Frei Lesen: Die Leute aus dem Walde

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Kapitelübersicht

Die hohe Polizei nimmt ein Protokoll auf | Der Polizeischreiber Fiebiger setzt seinen Chef in Erstaunen; Julius ... | Julius Schminken macht sich nützlich; Robert Wolf macht die ... | Treffliche Beschreibung des Hauses in der Musikantengasse und des ... | Große Gesellschaft bei dem Bankier Wienand Mr. Warner aus New-Orleans ... | Expektoration des Autors über die Einsamkeit; Lebensläufe aus ... | Auf dem Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex; Fräulein Juliane ... | Herr Leon von Poppen wundert sich ganz ungemein | Die Sterne Eva Dornbluths; Was sie sagten, wie man ihnen folgte und ... | Die Sterne Friedrich Wolfs aus Poppenhagen; Ein Stein des Anstoßes ... | Das Hinterhaus von Nummer zwölf in der Musikantengasse erfährt eher ... | Julius Schminkert für immer! Schlaue Bemerkungen des Autors uber die ... | Blick über die Dächer Veränderte Aussichten und Ansichten | Von einem grünen Gartenflecke, einer weißen Marmorbildsäule, einem ... | Herr Leon von Pappen zeigt sich als guter Sohn und liebenswürdiger ... | Viel Schutt und Trümmer fallen auf Helene Wienands Gärtchen, sowie in ... | Unter dem Schutt und der Asche – unter den Trümmern! | Schreckliches Unglück des Fräuleins Aurora Pogge Der deklamierende ... | Glänzende Fäden in dunkelm Gewebe | Zeigt an dem Beispiel des Barons Leon von Poppen, wie leicht es ist, ... | Große Krisis in Nummer zwölf –; höchst tragisches Kapitel Der ... | Die Lebendigen wandeln in Unruhe; – der Tod guckt in das Buch | Es kommt Nachricht von den Wanderern Robert Wolf läßt sich naßregnen ... | Reden der Weisen und Guten Herr Leon von Pappen hält sich aber auch ... | Zwischen Himmel und Erde Stimmen aus der Nähe und aus der Ferne ... | Auf der alten Stelle Zum zweitenmal soll der Schüler die Lektion ... | Robert Wolf beweist, daß man auf den alten Fleck zurückkommen kann, ... | Der Baron Leon von Poppen steigt wieder herunter vom Observatorium ... | Zeigt, daß Leute, die aus dem Blick entschwinden, darum doch an der ... | Robert Wolf steht an einem Grabe und tritt an ein Sterbebett Konrad ... | Es wird ein neuer Hügel unter den drei Fichten aufgeworfen Konrad von ... | Ein Ritt vom Stillen Ozean zum Missouri Konrad von Faber hält ... | Robert beschleunigt seine Heimreise; der Autor begleitet ihn und ... | Juliane, Freifräulein von Poppen, setzt wieder einmal ihren Willen ... | Es gewinnt den Anschein, daß die Sterne auch ihren Willen durchsetzen ... | Die Sterne setzen ihren Willen durch, ihrem Willen befiehlt der ... |

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Wilhelm Raabe

Die Leute aus dem Walde

Robert Wolf beweist, daß man auf den alten Fleck zurückkommen kann, ohne von dort die Welt in der alten Weise anzusehen Der Baron Leon von Pappen steigt zu dem Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex empor

eingestellt: 5.7.2007



Die Sterne gaben in dieser Frühlingsnacht einen Schein so rein und klar wie selten. Wie junge Mädchen im Tanz lachten und winkten sie einander zu, und der Mensch auf dem Stern, Erde genannt, wurde darob teilweise ungemein feierlich gestimmt und fragte sich, worüber eigentlich die da droben sich unterhielten. Harmlose, naive Individuen, wie zum Beispiel der Schreiber dieses, dachten bei diesem Winken und Nicken an kosmische Ballangelegenheiten, spaßhafte Vorkommnisse beim letzten Sphärenkonzert, an tölpelhafte Courschneidereien irgendeines landjunkerhaften Kometen, an das letzte Zerwürfnis zwischen Venus und Mars. War vielleicht der dicke zerstreute Oberappellationsgerichtsrat Saturnus wieder einmal in eine komische Verlegenheit geraten? War der alten boshaften Jungfer, dem Fräulein Vesta, ein gesellschaftliches Malheur begegnet? Wer kann es wissen? – Ernstere Charaktere, wie der Sternseher Heinrich Ulex, dachten freilich ernster über das Raunen und Winken in der Höhe; aber auch sie mußten den irdischen Gewalten nachgeben und sich ihren erhabenen Grübeleien entreißen, wenn es – an ihrer Tür klopfte.

»Laß die Sterne, Heinrich Ulex, schieb den Türriegel zurück und tröste deinen Schüler, welcher sich an deine Brust werfen will und Trost von dir verlangt!«

Still und ohne Eifersucht sah der Polizeischreiber den zärtlichen Begrüßungen, die zwischen dem alten Gelehrten und Robert Wolf stattfanden, zu. Die beiden Greise teilten sich gern in die Liebe des jungen Heimatgenossen, weil jeder den Wert dessen, was der andere gegeben hatte, bereitwilligst anerkannte.

Alles fand sich in dem Museum des Sternsehers im Giebel von Sankt Nikolaus noch am alten Fleck. Da stand die sphaera armillaris zwischen den Manuskripthaufen, da hing an der Wand die mensa Isiaca zwischen den ernsten Bildnissen Keplers und Galileo Galileis. Ernst blickten von der entgegengesetzten Wand Copernicus und Herschel hernieder; – der große Tubus am Fenster richtete immer noch die Nase nach oben. Man ahnt gar nicht, wie sehr Leute, die ganz im Geistigen zu leben und aufzugehen scheinen, von geringfügigen Äußerlichkeiten abhängen: dem Polizeischreiber Fiebiger wars höchst gleichgültig gewesen, wenn ihm irgendein Geschick seine Häuslichkeit total durcheinandergeworfen oder ganz zerstört hätte; den Sternseher Ulex hätte eine Verschiebung der gewohnten Gerätschaften aufs ärgste verstört, ihn recht unglücklich gemacht. –

Eben fuhr der Greis über das Gesicht Roberts sanft mit der Hand:

»Fort mit den bösen Falten; sie haben noch immer nicht das Recht, sich hier finden zu lassen.«

»Ach, mein Vater, ich bin so hart bedrängt von allen Seiten; die Falten kommen wie der Dieb in der Nacht; mit dem besten Willen vermag ich nichts dagegen.«

Der Greis schüttelte traurig das Haupt.

»Es ist wahr, mein armes Kind, es werden dir viele Bitternisse zuteil. Böse Nachrichten haben wir aus der Ferne vernommen, und was die Nähe bietet, häuft Leiden zu Leid. Mein armes Kind, am liebsten behielte ich dich wieder hier; du nähmst dann dort deinen Platz am Tisch – sieh, der Homer liegt noch an seiner Stelle – von neuem ein, wir schlössen die Tür und öffneten sie nur den nächsten Freunden und sähen nach den Sternen, soviel das Gemäuer, das dort auf jener Brandstätte wieder emporgeschossen ist, uns davon übrig gelassen hat. O wir wollten doch noch schöne, herrliche Sterne und Sternbilder finden; aber – «

»Aber es geht nicht; die Sterne wollen es nicht, Heinrich«, sagte der Polizeischreiber, »und die Sterne sind sehr mächtig und kümmern sich blutwenig um das, was die Leute, denen sie die Suppe des Lebens versalzen, dazu sagen.«

»O Fritz, die Sterne sind nie höhnisch, sind nie falsch; sie freuen sich nicht über das Elend der Erdgeborenen!« rief der Astronom. »Wer ihnen folgt, mag wohl seinen Pfad mit Tränen nehmen müssen, aber es ist doch der rechte Weg; er führt in die Höhe, und was nach oben führt, das verspottet und verachtet der Mensch nicht ungestraft. Tretet an dieses Fenster und blickt hinaus!«

Der Polizeischreiber und Robert folgten dem Wink und sahen in die klare Nacht; der Sternseher stand zwischen ihnen und deutete feierlich in die Tiefe:

»Dort unten sah ich, einige Tage nach jener großen Feuersbrunst, einen Mann stehen, welcher durch das wilde Element ein wenig von seinen irdischen Gütern verloren hatte, dem aber Gott viel Gutes erhalten hatte. Um den Mann her lagen hohe Trümmer, sein Fuß trat auf schwarzen Schutt und Staub, und hier und da wand sich noch ein schwarzer Qualm aus der Verwüstung. Durch mein Glas sah ich das Gesicht des Mannes ganz klar und genau, und mein Herz schlug laut und ängstlich, denn ich wußte, Gott hatte jenen auf einen Scheidepunkt gestellt. Himmel und Erde kämpften in seiner Brust, aber ich kämpfte diesen Kampf mit ihm und für ihn durch, und eine tiefere Bangigkeit ist mir auch selten durch das Herz gegangen. Wie soll ich euch beschreiben, was ich in diesen schwankenden Augenblicken für jenen Mann fühlte? Ich kann euch nur sagen, was mit ihm geschah. Er sah nicht nach oben; am Staub klebte sein Auge, die schwarzen Trümmer nahmen seine Seele gefangen, und kurz nur war das Ringen gegen die dunkle Gewalt, die uns zu Füßen liegt und die uns ewig zu sich herabziehen will. Viel schöne Namen haben wir dafür, prunkende, farbige Hüllen werfen wir darüber: aber der Staub bleibt nichtsdestoweniger Staub, und aus den glänzenden Hüllen kriecht es empor und umschlingt Glied auf Glied – nieder, nieder! Wie viele Leiber erstickte, wie viele Seelen begrub die Asche, über welche unser Fuß durch dieses Leben schreitet? Hätte jener Mann, der auf den Trümmern seines verbrannten Hauses stand, den Blick nach oben – nach den Sternen – gerichtet, er wäre gerettet gewesen! Er tat es nicht, und er ging unter –- unter, erst in der Nacht des Wahnsinns, dann, als der Körper die Krankheit überwunden hatte, unter in dem Leben, welches ihr kennt. Er ist ein harter, liebloser, selbstsüchtiger Mann geworden; nur das, was den täglichen erbärmlichen Vorteil, die Ehre der Welt und das Geld bedeutet, kennt er noch; was darüber liegt, hat keinen Sinn mehr für ihn. Fragt nun seine Leute, fragt sein Kind, fragt die Arbeiter in seinen Fabriken, was das für sie bedeutet. O Friedrich, alter Freund, o Robert, lieber Sohn, sehet nicht zu Boden in der Unglücksstunde; aufwärts zu den Sternen richtet den Blick; bei den Sternen ist Heil, zu euren Füßen findet ihr nur Untergang und Verwesung.«

Robert Wolf sah den Greis mit leuchtenden Augen an; aber der Polizeischreiber zuckte doch ein wenig die Achseln und sagte:

»Du hast gut reden, Heinz. Hier sitzest du auf deinem Turm und hast Beine und Füße hoch in die Luft gezogen; aber – aber! Die Herren und Damen in der Arche mochten wohl, als dieses ausgezeichnete Fahrzeug flott wurde, mit dem Gefühl der persönlichen Sicherheit dem Jammergeschrei der ertrinkenden Mitbrüder und Mitschwestern lauschen, aber ich beneide sie darum doch nicht. Die Familie Noah nahm jedenfalls auch ihren Ballast an Erdenschuld mit an Bord, der frivole Spaßvogel Harn wie die andern. Ich meine, wir sind allesamt gleich vor dem Herrn; der Meister Noah und seine Familie würden nur wie die Tierpärlein in ihrer Eigenschaft als Gattungsexemplare gerettet, nicht etwa als Tugendausbündler. Wir haben uns beide auf die Schmetterlingskunde gelegt, Ulexius. Du jagst den goldglänzenden Dingern mit azurblauen Flügeln, die in der freien Luft der Höhe geboren werden und schweben, nach; ich liebe es, zu sehen, wie ähnliche Wesen auch aus dem Schlamm, aus der Verderbnis sich strahlend erheben und über dem Sumpfe flattern. Arme Dinger, wer kann sagen, ob es eure Schuld ist, wenn ihr flügelmatt nach kaum begonnenem Flug wieder herabsinkt, um im Schmutz zu verkommen? Es ist aber auch nicht alles Schlamm und Sumpf zu unsern Füßen; nahrhaften Acker und Gartenland, trefflichen Wiesenboden gibt es auch, und der Mann, der im Unglück sich daran hält, mag so gut sich dem Elend entringen wie der, welcher nach – den Sternen sieht. Am besten ists, man tut das eine und läßt das andere nicht. Also Robert, mein Rat ist: halte dich mit den Händen und im Notfall mit den Zähnen an dem Gewande unserer alten Mutter Erde; die Augen aber richte empor zu den Sternen des weisen Meisters Henrici Ulexii, privilegierten und patentierten Sternguckers und Platonikers im Giebel des vormaligen Klosters Sancti Nicolai. Auf der Erde halte dich an die Dinge selbst, an die Materie, mögen sie Ecken und Kanten haben, soviel sie wollen; verachte aber nicht die Ideen, welche über der Materie sind. Nachher magst du dem Ganzen Namen geben, wie du willst. Und wenn du gar kein Wort dafür finden solltest, wird der Schaden auch nicht allzu groß sein. He, Heinrich Ulex, war das nicht gesprochen, als ob Her Sohn des Ariston im akademischen Biergarten vor dem Thriasischen Tor das Wort gehabt hätte?«

»Semper idem!« sagte der Astronom lächelnd; da klopfte es wieder an die Tür.

»Schiebe deinen Riegel fort, Mann des Ideals«, brummte Fiebiger, »der Schritt, welcher da sich naht, wandelt auch nicht immer auf rosigem Gewölk, sondern oft über recht holpriges Pflaster, faulende Bohlen und morsches Estrich; aber er steigt doch vielleicht auch bis zu deinen Höhen.«

Heinrich Ulex neigte, während er seine Riegel zurückstieß, das Haupt und sagte einfach und leise:

»Du hast recht, Fritz!«

Über die Schwelle des Observatoriums trat das Freifräulein Juliane von Poppen, und hinter ihr erschien – o Robert Wolf, was sagte dein Herz? – hinter ihr erschien, bleichschüchtern, das liebliche Gesichtchen Helene Wienands.

»Seid gegrüßt, ihr Herren«, sprach das alte Fräulein ungemein feierlich. »Ich komme heute früher, dieses Kindes wegen; ich hielt es für wünschenswert, daß es diesen Abend in unserer Mitte zubringe – so ist es hier; gib dem Fräulein die Hand, Robert.«

Wie sich Robert und Helene einander in die Augen sahen, was sie bei dieser Zusammenkunft fühlten, können wir nicht beschreiben. Sie reichten sich wortlos die Hände, und die Alten sprachen zuerst ebenfalls nicht und sahen nur mitleidig auf die beiden jungen Leute. Dann nahm Heinrich Ulex die Hand der Tochter des Bankiers Wienand und führte sie selbst zu einem Sitze. Es lag etwas unendlich Zärtliches und zugleich Trauriges in der Art, wie er sich um das junge Mädchen bemühte.

Nun saßen sie alle im Kreis und bedachten den Ernst des Lebens, und die großen Astronomen, die in ihrem Leben auch so viel getragen hatten, schienen noch ernster als gewöhnlich aus ihren Bilderrahmen herabzublicken.

Es sprach das Fräulein von Poppen:

»Ich wußte eigentlich nicht recht, ob es gut sein würde, wenn ich mein Kind an diesem Abend hierher brächte; ich wäre beinahe mit ihm unten an der Treppe noch umgekehrt. Jetzt aber weiß ich, daß es gut ist; wir müssen uns gegenseitig aussprechen, und Helene Wienand darf dabei nicht fehlen; selbst ihr Vater könnte ihr das Recht, hier zu erscheinen, nicht streitig machen, und so habe ich sie hergeführt, daß sie höre und selbst spreche. Robert, du bist von allem, was uns Frauen betrifft, unterrichtet?«

Robert senkte den Kopf und sagte: »Ja. Im Kabinett des Königs liegt das Adelsdiplom des Herrn Bankiers Wienand zur Unterzeichnung vor. Sobald dasselbe ausgefertigt ist, soll – soll –«

»Soll die Verlobung meines Neffen, des Barons Leon von Poppen, mit Fräulein Helene von Wienand der Stadt verkündigt werden!« rief das Freifräulein. »Abgemachtes Geschäft – Vorteil auf beiden Seiten – nichts mehr dagegen zu machen; das Haus von Poppen hat eine gute Spekulation gemacht und das Haus Wienand keine schlechte. O arme Helene, verkaufen möchten sie dich, wie sie die eigenen Seelen verkaufen würden; aber sie sollen ihren Willen nicht haben; ich leide es nicht, ich dulde es nicht. Habe ich dich damals als winziges, erbärmliches, schreiendes Ding in meine Arme genommen und dich zu einem so hübschen, verständigen Mädchen aufgezogen, um dich armes Lamm jetzt diesem abscheulichen höhnischen Jesuiten, der leider Gottes meinen Namen trägt, geduldig zu überliefern? O sie sollen das Freifräulein von Poppen kennenlernen, diese – diese Je–su–iten!«

Unnachahmlich war die Art, in welcher Juliane das Wort Jesuiten hervorstieß. Es war eins ihrer höchsten Worte, und sie wandte es nur in Augenblicken der zornigsten Aufregung an. Ihr Pflegekind dicht zu sich heranziehend, fuhr die alte Dame fort:

»Weine nicht mein Herzchen, es liegt immer noch ein weiter Raum zwischen ihrem Willen und der Vollendung ihrer liebenswürdigen Pläne. Noch bist du nicht Baronin von Poppen und sollst es mit Gottes Hilfe fürs erste nicht werden. Dein Vater hat nicht das Recht, dich ins äußerste Verderben zu stürzen.«

»Ach, wie kann ich mich wehren gegen das, was mein Vater will?« rief Helene, die Hände ringend. »Er ist mein Vater, und ich habe ihn so lieb, so lieb! Wie kann ich jemals vergessen, daß er sonst so gut gegen mich war? Wenn ich abends zu Bett gegangen bin, um mich in den Schlaf zu weinen, wie muß ich dann lauschen, ob er nicht wie früher wiederkommen will, um sich wie früher – als er noch nicht krank war – über meine Kissen zu beugen und mir die Stirn zu streicheln zu guter Nacht. Ich denke, es kann nicht anders sein, er muß wiederkommen, es kann nicht alles, alles so anders geworden sein; er muß mich wieder an sein Herz nehmen wie früher, er kann mich nicht so grenzenlos unglücklich machen wollen.«

»Zur Baronin Poppen will er dich machen«, rief das Fräulein. »Er hält das gar nicht für etwas Schlimmes; er verlangt ja deine ganze kindliche Dankbarkeit dafür. Ich wollte nur, ich hätte deinen Zukünftigen jeden Tag eine Viertelstunde im Bereich meines Krückstocks!«

»Solche Wünsche wie diesen, Fräulein, muß man im Leben leider nur zu oft unterdrücken«, seufzte Polizeischreiber Fiebiger. »Wir kommen durch alle Wünsche, Klagen, Hoffnungen und Befürchtungen auch nicht den kleinsten Schritt weiter, sondern geraten nur immer tiefer in Mutlosigkeit und Verwirrung. Am besten ists, wir legen uns klar und trocken noch einmal alles auseinander, scheiden das Richtige von dem Unrechten und gehen dann ein jeder mutig, tapfer und ergeben den vorgeschriebenen Weg. Hier sind wir: die Alten, die den Kampf um das Dasein so ziemlich hinter sich haben, und die Jungen, welche soeben in den Kampf eingetreten sind und die von den Grauköpfen wissen wollen, wie sie durch den großen wilden Wald, den gnadenlosen Wald gekommen sind. Die Sache, um welche es sich handelt, ist sehr einfach und durchaus nicht neu, wie das Lied sehr richtig bemerkt. Wie oft aber auch der Knoten gelöst oder durchgehauen wurde, die jedesmal Beteiligten glaubten stets, sie seien die einzigen, welche je vor solch ein Hindernis gerieten. Es gibt aber Knoten von mancherlei Art, und jeder findet sie an seinem Lebensstrick. Laßt uns die vorliegende Verwicklung betrachten. Hier ist Robert Wolf aus Poppenhagen, der Arzneikunst Beflissener, ein junger Mensch von gutem Körperbau und mannigfachen Geistesanlagen. Wir, Heinrich Ulex und Fritze Fiebiger, gleichfalls aus Poppenhagen im Winzelwalde, haben in einem gefährlichen Zeitpunkt sozusagen die Rolle der Moira, des Fatums für besagten jungen Wolf gespielt und haben ihn durch Gut und Böse, nasses und trockenes Wetter bis zum jetzigen Augenblick taliter qualiter durchgebracht. Hier ist auf der andern Seite Fräulein Helene Wienand, die Tochter des Bankiers Wienand, ein armes kleines Mädchen, welches in ähnlicher Weise eine Beschützerin gefunden hat in dem Freifräulein Juliane von Poppen, ebenfalls aus Poppenhagen im Winzelwalde; und unter unsern alten blinden Augen hat sich zwischen den beiden jungen Leuten etwas angesponnen, wovon in unserm Erziehungsplane nicht die Rede war.«

Robert und Helene schlugen die Augen nieder, erröteten und zitterten an allen Gliedern; das Freifräulein nahm Prise auf Prise, rückte immer unruhiger auf ihrem Sitze hin und her und hob jetzt abwinkend die Hand gegen den Schreiber; dieser aber schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein, lassen Sie nur das Winken, Fräulein Juliane; ich glaube, es wird am besten sein, wenn wir so offen und methodisch wie möglich zu Werke gehen; das Rührende, Gefühl- und Tränenvolle wird schon von selbst sich in die Historie stehlen; wir haben zur Hervorrufung desselben ja den Herrn Neffen, das staatsmännische Talent, welches zu so großen Dingen im Vaterlande berufen ist. Der Herr Bankier Wienand, der wenig oder gar nichts von unserm Robert weiß, zieht natürlich den hoffnungsvollen jungen Baron als Schwiegersohn bedeutend vor, und nur ein Bruchteil hiesiger Stadtbevölkerung verdenkt es ihm. Es ist nicht zu leugnen, daß der Vater in gewisser Weise das Recht hat, über die Zukunft seines Kindes zu verfügen und sich und es nach bestem Willen und Kräften glücklich zu machen. Die Frage stellt sich meiner Meinung nach jetzt einfach so: Gibt nicht der Vater, welcher den größten Teil der Seele seines Kindes einer andern Person, die treuer darüber waltet, als er selbst es vermöchte, überläßt, einen ebenso großen Teil an der Verfügung über dasselbe auf? Hat das Freifräulein Juliane von Poppen das Recht, den Teil des Herzens Helene Wienands, der ihr gehört, gegen den Willen des Vaters zu wenden? Ich kämpfe für die Seele, die ich zu vertreten habe; ich vertrete das Glück meines Sohnes Robert Wolf und beantworte die Frage mit Ja!«

Robert Wolf stieß einen leisen Schrei hervor und streckte die Hände gegen den Erzieher aus; Helene Wienand aber wurde fast noch bleicher als gewöhnlich, blickte starr, wie im höchsten Grade erschreckt, auf den Polizeischreiber und dann mit fragend gefalteten Händen auf die alte Freundin. Diese faßte die fieberhafte Hand des Kindes und rief:

»Recht, recht, Fritz; wir haben jeder eine Seele, die wir uns gewonnen haben, zu vertreten. Ja, ich habe mir diese Seele gewonnen, und ich gebe mein Recht daran gegen keinen auf. Nicht wahr, mein Liebchen, ich habe teil an dir, und du verlassest mich nicht? Habe ich um dich gesorgt und in Krankheitsnächten an deinem Bettchen gewacht wie eine Mutter? Konnte eine Mutter mehr tun, als ich für dich getan habe? Welcher Teil deines Wesens gehört dem Bankier Wienand, und welcher gehört dem lahmen Fräulein von Poppen?«

»O meine Mutter, meine liebe, liebe Mutter«, rief Helene, das Freifräulein umarmend; »Sie sind meine wahre Mutter. Nimmer kann ich ausdenken, wie gut, wie liebevoll Sie für mich gewesen sind. So weich haben Sie mich durch das Leben getragen. Was wäre aus mir während der letzten Jahre geworden, wenn Gott Sie nicht mir gegeben hätte? Ich bin lange nicht so gut, als Sie – als alle glauben; aber was löblich an mir ist, das haben Sie, Mutter, zum größten Teil mir gegeben, und mein Vater – o mein lieber – armer Vater –«

Das junge Mädchen vollendete seine Rede nicht; die Worte gingen ihr im krampfhaften Schluchzen unter, und Robert Wolf stürzte mit tränenvollen Augen vor ihren Knien nieder:

»Liebe, Liebe, ach quäle dich nicht so! Gegen den falschen Leon wird dich das Fräulein Juliane schützen; wir beiden aber müssen den Sternen trauen. Mein Herz blutet über dein und mein Weh; aber die Sterne, die rechten, wahren Sterne täuschen nicht. – O weiser Meister, sagt es ihr, daß sie nicht täuschen; sagt ihr, daß sie allen denen, welche ihnen trauen und treu, treu – bis in den Tod getreu zu ihnen aufblicken, den rechten Weg weisen. Meister, Meister, sprecht zu ihr, sprecht zu uns; bei Euren Sternen ist Trost; die Erde ist so wild und hart und grausam; aber Eure Sterne sind milde und geduldig. Sie gehen nicht mit dem Strauchelnden ins Gericht; sie bändigen durch Sanftmut die Leidenschaft –- ich habe es erfahren! – in aller Not ist Heil bei ihnen. Meister, Meister, sprecht zu der armen Helene und zu mir, dessen Herz in so großer Not und Qual zwischen zwei Weltteilen schwebt, sprecht zu uns von Euren Sternen und ihrem Rat!«

Das Freifräulein sah erstaunt auf den erregten jungen Mann, der Polizeischreiber kratzte sich mit vielen Hms und Has nach seiner Art hinter dem Ohre und brummte:

»Da bin ich drin für die Kosten! Bei Gott, der Alte hat mit seinem Idealismus doch das längste Ende gezogen! Und ich habe dem Jungen so schön skeptische Prinzipien vorgeritten! Da liegt der Napf im Feuer, und aus dem realen Punsch werden transzendentalblaue Flammen, die durch den Schornstein zu den – Ster–nen in die Höhe schlagen.«

Es hatte sich aber Heinrich Ulex der Sternseher emporgerichtet, und leise sprach er:

»Ich wußte es! Ja, es konnte nicht anders sein. Gesegnet seien deine Worte, Robert; mit ihnen überwinden wir das Leben, mit ihnen überwinden wir auch den Tod. Wie hinter dem Tode, so ist hinter der Geburt ein großes Geheimnis; der Sterbende tritt in das eine, das Kind, welches geboren wird, in das andere. Auch das Leben ist eine Kette von Mysterien, die hienieden oft nur zum geringsten Teil gelöst werden. Den Schoß der Mutter verläßt das Kind und weiß nichts von sich. Es hört ein unbestimmtes Geräusch und wird von einem unbekannten Licht geblendet, mit Weinen und Klagen wehrt es sich gegen beides. Mit jeder Geburt hebt der uralte Sang von der Schöpfung wieder an: wüst war es und leer, und es war finster auf der Tiefe; aber der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Im Buche der Genesis freilich wird es mit einem Male Licht; in der dunkeln Seele des Menschen jedoch kommt das Licht langsam, langsam; erst ein dämmeriger Schein, dann ein Funke hier, ein Funke da, ein Aufleuchten, welches eine mehr oder weniger fremdartige Gegend zeigt, ein Verschwinden jeglichen Scheins, wieder ein Blitz, ein Zerreißen der Finsternis, neue schwarze Wolken, und so bis zum Tode ein Kampf zwischen Ormuzd und Ahriman! Dunkel ist an und für sich das Universum, und das Licht darin geht nur von den glänzenden Kugeln aus, die wir Sterne nennen; dunkel ist auch von Grund aus die Menschenseele, ein ebenso großes Mysterium wie das Weltall; auch in ihr kommt das Licht von den Sternen, und deren gibt es viele und sehr schöne. Jeder von ihnen wirft einen andern Schein in das dunkle Sein, und dem echten Menschen verbinden sie sich in jeder guten, aber viel mehr noch in jeder bösen Stunde zu heilbringenden Konstellationen. Der Mensch der Materie, der Mensch des Paradieses, der weder Gut noch Böse kennt, gibt den Steinen, Pflanzen und Tieren Namen; aber der sittliche Mensch, welchem Gott befahl – erectos ad sidera tollere vultus – das erhobene Gesicht zu den Sternen zu richten, dieser Mensch gab den Gefühlen Namen und nannte sie: Liebe, Freundschaft, Glaube, Geduld, Barmherzigkeit, Mut, Demut, Ehre – und Jahrtausende vergingen, ehe diese Namen und so viele gleiche gefunden waren. Seht nach den Sternen der Liebe, meine Kinder; aber du, schöne Jungfrau, vergiß auch nicht den Stern des kindlichen Gehorsams; es ist ein edles Gestirn, folge ihm bis zur Entsagung, in das Verderben jedoch darfst du ihm nicht folgen. Mein Sohn, du hast eine köstliche Tramontana gefunden; aber erinnere dich, daß du schon einmal glaubtest, sie gefunden zu haben. Gedenke immer der Verzweiflung, aus welcher wir dich emporzogen; denke daran, wie du damals das Leben wegwerfen wolltest gleich einem vollgeschriebenen Blatt Papier. Es hat sich nachher auf dem Blatt immer noch Platz für mancherlei gefunden. Du glaubtest das Dasein verloren zu haben, ehe du es angefangen hattest. Damals warst du ein verblendetes Kind, heute bist du ein Mann; damals glaubtest du zu lieben, heute liebst du – ernst, schweigend, geduldig, in alle Ewigkeit. Was geschehen mag, du hast viel gewonnen; habe nur weiter acht auf die Sterne der Ehre und des Mutes. Gebet mir eure Hände, ihr beiden armen lieben Kinder; jedes von euch weiß Bescheid von dem andern – mehr Bescheid als wir Alten wissen können. So soll nun jedes dem andern sagen, was es zu tun hat. Sprich zuerst, Robert Wolf, was verlangst du von Helene Wienand?«

Die beiden jungen Leute sahen sich in die Augen; jahrelang hatten sie nachher zu sinnen, um sich über diese flüchtige Minute Rechenschaft zu geben; in einem fliegenden Augenblick zog ihnen ihr ganzes vergangenes Sein durch die Seele; und Robert sagte mit kaum vernehmbarer Stimme:

»Habe Mitleid mit mir; traue auf mich, ich will immer mehr deiner würdig werden. Du hast es gehört, du weißt es, daß ich dir nicht ein unberührtes Herz bringen kann; ach, ich darf ja eigentlich gar nichts von dir fordern. Was du Reine mir geben willst, ist alles ein unverdientes Geschenk. Und doch verlange ich Liebe, Liebe von dir; denn trotz allem, was aus der Vergangenheit, was jetzt sich zwischen uns drängt, sind wir mit unlöslichen Ketten aneinandergeschlossen; du kannst dein Herz nicht losreißen, ohne daß es zu Tode blutet. Liebe, Liebe verlange ich von dir, doch verlange ich nicht, deine Hand zu berühren, wenn der Vater zürnend es verbietet. Geduldig will ich harren, bis du zu mir kommen darfst und ich zu dir. Viel zu sehr liebe ich dich, um je ungeduldig zu werden. So sitze still, beuge dein Haupt, weise das Schlechte und Falsche im heiligen Zorn von dir – du darfst es. Ich liebe dich, ich liebe dich, Helene Wienand; – ich liebe dich und will warten auf dich bis über den Tod!«

Der Sternseher hielt das junge Mädchen mit dem Arm umschlungen; jetzt machte es sich los und warf die eigenen Arme dem Schüler des alten Heinrich Ulex um den Nacken. Ins Ohr flüsterte sie ihm kaum vernehmlich:

»Geh zu unserer Schwester, geh zu Eva, ich will stark und treu sein wie sie. Gleich wie sie auf unsern Bruder, auf Friedrich, gewartet hat, will ich auf dich warten. Auch sie wollte Leon von Poppen in den Schmutz ziehen; aber es ist ihm nicht gelungen. Wie Eva Dornbluth wird Helene Wienand ihr Gewand, ihre Hand rein erhalten vor seiner Berührung. Gehe ruhig, ganz ruhig, du Lieber, ich will stark und treu sein wie Eva Dornbluth.«

Der Polizeischreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen überließ sich wieder einmal Körperverrenkungen, welche kein Komplimentierbuch für gesellschaftlich zulässig erklärt und welche den Polizeirat Tröster mit Entsetzen erfüllt haben würden. Das Freifräulein Juliane von Poppen aus Poppenhagen ließ Tabaksdose und Krückstock achtlos zur Erde fallen, sie riß wild das Pflegekind an die Brust und schluchzte und lachte durcheinander.

Der Sternseher Heinrich Ulex aus Poppenhagen hielt still die Hand seines Schülers mit der Rechten und beschattete mit der Linken die Augen. Da klang auf der Treppe draußen das Gepolter unsicherer Tritte, als ob Leute, die mit dem Wege vollkommen unbekannt wären, emporstiegen.

Eine dünne schneidende Stimme rief:

»Vorsicht, excelsior! Immer mit Vorsicht höher hinauf, Herr von Wienand! Beim Zeus, das ist ja eine wahre Räuberhöhle – höchst interessant – Hasenpfote als Glockenzuggriff – noch höher? Leuchten Sie doch, alte Dame – ah, per aspera ad astra, hier sind wir – stellen Sie die Lampe auf das Geländer, gute Frau; wir kommen sogleich zurück. Mut, Mut, teurer Herr, Mut und Geduld! Ich beschwöre Sie, sich zu erinnern, daß Sie mir versprochen haben, unter allen Umständen ruhig zu bleiben! Durch Geschrei und Trompetenfanfaren mochten wohl die Mauern von Jericho einfallen; aber gegen ma chère tante richten wir damit nichts aus. Ich kenne die Gnädige.«

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Der Baron Leon von Poppen steigt wieder herunter vom Observatorium ... >



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