Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Der Baron Leon von Poppen steigt wieder herunter vom Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex
eingestellt: 5.7.2007
Der Bankier Wienand hatte das Haus in der Kronenstraße, in welchem ihm einst seine Freunde eine Wohnung mieteten, angekauft, da das Gebäude, welches er auf der Brandstätte in imposanter Pracht errichtete, immer noch nicht bewohnbar war. Es war ihm widerlich, mit andern, Gleichberechtigten unter einem Dache zu hausen; überall wollte er den Fuß auf eigenen festen Grund und Boden setzen; die krankhafte Scheu vor allem, was er »unsolide« nannte, sprach sich auch hierin
aus.
Ein magisches Glück begünstigte alle seine Unternehmungen; rastlos arbeitete er Tag und Nacht. Wo eine Eisenbahn gebaut wurde, erschien das Haus Wienand an der Spitze der Aktionäre; das Feuer auf manchem Fabrikherde wurde durch Mithilfe des Hauses Wienand unterhalten; auf der Börse gab es keinen geachtetern Namen als den des Hauses Wienand. Das Fieber des Ehrgeizes, die Gier des Erwerbs trieben den Mann mit rasender Hast vorwärts, und laut klatschte die Stadt Beifall; der Bankier
Wienand imponierte der Stadt ungemein.
Wo aber war die markige Gestalt, die einst so fest auf den Füßen stand? Wo war der helle, joviale und doch so scharfe Glanz der Augen? Der berühmte Bankier bediente sich eines Krückstocks wie das Freifräulein Juliane von Poppen, und wenn er ohne Stab gehen mußte, so lehnte er sich gern auf einen fremden Arm – am liebsten auf den Leons von Poppen, wie wir leider wissen. Die Augen glänzten zwar noch, aber es war nicht mehr der frühere ruhige,
klare Schein in ihnen; halb scheue, halb gierig suchende Blicke schossen sie. Es war der glasige Schimmer, den ihnen die Krankheit gegeben hatte, nur zum Teil gewichen. Einst – in jener verhängnisvollen Nacht, in welcher im Semmelrothschen Geschäft der Funke in der Asche vergessen worden war, hatte der Bankier Wienand die starke männliche Faust selbstbewußt, triumphierend auf sein Hauptbuch gelegt; wo war jetzt diese starke, sehnige Hand? Magere, zitterige Finger wendeten die Blätter in
dem neuen Buche und reihten Zahlen aneinander.
Über das große Buch gebeugt, saß der reiche Mann und horchte zwischen seinem Rechnen auf den Schritt Leons, der allabendlich um diese Zeit auf der Treppe erklang. Helene hatte mit dem Freifräulein vor kurzer Zeit das Haus verlassen, dem Bankier war die Stille, die in demselben herrschte, unangenehm; er wartete mit Verlangen auf den Baron, während dieser auf eigene Hand das Wohl des Hauses Wienand in Obacht nahm.
Wenn auch
Eifersucht grade nicht im hohen Grade zu den fehlerhaften Seelenneigungen des jungen Diplomaten gehörte, so kannte er doch seinen Vorteil viel zu gut, um nicht einiges Mißbehagen, einige Sorge beim Anblick Robert Wolfs zu empfinden. Er wußte ganz genau, daß jedesmal, wenn der »alberne Bursche aus dem Walde« während seiner Studienzeit in der Stadt anwesend war, eine Zusammenkunft zwischen demselben und Helene stattfand; er hatte nur darüber gelächelt und sogar den Bankier gehindert, etwas dagegen
zu sagen oder zu tun.
»Es ist Kinderei«, hatte er gemeint, »regen wir uns und die Damen nicht unnötigerweise auf. Im gegebenen Augenblick können wir alles ganz behutsam und ohne Lärm arrangieren.«
Jetzt aber, wo seine Verlobung mit der Tochter des Bankiers, wie er meinte, so nahe bevorstand, glaubte er Grund zu haben, »die Geschichte zum Abschluß zu bringen«, und so eilte er denn, nachdem er vorhin den Nebenbuhler mild, höflich, überlegen und lächelnd gegrüßt hatte, so
eilig wie möglich der Kronenstraße zu, und wir betreten mit ihm abermals das Haus der Baronin Viktorine de Poppen.
Noch immer grinste oder glotzte einem beim Eintritt Baptiste, der bunte Lakai, entgegen, noch immer trippelte Elise kokett treppauf und ab oder durch die Gemächer. Zwei weitere Jahresringe hatte die Baronin angesetzt; immer weichmütiger, immer schläfriger war sie geworden, und winselnd beklagte sie die vollständige Entfremdung der beiden Freundinnen Artemisia und Lydda
von Flöte. Immer rücksichtsloser wurde sie von dem »bösen Kinde«, dem eigenwilligen Leon, behandelt, und den Plänen desselben in Hinsicht auf seine Verbindung mit dem Hause Wienand konnte sie nur den allerpassivsten Widerstand entgegensetzen. Dieser Widerstand beschränkte sich darauf, daß sie von ihrem Diwan aus mit sehr kläglicher Stimme Klagelieder sang, die sehr einschläfernd auf den vortrefflichen Ministerialsekretär wirkten.
Leon erreichte das Haus seiner Väter; Baptiste trat ihm
mit dem Lichte entgegen, leuchtete ihm zu seinen Gemächern voran und wurde sanft gebeten, für einige Augenblicke in dieselben mit einzutreten.
»Lege ein Schloß vor deinen Mund, knöpfe Ohren und Augen auf, Mensch«, sagte der Baron. »Ich habe einen Taler und einen Auftrag für dich, im Notfall aber auch eine Tracht Prügel. Zeige dich als ein vernunftbegabtes Wesen, welches verdient, einen so guten Herrn, wie ich bin, zu haben.«
Baptiste verbeugte sich bei jedem Redepunkte, und
der Baron fuhr fort:
»Mache dich so dünn wie möglich, Esel. Hinunter mit dir in die Gasse; gib acht auf die Tür drüben – du weißt. Ich werde am Fenster warten. Sobald ma tante, das Freifräulein von Poppen, an deinem Horizont aufgeht, das heißt an der nächsten Ecke erscheint, benachrichtigst du mich durch den bekannten Pfiff. Wenn sie drüben eintritt, achtest du darauf, ob sie mit dem gnädigen Fräulein von drüben ausgeht. Geschieht das, so folgst du den Damen so unbemerkt wie
möglich; du bringst mir Nachricht, wohin sie gehen – ventre à terre. Allez!«
Baptiste verdiente es, einem so guten Herrn zu dienen; er pfiff nach einer halben Stunde und kam nach einer andern halben Stunde mit der Botschaft heim: die gnädige Tante habe sich mit dem gnädigen Fräulein im Niklaskloster verloren. Leon von Poppen zog den Überrock und die Handschuhe an, setzte den Hut auf und ging zum Bankier Wienand, indem er brummte:
»Wirklich, die Geschichte mit diesem
jungen Waldteufel tritt aus dem Stadium der Lächerlichkeit in das der Langweiligkeit. Machen wir ein Ende.«
Er hatte eine kurze, aber lebendige Unterhaltung mit dem Bankier, und zehn Minuten später fuhren die beiden Herren ebenfalls dem Nikolauskloster zu. Auf dem Hofe des alten Gebäudes griffen sie ein altes Weib mit einer Laterne auf und gelangten unter ihrer Führung zur Tür des Sternsehers.
Heinrich Ulex öffnete ihnen, und sie fanden sich inmitten der kleinen
Versammlung.
Wild suchend blickte der Bankier umher; doch ungemein verbindlich grüßte Leon und schien sich im geheimen sehr an der peinlichen Erstarrung, die sich auf den Gesichtern der überraschten Freunde malte, zu ergötzen.
»Bitte die Herrschaften tausendmal um Entschuldigung, wenn wir stören!« lächelte er und machte sogar Miene, der Tante die Hand zu küssen; aber er erhielt für diesen Versuch eine so gut angebrachte Ohrfeige, daß das Lächeln von seinen Lippen ganz
verschwand und peinliche Erstarrung auch seinen Zügen sich mitteilte.
Auf seine Tochter ging der Bankier zu und faßte heftig ihren Arm:
»Was geht hier vor? Weshalb bist du hier? Bist du toll geworden, daß du dich in solcher Weise von mir suchen lässest? Komm fort – auf der Stelle!«
»O mein Vater!« schluchzte Helene; aber der Bankier unterbrach sie und sagte mit berechneter Betonung seiner Worte:
»Wer es auch sei, der dich gegen meinen Willen,
ohne mein Wissen an solche Orte, in solche Gesellschaft lockt, ich habe nicht die Verpflichtung, ihm dafür dankbar zu sein. Leon, geben Sie dem albernen Geschöpf, dem törichten Mädchen Ihren Arm; ich meine, es ist nichts mehr zu sagen, und wir können gehen.«
»Es wäre noch recht viel zu sagen, wenn Sie Vernunft annehmen wollten, Wienand!« sprach das Freifräulein. »Aber Unglück und Krankheit haben Sie verblendet; Sie können nicht sehen, nicht hören. Wienand, Sie sind ein beklagenswerter
Mann!«
Zornig schrie der Bankier auf:
»Wessen Mitleid verlange ich? Wer wagt es, mich zu bedauern? Gnädiges Fräulein, was verlangen Sie eigentlich von mir? Sie haben mir Gutes – Dienste – erwiesen, Sie haben sich meines Kindes angenommen zu einer Zeit, wo ich in einiger Verlegenheit war. Ich habe das immer anerkannt, und ich erkenne es auch jetzt noch an; aber ich habe auch von Ihnen mehr ertragen, als ich von irgendeinem andern Menschen erduldet haben würde.
Sie haben oft, sehr oft in meinem Hause die Tyrannin gespielt, und ich habe mich Ihnen gefügt, ohne ein Wort darüber zu verlieren. In diesem Falle aber leide ich es nicht, daß Sie meinen Wünschen, meinem wohlbedachten Willen so schroff entgegentreten. Sie haben mir einen großen Teil der Neigung meines eigenen Kindes entfremdet – wollen Sie mir alles nehmen? Ich sage Ihnen, im Notfall überlasse ich Ihnen die Liebe der verzogenen Dirne, den Gehorsam derselben aber halte ich fest.«
»Vater, Vater, o höre mich!« rief Helene jammernd.
»Still, Mädchen! Zu Hause will ich zu dir reden. Fräulein von Poppen, weshalb führen Sie meine Tochter ohne mein Vorwissen zu diesem Orte? Wer sind diese Herren? Wer ist dieser junge Mensch? Ich bitte gehorsamst um Antwort; die Auskunft wird mir sehr interessant sein.«
»Dieser Ort«, sprach Juliane von Poppen ernst, fast feierlich, »dieser Ort ist für Leute Eures Schlages heiliger Boden; Ihr habt im Grunde doch großen
Respekt davor, wie Ihr Euch auch stellen mögt. Und hört, Wienand; wenn das Schicksal es wollte, daß ein neuer Windstoß abermals Euer armes buntes Kartenhaus umstieße, und der böse Geist – Ihr wißt, was ich meine – abermals die Hand nach Euch ausstreckte: so klopft schnell, schnell an diese Tür und bittet um Einlaß, und wenn der Euch gewährt wird, so ziehet die Schuhe von den Füßen und tretet ein. Erinnert Euch daran, daß damals nichts Euch vor dem schwarzen Dämon schützen konnte:
hier an diesem guten Ort findet Ihr vielleicht die Sicherheit, welche Euresgleichen die ganze weite Welt versagt,
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