Der dichte Nebel eines dunkeln Vorwintermorgens lag schwer über der Stadt. Vor einer großen aufgeschlagenen Bibel saß der Sternseher Heinrich Ulex in seinem warmen Gemache und blickte ernst in die weißgraue Dämmerung, welche der neue Tag nicht hatte verscheuchen können. Es war ein Sonntagmorgen, und der Klang der Glocken, welche zur Kirche riefen, kam zum Ohr des gelehrten Greises bei der schweren, feuchten Luft wie aus weitester Ferne. Man konnte fast nicht sagen, ob
diese Tonwellen aus der Höhe nach der Tiefe oder aus der Tiefe nach der Höhe rollten. Geheimnisvoller als sonst sprachen die Glocken zu den Herzen der Menschen; es war, als hätten sie mehr zu sagen und mehr zu verschweigen; ihr Klingen gab viel zu bedenken; die meisten Leute dachten jedoch nicht sehr viel dabei. Der Sternseher Heinrich Ulex gehörte aber nicht zu denjenigen, welche den Sonntagmorgen nur insoweit schätzen, als man an ihm ungestört einige Stunden länger schlafen kann. Er stand im
Gegenteil an diesem Tage früher als gewöhnlich auf; die ersten Stunden desselben waren dem tiefsten Nachdenken gewidmet; er ließ sich höchst ungern darin stören und verriegelte und verrammelte seine Wohnung womöglich noch fester als zu anderer Zeit.
Den wallenden Nebel schätzte er auch mehr als andere weniger phantasiebegabte Menschen. Er konnte Bilder darin aufbauen, Gestalten darin hervorzaubern, er konnte ihn formen wie der Bildhauer den Ton, er konnte darauf zeichnen wie der Maler
auf der grauen Leinwand.
So saß er denn auch an diesem gegenwärtigen Sonntagmorgen, blätterte in dem weisheitsvollen Buche, ließ die Poesie des sonnigen Orients im winterlichen Norden emporsteigen und verknüpfte die Sprüche und Erzählungen der jüdischen Seher und Propheten mit den Ereignissen, den Empfindungen, den Hoffnungen und Befürchtungen, den Freuden und Schmerzen des eigenen Daseins.
Wie der Nebel über die Dächer rollte, wie er sich ballte und löste! Jetzt war die
weite schwarze Brandstätte ganz verdeckt und nur die nächste Nähe, in einen feuchten Schleier gehüllt, sichtbar; – jetzt tauchten in der Ferne die Baugerüste, die sich bereits hier und da wieder inmitten der Trümmerhaufen erhoben, auf, und traurig dunkel schimmerte der Grund durch den schwankenden Dunst.
Des Alten Seele war sehr häufig an diesem Morgen in der niedrigen Kammer des Meisters Johannes Tellering, dessen Tod man nunmehr täglich, stündlich erwartete.
»Jetzt
siehet man das Licht nicht, das in den Wolken helle leuchtet; wenn aber der Wind weht, so wird´s klar«, las er aus dem Buche Hiob.
Wieder blickte er in den Nebel hinein und dachte an seinen Schüler, seinen jungen Wolf aus seinem Heimatswalde, und wieder schlug er ein Blatt um und las:
»Die dicken Wolken scheiden sich, daß es helle werde, und durch den Nebel bricht das Licht. Er kehret die Wolken, wohin er will, daß sie schaffen alles, was er ihnen gebeut, auf dem Erdboden,
es sei über ein Geschlecht oder über ein Land.«
Lang schaute er wieder zu, wie der Dunst wogte und sich kurz vor seiner Verflüchtigung immer seltsamer gestaltete. Wieder las er:
»Alle Menschen hat er in der Hand wie verschlossen, daß die Leute lernen, was er tun kann.« Und bald dumpfer, bald heller klangen in das Sinnen des Greises die Glocken – Geisterstimmen, die aus der Höhe, die aus der Tiefe einander riefen. Wer wagte es, den Sternseher im jetzigen Augenblick zu
stören?
Ein schnelles, wie aufgeregtes, ängstliches Klopfen ließ sich an der verriegelten Tür vernehmen und schreckte den Greis auf. Einige leise Runzeln mehr erschienen auf seiner Stirn, als er sich erhob und gegen die Tür schritt. Sein Verdruß ob der Störung legte sich freilich; aber seine Verwunderung stieg, als er den Polizeischreiber Friedrich Fiebiger atemlos vor sich sah. Auch der Schreiber brachte die Sonntagmorgen gern ganz still innerhalb seiner vier Pfähle zu und gab
eingehüllt in Tabakswolken seinen innersten Gedanken Audienz oder las, auf dem Sofa liegend, seine sehr verschiedenartigen Lieblingsschriftsteller. Der Sternseher hätte in dem Störenfried jeden andern eher vermutet als seinen Freund Fritz. Nur ein wichtiges Ereignis konnte denselben zu so ungewohnter Stunde zu dem Giebel des Gelehrten hinauftreiben; und Heinrich Ulex trat, nachdem er seine Tür geöffnet hatte, einen Schritt zurück und rief mit bewegter Stimme:
»Er hat es überstanden?!
Er ist tot?!«
»Wer?« fragte der Schreiber.
»Der Meister Johannes!«
Fiebiger schüttelte den Kopf, warf Hut und Stock von sich, sank auf einen Stuhl, legte die Hände auf die Knie, blickte dem Sternseher einige Augenblicke hindurch komisch, verlegen, zweifelnd ins Gesicht, zog ein Büchlein, in blauen Sammet gebunden, mit silbernem Schnitt und Titel aus der Tasche und rief aufspringend:
»Privatgelehrter Heinrich Ulex, bist du am vierundzwanzigsten Juni
dieses Jahres, nachmittags um vier Uhr durch die Musikantengasse gegangen, mit der Nachtmütze statt des Hutes auf dem Kopfe?«
Der Sternseher sah den Fragenden höchst verwundert an, ohne eine Antwort finden zu können.
»Erinnerst du dich des Faktums, Ulex?«
»Ich – ich – gewiß nicht – mein Gott – was soll das heißen?«
»Hier steht es schwarz auf weiß, alter Knabe! Hier steht noch viel mehr über dich, über mich, über das
Freifräulein, über Gott, den Teufel, Himmel und Erde. Welch ein Weib! O Ulex, Ulex, du auf deinem Turm hast gar keinen Begriff von den Dingen, welche eine edle Frauenseele in ihrem Tagebuch notieren kann. Und unser Robert – mein Robert Wolf – Himmel und Hölle, Heinrich Ulex, – es ist heraus!«
Der Sternseher schlug seine Bibel zu und sagte:
»Ich verstehe dich nicht, Fritz. Was hast du? Was sollen die Fragen? Was soll dieses Buch? Was ist heraus? Was ists
mit unserm Zögling?«
»Er ist wieder verliebt!« rief der Polizeischreiber kläglich und setzte mit tragischem Ton hinzu: »Und ich rühmte mich meines scharfen Auges! Morgen werde ich mein Pensionierungsgesuch einreichen.«
»Sprich weniger in Rätseln, so werde ich dich verstehen«, sagte der Gelehrte.
»Ja, Rätsel, Rätsel!« rief der Schreiber auf und ab laufend. »Dich triffts so gut wie mich. Du bist ebenso blind gewesen wie ich!«
Der Sternseher setzte sich
in seinen hohen Lehnstuhl wie ein Mann, der Zeit hat zu warten. »Blind, blind, blind! O Fiebiger, o Polizei und schwarzer Star!" sprudelte der Schreiber. »Verliebt – uns vor der Nase – Fräulein Wienand – Juliane – tausendfacher Maulwurf – o Ulex, Ulex!«
Der Sternseher rührte sich nicht in seinem Lehnstuhl; er wußte, daß die hochgehenden Wogen sich ihrerzeit beruhigen würden; er wartete mit Geduld. »Die Hexe notiert es in ihren Memoiren; Julius Schminkert
weiß es länger als lange –
Was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das ahnet in Einfalt ein kindlich Gemüt –
schönes kindliches Gemüt – o Fiebiger, Fiebiger, geh heim und laß dich pensionieren!«
Wir wollen mit dem Sternseher in Geduld abwarten, bis sich der Polizeischreiber beruhigt hat, und während dieser Zeit dem Leser erzählen, was in der Nummer zwölf der Musikantengasse vor diesem merkwürdigen Sonntagmorgen vorgegangen
war.
Das kalte Wasserbad, welches dem deklamierenden Künstler Julius Schminkert unter dem Kammerfenster Angelika Stibbes zuteil geworden war, hatte seine Liebe zu dem holden Kinde nicht im mindesten abgekühlt. Die Wasserfluten hatten sich gleichsam über ungelöschten Kalk ergossen; Schminkerts Seele zischte, kochte und dampfte. Der Schauspieler war in seinen jetzigen Plänen fast ebenso beharrlich wie der Freiherr von Poppen in den seinigen. Jeder von den beiden hatte ja außer der
künftigen Lebensgefährtin auch den Geldkasten des Schwiegerpapas in spe im Auge, und ein voller Geldkasten ist bekanntlich ein trefflicher Gesichtspunkt auf dem stürmischen Meere des Lebens. Die größte Hälfte der Menschen hält ihn für den besten und behält ihn im Auge, wenn alle andern Leitsterne, Leuchttürme, Feuerbaken längst in die Wogen gesunken sind.
So lavierte denn Herr Julius seinem Ziel mit Ausdauer entgegen und ließ sich durch keinen ungünstigen Wind aus seinem Kurs bringen.
Er gewann soviel Geschmack an diesem Kreuzen wie Leon von Poppen an dem seinigen. Man konnte Geschick und Wissen dabei zeigen und beweisen, daß man kein dummer Teufel sei.
Fräulein Aurora Pogge suchte ihr Tagebuch nicht mehr. – Wie jener wohlaffektionierte römische Regent wünschte sie aber der ganzen Menschheit nur einen einzigen Kopf, um ihn mit einem einzigen Streiche abschlagen zu können. Solange sie die Hoffnung noch nicht verloren hatte, das köstliche Manuskript wieder zu
finden, war sie ungemein vorsichtig, zurückhaltend und höflich im Umgange mit jedermann gewesen; denn sie betrachtete jeden, der ihr nahe kam, mit geheimer Angst. Nachdem sie die letzte Hoffnung aufgegeben hatte, das Buch mit den schnäbelnden Tauben zurückzuerhalten, änderte sich natürlich ihre Stimmung; sie geriet in den Zustand stumpfster Gleichgültigkeit gegen alles, was die Welt denken, sagen und tun mochte. Sie heuchelte nicht mehr, sondern zeigte sich in ihrem eigensten Wesen. Die Herren
Drönemeier und Nothzwang fanden die einst so gastfreundliche Tür jezt fest verschlossen; es gab nun keinen Tee, keine Schokolade, keinen alten Madeira mehr für sie; sie segneten sich und stöhnten über das arme Schaf, das sich so plötzlich aus der Hürde verloren hatte. Die Hausgenossenschaft vorzüglich fand oft Ursache zur Verwunderung über Fräulein Aurora Pogge. Niemand – sogar der Rentier Mäuseler nicht – niemand entging ihren Wutanfällen; ihre kreischende Stimme erschreckte zu
jeder Zeit des Tages und in der Nacht alt und jung. Mimi, die Katze, wurde immer magerer, ging eines Abends aus und – kam nicht wieder; es war ihr zu viel geworden. Hulda folgte der vierbeinigen Leidensgenossin und nahm eine Stelle in einer Privatheilanstalt für Irre an; sie hatte die Befähigung zur Ausfüllung eines solchen Platzes im Dienste Auroras vollkommen erlangt. Das Fräulein kochte »sich selber« und schlang somit immer mehr Gift hinein. Der Rentier Mäuseler – kündigte ihr die
Wohnung und zerbrach damit das letzte Band, welches Aurora der Hausgenossenschaft gegenüber noch fesselte.
Sie zog jetzt alle Register ihres Grimmes; Mäuseler, der Polizeischreiber, Robert Wolf, Schminkert, die Frau Krieg, die Familie Tellering, Monsieur Alphonse Stibbe, Fräulein Angelika Stibbe wurden auf gleich schreckliche Weise von der Erinnye angefallen. Der Augenblick, wo Julius Schminkert Gebrauch von dem blauen Buche machen mußte, war gekommen. Die Götter hatten es in
allgemeiner Ratsversammlung so beschlossen; Zeus der Vater hatte die ambrosischen Locken nickend geschüttelt; der grause Mars hatte sich zähnefletschend die Hände gerieben, Aphrodite die Liebliche hatte den Gürtel der Reize enger geschnallt und siegesfroh gelächelt:
– pasci
Pugnando teneri volunt Amores,
wie Johannes Secundus ebenso schön wie wahr sagt. Am Sonnabendmorgen schwang sich Iris, da Merkurs Flügelschuhe eben beim Schuster waren, zur Erde nieder, und eine halbe Stunde später erschienen an den Ecken der Stadt riesengroße Zettel, welche das vergnügensuchende Publikum zum Maskenball und zu vorzüglichen warmen und kalten Speisen und Getränken in die Walhalla einluden.
In das lauschende Ohr Julius
Schminkerts flüsterte die Götterbotin; sie flüsterte in das Ohr Angelika Stibbes. Und nicht lange, so flüsterten Julius und Angelika zusammen im Hausgange. Was hatte Iris in der Wohnung Auroras zu flüstern? Treppab schlich die rosen-näsige Bewohnerin des ersten Stocks und lauschte dem Gespräch des Jünglings und der Jungfrau.
So lauscht die Boa constrictor, ehe sie sich vom Wipfel der Königspalme niederstürzt auf das unschuldige, kosende Gazellenpaar!
»Ich will euch! ...
jetzt solls zu Ende kommen!« flüsterte Fräulein Aurora Pogge, als sie, ihre Pantoffeln in der Hand tragend, wieder treppauf schlich.
Es kam zu einem Ende; aber zu einem andern, als das hohnlächelnde Mitglied des bessern, sanftern Geschlechts sich vorgestellt hatte.
Julius Schminkert und Angelika Stibbe besuchten den Ball in der Walhalla, ohne eine Ahnung des düster über ihren leichtsinnigen Häuptern sich zusammenziehenden Gewitters. Sie tanzten, ohne, wie die französische
Gesellschaft, zu wissen, daß sie auf einem Vulkan tanzten. Wie Luise Millerin genoß Angelika die Limonade, die ihr Julius präsentierte. – Wehe euch Unglücklichen, vergiftet war der kühlende Trank!
Julius Schminkert im Kostüm des Grafen Almaviva war ein Kavalier, wie ihn Angelika sich nicht eleganter wünschen konnte. Die Tochter Don Alphonso Stibbelinos als Sonnenjungfrau war unwiderstehlich, widerstand aber auch selbst nicht den schmeichelnden, überredenden, überzeugenden
Beteuerungen des Conte Julio. Nach dem siebenten Walzer war das Paar einig, und Julius Schminkert schlug der Geliebten, der Verlobten vor, in Kompanie ein Parfümeriegeschäft zu etablieren und zwischen Seife, Wohlgerüchen, Haar- und Schönheitstinkturen ein wonniges, seliges, sonniges Liebesleben zu führen.
Wer aber klopfte in nächtlicher Stunde an die Tür der Schlafkammer des schlummernden Vaters, der jetzt in seinen Träumen nicht mehr angstvoll dem Baron Schleifenbein, sondern fast
noch angstvoller einem neuen Schuldner, dem Kammergerichtsassessor Beutler, nachjagte – ? Drückte den juristischen Stutzer die Last seiner Schuld so sehr, daß er sie jetzt in der ersten Stunde nach Mitternacht von der Seele wälzen wollte? ... Nein! Fräulein Aurora Pogges knöcherner Finger weckte den Schneider, daß er den imaginären Rockkragen des Kammergerichtsassessors losließ, sich jählings im Bett aufrichtete und hastig fragte:
»Was gibts? Was ists? Wer ist da?«
Und eine Stimme drang durch das Schlüsselloch, so scharf und schrill, wie ein Zugwind, der es auf einen hohlen Zahn abgesehen hat.
»Stibbe, wenn ich in Ihrer Stelle wäre, so sähe ich einmal von Zeit zu Zeit nach, ob die hochnäsige, naseweise Gans, meine Tochter, im Bette sei.«
»Was?! Wer ist das? Sind Sie es, Fräulein Pogge? Wo soll meine Tochter sein?«
»Nicht auf dem Walhallaballe, Sie alter Narr!« antwortete die Zugwindstimme. »Der Schauspieler, der Vagabund
vom Hahnebalken, ist auch natürlich zu Hause. Stibbe, in Ihrer Stelle guckte ich von Zeit zu Zeit einmal unvermutet in meiner Tochter Bett.«
»Tonnerre!« fluchte der tailleur de Paris, aus dem Bette springend und nach dem Feuerzeug greifend: »Fräulein, ich bitte Sie –« Aber die Stimme wurde nicht mehr gehört. Als der unselige Vater den Kopf aus der Tür steckte, war auch nichts zu sehen, weder eine Katze noch ein Drache noch Fräulein Aurora Pogge. Nur im ersten Stock knarrte eine
Tür und ließ sich ein mühsam unterdrücktes Hohngelächter vernehmen.
Im tiefsten Negligé hielt der edle Vater die Lampe über das Lager der unglückseligen Tochter und stieß einen wahren Theaterschrei aus, da er das leere Nest erblickte. Sollte er jetzt nach der Walhalla stürzen und sein sündiges Kind aus dem üppigen Kreise der Freude reißen, um es in den tiefsten Schlund der zähneklappernden Schmach hinabzuschleudern? Non! Zu großer Skandal! Impossible!
Der zürnende Vater
vervollständigte aber nur um so mehr rachedürstend seine Toilette und legte sich auf die Lauer, bewaffnet mit einem Stock, der an Wucht und Elastizität selbst für Aurora Pogge kaum etwas zu wünschen übrig gelassen hätte. Er zählte in schauerlicher Aufregung die langsamen Stundenschläge den Kirchuhren nach. Eins, zwei – drei – – vier – – – fünf! Sein Zorn wuchs, je mehr die Nacht wich, je ärger ihn fror und je näher der Morgen kam.
»Da sind sie!
– jetzt!« ächzte er, wenn ein Tritt unter dem Fenster erschallte. Krampfhaft umspannte er den Stab. Wehe!
»Wieder nicht!« seufzte er in ohnmächtiger Wut. »O die Dirne, die unverschämte Diablesse!«
Er bereitete ein Glas Punsch, um sich warm und seine Wut heiß zu erhalten.
Endlich um ein Viertel nach fünf kamen – sie! Sie kamen durch einen leisen Regen, dicht aneinandergedrängt – ganz Paul und Virginie. Der Arm des Jünglings umschlang die Jungfrau
aber kaum so fest, wie die Hand des Vaters der Jungfrau das hispanische Rohr. Sie konnten anfangs das Schlüsselloch nicht finden; es war, als habe selbst der Hausschlüssel eine Ahnung davon, daß jemand hinter der Tür stehe und warte.
Sie fanden endlich das Schlüsselloch und traten auf den Zehen ein; ein lautes Wehgeschrei und wildes Gefluche war die unmittelbare Folge davon. Der Stock war überall da, wo sie ihn nicht vermuteten; er hüpfte und sprang, als sei er mit Leben, Verstand und
Vernunft begabt; die schmerzhaftesten Stellen suchte er sich aus, und Geschrei und Fluchen waren sehr schlechte Schutzmittel gegen ihn. Das Wehegeheul der Liebenden weckte aber das ganze Haus, und bis auf Fräulein Aurora Pogge glaubte jedermann wieder, es brenne abermals, und das Haus stehe bereits in hellen lichten Flammen.
Schreckensbleich, außer sich vor Entsetzen, stürzten die Bewohner der Nummer zwölf auf den Walplatz, und von jetzt an können wir die Fortsetzung des Berichtes
wieder in die guten Hände des Polizeischreibers Fiebiger legen. Er wohnte den fernern Verwicklungen und der schließlichcn Lösung bei und weiß gut zu erzählen.
»Du hast wirklich nichts, gar nichts von dem Spektakel gehört, Ulex?«
Der Sternseher schüttelte den Kopf.
»Das wundert mich doch. Der Lärm war großartig und gewiß eine Stunde weit zu hören. Im hohen Diskant kreischte der Schneider, die Tochter flötete wie eine Nachtigall, der ein Mehlwurm in die unrechte
Kehle gekommen ist; im sonorsten Tragödienpathos fluchte und perorierte mein Julius Schminken dazwischen. Der Schneider hatte sich auf die beiden jungen Leute gestürzt wie der Bock auf die Haferkiste. Es gab heillose Schläge, und trotz meiner Stellung als Mann der allgemeinen Ordnung und Ruhe fühlte ich mich nicht bewogen, der Wut des Parisers Einhalt zu tun. Schade um jeden Schlag, welcher hier nebenaus ging! Es war übrigens ein vollständiges Lustspiel im Augenblick der Krisis. Alle Figuren,
welche Thalia ins Feld zu führen pflegt, waren vorhanden: der gekränkte Vater, die leichtfertige Schöne, der Liebhaber, die böse Nachbarin, der mürrische Nachbar, der gleichgültige Nachbar samt dem Chor der dienenden Geister. Lustig wirbelte das alles durcheinander, und als der Liebhaber dem zürnenden Papa endlich den Stock entriß, faßte Stibbe den Hausherrn und rief alle Strafen des Himmels und der Erde – als Schneider sagte er nicht: der Hölle – auf ihn herab, wenn er den
Störenfried und Don Juan Julius nicht auf der Stelle aus dem Hause werfe. Auf die Augen des Fräuleins Pogge fuhr die liebende Tochter mit ausgespreizten Fingern zu, und bald sollte ich erfahren, daß es höchst wünschenswert gewesen wäre, wenn die schöne Angelika der Megäre die Sehorgane ausgekratzt hätte. Leider legten wir uns ins Mittel und retteten das Geschöpf vor ewiger Blindheit. Ich bewunderte den Schauspieler. Er hatte sich auf das Treppengeländer geschwungen und sah jetzt aus der Höhe
ungemein kaltblütig auf das Getümmel der Parteien herab; er ließ die Geister aufeinanderplatzen und schien durch kurze pikante Bemerkungen die Leidenschaften noch mehr steigern zu wollen. Der Schlingel wußte, daß er das Mittel habe, die hochschlagenden Flammen zu besänftigen; er hatte dieses himmelblaue Büchlein hier, dieses, dieses, dieses! in der Tasche und zog es hervor, als der Lärm den höchsten Grad erreicht zu haben schien. Man schweige! rief er mit so dröhnendem Pathos, daß alle Blicke
sich trotz allem auf ihn wendeten, zumal da Fräulein Aurora Pogge ein Gekreisch ausstieß, wie ich es noch nie gehört hatte und hoffentlich nimmer wieder hören werde. Sie wollte sich auf den Schauspieler stürzen; aber dieser schrie, das blaue Buch schwingend: Haltet sie! Laßt sie ja nicht heran! Es gibt einen Mord! Es geht um unser aller Leben! Halten Sie sie doch, Stibbe! Mäuseler, packen Sie zu! – Wir griffen unwillkürlich alle zu, und Fräulein Pogge fiel fürs erste in Ohnmacht.
Silentium! wiederholte Julius Schminkert und hielt darauf ungefähr folgende Rede: Verehrungswürdige Anwesende beiderlei Geschlechts, süßeste Geliebte meiner Seele, Sie, Stibbe, teurer Mann, den ich bald Schwiegerpapa zu nennen hoffe, Sie, Mäuseler, edler Besitzer dieses Grund und Bodens, Sie, Herr Polizei – – erlauben Sie mir, daß ich bereits zu Anfang dessen, was ich zu sagen habe, einige Tränen der Rührung vergieße. O Angelika, möge diese feierliche Stunde unser Geschick
entscheiden – Fiebiger, lassen Sie doch die Alte, sie tut nur so und hört alles! Angelika, ich liebe dich – hört es alle! Monsieur Alphonse Stibbe; ich habe, siehe Akt fünf, von einer Tante achthundert Taler geerbt und halte hiermit feierlich um die Hand Ihrer Tochter an! – Der kleine Schneider im fliegenden hellgrünen Schlafrock wollte wie ein erboster Grashüpfer gegen den Redner anspringen; aber dieser wies ihn mit einer ebenfalls aus irgendeinem fünften Akt stammenden
Handbewegung zurück und fuhr fort, während Aurora Pogge in meinen Armen anscheinend langsam das Bewußtsein wieder erlangte: Meine Herren und Damen, wer kennt die süßen Triebe nicht, durch welche die Welt besteht? Wessen Herz ist so ausgebrannt, daß kein Flämmchen mehr daraus hervorzuckt, Herr Mäuseler, sei es auch nur dem letzten Aufflammen des Rums an einem Plumpudding vergleichbar!? Meine Herren, ich liebe mit der vollen Dampfkraft der Jugend diese hier gegenwärtige Jungfrau Angelika Stibbe;
sie ist und wird die Meinige mit dem Willen des Geschicks, gegen den Willen desselben! Der Schauspieler warf einen Blick über die Versammlung der Hausgenossen, hob das blaue Buch, blätterte darin und fuhr fort: Wie aus diesem Manuskript – Fräulein Pogge wand sich wie ein Aal, dem lebend die Haut abgezogen wird, – wie aus diesem Manuskript hervorgeht, hat hier gegenwärtige, etwas reife Jungfrau, Fräulein Aurora Pogge, ihr Auge und ihr Herz auf hier ebenfalls gegenwärtigen Jüngling,
Herrn Rentier Mäuseler, geworfen und will ihn heiraten mit seinem Willen, gegen seinen Willen. Der Redner machte lächelnd eine Pause, der Rentier sah sehr erschrocken und eselhaft aus; Aurora in meinen Armen fiel scheinbar abermals in Ohnmacht. In dem himmelblauen Buche blätternd, sprach Julius Schminkert mit erhöhter Stimme: Pagina hundertundsechs beweist, daß Herr Alphonse Stibbe, Witwer von Karoline Stibbe geborene Triller, ebenfalls bereit ist, das sanfte Joch der Ehe sich wieder aufzuladen.
Gegenüber – der Schneider hing plötzlich am Halse des Deklamators und drückte ihm hastig die Kehle zu. Die schöne Angelika schlug die Hände mit lautem Geschrei zusammen: Steht das da, Julius? O Himmel, steht das da? Na, Papa?! – Ich erwürge dich, wenn du den Mund nicht hältst, flüsterte der Schneider dem zukünftigen Schwiegersohn ins Ohr, und dieser nickte lachend: Ruhig Papa; es steht hier noch manches andere über Sie geschrieben. – Und Julius Schminkert fing jetzt an,
wirklich Bruchstücke der Memoiren des Fräuleins Aurora Pogge uns vorzutragen. Da aber brach ein allgemeines Wut- und Rachegeschrei unter den Hausgenossen los; selbst mir sträubten sich die Haare in die Höhe. Ulex, dieses Weib ist bewunderungswürdig – eine geistige Gesche Gottfried, eine moralische Giftmischerin vom reinsten Wasser, reinsten aqua toffana. Über uns alle ging es her, wir konnten keinen Atem mehr schöpfen unter den Ergüssen einer schönsten Seele, die sich jetzt über uns
ergossen. Der Schneider fiel dem Schauspieler weinend um den Hals: Und du, mein Junge, hast dieses Scheusal enthüllt? Ja, dafür sollst du mein Kind haben – wie du bist, mein Sohn! O dieser Satan! Diese Teufelin! – Aber jetzt wars wirklich Zeit, daß ich eingriff; man hätte die Schriftstellerin sonst in Stücke zerrissen; laut schreiend floh sie die Treppe hinauf, und ich und Robert deckten unten an der Treppe ihren Rückzug. Ihr nach wollte der Zorn der Empörten, der Gekränkten,
Verlästerten. Laßt uns durch! schrie der Schauspieler. Durch! durch! ihr nach! schrien die andern in allen Tonarten; aber wir hielten gut und trieben den wohlberechtigten Ansturm zurück. Bahn frei, unnatürlicher Sohn der Polizei, rief Schminkert unsern Robert an und setzte hinzu: Sie sollten doch auch Partei für uns nehmen, Wolf. Vivat Helene Wienand, Pagina zweihundertdreizehn. – Was soll Helene Wienand? frage ich erstaunt, und der Schauspieler antwortet lachend: Fragt nur diesen Jüngling
aus dem provinzialen Urwalde selber, Fiebiger. Hurra, Sturm, Sturm! Vorwärts, Schwiegerpapa! Schlagt ihr die Tür ein, hinaus mit ihr aus dem Hause! En avant, Mäuseler! Marsch, marsch, trarara! Hinaus mit ihr auf die Straße! – Ich faßte jetzt denn doch den Tollkopf an den Schultern, nahm ihn, sehr ruhig geworden, beiseite und fragte ihn ernstlich, was er mit seinen Worten über das Fräulein Wienand gemeint habe; selbstverständlich war es aber unmöglich, in diesem Augenblick von ihm
Ausführlicheres über die Sache zu erfahren.«
»Und Robert?« fragte der Sternseher.
»Ja Robert. Na, du hättest den Jungen sehen sollen! Erstarrt stand er, wurde abwechselnd rot und bleich, zuletzt so totenbleich, daß ich fast Furcht bekam. Glücklicherweise fing ich seine Faust, die eben den Schauspieler niederschlagen wollte, auf. Ich ließ natürlich auf dieses hin die andern ihre Angelegenheiten mit Fräulein Pogge allein ausmachen und zog unsern Zögling am Ohr die Treppen
hinauf. Er ließ sich willenlos ziehen und – «
»Und?!« fragte der Sternseher.
»Und ich erfuhr, daß Julius Schminkert, daß das Tagebuch Auroras recht habe!« antwortete der Schreiber, kläglich die Hände faltend. »Was sollen wir nun mit dem Geschöpf anfangen, Ulex?«
»Erzähle mir dein Gespräch mit dem Knaben; ich werde dir dann meine Meinung sagen.«
»Der arme Junge«, seufzte Fiebiger, »eben haben wir ihn aus dem Regen glücklich ins Trockene gebracht,
so gerät er unter die Traufe, in des Wortes verwegenster Bedeutung. Wie ein Ölgötze stand der arme Sünder da und beichtete, was er zu beichten hatte. Es war nicht viel; aber es war genug, übergenug für mich. Ich schüttle den Erstarrten; aber es kostet Mühe und Zeit, ehe er meine Fragen beantwortet. Endlich faßt er wild meine Hände, so daß ich noch jetzt blaue Flecke davon aufzuweisen habe, und sieht sich verstört um nach dem Haufen Wüstensand, in welchen er seinen Kopf stecken kann. Unten im
Hause vor der verriegelten Tür Aurora Pogges singt währenddem die wütende Hausgenossenschaft dumpf den Chor der Rächenden aus Lucrezia Borgia: