Leon von Poppen hatte wieder einmal die magern Arme auf die Marmorplatte des Tisches im Café de lEurope gelegt und den Kopf, der ein ganz anderes Gehirn als das des Bankiers barg, auf die Arme. Er schlief einen ähnlichen Schlaf wie der abgejagte Garçon in der Ecke.
Ein Uhr! Es kam Robert Wolf ein Gedanke an den fernen Bruder, an Eva Dornbluth aus dem Kantorhaus zu Poppenhagen. Er dachte an beide jetzt nicht mehr mit dem fieberhaften Groll früherer
Tage. Wo mochten sie jetzt weilen? Wie mochte es ihnen gehen? Unendliche Räume überflog der Gedanke.
Ein Uhr und ein Viertel! Schwer fing es endlich an, sich auf die Augenlider des Jünglings herabzusenken; der Schlaf wollte den Sieg über die unruhige Seele gewinnen. Der alte Ulex schloß sein Fenster; es verflossen noch fünf Minuten. Da ging plötzlich in der Ferne, nicht sehr fern von dem Garten des Bankiers Wienand, neben dem hohen Schornstein und Fabrikgebäude, welche den Astronomen
allnächtlich ärgerten,ein Leuchten auf, wie der Schein einer Laterne, und zitterte einige Augenblicke an einer Hauswand, ohne daß Ulex viel darauf achtete. Es verschwand, um gleich darauf von neuem und stärker emporzuzucken. Es erregte bald die ganze Aufmerksamkeit des Alten.
Nun glitt der Schein an den Fenstern einer andern Hauswand empor, nun fiel plötzlich ein feuriges Licht über die weiße Statue der Hebe neben der Holunderlaube – ein Schrei klang in der Ferne; – es
zuckte ein Flämmchen über ein Dach, leckend und züngelnd. Dem Flämmchen aber nach brach die Flamme, hellodernd, blutigrot, gefräßiggierig in der vollen Pracht ihrer furchtbaren Majestät –
Feuer! Feuer!
»Feuer! Feuer!« rief der Sternseher in den Hof von Sankt Nikolaus hinab, und in der Tiefe wiederholten Männer- und Weiberstimmen den unheilvollen Schrei. Sturmgeläut, Hörner und Trommeln ließen sich in der Ferne vernehmen; denn damals löschte man Brände noch nicht im
tiefsten Schweigen wie heute. Auch auf dem Hofe von Nummer zwölf der Musikantengasse wurde es lebendig, Lichter erschienen in der Wohnung der Familie Tellering; hervor stürzten der Schreiner und sein Sohn, die blanken Äxte über der Schulter. Von seinem Lager fuhr der Polizeischreiber Fiebiger auf; Robert hatte die Kleider bereits in aller Hast übergeworfen. Der rote Schein fiel jetzt schon drohend in die Hinterfenster des Hauses des Partikuliers Mäuseler.
Wie jedes andere schlafende
Haus überkam auch die Nummer zwölf der Musikantengasse der furchtbarste Schrecken bei dem plötzlichen Alarm, und es zeigte sich, daß Leute, die durchaus nicht im Rufe standen, Kopf zu haben, ihn dessenungeachtet verlieren konnten. Bei blitzschnell hereinbrechender Not und Verwirrung zeigt sich am besten, was der Mensch ist und was er kann.
Julius Schminkert, der diesmal ausnahmsweise sich vor Mitternacht im Bett befunden hatte, bewies sich in seiner ganzen Größe. Er hatte durchaus
nichts von Wert zu verlieren; so fuhr er denn in Hosen und Rock, kaltblütig und besonnen, und benutzte jede Gelegenheit, sich dem Gemeinwohl des Hauses zu widmen, aufs beste. Um den Schreiber und seinen albernen Jungen bekümmerte er sich nicht; er hörte ihren gestiefelten Schritt eilig hinter der Wand neben seinem Gemach und wußte, daß beide seiner nicht bedurften. Der erste, welchem er seine Energie widmete, war der halbtote Hausherr, der Rentier Mäuseler. Besinnungslos irrte der Biedermann auf
seinem Vorplatze umher, in flanellenen Unterhosen und halbangezogenem Schlafrock, den Tabakskasten unter dem linken Arm, den Waschnapf in der rechten Hand. Merkwürdigerweise bezwang der darstellende Künstler seine Lust, dem Trübsalsbilde den Waschnapf aus der Hand zu nehmen und den Inhalt desselben über das ehrwürdige Haupt des ehrenwerten Bürgers zu gießen, vollständig, bemächtigte sich dafür aber ebenso vollständig alles dessen, was vom Rentier noch übrig war, und benutzte die Gelegenheit, um
sich für seine lärmenden Dienstleistungen den Erlaß der rückständigen Miete eidlich versprechen zu lassen. Die Kassette mit den Wertpapieren des Hausherrn unter dem einen Arme, den Hausherrn selbst unter dem andern, die halbohnmächtige Madam Krieg am Rockschoß nachschleifend, stieg Julius zur Wohnung des Fräulein Aurora Pogge hernieder und erschien kühl lächelnd inmitten angstvollen mausehaften Umherlaufens und durchdringendsten Gekreisches und Gepiepes von Katze, Herrin und Dienerin. Alle Türen
waren geöffnet, der Fußboden aller Gemächer, der Vorplatz wie die Treppe bereits bedeckt mit Plunder allerart, welchen die unglücklichen Frauenzimmer in ihrer Ratlosigkeit aufgegriffen und umhergestreut hatten. In dem jungfräulichen Gemache Auroras setzte der Schauspieler den Rentier auf dem grünen Sofa unter dem Bilde des seligen Proviantkommissärs nieder; und trotz ihrer Verstörtheit besaß Aurora noch schämige Kraft genug, den verwegenen Julius an den Haaren aus ihrem Schlafgemach zu ziehen,
in welches er ungebeten seine vorwitzige, unheilige Nase steckte. Der Mime warf der erzürnten Schönen eine Kußhand zu, wies mit einer andern Handbewegung auf den ächzenden Hausherrn und schwebte aus dem Gemache. Hier hatte er nichts mehr zu tun, und beflügelten Schrittes eilte er die Treppe hinunter, getrieben von der süßen Hoffnung, sich der holden Angelika und ihrem Vater nützlich und angenehm zu machen. Wann hätte er eine günstigere Gelegenheit dazu finden können?
Auf den ersten
Stufen der Treppe stieß sein Fuß an ein in blauen Samt gebundenes Buch, auf dessen Deckel zwei Tauben am Fuße eines Kreuzes sich schnäbelten. Er hob es auf, warf einen Blick hinein und stieß, scheu über die Schulter sehend, einen Ruf des Entzückens hervor. Er hatte ein Manuskript gefunden, von dessen Existenz das ganze Haus Nummer zwölf in der Musikantengasse eine dumpfe, grauenvolle Ahnung hatte. Auf der ersten Seite des Büchleins stand in merkwürdiger Handschrift:
Thagebug von
Aurora Pogge.
Blitzschnell glitt der Fund in die Brusttasche des glücklichen Finders; satanischen Jubels voll schnalzte Julius Schminkert mit den Fingern, und noch warm von der zarten Berührung des jungfräulichen Busens Auroras war das himmelblaue Schatzkästlein einer edlen Seele.
»Göttlich, göttlich! Millionenfach gesegnete Stunde! Geschenk der Götter, feil für ein Königreich!« jauchzte innerlich der Taugenichts, bei jedem Ausruf sich am Geländer über sechs Stufen der
Treppe abwärts hinwegschwingend.
Verwirrung, Not und Ratlosigkeit hatten ebensosehr von dem Parterre Besitz ergriffen wie von den übrigen Stockwerken des Hauses, das höchste ausgenommen, welches alle Seelen- und Körperkräfte ruhig beieinander behielt; und wir schieben die Bemerkung ein, daß an dem letzteren Faktum durchaus nichts zu verwundern ist, da die klarsten Köpfe ungemein häufig dem Dache sehr nahe wohnen. Das Gehirn hält sich ja auch in dem höchsten Teile des menschlichen
Körpers auf.
Niemals sah man einen zitternderen Kleiderkünstler, niemals versteinertere Lehrlinge, niemals angstvoller umherhüpfende Bekleidungsgehilfen. Die schöne Angelika, ziemlich mangelhaft bekleidet, warf sich an die Brust Schminkerts und umklammerte ihn krampfhaft mit dem Ruf: »Rette mich, rette uns, o rette mich!«
»Aus Blut und Tod, aus Trümmern und Flammen!« deklamierte Julius, zärtlich das zarte Wesen an seinem Herzen festhaltend, ohne daß der ratlose Papa sichs
verbat. »Es ist die Fabrik chemischer Waren in Brand geraten; wir werden höchst wahrscheinlich sogleich allesamt in die Luft fliegen. Halten Sie sich nur recht fest an mir, Engel der Seligkeit; wenn wir einmal in die Lüfte sollen, so geschiehts am angenehmsten paarweise; – o Angelika, Herrlichste Ihres Geschlechts, ich benutze wiederum die tragische Gelegenheit, den Brand von Semmelroth und Kompanie, um Ihnen den Brand meines Herzens zu offenbaren.«
»O hören Sie nur, sehen Sie
nur – die Flammen! O wie gräßlich!«
»Was fürchtest du, Geliebte? Laß den Erdkreis zusammenbrechen; – wie sagt der Altmeister Goethe?
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